Wallner beginnt zu fliegen - Thomas von Steinaecker - E-Book

Wallner beginnt zu fliegen E-Book

Thomas von Steinaecker

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Beschreibung

Stefan Wallner, verheiratet mit der Deutsch-Rumänin Ana, hat sich mit seiner Firma für Landmaschinen eine Heimat geschaffen. Der berufliche Erfolg ließ ihn seine katastrophale Vaterbeziehung vergessen. Aber über die Jahre hinweg, in denen die Firma floriert, schließlich mit einer anderen fusioniert und an die Börse geht, bröckelt das enge Verhältnis zu den Mitarbeitern innerhalb des Betriebs. Wallner fühlt sich verfolgt, wittert eine Verschwörung. Sein Sohn Costin ahnt nichts von der beginnenden Paranoia seines Vaters. Doch was bei Stefan Wallner nur im Kopf stattfindet, das erlebt Costin in Wirklichkeit, er zappt sich durch sein Leben und seine Rollen wie durch eine Fernsehserie. Er macht Karriere als Superstar einer vom Fernsehen gecasteten Popgruppe, er lebt Alternativkarrieren als Synchronsprecher in einem Hitler Zeichentrickfilm oder als Ex-Promi in einer Reality-Show. Er gründet ein Rock-Label, lebt mit Romy zusammen, der Sängerin der Gruppe "Erich", und erfährt erst spät von seiner unehelichen Tochter Wendy. Wendy trifft ihren Vater zum ersten Mal kurz vor ihrer Volljährigkeit. Die Mutter hatte ihr das Verhältnis mit Costin verschwiegen. Doch kaum hat sie ihren leiblichen Vater kennen und lieben gelernt, da stirbt Costin. Als Wendy sich nach dem Tod Costins daran macht, ihre Familiengeschichte zu rekonstruieren und aufzuschreiben, fällt es ihr bald schwer, zwischen Lebenslügen, Irrtümern und der nachrecherchierten Wirklichkeit zu unterscheiden. "Wallner beginnt zu fliegen" ist ein Familienroman, eine Saga über drei Familiengenerationen. Und ein Roman über die Frage, ob man Familiengeschichte so erzählen kann, wie sie wirklich passiert ist. Ein faszinierendes Debüt in drei Kapiteln: Ein Wirtschaftsroman, ein Musikerleben und ein Frauenschicksal.

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Alle beobachten Wallner, und Wallner beobachtet sich selbst

Costin goes and fucks himself

Wendy macht Geschichte

Thomas von Steinaecker

WALLNER BEGINNT ZU FLIEGEN

Roman

1. Auflage 2007

© Frankfurter Verlagsanstalt GmbH

Frankfurt am Main 2007

Alle Rechte vorbehalten

Comics: Daniela Kohl

Herstellung und Umschlaggestaltung:

Laura J Gerlach, Frankfurt am Main

unter Verwendung einer Fotografie von Thomas Ruff.

eISBN: 978-3-627-02140-5

Günter Wallner beginnt zu fliegen. Seine geriffelten Gummisohlen ruhen nicht mehr auf der Fußstütze. Wie die anderen Fahrgäste auch wird er nach vorne geschleudert. Ein herausgerissenes Stück der Waggoninnenwand hat dem Mann neben ihm den rechten Arm von der Schulter getrennt. Eines der beiden Mädchen, die vor Günter Wallner gesessen haben, ist an der Fußstütze hängengeblieben, sein Gesicht ist gegen den Tisch geschlagen, das andere Mädchen stößt unter der Decke gegen eine der Reisetaschen, die, weiß, rot, grün, aus den Gepäckfächern stürzen. Auf einem gelben Rucksack steht Adidas. Das Sausen in Günter Wallners Ohren ist lauter als das Krachen und die Schreie. Für einen Moment hat er ein Damenparfum in der Nase, einen süßlichen Duft, Holunder. Die gläserne Trennwand des Abteils vor sich, den Aufkleber der mit einem roten Balken durchgestrichenen Zigarette, schließt er die Augen.

Alle beobachten Wallner, und

Wallner beobachtet sich selbst

01

26. März

16:15 Uhr. Friseur.

02

Stefan Wallner vergleicht in seinem Büro die Kosten für den Transport von drei Traktoren nach Klatovy – Bahn oder LKW. Frau Beck hat ihn vom Vorzimmer aus angerufen, er kann ihre am Tisch sitzende Gestalt durch die Milchglasscheibe sehen. Sie sagt, daß ihn zwei Polizeibeamte sprechen wollen. Wallner läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Die Polizeibeamten werden wegen dieser Lieferung von CLAAS-Reifen aus Danzig vor zwei Jahren kommen, die nicht versteuert wurde. Sobald die Polizeibeamten gegangen sind, wird Wallner Ulrich Wiget anrufen, um sich mit ihm zu beraten, ob man die Akten in Wigets Büro, alle Beweise beseitigen, am besten vernichten oder ob man einen Anwalt kontaktieren soll, den Fall schildern, nach den möglichen rechtlichen Konsequenzen fragen, abwägen. Der Anwalt hätte Schweigepflicht.

Die beiden Polizeibeamten treten ein. Es habe sich ein ICE-Unglück ereignet, man gehe davon aus, daß sich Wallners Vater unter den Toten befinde, man habe eine Leiche mit einem Paß auf den Namen Günter Wallner gefunden, es täte ihnen leid. Es entsteht eine Pause.

Wallner geht durch den Flur und steigt die Treppe zum ersten Stock herunter, wo Wiget sein Büro hat. Draußen ist ein strahlender Tag, die Sonne scheint hell durch die Fenster. Wallner sagt, daß soeben die Polizei dagewesen sei, sein Vater sei bei einem ICE-Unglück ums Leben gekommen, sein Vater sei tot.

Wiget steht auf und fragt: „Dein Vater?“

Wallner kann Wigets Gesichtsausdruck hinter dessen schwarzen Bart nicht genau erkennen.

Es entsteht eine Pause.

Wiget fragt: „Bist du OK?“

Wiget soll Wallner in den Arm nehmen.

Wallner hat „Ich weiß nicht“ gesagt, seine Stimme zittert dabei, er werde für heute Schluß machen, Uli solle ihn bei allen weiteren Terminen heute vertreten.

Wiget umarmt Wallner. Wallner drückt sein Gesicht an Wigets rechte Schulter, Wiget hält ihn, Wallner weint.

Wallner geht zum Büro seiner Frau Ana und grüßt auf dem Flur Frau Bräuer aus der Buchhaltung. Er sagt Ana, daß sein Vater tödlich verunglückt sei, ein Zug sei entgleist, ein ICE, es sei aber schon in Ordnung, er wolle jetzt nur nach Hause, sie könne ruhig hierbleiben, er komme schon klar. Ana ist aufgestanden und hat die rechte Hand an ihren Mund gedrückt. Ana wird Wallner umarmen wollen. Als Ana auf Wallner zugeht, um ihn zu umarmen, macht er einen Schritt zurück und sagt, daß es schon in Ordnung sei, er brauche nur Ruhe, es sei schon in Ordnung.

Zu Hause in der Küche nimmt Wallner zwei Toastscheiben aus dem Kühlschrank und belegt sie mit Emmentaler und Putenschinken. Von der Treppe sind Schritte zu hören, die angelehnte Küchentür öffnet sich. Costin trägt das goldfarbene Trikot der rumänischen Fußballnationalmannschaft, er muß Wallner gehört haben.

Costin fragt: „Tata? Was machst du denn hier?“

Wallner fragt: „Und du? Was machst du hier?“

Costin sagt: „Ich muß nach Regensburg“, er deutet auf die weiße Sporttasche, die um seine Schulter hängt.

„Diese Tanzgeschichte?“ fragt Wallner.

„Diese Tanzgeschichte“, sagt Costin und nickt.

Er beugt sich zum Teller vor, greift nach der zweiten Toastscheibe und steckt sie als Ganzes in den Mund. Als sich Costin umdreht und mit gespielt hastigen Bewegungen in den Flur verschwindet, hat ihm Wallner, der ihm gar nicht erst folgt, auf den Rücken gepatscht. Auf der Rückseite des Trikots steht über der fettgedruckten schwarzen Acht ein Name, den Wallner noch nie gehört hat, Pesencu.

Das Aufschieben von Angelegenheiten kann Folgen haben. Alles rächt sich. Wallner weiß, daß Ana in der obersten Schublade des Schreibtischs ihr hellgrünes Filzadreßbuch aufbewahrt, in das sie, seit er sie kennt, Adressen einträgt, noch heute, obwohl sie einen mit Handy und Rechenfunktion ausgestatteten Organizer besitzt. Das hellgrüne Filzadreßbuch ist für Verwandte, Freunde und Bekannte, der Organizer für Kunden, Arbeitskollegen und Geschäftsanschriften. Wallner schlägt die Seite der Familiennamen auf, die mit W beginnen, und sucht die Telefonnummer seiner Cousine heraus. Er kann ihre Stimme hören, die sich mit „Wallner-Lloyd“ meldet, und seine eigene, die „Stefan“ sagt. Wallner unterläßt es, seine Cousine anzurufen. In seinem Arbeitszimmer gibt er im Suchfeld auf der Seite seines E-Mail-Kontos „Wallner-Lloyd“ ein und schreibt als Antwort auf die Rundmail, die seine Cousine unter anderem auch an ihn immer zu Weihnachten schickt, sein Vater sei tödlich verunglückt, sie solle ihn aber vorerst nicht anrufen, bitte –, er löscht, was er gerade geschrieben hat, und schreibt, sein Vater sei tödlich verunglückt, sie solle ihn aber vorerst nicht anrufen, bitte –.

Wallner sieht, wie seine Cousine in ihrem Büro im Sozialamt, das er nicht kennt und sich deshalb als das Büro Anas vorstellt, die E-Mail öffnet und die rechte Hand vor den Mund hält, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.

Nein.

Er stellt sich vor, daß sie die E-Mail öffnet, einen wichtigen Telefonanruf bekommt und „Darf ich Sie zurückrufen? Ich bin gerade in einem Meeting“ sagt. Sie klingt gefaßt.

03

Aus der Luft, vom Hubschrauber aus, sind die Waggons des ICEs auf offener Strecke zwischen grünen Feldern gut erkennbar. Zwei Waggons sind nach links zur Seite gekippt, die anderen Waggons stehen in gerader Linie. Um die umgestürzten Waggons liegen helle Kleidungs- und Gepäckstücke verstreut, bei denen es sich aber auch um Menschen handeln könnte. Der Augenzeuge Dieter Baumann, der eine hellbraune Strickjacke trägt, die spärlichen weißen Haare zurückgekämmt, sagt aus, er habe ein lautes Quietschen wie von Bremsen gehört, dann ein Krachen, er sei hinausgerannt und da habe der ICE auch schon dagelegen. Baumann deutet dabei mit dem ausgestreckten Arm auf das Feld, die weißen Waggons des ICEs in der Ferne, auf dem leicht erhöhten Damm. Eine Nahaufnahme zeigt die beiden umgestürzten, nahezu unbeschädigten Waggons, um die herum Feuerwehrleute und andere Uniformierte stehen, reden. Laut dem roten Tickerband am unteren Bildschirmrand beläuft sich die Zahl der Todesopfer auf 19, die Zahl der Verletzten auf mehr als 60. Als Unfallursache wird mangelnde Gleiswartung angegeben. Um 16:59 Uhr schaltet Wallner auf die heute-Nachrichten. Der Nachrichtensprecher trägt eine gelbe Krawatte mit roten Punkten, er sagt, es habe sich heute vormittag auf der Strecke Essen–Köln ein schweres ICE-Unglück ereignet. Man gehe von 19 Toten und mehr als 70 Verletzten aus. Die Aufnahme aus dem Hubschrauber zeigt die weißen Waggons des ICEs, die beiden Waggons, die nach links auf das Feld gekippt sind, ringsum verstreut die Kleidungs- und Gepäckstücke, bei denen es sich auch um Menschen handeln könnte.

04

Wallner hat seine Anzughose aus- und eine Jeans angezogen. Während er sein Hemd aufknöpft, hat er plötzlich eine Szene vor Augen. Da ist sein Vater. Er sitzt in einem Sechserabteil in einem ICE. Er hat das Aussehen, das er als etwa 65jähriger hatte, als Wallner ihn zum letzten Mal sah, und nicht das des 82jährigen, als der er starb. Durch die Bremsung des Zugs fällt das durchsichtige Brett des Gepäckfaches auf seinen Kopf. Er stürzt nach vorne, sein Hinterkopf ist eingedrückt. Aus einem Spalt in der Schädeldecke tritt Blut und färbt das grau-schwarze Haar dunkelrot.

05

2. April

König anrufen!

06

In Wallners Kopf befinden sich grüne, blaue und rote Flekken. Dr. Kaduk deutet mit einem Stab auf die Ergebnisse der PET-Aufnahme auf dem Bildschirm.

„So. Nicht erschrecken. Schön bunt, gell? Ich erkläre Ihnen das mal. Hier haben wir das Gehirn. Wir haben ja, wie gesagt, mal die Funktionen gemessen. So. Wir können jetzt auch näher herangehen, um ganz sicher zu sein, daß da nichts ist.“

Dr. Kaduk zoomt mit der Tastatur auf den blauen Fleck, der, wie Wallner jetzt sieht, außen heller ist als innen, azur. „Also“, sagt Dr. Kaduk, „ich habe mir das schon am Vormittag angesehen, und ich kann Sie beruhigen. Da ist nichts. Kein Tumor oder ähnliches. Bitte jetzt nicht enttäuscht sein.“

Dr. Kaduk lacht über seinen Witz und fletscht dabei die Zähne. Wallner lacht mit und hofft, daß es nicht allzu gezwungen wirkt.

„Was meinen Sie dann, woher das kommt? Haben Sie da eine Erklärung?“ sagt Wallner.

Er hätte nicht so abrupt zu lachen aufhören sollen.

„So. Ja. Was Sie mir da geschildert haben, ihre Symptome, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, das mit dem Herzen und so weiter, also für mich klingt das nach klassischer Überarbeitung, zuviel Streß, um es mit einem Wort zu sagen.“

Dr. Kaduk lacht wieder, zähnefletschend. Wallner hatte gedacht, dieses Gefühl, daß da etwas in seinem Kopf sei, etwas Fremdes, Kieselsteingroßes, würde verschwinden, sobald der Beweis erbracht wäre, daß es sich um etwas Ungefährliches handelte. Aber der Kieselstein ist noch immer da.

Möglicherweise hat Dr. Kaduk auch recht. Wallners Nervosität, seine Gereiztheit, das alles könnte streßbedingt sein, seine Angestellten blicken ihn ja zudem seit neuestem mit diesen Augen an, man könnte manchmal tatsächlich glauben, sie führen etwas im Schilde gegen Wallner. Auch Wiget benimmt sich seltsam in letzter Zeit. Erst am Donnerstag war Wallner in sein Büro gekommen, Wiget hatte an seinem Schreibtisch gestanden, einfach so, es schien ihm nicht einmal peinlich zu sein, die Schubladen waren offen. „Du durchsuchst meine Schubladen?“ hatte Wallner gesagt, es sollte wie ein Scherz klingen. Wiget hatte das in den falschen Hals gekriegt, hatte „Du spinnst doch“ oder „Hast du sie noch alle“ gesagt und war hinausgestürmt, Wallner war ihm sofort hinterhergelaufen und hatte sich bei ihm entschuldigt. Aber nicht nur seit diesem Vorfall hatte Wallner das Gefühl, daß Wiget nicht mehr so offen und herzlich wie früher zu ihm war.

„Was ist das hier eigentlich?“ Wallner zeigt mit dem Finger auf einen schwarzen Fleck in einem der roten Flecken auf dem Bildschirm. Wallner muß an ein Baustellenloch in einer Straße denken. Dr. Kaduk hat Wallner für den Bruchteil einer Sekunde durchdringend angeschaut, als wüßte er etwas, was er Wallner nicht sagen darf. Als sei Wallner ihm auf die Schliche gekommen.

Dr. Kaduk sagt: „Zoomen wir doch einmal hin.“

Je näher der schwarze Fleck auf dem Bildschirm rückt, desto mehr färbt er sich rot ein, geht im roten Fleck um ihn auf.

„Ja, Sie sehen. Da ist nichts“, sagt Dr. Kaduk.

07

Die Frauenstimme sagt, er solle die nächste Ausfahrt nehmen. Wallner wollte für einen Moment einen Gang zurückschalten, dann ist ihm wieder eingefallen, daß der Mietvan ja Automatik besitzt. In der Ferne sind drei Kuppeln zu sehen, die Deutzer Bürotürme, in ihren Fenstern spiegelt sich das Licht der Nachmittagssonne; ganz dünn, zwischen den Hochhäusern: die Spitze des Doms. Wallner biegt in die Ausfahrt Bergisch-Gladbach.

Ein Piepton erklingt, Wallner hält den Van an. Er sucht den Knopf für das Navigationssystem, schaltet versehentlich das Radio an, erst als er den Knopf darüber drückt, erlischt der Bildschirm mit dem Stadtplanausschnitt des Wohngebiets, der Straße, in der er jetzt parkt.

Sein Vater hat die letzten 17 Jahre in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus mit Blick auf den knorrigen Apfelbaum im Garten davor gelebt.

Wallner drückt die oberste Klingel an der Haustür, die Klingel neben dem Namensschild Wallner. Es ist wahrscheinlich, daß hinter den Vorhängen in den Häusern gegenüber Hausfrauen, die gerade Mittagessen kochen, oder Rentner, deren Hauptbeschäftigung es ist, jedes Geschehen im Wohngebiet zu verfolgen, auch jetzt, Wallner beobachten, er kann ihre Blicke regelrecht auf seinem Körper spüren. Vielleicht auch Bekannte seines Vaters, Freunde, die sich bei ihm einmal wöchentlich zum Kartenspiel trafen.

Die Haustür öffnet sich, aufgestaute Wärme schlägt Wallner entgegen, Klebstoffgeruch. Ana steht in der Tür der ersten Wohnung im Erdgeschoß.

Sein Vater hat in einer Erdgeschoßwohnung gelebt.

Ana umarmt Wallner und fragt ihn, wie die Fahrt gewesen sei. Ana schwitzt. Sie führt ihn durch die Wohnung, sagt: „Also das war“ – sie sagt war, nicht ist – „das Wohnzimmer, hier das Schlafzimmer, das die Küche“, sagt: „Hier war das Bad“ und deutet auf die Kartons mit den Gegenständen, die sie schon eingepackt hat, das Radio, den AB. Auf dem Glastischchen vor dem schwarz bezogenen Sofa liegen ein Briefumschlag mit dem Sparbuch von Wallners Vater und Schmuckstücke aus dem Safe, die Ana gestern, als sie mit Wallners Vollmacht und seinem Erbschein bei der Hypo-Bank in Köln war, um das Konto seines Vaters aufzulösen, mitgebracht hat, wie sie sagt.

Wallner sagt: „OK. Das schaue ich mir dann nachher an.“

Für einen Moment hat er das Gefühl, sich in der früheren Wohnung seines Vaters zu befinden, die Anordnung der Möbel im Wohnzimmer – das schwarz bezogene Sofa an der Wand, das Glastischchen davor, daneben die Stehlampe, der Orientteppich – ist dieselbe wie in Köln-Rodenkirchen. Auf dem Glastischchen liegt die Fernbedienung für den Fernseher. Wallner kann seinen Vater sehen, der vom Sofa aus, den rechten Arm ausgestreckt, mit der Fernbedienung in der Hand den Fernseher ausschaltet, die Fernbedienung, sich vorbeugend, auf das Glastischchen legt. Klack.

Wallner sagt: „OK. Wir machen das jetzt folgendermaßen. Ich nehme mir das Schlafzimmer vor, und du machst in Küche und Bad weiter.“

Alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs, für die sie in Cham keine Verwendung haben, kommen in blaue Müllsäcke. Im Zweifelsfall entscheidet Wallner. Gegenstände aus dem Familienbesitz, die nicht so viel wiegen, als daß sie von den Spediteuren getragen werden müßten plus bei denen sich Wallner und Ana einig sind, daß sie Verwendung in Cham finden werden, kommen in einen Umzugskarton. Die Zahnbürste von Wallners Vater ist ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs. Sie kommt in einen Müllsack. Ana fragt, ob das Glastischchen weg oder mitgenommen werden solle, sie brauche es jedenfalls nicht. Wallner sagt, das Glastischchen sei Familienbesitz, es stamme von den Eltern seiner Mutter, selbstverständlich werde es mitgenommen. Die beigen Vorhänge im Wohnzimmer sind ein Zweifelsfall. Wallner sagt: „Nein.“

Im Schlafzimmer steht ein Einzelbett. Es sieht alles danach aus, als ob Wallners Vater allein lebte. Auf dem Nachttisch rechts neben dem Bett: ein halb gefülltes Glas Wasser. Wallner kann seinen Vater sehen, er liegt mit dem rotsilber gestreiften Pyjama, den er getragen hat, als Wallner noch ein Kind war, im Bett, in der linken Hand ein Buch, lesend, mit einem Griff der rechten, weiter lesend, führt er das volle Glas an den Mund, trinkt, stellt das halb gefüllte Glas auf den Nachttisch, räuspert sich. Wallner hört Ana, die im Bad Gegenstände in einen Müllsack wirft.

Wenn man mit Gegenständen in Berührung kommt, bei denen eine heftige Gefühlsreaktion wahrscheinlich ist (Beispiele: die flach und nahezu faltenlos auf dem Bett liegende Decke und das Kissen, die Wallner jetzt hastig in Müllsäcke stopft), sind die Überlegungen hilfreich, daß sein Vater ihn damals wegen des Kredits angelogen hat, das heißt generell gegen ihn und seine Firma gewesen ist, dann: Wallners Mutter nicht wirklich geliebt haben kann, weil er bald nach ihrem Tod und vielleicht schon davor zahlreiche Verhältnisse mit Frauen hatte, die Wallner zuwider waren, und: sein Vater sich seit ihrem Streit nicht mehr bei ihm gemeldet hat und daß daher Wallner ihm, seinem Vater, keine Träne nachzuweinen habe. Wallner spürt, daß gerade eine Welle auf ihn zurollt, sie wird ihn lähmen, er wird die Fassung verlieren, die Strategie, die er sich in den letzten schlaflosen Nächten und auf der Hinfahrt zurechtgelegt hat, droht in sich zusammenzufallen, er schafft das nicht, es geht nicht, er muß sich auf irgend etwas konzentrieren, um Gottes Willen, irgend etwas.

Wallner hat Hunger bekommen. Die Einbauküche macht einen neuen Eindruck, sie riecht nach Zitrone, ist sehr sauber, wahrscheinlich hat Ana sie aufgeräumt. Wallner öffnet den Kühlschrank mit der hellen Holzverkleidung, auch zu Hause in Cham öffnet er immer, wenn er in die Küche kommt, als erstes den Kühlschrank mit der weißen Plastikverkleidung. Der Kühlschrank ist leer und riecht nach Zitrone. Wallner öffnet das Gefrierfach, in dem sich mehrere Pizzas con Funghi befinden.

Günter Wallner mag Pilze.

Nein.

Günter Wallner mochte Pilze.

Wallner inspiziert die Schränke über der Ablage. Er nimmt die XL-Packung der weißen Schokolade mit Nüssen, die bereits angebrochen ist, schaut auf das Verfallsdatum, November in zwei Jahren, und bricht zwei Rippen ab.

Es gilt, den Inhalt der Truhen, Schränke und des Schreibtischs mit voller Konzentration auf Schnelligkeit plus unter optimaler Ausnutzung des Platzes in den Kartons auszuräumen. Später, beim Auspacken, zu Hause, kann der Inhalt dann näher betrachtet werden.

Wallner beugt sich vor und öffnet den Deckel der Truhe im Schlafzimmer. Er sieht seinen Vater, der sich vorbeugt und den Deckel der Truhe öffnet. Als er die Müllsäcke mit den Kleidungsstücken vor die Haustür trägt, ist es draußen, ohne daß Ana und er es gemerkt hätten, Nacht geworden.

Das Hotel Schmidt liegt gegenüber der S-Bahn-Station. Die Jugendlichen auf den Bänken haben ihnen beim Parken und Aussteigen zugesehen. Wallner möchte lieber gleich etwas essen, bevor er auf das Zimmer geht und duscht, weil er Angst hat, daß er es dann nicht mehr aus dem Bett schafft, er spürt seine Arme und Beine. In der Gaststube steht ein Mann hinter dem Tresen – der Wirt? Herr Schmidt? –, der zuerst lächelnd Ana und dann, nicht mehr lächelnd, mit einem durchdringenden Blick Wallner begrüßt und auf einen Tisch weist, an dem lediglich ein älteres Ehepaar sitzt.

Als der Wirt das Essen bringt, stellt er sich wie zu einer Rede mit angewinkelten Ellbogen und gefalteten Händen auf und wünscht „Einen Guten Appetit“. Noch einmal sieht er Wallner mit diesem Blick an, dann wieder Ana, lächelnd.

Wallner steckt ein Kartoffelstück in den Mund, kaut, fragt, ob Ana denn eigentlich beim Grab gewesen sei, ob da alles glattgegangen sei, hört zu kauen auf und hält die Gabel über dem Teller, ohne sie zu senken oder zu heben. Ana sagt, sie sei dagewesen, dieser Mann am Friedhof, der wohl dafür zuständig sei, habe ihr den Eintrag von der Feuerbestattung und der Urnenbeisetzung gezeigt, am Grab hätten einige Kränze gelegen, einer wohl von der Kanzlei, in der Wallners Vater früher gearbeitet habe, sie habe den Betrag für die Instandhaltung des Grabs für die nächsten zwei Jahre von einem Teil der Entschädigung gezahlt, die sie von der Deutschen Bahn erhalten haben. Wallner kaut weiter, will sprechen, so etwas wie „Na schön“ oder „Na dann paßt ja alles“, kann aber nichts sagen, er bringt kein Wort heraus, damit Ana es nicht sieht, tut er so, als huste er in die Serviette.

Als Wallner in das Zimmer tritt, fällt sein erster Blick auf Anas BH und ihren Schlüpfer, die auf dem Bett liegen, die zerwühlte Decke.

08

Wallner läßt die Akte aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen, nimmt seinen Übergangsmantel von der Garderobe im Sekretariat, sagt zu Frau Beck, daß er noch etwas zu Hause vergessen habe und in einer Viertelstunde wieder zurück sei, eilt durch den Flur, das Treppenhaus hinaus. Es ist bewölkt. Auf dem Parkplatz kommt ihm Ana entgegen. Sie fragt, ob etwas passiert sei, warum er es denn so eilig habe. Sie hat dabei wieder diesen Ausdruck, der Wallner immer an eine Kuh erinnert. Mit der flachen Hand schlägt er ihr ins Gesicht. Wortlos ist sie nach hinten gekippt, noch mal, Ana kommt ihm entgegen, sagt etwas mit Kuh-Ausdruck, Wallner schlägt ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, auf die Nase, aus der sofort Blut rinnt.

Mit normalem Tempo, ohne sich zu hetzen, fährt er nach Hause, packt in seinen Koffer Kleidung für zehn Tage. Er schaut sich im Haus um, Geld? Hat er. Noch irgendwas? Er braucht ja nichts. Einen Regenschirm vielleicht. Den Wagen parkt er vor dem Bahnhof, in dem kaum etwas los ist. Wallner löst eine Fahrkarte nach Paris.

„Einfach?“ fragt die Frau am Schalter.

„Einfach“, sagt er.

„Da müssen Sie in Nürnberg und München umsteigen“, sagt die Frau.

„Weiß ich“, sagt Wallner.

Keine fünf Minuten, und der Regionalexpreß nach Nürnberg fährt ein. Wallner setzt sich ans Fenster. Er sieht den Kirchturm von St. Jakob vorbeiziehen, den insolventen Axmann-Möbelmarkt mit den leeren Auslagen. Am Horizont ist der Gewerbepark von Chammünster zu erkennen, das Flachdach von Wallner & Wiget, das Fenster seines Büros, ganz oben, das zweite von links, in dem noch Licht brennt. Schon ist die Silhouette der Stadt vor dem dunkelgrünen Schloßberg zu einem schwarzen Strich zusammengeschrumpft.

Das Telefon klingelt.

„Beck. Ich sollte Sie daran erinnern, daß der Herr Schmaderer um elf einen Termin hat“, sagt Frau Beck.

„Danke Ihnen“, sagt Wallner.

Mit einem Ruck ist er aufgestanden. Schmaderers Akte liegt aufgeschlagen vor ihm. Wallner geht ins Sekretariat, Frau Beck schaut überrascht vom Computer auf. Sie hat nicht mit Wallner gerechnet. Wenn sie sich, wie jetzt, sicher vor ihm glaubt, macht sie Internet-Shopping, Wallner weiß das, aber das spielt in diesem Augenblick keine Rolle. Er nimmt seinen Übergangsmantel von der Garderobe und sagt: „Ich habe noch etwas Wichtiges zu Hause vergessen, bin in einer Viertelstunde wieder zurück.“ Er eilt durch den Flur. Ana kommt ihm entgegen, er dachte, sie komme erst um elf in die Firma. Sie lächelt ihm zu.

„Hast du wieder was liegengelassen zu Hause?“ fragt sie.

Der Streit gestern abend wegen dem Sofa, das sie, ohne Wallner zu fragen, bestellt hat, scheint kein Thema mehr zu sein.

„Ja“, sagt er kurz und weicht ihrem Blick aus. Wallner spürt förmlich, wie sich ihre Gesichtszüge verhärten, wie Ana das hier verletzt. „Entschuldigung“, sagt er schnell, geht zurück, umarmt sie, „Entschuldigung“, hält sie fest, möchte sie nicht loslassen, „ich muß weiter“, er schluckt, wendet sich ab, geht durch die Glastür.

Im Treppenhaus hallen seine Schritte, als er hinunterläuft, viel zu laut, der Kieselstein in seinem Kopf drückt, es ist kaum auszuhalten. Auf dem Parkplatz atmet Wallner tief ein und aus, geht, als ihm schwindelt, in die Hocke, der teure Mantel schleift im Dreck, die Sonne scheint, keine Wolke ist am Himmel. Auf dem Weg nach Hause fällt Wallner ein, daß Costin ja heute freihat. Costin wird ihn sehen, fragen, was los sei. Wallner fährt direkt zum Bahnhof. Er kann sich ja später alles, was er braucht, kaufen. Er beschließt, die Fahrkarte erst im Zug zu lösen, und zwar sukzessive, eine nach Nürnberg, eine nach München, eine nach Paris, damit, falls Nachforschungen angestellt werden und die Frau am Schalter gefragt wird, seine Spuren verwischt sind.

Wallner setzt sich auf die Bank am Bahnsteig. Der Regionalexpreß nach Nürnberg hat Verspätung. Wallner weiß plötzlich, daß er nicht in den Zug nach Nürnberg, nach München oder nach sonstwohin einsteigen wird, er hat es die ganzen letzten Minuten gewußt, seit er das Firmengelände verlassen hat, um elf ist der Termin mit Schmaderer. Wallner steht auf, aus dem Augenwinkel hat er bei dem Getränkeautomaten neben ihm, ein paar Meter entfernt, einen Mann warten sehen, ungefähr 1,85 groß, leicht untersetzt, schon etwas älter, brünettes Haar, spitze Nase, blauer Mantel, Wallner läuft es eiskalt über den Rücken. Was ist denn, wenn ihn jemand hier sieht, jemand, der ihn kennt, jemand, der Schmaderer kennt, der Wiget kennt und der ihm, vielleicht zufällig, erzählt, daß er Wallner werktags vormittags am Bahnsteig traf, übrigens, weißt du, wen ich neulich.

Auf der Treppe der Unterführung hat Wallner sich noch einmal kurz umgedreht, ob ihm der Mann am Bahnsteig nachsieht. Der Mann hat ihm in die Augen geblickt, auch er hat sich auf der Treppe zur Unterführung gegenüber umgedreht. Der Mann ist Wallner. Ungläubig betrachtet er sich selber noch ein paar Sekunden im Spiegel auf der Rückseite des Getränkeautomaten.

Auf dem Weg vom Parkplatz zur Firma drückt Wallner auf den Knopf am Schlüsselbund, um das Auto abzusperren. Summend klappen sich die Seitenspiegel ein. Wallner steigt die Treppe hoch, geht durch den Flur, im Sekretariat schüttelt er Schmaderer, der schon wartet, die Hand, hält ihm die Tür zum Büro auf. Schmaderer setzt sich, Wallner schaut auf die aufgeschlagene Akte vor sich und sagt: „Ja, Herr Schmaderer, also das mit dem Rabatt, das verhält sich wie folgt. Bei einer Abnahme von drei Traktoren gewähren wir einen Rabatt von sieben Prozent.“

09

Er schließt den Kühlschrank und belegt einen Toast mit Emmentalerscheiben. Jemand kommt die Treppe heruntergerannt.

Costin steckt seinen Kopf durch die angelehnte Küchentür und sagt: „Ciao, Tata. Heute schon so früh zu Hause?“

Wallner sagt: „Und du? Diese Tanzgeschichte?“, während er überlegt, wann die Angst, die er immer hatte, als er dieses winzige Baby in den Armen hielt, als Costin auf seinem Rolli in der Garageneinfahrt seine Kreise drehte, als Costin auf der gemeinsamen Radtour nach Tschechien außer Sichtweite vorausfuhr, um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren, wann diese Angst, daß Costin (und auch Ana, als sie Costin jede Woche zum Gesangsunterricht nach Regensburg brachte) etwas zustoßen könnte, aufhörte.

10

8. Juni

Nürnberg. Horten. Karstadt. Saturn.

11

Er hat die Hand flach auf den Schreibtisch gelegt und versucht, etwas langsamer zu atmen. Vielleicht haben sich an seinen Mundrändern kleine weiße Spuckeablagerungen gebildet. Wiget hat die ganze Zeit über bewegungslos mit übereinandergeschlagenen Beinen dagesessen und hat sich den Bart gestrichen.

Er sagt: „Wenn du das jetzt so erklärst, Stefan, mit deinem Vater und so, dann wird jetzt natürlich einiges klarer. Ja, jetzt wird einiges klarer. Ich meine, man konnte ja schon so was ahnen, im Prinzip. Das war ja auch jetzt alles nicht so tragisch, mir ist das eben aufgefallen. Eben auch, weil das früher nie so war, daß du so neben dir stehst, daß du die Leute so anfährst, wir hatten ja auch immer, würde ich sagen, wirklich ein sehr gutes Verhältnis.“

„Ja“, sagt Wallner und nickt einmal kraftvoll.

„Ja, und wie gesagt, dann ist es auch nicht so schlimm, wenn ich das jetzt weiß, aber paß halt besser auf, mit den Angestellten“, sagt Wiget.

Es entsteht eine Pause.

„Wie ist das zu Hause momentan, mit euch?“

„Hat sie irgendwas gesagt?“ fragt Wallner schnell und hat kurz von Wiget weg nach links auf die Fußbodenleiste aus hellbraunem Holz gesehen, Wiget hat „Hmhm“ gemacht und mit den Schultern gezuckt.

„Ich bin da oft unbeherrscht ihr gegenüber, und ich weiß auch, daß ich sie da oft verletze in letzter Zeit, und das ist so“, Wallner macht eine kurze Pause, „Scheiße“, schaut Wiget ins Gesicht, der sich noch immer den Bart streicht, und fährt fort, „daß ich da nicht mit dem Tod vom Papa, ich meine von meinem Vater, klarkomme und daß ich mich da jetzt auch noch an der Ana abreagiere. Ich will das nicht. Und ich. Ich schäme mich, Uli. Ich schäme mich.“

Es entsteht eine Pause.

Wiget fragt: „Habt Ihr schon darüber“, Wallner unterbricht ihn und sagt: „Wir werden das noch machen, wir müssen das machen, aber du weißt ja, wie es ist, von ihr kam jetzt noch nichts, und sie ist sich sicher im klaren darüber, wie schwierig das alles ist, für mich, aber alles weiß sie natürlich auch nicht. Wir werden darüber reden. Ja.“

Es klopft.

Frau Beck tritt ein und sagt: „Herr Wiget, etwas Dringendes wegen Wolnzach. Ein Herr Kaiser.“

Wiget steht auf. Frau Beck steht noch in der Tür. Wallner möchte zu Wiget gehen und ihn umarmen und noch einmal Danke oder etwas Ähnliches sagen, bleibt dann aber stehen, hebt den Arm und sagt: „Also, bis nachher dann, Uli, gell“ und lächelt kurz Frau Beck zu, die zurücklächelt. Nachdem sie die Tür geschlossen hat, setzt er sich wieder an seinen Schreibtisch und legt die Hand flach darauf. Er schaut auf die Fußbodenleiste aus hellbraunem Holz, links, und schlägt einmal sehr leicht mit der flachen Hand auf die Tischfläche.

12

Im Sekretariat ist jemand. Eine schwarze Gestalt hat sich hinter der Milchglasscheibe bewegt, jetzt wieder, obwohl Frau Beck das Gebäude schon längst verlassen hat. Sie verabschiedete sich etwa vor einer halben Stunde bei ihm. Er hat sie vom Fenster aus über den Parkplatz zu ihrem silbernen Ford stöckeln sehen. Er steht auf. Ihm ist etwas mulmig. Wer kann noch im Gebäude sein? Nur Breitenbacher sitzt noch in seinem Häuschen an der Pforte. Wallner geht leise zur Tür und reißt sie mit einem Ruck auf, er meint, gerade eben noch im geöffneten Spalt der Tür zum Flur ein Bein gesehen zu haben. Wallners Herz rast. Er tritt in den Flur, das Licht hat sich automatisch eingeschaltet. Der Flur ist leer. Wenn jemand vor Wallner aus dem Sekretariat gegangen ist, dann hätte das Licht schon brennen müssen; unmöglich, daß jemand die Bewegungssensoren überlistet. Aber da war jemand, Wallner ist sich sicher. Ratlos schließt er die Tür. Die Blätter des Ficus neben dem leeren Schreibtisch von Frau Beck zittern für einen Moment vom Luftzug und hängen dann wieder bewegungslos da.

13

Sie ist ruckartig aufgestanden und hat ihren Teller mit den Speiseresten klirrend auf den seinen gelegt. Ihre schwarzen Locken sind ihr dabei ins Gesicht gefallen, das hat sexy ausgesehen. Er wollte sie leicht am Arm festhalten, „Jetzt bleib doch mal da“, hat er gesagt, aber sie hat sich mit einer übertriebenen Bewegung losgemacht und ist mit festem Schritt in Richtung Küche gegangen. Jetzt steht er auf, sieht ihr nach, wartet darauf, daß sie sich umdreht und „Das ist einfach zu-viel“ oder „So was kannst du zu deinen Angestellten sagen, aber nicht zu mir“ sagt. Er geht ihr nach. Sie steht mit gesenktem Kopf vor der Ablage, auf die sie die Teller abgestellt hat, er kennt ihren Gesichtsausdruck, sie versucht, nicht zu weinen.

Sie holt Luft und sagt: „Ich habe wirklich Verständnis für alles, was du durchgemacht hast, mit deinem Vater und so, und ich habe dir auch geholfen“, sie atmet aus und holt Luft, „aber das“, sie hält den Atem an, „das ist jetzt eben zuviel. Das kannst du mit deinen Angestellten machen, aber nicht mit mir. Das geht jetzt zu weit mit deiner schlechten Laune, Stefan, wirklich.“

Jetzt hält sie es nicht mehr zurück, sie weint.

„Nimm auch Herrgott noch mal Rücksicht auf deine Mitmenschen. Bitte.“

Sie hält sich die flache Hand vor den Mund und geht zur Tür. Ohne ihn anzusehen, hat sie darauf gewartet, daß er einen Schritt zur Seite macht und sie durchläßt.

Er sagt: „Ana“, legt ihr die Hand auf die Schulter, den weichen hellblauen Wollpulli (= Bitte um Verzeihung). Sie hat Wallner angesehen, ohne ein böses Gesicht zu machen, wie er es eigentlich erwartet hätte (= Wut), sondern mit Tränen in den Augen und auf den Wangen (= Trauer), für einige Momente (= möglicher Beginn der Vergebung durch vorbehaltlose Darlegung der eigenen Gefühle), dann ist sie in den Flur und weiter ins Wohnzimmer gegangen.

Er steht noch in der Tür und schaut auf die von der Dekkenlampe beleuchteten weißen Kacheln des Küchenbodens. Er möchte ihr sagen, daß er doch wisse, daß er sie verletze und daß er das nicht wolle und daß er sich schäme, es ihm leid tue und daß es Scheiße sei, er sei über den Tod seines Vaters immer noch nicht weg und daß er das an ihr abreagiere, daß ihm das bewußt sei.

14

Der Braunbär streift durch das Unterholz. Die dünnen Stämme der Bäume sind kahl. Der Braunbär verfolgt mit der Schnauze am Boden eine Fährte. Deutlich sind die Geräusche, die er macht, zu hören, sein Schmatzen, Grunzen, Brummen. Das Feld ist von Schnee bedeckt. Der Wind weht Schneeschleier in die Höhe. Der Braunbär stapft über das Feld. Seine Beine versinken fast vollständig im Schnee. Der Schnee knarzt. Der Braunbär sitzt auf einer seichten Stelle im Fluß. Sein Fell ist naß. Mit einer nicht genau zu verfolgenden Bewegung seiner Vordertatzen fängt er einen mittelgroßen Fisch. Der Fisch windet sich so lange, bis ihm der Braunbär den Kopf abbeißt.

Männliche Stimme aus dem Off: „Kira wird noch viele Fische fangen in diesem Herbst. Manchmal bis zu 40 an einem Nachmittag. Das ist auch dringend nötig. In drei Wochen wird Kira Winterruhe halten. Für drei Monate. Drei Monate, in denen sie zwar ihre Höhle nicht mehr verläßt. In denen sie aber auch zwei Junge zur Welt bringen wird.“

Der Braunbär liegt eingerollt im engen Inneren einer Höhle. Das Licht ist schummrig. Seine Augen sind geschlossen. Er gibt Geräusche von sich, Röcheln, Grunzen. Seine Ohren zucken.

Ana schaltet um.

Eduardo hält Constanze umarmt. Constanze hat ihren Kopf an Eduardos Brust gedrückt.

Constanze (leise): „Ich kann dein Herz schlagen hören.“

Ihre Lippenbewegungen sind nicht vollkommen synchron mit ihrer Stimme. Eduardo hat die Augen geschlossen. Er wiegt Constanze hin und her.

Eduardo (leise): „Laß uns das, was heute abend geschehen ist, für uns behalten. Ich werde es nicht meinen und du wirst es nicht deinen Eltern erzählen.“

Es klopft.

Eduardo: „Herein.“

Eduardos Vater, Hernando, tritt ein.

Hernando: „Entschuldigung.“

Er läßt die Tür einen Spalt offen.

Hernando (von draußen): „In zehn Minuten gibt es Abendessen, Kinder.“

Ana schaltet um. Die Uhr auf dem hellblauen Hintergrund zeigt 18:59 Uhr. Der Sekundenzeiger rückt von 51 auf 52.

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13. Juli

17:00 Uhr. Dr. Bräuer. Impfpaß mitbringen!

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14. Juli

Nürnberg. Huber.

17

An einem Samstagnachmittag geht er in den Hobbyraum und sperrt die Tür hinter sich zu. Der Hobbyraum besitzt eine vergitterte Luke aus gelbem Glas. Vom Partykeller nebenan kann er den neuesten Song der im letzten Herbst im Fernsehen gecasteten Popgruppe hören, der, wie er von Costin weiß, gerade in die Top Ten eingestiegen ist. Wenn der Song zu Ende ist, entsteht eine Pause. Dann beginnt derselbe Song von vorn.

In den Modern Dance Lessons, die Costin einmal die Woche in Regensburg besucht, studiert er zusammen mit anderen Jugendlichen bei einem ehemaligen Juror einer Casting-Show Choreographien der aktuellen Popgruppen ein. Es ist sein größter Wunsch, gecastet zu werden. Wie Wallner weiß, steht an der Wand neben der Tür des Hobbyraums Anas Camcorder auf einem Stativ. Costin filmt seine Tanzschritte und schaut sich dann die Aufnahmen an, um eigene Fehler zu erkennen und seine Wirkung auf ein mögliches Publikum zu überprüfen. Kurz nachdem Ana Costin ihren Camcorder geschenkt hatte, hat er in seiner Freizeit mit seinen Freunden, vor allem aber zu Hause, beim Essen, während Wallner und Ana fernsahen oder sich unterhielten, gefilmt, bis es Wallner zuviel wurde und er es ihm eines abends verbot. Wallner hatte wieder Ärger in der Firma gehabt, war zu Hause von Costin überrascht worden, der ihm beim Aufsperren der Haustür und Eintreten im Flur mit dem Camcorder aufgelauert hatte.

Wallner hat sich seit der Auflösung der Wohnung seines Vaters oft, bei der Arbeit in der Firma oder abends, kurz vorm Einschlafen, vorgestellt, wie er in den Keller geht, die Hobbyraumtür hinter sich schließt, wie sein Blick über die hier gelagerten Möbel schweift, die braunen Umzugskartons, wie er ihre Laschen auseinanderzieht und nach und nach die Gegenstände herausholt, die er damals in Bergisch-Gladbach, hastig und ohne sie wirklich anzusehen, umgeräumt hatte, die Fotos, die Aktenordner, den Fernseher, das Radio.

Wallners Blick schweift über die neuen Möbel, die Stehlampe, die zusammengerollten Teppiche, das Nachttischchen, das, sobald er seine Bankausbildung macht und eine eigene Wohnung hat, Costin bekommen soll. Wallner zieht die Laschen des Umzugskartons gleich neben der Tür auseinander und nimmt die Schuhschachtel heraus, in die er die Fototaschen aus den Schreibtischschubladen seines Vaters gelegt hatte.

Wallner hat sich vorgenommen, lediglich Stichproben durchzuführen und nicht alle Fotos anzuschauen. Man hebt einen Stoß Fotos ab, betrachtet das zufällig aufliegende Bild, in diesem Fall: den etwa 50jährigen Günter Wallner mit Kniehosen und Wanderstock vor einer Waldkulisse, ungewohnt: mit schwarz-grauem Bart. Hier, im abgeschlossenen Hobbyraum, ist es dann auch, im Unterschied zu Bergisch-Gladbach, wo Ana anwesend war, möglich, den eigenen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Es tut gut, einfach einmal so für eine Minute zu weinen, aus Trauer darüber, daß der Vater gestorben ist, daß man nie wieder mit ihm reden können wird.

Das nächste Foto, das aufliegt, nachdem Wallner einen weiteren Stoß abgehoben hat, zeigt seinen Vater, ungefähr 70, an der Seite einer etwa gleichaltrigen Frau, wasserstoffblond, er hat den Arm um ihre Schulter gelegt, beide lächeln, im Hintergrund der Petersdom.

Wallner sagt: „In Rom ist er auch gewesen.“

Handelt es sich bei der Frau um eine der Lebensabschnittsgefährtinnen seines Vaters, so wird sie seine letzte gewesen sein. Allerdings können die beiden zum Zeitpunkt des Tods von Wallners Vater nicht mehr zusammengewesen sein, jedenfalls war die Abgebildete nicht im Testament berücksichtigt worden. Sie und sein Vater werden, solange sie ein Paar gewesen waren, Ausflüge wie hier nach Rom gemacht, Kirchen und Museen besichtigt haben, gemeinsam essen gegangen sein. Sein Vater wird ihr viel von sich erzählt haben und dabei, zwangsweise, auch auf ihn, den Sohn, zu sprechen gekommen sein. Die Lebensabschnittsgefährtin wird Wallners Kindheit und Jugend kennen und über seine Familie Bescheid wissen, die Version des Vaters, versteht sich. Sie wird versucht haben, Wallners Vater zu erreichen und wird ihm zuerst höfliche, dann vielleicht immer verzweifelter werdende, in jedem Fall aber inzwischen wieder gelöschte Nachrichten auf dem AB in der Kiste rechts hinterlassen, von seinem Tod aus den Zeitungen erfahren, geweint, eine Kerze an seinem Grab angezündet haben.

Sollte sie eines Tages hier in Cham anrufen und Forderungen stellen, dann weiß Wallner jetzt, wie er sie sich vorzustellen hat.

Die nächsten Fotos aus dem Stoß sind Aufnahmen von Blumen.

Unter der Schuhschachtel mit den Fototaschen liegt das mit dunkelblauem Filz bezogene Album. Als er ein Kind war, hat er es zusammen mit seinem Vater angeschaut, später, während der Schulzeit oder wenn er von Regensburg aus auf Besuch war, auch allein. Nahezu dieselben Bilder kleben in einem anderen in dunkelbraunes Leder gebundenen Album, das er von seinen Großeltern geerbt hat und das jetzt oben im Wohnzimmer steht. Durch die Schwarzweißfotos in beiden Alben kann sich Wallner die Mama als 17jährige Schülerin vorstellen, als 23jährige Braut, 35jährige Mutter und als 38jährige Schilddrüsenkrebspatientin. Er kennt die Fotos auswendig, er muß das dunkelblaue Album jetzt nicht noch einmal aufschlagen, er weiß, daß am Ende das Porträt der ungefähr 30jährigen Else Wallner (mit geschlossenem Mund lächelnd, sie trägt eine Perlenkette, sie hat sehr volles schwarzes Haar) eingeklebt ist, das sich sowohl auf dem Schreibtisch seines Vaters in Bergisch-Gladbach befunden hat als auch auf seinem eigenen Schreibtisch, oben im Büro, steht.

Er sagt: „Das ist jetzt das“ und holt zwei Ordner aus dem Umzugskarton, die die mit einer Schablone aufgemalten Aufschriften Fälle und Rechnungen tragen. Der Fälle-Ordner ist durch farbige Einlagen unterteilt. Die Abfolge der Seiten innerhalb jeder farbigen Einlage ist, soweit Wallner das erkennen kann, stets dieselbe. Auf der ersten Seite wird ein Fall beschrieben, Wallner liest von einem X, männlich, der mit Y, männlich, einen Vertrag abschließt und diesen vorzeitig auflösen will, auf der zweiten Seite steht eine Frage zu dem Fall, „Ist die vorzeitige Auflösung des Vertragsverhältnisses möglich?“, die folgenden Seiten enthalten eine Bearbeitung der Frage, „Nein“.

Wallner sieht seinen Vater, seit dessen Pensionierung Tutor für Jura-Studenten, in seiner Wohnung in Bergisch-Gladbach auf dem Sofa sitzen, das momentan noch im Partykeller lagert, neben ihm auf dem zum Sperrmüll gegebenen Sessel ein Jura-Student mit Brille und blond gefärbtem Haar. Wallners Vater und der Jura-Student haben sich über das rote BGB, das Stefan Wallner in Bergisch-Gladbach in einen der blauen Säcke gesteckt hat, auf dem ebenfalls ausrangierten Wohnzimmertischchen gebeugt. Wallners Vater erklärt dem Jura-Studenten einen Fall und bezieht sich auf die Zeit, als er selber Anwalt war.

Nein.

Wallner sieht seinen Vater allein im Wohnzimmer in Bergisch-Gladbach auf dem Sofa, vor sich auf dem Tisch den roten Schönfelder. Sein Vater verbringt seit seiner Pensionierung einen Teil seiner Zeit damit, sich Fälle auszudenken und diese dann selber zu lösen, zum Spaß. Es gab keinen Jura-Studenten mit Brille und blond gefärbtem Haar, dem sein Vater Nachhilfe erteilte. Die Telefonrechnungen vom Dezember des vorletzten und Januar des letzten Jahres im Rechnungen-Ordner, deren abgeheftete Seiten Wallner einmal vom Anfang bis zum Ende an seinem Daumen entlangblättern läßt, sind in bezug auf die Anzahl der Verbindungen und die daraus entstandenen Kosten nahezu gleich.

Nebenan ist es still geworden. Er sieht Costin vor sich, verschwitzt, mit weißem Stirnband, der die Kamera ausschaltet und zur Tür geht. Wallner holt aus dem Karton das Radio mit Kassettenrekorder und dreht den Schlüssel so leise wie möglich im Türschloß um. Er tritt aus der Tür, wartet ein bißchen, dann tritt auch Costin, verschwitzt, mit weißem Stirnband, aus der Tür des Partykellers nebenan.

Costin sagt: „Hechel. Bin ich platt. Fürs Büro?“ und deutet auf das Radio in Wallners Hand.

Wallner sagt: „Für Ana.“

Als Wallner in die Küche tritt, steht Ana gerade vornübergebeugt am geöffneten Ofen. Es riecht nach Kuchen. Wallner stellt das Radio auf die Ablage neben dem Herd. „Schau mal. Kannst du das brauchen?“

Ana sieht kurz auf.

Wallner fragt: „Was machst du gerade?“

Ana sagt: „Ich backe.“

Wallner hat das Radio eingesteckt. Der Sender, der eingestellt ist, spielt einen Popsong, der letzten Sommer ein Hit war.

18

Sein rechter Schnürsenkel ist aufgegangen. Wallner geht vor der Tür von Wigets Büro in die Hocke und legt den Aktenordner auf den Boden. Hinter der Tür unterhält sich jemand, wenn sich Wallner nicht täuscht, flüsternd. Als Wallner sich wieder erhebt, hört er deutlich, wie die Worte „Wallner“, „Entmündigungsverfahren“ und „Dr. Kaduk“ fallen.

Wiget hat „Dr. Kaduk“ gesagt.

Er weiß von Wallners Arztbesuch.

Frau Beck zischt: „Aber der hat das doch unterschrieben. Das muß Herr Wallner ja nicht erfahren.“

Wallner klopft kurz und tritt ein. Frau Beck trägt ein hellrotes Sommerkleid mit Sonnenblumen. Wallner bemerkt, daß sein Herz wie wild schlägt, schon die ganze Zeit über. Frau Beck sagt zu Wiget, normal laut: „Und dann sage ich zu meinem Mann, entweder wir fahren jetzt nach Madrid oder . . .“

Wiget lacht laut auf und sagt: „Hallo, Stefan. Und wißt ihr auch schon, wohin ihr heuer in den Urlaub fahrt?“

Wallner sagt: „Ach so. Wohin wir heuer in den Urlaub fahren?“

19

Wallner klingelt an der Haustür der Wigets, schultert seine Sporttasche und streicht noch einmal mit der Hand über seine Frisur. Wiget öffnet ihm. Bis auf das weiße Handtuch, das er um die Hüfte geschwungen hat, und die Flip-Flops ist er nackt.

Im Haus riecht es nach Kuchen. Astrid backt gerade eine Torte für Patrick, der morgen Geburtstag hat. Wallner küßt Astrid auf die Wangen und holt aus der Sporttasche das Geschenk für Patrick, das Ana besorgt hat, ein Computerspiel, in dem, soviel man der Beschreibung der Rückseite entnehmen konnte, der Spieler im Ersten Weltkrieg wahlweise als General Schlachten plant, unter anderem auch jene von Verdun – Change History! steht auf dem grellgelben Aufkleber auf dem Cover –, oder aber als Soldat an der Front kämpft. Ana sagt, daß der Verkäufer in Nürnberg ihr erklärte, daß sich das Spiel bei der Gruppe der 15- bis 25jährigen größter Beliebtheit erfreue.

Wiget, der neben Wallner durch den Flur, das Wohnzimmer und von dort aus durch einen Verbindungsgang hinter einer Tür zum Hallenbad schlurft, sagt, daß Patrick nächsten Freitag mit seiner Klasse auf Skikurs nach Kitzbühel fahre und daß er und Astrid hoffen, Patrick mache nicht denselben Blödsinn wie sein großer Bruder, als der damals auf Skikurs war und, wie sich ja Wallner wahrscheinlich noch erinnere, nach Hause geschickt wurde, weil er mit einer Klassenkameradin im Bett erwischt worden war.

Während sich Wallner im Schwimmbad Schuhe, Socken, Mantel, Hose und Pulli auszieht, auf die Kleiderhaken an der Wand hängt, sich das rote Coca-Cola-Handtuch aus der Sporttasche umbindet und aus seiner Unterhose schlüpft, sagt er zu Wiget, der auf einem Hocker gegenüber Platz genommen hat, daß er sich Sorgen mache. Wellenhofer, der Verkäufer für den Bereich Nieder- und Oberbayern habe ihm heute vormittag in der Besprechung gesagt, er wolle zum Ende des Jahres aufhören, einen Ersatz für Wellenhofer zu finden würde schwierig werden, allein die Kontakte zu den Landwirten, die Wellenhofer habe, das komme nicht von heute auf morgen, das müsse wachsen, auch habe Wellenhofer keine Angaben zu den Gründen seiner Kündigung gemacht, Wellenhofer sei noch nicht im Alter für eine vorzeitige Pensionierung, man könne davon ausgehen, daß er abgeworben worden sei, vielleicht von Maier in Rosenheim. Wiget schiebt die Glastür auf. Auf dem Weg zur Sauna am Rand des Grundstücks, der durch die im Boden eingelassenen Lampen beleuchtet ist, hält Wallner wegen der Kälte die Arme vor der Brust verschränkt und fragt sich, ob Astrid sie beide jetzt vom Küchenfenster aus sehen kann, sicher sieht sie aus dem Fenster. Die Schneedecke, die auf dem Rasen ringsum hell schimmert, wird auf dem Feld hinter der Sauna matter und ist an der Stelle, wo der Wald beginnen muß, tatsächlich vollständig von der Dunkelheit verschluckt.

Wallner zieht die Tür zur Sauna auf.

Auf den Liegestufen sind schon zwei Handtücher ausgebreitet.

20

„Ja?“

„Laß uns das irgendwie hinter uns bringen. Daß wir da neu anfangen.“

„Es tut mir . . .“

„Ich weiß schon. Ich weiß doch. Ich habe Sachen falsch gemacht, und du hast Sachen falsch gemacht. Vielleicht können wir das jetzt zu so einem Wendepunkt machen. Laß uns einfach versuchen zu vergessen, was da passiert ist.“

Es entsteht eine Pause.

„Ja?“

„Ich hätte das alles nicht ohne dich. Also du weißt, daß ich das alles hier, die Firma, die Sache mit meinem Vater, daß ich . . .“

„Ich weiß.“

Es entsteht eine Pause.

Er hat seine Hand in ihre gelegt, drückt sie, fest.

21

27. September

München. Konen. Bettenrid. Mövenpick. Sonne.

22

Er wirft einen Blick von der Zeitung auf Ana und Costin und sagt: „Also langsam wird mir das unheimlich. Jetzt hat der Kuhn schon wieder ein Gesetz erlassen. Jetzt können die ohne weiteres hier Wanzen anbringen, hier reinkommen, einfach so und mein Tagebuch lesen . . .“

„Du schreibst Tagebuch?“ fragt Costin.

„. . . also gut, dann eben dein Tagebuch . . .“

„Ich habe kein Tagebuch“, sagt Costin.

„. . . also irgendein Tagebuch halt dann, ist doch egal, die Sache ist doch: Die können einfach in privaten Sachen rumstöbern, auf bloßen Verdacht. Versteht ihr? Auf bloßen Verdacht.“

„Nein“, sagt Ana.

„Doch“, sagt Wallner, ohne von der Zeitung aufzuschauen. „Steht hier alles drin. Die schreiben das ja auch einfach so, als wäre es das Normalste von der Welt, und hier regt sich ja auch keiner auf, in anderen Ländern, Skandinavien, Frankreich wäre das undenkbar, aber warum soll man sich hier auch darüber aufregen, man kann . . .“

„Man kann ja eh nichts machen!“ sagt Costin schnell.

Wallner schaut Costin überrascht ins Gesicht. Wallner ist sich nicht sicher, ob Costin das eben ernst gemeint hat.

„Ich sage euch: Irgendwann, spätestens wenn ich in Rente gehe und der Uli den Laden übernimmt, dann hau ich ab!“ Costin ist jetzt Wallner. Wie Wallner verleiht er den Wörtern Nachdruck, indem er beim Reden die Augen für Momente schließt und mit dem Kopf nickt. Wallner wird erst jetzt bewußt, daß er selbst eben diese Geste gemacht hat, er macht sie immer, aber er achtet gar nicht mehr darauf. Ana lacht. Sie möchte nicht mitspielen, um Wallner zu ärgern, findet Costins Vorstellung aber anscheinend witzig und vor allem auch treffend. Wallner könnte Ana und Costin erzählen, daß er glaubt, neulich abends in der Firma einen Einbrecher gesehen zu haben, und daß Wiget irgendwoher erfahren hat, daß Wallner bei Dr. Kaduk war.

Wallner sagt: „Macht euch nur über euren alten Vater lustig.“

Costin sagt: „Jaha. Dann hau ich ab und nehme mir ’ne Wohnung in Paris! Da kann man auch mit wenig gut leben. Die Franzosen sind da viel weiter als die Deutschen. Savoir vivre kommt nicht von ungefähr. Jaha. Ihr lacht.“

Wallner hat zu lachen begonnen. Einerseits ist das zwar ein bißchen peinlich, so vorgeführt zu werden. Andererseits macht Costin das aber gerade richtig gut, und Wallner möchte kein Spielverderber sein.

Er sagt noch einmal: „Macht euch nur über euren alten Vater lustig“, weil er weiß, daß Ana dann gleich zu ihm schauen und etwas Tröstendes sagen wird.

Ana schaut zu ihm und sagt: „Aber nein. Du weißt doch, wie das gemeint ist.“

23

Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen auf dem Sessel vor dem Schreibtisch in seinem Büro.

Vor seinem inneren Auge sieht er das Bett in seinem Schlafzimmer. Ana und er schlafen miteinander. Er stützt sich mit den Armen von der Matratze ab, die beige Decke mit Karomuster ist bis zu seinem nackten Gesäß gerutscht. Unter ihm liegt Ana. Sie hält sich mit beiden Händen an seinen Schultern fest und hat die Beine angewinkelt. Der grau-schwarze Haaransatz in Wallners Nacken ist naß. Er hat dabei die Stirn in Falten gelegt, den Mund leicht geöffnet. Seine Augen sind zusammengekniffen.

24

Das Glastischchen steht links von seinem Schreibtisch, die Stehlampe aus dem Wohnzimmer in Bergisch-Gladbach, die den Eltern seines Vaters oder seiner Mutter gehörte, ist hinter der Milchglasscheibe im Sekretariat als gelber Fleck sichtbar, das schwarz bezogene Sofa, das, soviel er weiß, seine Eltern für ihr erstes Haus in Leverkusen kauften und auf dem er als Kind mit Soldatenfiguren spielte – die Rille ein Schützengraben –, befindet sich jetzt in Wigets Büro, davor der Orientteppich, den die Eltern seiner Mutter von einer Reise aus Indien mitbrachten. Mit der weißen Kaffeemaschine aus der Küche seines Vaters machen alle Angestellten in der Teeküche der Firma im ersten Stock ihren Kaffee.

Wallner liest am Schreibtisch gerade die Unterlagen für das Projekt Brandenburg. Nach der Landflucht der vergangenen Jahre, die weite Teile Brandenburgs verwaist zurückließ, garantiert die Landesregierung jedem Bauern, der zurückkommt, das nötige landwirtschaftliche Gerät für zwei Jahre umsonst zur Verfügung zu stellen. Wallner & Wiget wurde aufgefordert, dem Landwirtschaftministerium ein Angebot zu unterbreiten. Wallner weiß, daß außer Wallner & Wiget noch zwei andere Firmen für das Projekt angefragt sind – van Riet in Hamburg und Gries in Jena, der den Standortvorteil hätte. Vieles wird von der Video-Konferenz übermorgen nachmittag abhängen, dem Eindruck, den er und Wiget beziehungsweise Wallner & Wiget bei den Vertretern des Bauernverbunds Brandenburg und dem Landwirtschaftsministerium machen werden. Sollten sie den Auftrag erhalten, würde das nicht nur unmittelbare finanzielle Auswirkungen haben, auch langfristig würde sich das auszahlen, die Bauern, sofern das Projekt von Erfolg gekrönt ist, würden ihnen über Jahre, Jahrzehnte hinweg die Treue halten und weiter bei ihnen Ersatzteile für neue Maschinen kaufen, der Kundenstamm würde sich maßgeblich erweitern. Wallner und Wiget könnten die Zahl ihrer Beschäftigten vergrößern, sie könnten Anteile an einer zweiten Firma erwerben, dann, wenn es wirklich gut läuft, an die Börse gehen, die Geschäftsleitung würde dann, wie schon mehrfach besprochen, in einen Rat umgewandelt werden, sie, das heißt momentan noch er und Wiget, wären dann zu viert, zu fünft, vielleicht.

Wiget ist vorhin hereingekommen, hat gesehen, daß Wallner, der kurz den Kopf gehoben hat, die Unterlagen für das Projekt Brandenburg studiert, und hat sich hinter ihn gestellt, wahrscheinlich, um mitzulesen. Er legt die Hand auf Wallners Rücken, genau zwischen die Schulterblätter. Schon seit dem Beginn ihrer Freundschaft macht Wiget diese Geste. Die Geste bedeutet Zuspruch.