Wandel der Intimität - Anthony Giddens - E-Book

Wandel der Intimität E-Book

Anthony Giddens

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Beschreibung

Seit der »sexuellen Revolution« der siebziger Jahre ist das Thema Sexualität in aller Munde. Der Feminismus und das Coming-Out der Homosexuellen haben die tradierten Geschlechterrollen ebenso in Frage gestellt wie die sexuelle Moral. Trotzdem gelten Sex, Liebe und Erotik immer noch als ausschließlich private Bereiche. Der Wandel der Intimität, so zeigt Giddens, betrifft aber ebenso wie unsere ganz persönlichen Beziehungskrisen die Demokratie unserer modernen Gesellschaften. Dieser Wandel geht nicht etwa, wie Konservative behaupten, in die Richtung immer größerer Permissivität und ungehemmten Sex mit möglichst vielen Partnern. Vielmehr entwickeln sich unsere Liebesbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen hin zu mehr Partnerschaft und Gegenseitigkeit. »Demokratie«, dafür plädiert Giddens' umfassende Analyse, ist daher nicht nur eine politische Forderung, sondern ein Schlüsselbegriff für die neue Partnerschaftlichkeit im privaten Leben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 314

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Anthony Giddens

Wandel der Intimität

Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften

Aus dem Englischen von Hanna Pelzer

FISCHER Digital

Inhalt

VorbemerkungEinleitung1. Alltägliche Erfahrungen, Beziehungen, SexualitätSozialer Wandel und sexuelles VerhaltenHeterosexualität, Homosexualität2. Foucault über SexualitätSexualität und institutioneller WandelInstitutionelle Reflexion und SexualitätVom Ende der Perversion3. Romantische Liebe und andere BindungenHeirat, Sexualität und romantische LiebeGeschlecht und Liebe4. Liebe, Zuneigung und die reine BeziehungDie romantische Geschichte von der SucheFrauen, Ehe, BeziehungenFrauen, Männer und romantische LiebeRomantische versus partnerschaftliche Liebe5. Liebe, Sex und andere SuchtkrankheitenSex und BegehrenDas Wesen der SuchtAbhängigkeit, Reflexivität, Autonomie des SelbstImplikationen für die SexualitätSexualität und Verführung6. Die soziologische Bedeutung der Mit-AbhängigkeitDas Wesen der Mit-AbhängigkeitAbhängigkeit und IntimitätIntimität, Verwandtschaft, ElternschaftEltern und KinderGiftige Eltern?Anmerkungen7. Verwirrung und sexuelle ProblemeSexualität und psychoanalytische Theorie: Einleitende KommentarePsychosoziale Entwicklung und männliche SexualitätMännliche Sexualität, Zwanghaftigkeit, PornographieMännliche sexuelle GewaltWeibliche Sexualität: Das Problem der KomplementaritätGeschlecht, Intimität und Fürsorge8. Widersprüche der reinen BeziehungBruch und Herstellung der reinen BeziehungLesbische und männliche SexualitätHomosexualität und die flüchtige BegegnungMänner und Frauen: Zusammen oder getrennt?Die Trennung der Geschlechter9. Sexualität, Repression, ZivilisationSex und Repression: Wilhelm ReichHerbert MarcuseDie Möglichkeiten eines sexuellen RadikalismusInstitutionelle Repression und die Frage nach der SexualitätObsessive ModerneSexuelle EmanzipationZusammenfassung10. Intimität als DemokratieDie Bedeutung der DemokratieDie Demokratisierung des persönlichen LebensMechanismenSexualität, Emanzipation, Lebenspolitik

Vorbemerkung

Einige Leute haben frühere Entwürfe dieses Buches gelesen und kommentiert. Ich habe versucht, soweit ich es konnte, möglichst viel von ihrer Kritik zu berücksichtigen. Besonders danken möchte ich Grant Barnes, Michèle Barrett, Teresa Brennan, Montserrat Guiberneau, Rebecca Harkin, David Held, Sam Hollick, Graham McCann, Heather Warwick, Jeffrey Weeks und einem anonymen Rezensenten der Stanford University Press. Auch möchte ich Avril Symonds für ihre Arbeit an der Manuskriptvorbereitung danken und Helen Jeffrey für ihre sehr sorgfältige Bearbeitung.

Ich wollte ein Buch schreiben, das möglichst vielen Lesern, die es interessieren könnte, zugänglich sein sollte. So habe ich – wo immer möglich – versucht, einen Fachjargon zu vermeiden, auch an den Stellen, wo ich in Bereiche größerer Komplexität abschweife. Ich habe viele und unterschiedliche Quellen benutzt, aber im Interesse der Lesbarkeit Referenzen und Fußnoten auf ein Minimum begrenzt. Ein Hilfsmittel, das ich vielleicht sogar ein wenig zu ausgiebig benutzt habe, bedarf eines Kommentars: die Selbsthilfeliteratur. Diese hat mir, obwohl von vielen verachtet, Einblicke ermöglicht, die mir ohne sie nie zugänglich geworden wären, und in meiner eigenen Argumentation bleibe ich diesem Genre häufig so nahe wie möglich.

Einleitung

Sexualität: ein Thema, das in der Öffentlichkeit bedeutungslos zu sein scheint – von zwar fesselndem, aber dennoch eindeutig privatem Interesse. Darüber hinaus ein konstanter Faktor, so könnte man annehmen, weil er biologisch verankert und für den Fortbestand der Spezies unverzichtbar ist. Tatsächlich ist Sex heute überall in der öffentlichen Sphäre präsent, und man denkt in seinem Zusammenhang immer noch an revolutionäre Gehalte. In den letzten Jahrzehnten, so wird gesagt, habe eine sexuelle Revolution stattgefunden; revolutionäre Hoffnungen sind schon von vielen Denkern, für die Sexualität eine Sphäre der Freiheit repräsentiert, den Einschränkungen des Alltagslebens entzogen, in die Sexualität projiziert worden.

Wie soll man solche Behauptungen interpretieren? Es war diese Frage, die mich motivierte, dieses Buch zu verfassen. So machte ich mich daran, über Sex zu schreiben. Tatsächlich habe ich dann jedoch gleichermaßen über Liebe und über das Verhältnis der Geschlechter zueinander geschrieben. Untersuchungen über Sex tendieren dazu, geschlechtsspezifisch zu sein. In einigen der wichtigsten Arbeiten über die Sexualität, die von Männern verfaßt worden sind, wird Liebe kein einziges Mal erwähnt; und die Geschlechterfrage erscheint nur am Rande. Heute beanspruchen Frauen zum ersten Mal in der Geschichte Gleichberechtigung mit den Männern. Im folgenden versuche ich nicht zu analysieren, inwieweit in den ökonomischen oder politischen Sphären dennoch Ungleichheiten aufgrund von Geschlechtszugehörigkeit fortbestehen. Statt dessen konzentriere ich mich auf emotionale Ordnungen, in denen Frauen – Frauen in ihren alltäglichen Situationen und Frauen, die sich bewußt als Feministinnen verstehen – den Weg freigemacht haben für Veränderungen von enormer und umfassender Tragweite. Diese Veränderungen erfordern eine Untersuchung jener Möglichkeiten, die in der ›reinen Beziehung‹ liegen, einer sexuell und emotional gleichberechtigten Beziehung, die die alte Machtverteilung zwischen den Geschlechtern grundlegend in Frage stellt.

Das Aufkommen der romantischen Liebe kann als Fallstudie für die Ursprünge der reinen Beziehung herangezogen werden. Ideale der romantischen Liebe haben lange die Sehnsüchte der Frauen, mehr als die der Männer, beeinflußt, obwohl jene natürlich auch nicht ganz unberührt von diesen Idealen gewesen sind. Das Ethos der romantischen Liebe hat auf die Situation der Frauen jedoch einen doppelten Einfluß ausgeübt. Auf der einen Seite hat es dafür gesorgt, daß die Frauen auf ihren Platz verwiesen wurden – nämlich ins Haus. Auf der anderen Seite kann die romantische Liebe dennoch als aktive und radikale Auseinandersetzung mit der »Männlichkeit« der modernen Gesellschaft aufgefaßt werden. Romantische Liebe gibt vor, daß eine dauerhafte emotionale Bindung zur anderen Person hergestellt werden kann auf der Basis der Eigenschaften, die dieser Bindung selbst eigen sind. Die romantische Liebe geht der reinen Beziehung voraus, obwohl beide in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen.

Der Aufstieg dessen, was ich ›modellierbare‹ Sexualität nenne, ist entscheidend für die Emanzipation der reinen Beziehung und für den Anspruch der Frauen auf sexuelle Lust. Modellierbare Sexualität ist dezentrierte Sexualität, von den Zwängen der Reproduktion befreit. Ihre Ursprünge zeichneten sich im späten 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Versuchen, die Familiengröße strikt zu beschränken, ab. Durch die Anwendung moderner Verhütungsmittel und neuer Reproduktionstechnologien fand sie später jedoch noch größere Verbreitung. Modellierbare Sexualität kann zu einem Zug der Person gemacht werden und ist dementsprechend Teil des Selbst. Gleichzeitig befreit sie – zumindest im Prinzip – die Sexualität von der Herrschaft des Phallus, von der überschätzten Bedeutung, die der männlichen Sexualität zugeschrieben wird.

Eine Geschichte der Gefühle in der modernen Gesellschaft ist bisher nicht geschrieben worden, sie muß erst noch geschrieben werden. Es wäre eine Geschichte der sexuellen Bestrebungen der Männer, die aus deren öffentlichem Leben verbannt waren. Die sexuelle Kontrolle der Frauen durch die Männer ist weitaus mehr als ein zufälliges Merkmal modernen sozialen Lebens. In dem Augenblick, in dem diese Kontrolle nicht mehr funktioniert, offenbart sich uns der Zwangscharakter der männlichen Sexualität – und überdies bringt der Verlust dieser Kontrolle auch eine ansteigende Welle männlicher Gewalt gegenüber Frauen mit sich. Im Moment tut sich ein emotionaler Abgrund zwischen den Geschlechtern auf, und es gibt keinerlei Gewähr dafür, daß dieser Abgrund überbrückt werden kann.

Trotzdem sind die Möglichkeiten eines radikalen Wandels der Intimität sehr real. Die Behauptung, daß Intimität eine Quelle der Unterdrückung sein kann, ist sicherlich richtig, wenn man sie als Forderung nach andauernder emotionaler Nähe versteht. Wenn man sie allerdings als Möglichkeit einer dauernden Bindung zwischen gleichberechtigten Personen betrachtet, erscheint sie in einem ganz anderen Licht. Intimität impliziert eine durchgreifende Demokratisierung der zwischenmenschlichen Sphäre in einer Weise, die durchaus mit Demokratie in der öffentlichen Sphäre vereinbar ist. Darüber hinaus beinhaltet sie jedoch noch mehr. Der Wandel der Intimität könnte einen subversiven Einfluß auf die Gesamtheit der modernen Institutionen ausüben. Denn eine soziale Welt, in der emotionale Erfüllung an die Stelle der Maximierung ökonomischen Wachstums treten würde, wäre von unserer heutigen sehr verschieden. Die Veränderungen, die heute auf die Sexualität einwirken, sind in der Tat in einem sehr fundamentalen Sinn revolutionär.

1. Alltägliche Erfahrungen, Beziehungen, Sexualität

In seinem Roman Als sie mich noch nicht kannte stellt Julian Barnes das Schicksal eines gewissen Graham Hendrick dar, eines Historikers, der seine Frau verlassen hat, um eine Beziehung mit einer anderen Frau einzugehen. Am Anfang des Romans ist Graham in den späten Dreißigern, seit 15 Jahren verheiratet und spürt schon in der Mitte seines Lebens, »wie es bergab ging«. Auf einer ansonsten eher trüben Party trifft er Ann, die einmal als Filmschauspielerin gearbeitet hatte und nun Modeeinkäuferin ist. Aus irgendwelchen Gründen rührt beider Begegnung in ihm kaum mehr erwartete Gefühle von Hoffnung und Erregung auf. Er fühlt sich, »als sei eine lang abgerissene Verbindung zu einem zwanzig Jahre zurückliegenden Ich plötzlich wiederhergestellt worden«, und er »traute sich wieder Verrücktheiten und Idealismus zu«.

Nach einer Reihe von heimlichen Treffen, die zu einer ausgewachsenen Affäre führen, verläßt Graham Frau und Kind und fängt an, sich mit Ann einzurichten. Nachdem er geschieden ist, heiraten die beiden. Der Kern des Romans besteht jedoch darin, daß Graham nach und nach Anns Liebhaber entdeckt, mit denen sie zusammen war, bevor Graham in ihr Leben eingetreten ist. Ann verheimlicht wenig, gibt aber nichts freiwillig preis, es sei denn, Graham stellt ganz konkrete Fragen. Für Graham wird es zunehmend zu einer Obsession, die sexuellen Details aus Anns Leben zu enthüllen. Wieder und wieder schaut er sich die Rollen an, die Ann auf der Leinwand gespielt hat, um so einen Blickwechsel oder andere Zeichen zu erhaschen, die als Indiz dafür herangezogen werden können, daß Ann und der jeweilige Mann, mit dem sie gerade auftrat, eine Affäre hatten. Manchmal gibt sie zu, daß es eine sexuelle Beziehung gegeben hat, meistens beharrt sie jedoch darauf, daß nichts vorgefallen ist.

Der letzte Teil der Geschichte ist grausam, ihr Ende unterläuft fast vollständig den Stil des nichtssagenden Humors, in dem nahezu das ganze Buch verfaßt ist. Nach beharrlicher Forschung entdeckt Graham schließlich, daß sein bester Freund Jack – dem er seine Probleme mit Anns Leben, »bevor sie mich traf«, anvertraut hatte – vor mehreren Jahren selber eine sexuelle Beziehung mit Ann gehabt hatte. Graham arrangiert daraufhin ein Treffen mit seinem Freund unter dem Vorwand, das Gespräch mit ihm fortzusetzen. Er nimmt jedoch ein Messer mit, mit einer »15-Zentimeter-Klinge, die von einer Breite von drei Zentimetern in eine nadelscharfe Spitze auslief«. In dem Augenblick, in dem Jack – mit einer gänzlich unwichtigen Sache beschäftigt – Graham den Rücken zukehrt, sticht Graham auf ihn ein. Während Jack sich total verwirrt umdreht, stößt Graham ihm das Messer mehrmals »zwischen Herz und Genitalien«. Nachdem er seinen Finger, in den er sich während des Mordes geschnitten hat, mit einem Pflaster versorgt hat, setzt er sich mit dem Rest des Kaffees, den Jack für ihn gemacht hatte, auf einen Stuhl.

Mittlerweile versetzt Grahams Abwesenheit, die sich über die ganze Nacht hingezogen hat, Ann zunehmend in Beunruhigung. Nach ergebnislosen Telephonanrufen bei der Polizei und in Krankenhäusern, die über seinen Verbleib keine Auskunft geben können, fängt sie schließlich an, Grahams Schreibtisch zu durchwühlen und entdeckt dabei Unterlagen, die Grahams zwanghaftes Durchforsten ihrer Vergangenheit verraten. Außerdem findet sie heraus, daß Graham von ihrer Affäre mit Jack (die einzige sexuelle Begegnung, die sie Graham bewußt verschwiegen hat) weiß. Sie geht in Jacks Wohnung und findet dort Graham und den blutüberströmten Körper von Jack. Obwohl sie nicht versteht warum, läßt sie es zu, daß Graham sie beruhigt und währenddessen ihre Handgelenke mit einem Stück Wäscheleine zusammenbindet. Graham geht davon aus, daß ihm dies genug Zeit verschaffen wird, um sein Vorhaben durchzuführen, bevor Ann zum Telephon stürzen kann, um Hilfe zu holen. »Keine Schlußworte, kein Melodrama.« Graham nimmt das Messer und schneidet sich auf beiden Seiten tief in die Kehle. Aber er hatte nicht mit Ann gerechnet – »er liebte Ann; da bestand nicht der geringste Zweifel«. Laut schreiend stürzt sie sich, mit dem Kopf zuerst, durch ein Fenster. Zu dem Zeitpunkt, als die Polizei ankommt, ist der Sessel unwiderruflich mit Blut durchtränkt, und Graham ist tot. Die letzten Absätze des Romans deuten darauf hin, daß auch Ann sich umgebracht hat – unabsichtlich oder absichtlich, das bleibt offen.

Als sie mich noch nicht kannte ist kein Roman, in dem es primär um Eifersucht geht. Während Ann sich das Material durchliest, das Graham über sie zusammengebracht hatte, erkennt sie, daß Eifersucht nicht das Wort war, »das sie auf ihn anwenden würde«. Das ausschlaggebende war, daß Graham mit »ihrer Vergangenheit nicht klar« kam.[1] Das Ende, das nicht zu dem halbkomischen Ton paßt, der dem Buch sonst eigen ist, ist gewaltsam, wenn auch recht cool. Grahams Gewalt ist ein vergeblicher Versuch, sie in den Griff zu bekommen. Der Autor läßt die Ursachen dieser Gewalt relativ im Dunkeln, was Grahams eigene diesbezügliche Unsicherheit widerspiegelt. Die Geheimnisse, die Graham in Anns sexuellem Leben ausfindig machen will, passen nicht zu seinen Vorstellungen darüber, was eine Frau zu sein hat – Anns Vergangenheit ist nicht mit Grahams Idealen zu vereinbaren. Das Problem ist ein emotionales; und Graham sieht ein, wie absurd es ist, davon auszugehen, daß Ann ihr vorheriges Leben hätte im Wissen darum gestalten können, Graham später zu treffen. Trotzdem kann er ihre sexuelle Unabhängigkeit, auch wenn er zu jenem Zeitpunkt für sie nicht existiert hat, nicht akzeptieren – bis er zu jenem Punkt gelangt, der in die gewaltsame Zerstörung mündet. Es spricht für Graham, daß er versucht, Ann vor der Gewalt, die sie in ihm provoziert hat, zu bewahren; trotzdem wird natürlich auch sie von ihr eingeholt.

Die Ereignisse, die in diesem Roman beschrieben sind, gehören eindeutig in unsere Zeit; ein Jahrhundert früher hätte dieser Roman als Beschreibung des Lebenszusammenhangs ganz gewöhnlicher Menschen nicht verfaßt werden können. Er setzt nämlich eine bestimmte Form sexueller Gleichberechtigung voraus, die erst für unsere Zeit typisch ist, und geht dabei davon aus, daß es heutzutage gewöhnlich ist, daß Frauen vor (und selbst während und nach) einer ›ernsthaften sexuellen Beziehung‹ mehrere Liebhaber gehabt haben. Selbstverständlich hat es immer eine Minderheit von Frauen gegeben, für die sexuelle Abwechslung, und in einem bestimmten Maß auch sexuelle Gleichberechtigung, möglich war. Aber zu fast allen Zeiten wurden Frauen entweder als tugendhafte oder als gefallene Frauen eingestuft; und die ›Gefallenen‹ existierten nur am Rande der respektablen Gesellschaft. ›Tugend‹ ist sehr lange als Weigerung der Frauen verstanden worden, der sexuellen Versuchung zu erliegen – eine Weigerung, die noch gestützt wurde durch verschiedenste institutionelle Schutzvorkehrungen wie etwa dem keuschen ›Umwerben‹, Zwangsehen und so weiter.

Auf der anderen Seite wurde den Männern traditionellerweise immer – und nicht nur von ihnen selbst – sexuelle Abwechslung für ihr körperliches Wohlbefinden zugestanden. Bei Männern war es immer akzeptiert, daß sie vor der Eheschließung mehrere sexuelle Beziehungen gehabt hatten, und die doppelte Moral nach der Heirat war keineswegs ungewöhnlich. So beschreibt Lawrence Stone in seiner Arbeit über die Geschichte der Scheidungen in England, daß noch bis vor kurzem die sexuellen Erfahrungen von Männern und Frauen strikt mit zweierlei Maß gemessen wurden. Der Tatbestand eines einzigen Fehltritts von seiten einer Frau stellte einen unverzeihlichen Bruch mit dem Eigentumsrecht und dem Konzept der Erbfolge dar, und seine Entdeckung zog unweigerlich scharfe Strafmaßnahmen nach sich. Ehebruch von seiten des Ehemannes wurde demgegenüber allgemein als bedauernswerte, aber nachvollziehbare Schwäche gedeutet.[2]

In einer Welt zunehmender sexueller Gleichberechtigung – auch wenn eine solche Gleichberechtigung noch lange nicht vollkommen ist – müssen beide Geschlechter fundamentale Änderungen in ihren Standpunkten und in ihrem Verhalten zueinander hinnehmen. Die geforderte Gleichstellung der Frau ist in dem Roman Als sie mich noch nicht kannte beachtenswert, aber – vielleicht weil er von einem männlichen Autor verfaßt worden ist – weder vollständig dargestellt, noch mit viel Sympathie präsentiert. Grahams erste Frau Barbara wird als schrilles, anspruchsvolles Geschöpf beschrieben, deren Einstellungen Graham schlicht verwirrend findet. Obwohl er für Ann wirkliche Liebe empfindet, geht sein Verständnis ihrer Sichtweisen und Handlungen kaum tiefer. Man könnte sogar sagen, daß er sie, trotz seiner intensiven Nachforschungen in Anns früherem Leben, überhaupt nicht wirklich kennenlernt.

Graham neigt dazu, Barbaras und Anns Verhalten in einem traditionellen Sinn abzulehnen: Frauen sind emotionale, launische Gestalten, deren Gedankengänge keiner Rationalität folgen. Trotzdem hat er mit beiden Mitleid, und während der Geschichte besonders mit Ann. Seine neue Ehefrau ist keine »lockere Frau«, und es gibt auch keinerlei Grund, daß Graham sie so behandeln sollte. Wenn sie nach ihrer Heirat Jack trifft, weist sie konsequent dessen Avancen zurück. Dennoch gelingt es Graham nicht, die Bedrohung aus seinem Kopf zu bannen, die von dem ausgeht, was passiert ist, bevor Ann »unter seine Kontrolle« gekommen ist.

Der Autor vermittelt sehr gut die Vorläufigkeit von Grahams zweiter Ehe, deren Ende nicht absehbar ist und die sich grundlegend von der ersten unterscheidet. Es wird klar, daß Grahams erste Ehe eher ein ›naturgegebenes‹ Phänomen war, konventionell aufgeteilt zwischen der Hausfrau und dem männlichen Broterwerber. Die Ehe mit Barbara war ein Normalzustand, kein sehr bereichernder Teil seines Lebens, wie ein Beruf, den man nicht besonders mag, dem man aber dennoch pflichtbewußt nachgeht. Die Ehe mit Ann ist demgegenüber eine komplexe Abfolge von Interaktionen, die ständig neu verhandelt und ›durchgearbeitet‹ werden.[3] Mit seiner zweiten Ehe hat Graham eine Welt betreten, von der er in seiner Jugend kaum eine Ahnung hatte. Eine Welt, in der Sexualität zur offenen Disposition steht, eine Welt von ›Beziehungen‹, in der ganz neue Begriffe von ›Verpflichtung‹ und ›Intimität‹ auftauchen.

Als sie mich noch nicht kannte ist ein Roman über die männliche Beunruhigung und die männliche Gewalt in einer sozialen Welt, die tiefgreifende Veränderungen durchmacht. Frauen akzeptieren die männliche sexuelle Dominanz nicht länger, aber beiderlei Geschlecht muß mit den Implikationen dieses neuen Phänomens erst umzugehen lernen. Das private Leben ist zu einem offenen Projekt geworden, das neue Anforderungen und Ängste produziert. Unser zwischenmenschliches Dasein ist in einer durchgreifenden Veränderung begriffen und verwickelt uns alle in das, was ich alltägliche soziale Experimente nennen möchte, denen wir uns aufgrund der allgemeinen sozialen Veränderungen nicht entziehen können. Wir sollten diese Veränderungen, die mit Ehe und Familie genausoviel zu tun haben wie mit Sexualität, soziologisch nun etwas anschaulicher beschreiben.

Sozialer Wandel und sexuelles Verhalten

Lillian Rubin hat im Jahre 1989 die sexuellen Schicksale von fast tausend heterosexuellen Personen im Alter zwischen 18 und 48 Jahren in den USA untersucht. Damit brachte sie Klarheit in jene Thesen von den geradezu beunruhigenden Veränderungen in den Beziehungen zwischen Frau und Mann in den letzten Jahrzehnten.[4] Die frühen sexuellen Erfahrungen der über Vierzigjährigen, die befragt worden waren, unterschieden sich drastisch von den sexuellen Erfahrungen, die von den Jüngeren beschrieben wurden. Die Autorin, die zu der Gruppe der Älteren gehört, stellt ihrer Untersuchung ein Vorwort voran, in dem sie ihre früheren sexuellen Erfahrungen selber beschreibt. Als sie während des Zweiten Weltkriegs heiratete, war sie noch Jungfrau und dementsprechend ein Mädchen, das den Konventionen ihrer Zeit entsprach und nie ›alles‹ gewagt hätte. Die klaren Grenzen, in denen sie sexuelle Erfahrungen sammelte, teilte sie mit ihren Freunden. Ihr zukünftiger Ehemann war ein aktiver Verteidiger dieser Codes, denen seiner Meinung nach Folge geleistet werden sollte; seine Einstellung in bezug auf sexuell ›Richtiges und Falsches‹ entsprach ihrer.

Die Jungfräulichkeit der Mädchen vor der Ehe wurde von beiden Geschlechtern hochgeschätzt. Nur wenige Mädchen verrieten, wenn sie einem Freund erlaubt hatten, mit ihnen zu schlafen – und viele hatten diesem Akt nur zugestimmt, nachdem sie sich formal mit dem betreffenden Jungen verlobt hatten. Sexuell aktivere Mädchen wurden von den anderen und selbst von eben den Jungen, die davon ›zu profitieren‹ hofften, in Verruf gebracht. Genauso wie der soziale Ruf der Mädchen davon abhängig war, ob sie sexuellen Annäherungsversuchen widerstehen oder sich ihrer enthalten konnten, so beruhte der Ruf der Jungen auf den sexuellen Eroberungen, die sie vorweisen konnten. Diese Eroberungen gelangen ihnen jedoch nur, wie es einer der Befragten der 45jährigen formulierte, indem man »mit einer von denen ’rummachte, den Flittchen«.

Wenn wir uns die Sexualität der Teenager heutzutage anschauen, dann gilt bis zu einem gewissen Grad sowohl die Unterscheidung in ›gute und schlechte Mädchen‹ als auch der männliche Eroberungs-Ehrenkodex immer noch. Andere Einstellungen, besonders von seiten vieler Mädchen im Teenager-Alter, haben sich jedoch radikal geändert. Mädchen gehen davon aus, daß sie einen Anspruch auf Sexualität haben, inklusive Geschlechtsverkehr, und zwar in dem Alter, das ihnen angemessen erscheint. In Rubins Überblick spricht in der Tat nicht ein einziges Mädchen davon, sich für den Verlobten oder den Ehemann »aufsparen« zu müssen. Indessen bewegen sie sich in einer Sprache der Romantik und Verbindlichkeiten, die sich über den möglicherweise zeitlich begrenzten Charakter dieser frühen sexuellen Beziehungen im klaren ist. So etwa äußerte sich eine 16jährige, als sie nach ihren sexuellen Erfahrungen mit ihrem Freund befragt wurde: »Wir lieben einander, deswegen gibt es keinen Grund, warum wir nicht miteinander schlafen sollten.« Rubin fragte daraufhin, ob sie sich eine langandauernde Beziehung mit ihrem Partner vorstellen könnte. Ihre Antwort war: »Meinen Sie, ob wir heiraten werden? Die Antwort ist nein. Oder ob wir das nächste Jahr noch zusammen sein werden? Das weiß ich nicht; bis dahin ist es noch lange hin. Die meisten Jugendlichen bleiben nicht so lange zusammen. Aber wir werden uns nicht mit anderen treffen, solange wir zusammen sind. Dazu sind wir verpflichtet, oder?«[5]

In früheren Generationen gehörte es dazu, daß die sexuell aktiven Mädchen die Rolle der Unschuldigen übernehmen mußten. Normalerweise hängt beides heute nicht mehr miteinander zusammen: Die Unwissende spielt, wo nötig, die Rolle der Raffinierten. In den von Rubin unternommenen Befragungen haben die Mädchen über Veränderungen im sexuellen Verhalten und in den Einstellungen der Sexualität gegenüber viel offener gesprochen als die Jungen. Rubin interviewte aber auch einige Jungen, die sich über das Verhältnis von Sex und Verpflichtungen im klaren waren und die nichts mit der Gleichstellung von sexuellem Erfolg und männlicher Überlegenheit anfangen konnten. Trotzdem sprachen die meisten mit Bewunderung von Freunden, die viele Beziehungen mit Mädchen hatten, wohingegen sie umgekehrt Mädchen, die sich ähnlich verhielten, verachteten. Einige Mädchen in Rubins Befragung eiferten – sehr offen und recht herausfordernd – traditionellem, männlichem sexuellem Verhalten nach; auf ein solches Verhalten reagieren die Jungen jedoch nicht selten aggressiv. Sie wollen immer noch Unschuld, zumindest ein bißchen. Einige der jungen Frauen, die Rubin interviewt hatte, hielten es dementsprechend auch für nötig, ihren zukünftigen Ehemännern gegenüber die Bandbreite ihrer sexuellen Erfahrungen zu verheimlichen.

Eines der auffallendsten Ergebnisse in Rubins Untersuchung, das von anderen Forschungen – die sich auf alle Altersgruppen erstrecken – bestätigt wird, ist die wesentlich ausgedehnte Vielfalt der sexuellen Erfahrungen, die die meisten Leute entweder selber praktizieren oder die sie anderen zugestehen. So hatten unter den Frauen und Männern über 40 weniger als eine oder einer während der Adoleszenz oralen Sex; in jeder nachfolgenden Generation wächst der Anteil derjenigen, die oralen Sex praktizieren. In der heutigen Teenager-Generation ist nahezu für jeden und jede oraler Sex ganz normal. Jede erwachsene Person, die von Rubin jetzt interviewt wurde, hatte zumindest einige Erfahrung damit – und das in einer Gesellschaft, in der oraler Sex immer noch in Gesetzessammlungen als Sodomie gehandelt und tatsächlich immer noch in 24 Staaten für illegal erklärt wird.

Männer begrüßen meistens die Tatsache, daß die Frauen sexuell verfügbarer geworden sind, und sie behaupten, daß sie in jeder länger andauernden sexuellen Bindung Partnerinnen wollen, die ihnen intellektuell und ökonomisch gleichgestellt sind. Dennoch wird, Rubins Ergebnissen zufolge, deutlich, daß sie, mit den Implikationen solcher Präferenzen konfrontiert, sich eindeutig und sehr grundsätzlich unbehaglich fühlen. So behaupten sie in diesem Zusammenhang etwa, daß Frauen die ›Fähigkeit verloren haben, nett zu sein‹, daß sie nicht mehr bereit sind, ›Kompromisse einzugehen‹ und daß ›Frauen heutzutage keine Ehefrauen mehr sein wollen, sondern selber Ehefrauen haben‹ wollen. Männer erklären, daß sie Gleichberechtigung wollen, aber viele lassen gleichzeitig durchblicken, daß sie die Folgen einer solchen Gleichberechtigung entweder ablehnen oder daß diese Folgen sie nervös machen. »Was wäre Ihr Beitrag, um die Kinder großzuziehen?«, fragte Rubin einen Mann namens Jason, der seinen eigenen Worten nach ›keine Probleme mit starken, aggressiven Frauen‹ hatte. Seine Antwort: »Ich bin sicherlich bereit, das zu tun, was ich kann. Ich glaube nicht, daß ich ein Vater wäre, der nie da wäre, aber einer von beiden muß mehr Verantwortung übernehmen. […] Und ich werde nicht behaupten, daß ich das sein werde, weil ich es gar nicht kann. Ich habe meine Karriere, und das, woran ich mein Leben lang gearbeitet habe, ist mir sehr wichtig.«[6]

Heute verfügen die meisten, Frauen wie auch Männer, über eine breite sexuelle Erfahrung und ein großes Wissen über Sexualität, wenn sie heiraten. Für sie gibt es keinen abrupten Bruch mehr zwischen heimlichen, ungeschickten oder unerlaubten Begegnungen und der sicheren, häufig anspruchsvolleren Sexualität in der Ehe. Die meisten neuverheirateten Ehepaare heute haben viele sexuelle Erfahrungen, und es gibt in der frühen Phase der Ehe keine Lehrzeit mehr, selbst dann nicht, wenn sie vor der Ehe nicht zusammengelebt haben.

Rubin zeigt, daß im Gegensatz zu älteren Generationen heutzutage Frauen und Männer viel mehr von der Sexualität in der Ehe erwarten als früher. Frauen gehen davon aus, gleichermaßen Lust zu geben und zu empfangen, und viele empfinden eine erfüllte Sexualität als Grundvoraussetzung für eine befriedigende Ehe. Die Zahl der seit mehr als fünf Jahren verheirateten Frauen, die außereheliche sexuelle Kontakte hatten, ist heute tatsächlich gleich groß wie die der Männer. Das doppelte Maß, mit dem gemessen wird, existiert zwar immer noch, aber Frauen geben sich heute nicht mehr mit dem Standpunkt zufrieden, demzufolge Männer Abwechslung brauchen und deswegen außereheliche Abenteuer eingehen können, aber Frauen sich nicht ähnlich verhalten sollten.

Was können wir aus einem solchen Forschungsbericht, der auf eine bestimmte Personenzahl und ein einziges Land begrenzt ist, über den allgemeinen sozialen Wandel erfahren? Ich denke, wir können im wesentlichen das daraus ziehen, was wir für die Zwecke dieser Studie wissen müssen. Es steht außer Frage, daß die von Rubin dargestellten Entwicklungen sich, grob gesagt, in fast allen westlichen Gesellschaften vollziehen – und bis zu einem gewissen Grad auch in anderen Teilen der Welt. Selbstverständlich gibt es deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern, den Kulturkreisen und sozio-ökonomischen Schichten. Bestimmte Gruppen stehen abseits von den hier beschriebenen Veränderungen oder versuchen ganz bewußt, sich ihnen zu entziehen. Einige Gesellschaften haben eine längere Geschichte der sexuellen Toleranz als andere, und die Veränderungen, die sie erfahren, sind vielleicht nicht ganz so radikal wie die in den USA. In vielen Gesellschaften jedoch finden sie vor dem Hintergrund von sexuellen Werten statt, die viel restriktiver gefaßt sind als in der amerikanischen Gesellschaft der letzten Jahrzehnte. Für die Menschen, die in solchen Kontexten leben, und speziell für Frauen, sind diese sich heute vollziehenden Umwälzungen dramatisch und verwirrend.

Heterosexualität, Homosexualität

Rubins Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf den heterosexuellen Bereich. Ihre Entscheidung, homosexuelle Erfahrungen aus ihrer Untersuchung auszuschließen, ist äußerst fragwürdig angesichts der schon von Kinsey offengelegten Tatsache, daß ein sehr hoher Anteil der Männer wie auch ein beträchtlicher Anteil der Frauen irgendwann in ihrem Leben Erfahrungen homosexueller Art gemacht haben. Kinsey hatte herausgefunden, daß nur ungefähr 50 Prozent aller amerikanischen Männer, in Kinseys Terminologie, »ausschließlich heterosexuell« sind – d.h., daß diese Männer weder homosexuelle Erfahrungen noch homosexuelle Wünsche gehabt hatten. 18 Prozent waren entweder ausschließlich homosexuell oder dauerhaft bisexuell. Bei den Frauen waren 2 Prozent ausschließlich homosexuell, 13 Prozent hatten schon irgendwann einmal homosexuelle Erfahrungen gemacht, während weitere 15 Prozent bestätigten, daß sie homosexuelle Bedürfnisse gehabt hatten, ohne diese ausgelebt zu haben.[7]

Als Kinseys Ergebnisse bekannt wurden, lösten sie bei der ungläubigen Öffentlichkeit einen Schock aus. Während des letzten Vierteljahrhunderts jedoch ist die Homosexualität von ähnlich weitreichenden Veränderungen heimgesucht worden wie die Heterosexualität. Zur Zeit des Erscheinens des Kinsey-Reports wurde Homosexualität in der medizinischen Literatur immer noch als Krankheit angesehen, als eine Form psychosexueller Störung, die sich in eine Reihe anderer vermeintlicher Störungen einfügt: Fetischismus, Voyeurismus, Transvestismus, Satyriasis, Nymphomanie und vieles mehr. Viele Heterosexuelle betrachten die Homosexualität immer noch als Perversion, als unnatürlich und moralisch verachtenswert. Dennoch ist der Begriff ›Perversion‹ mittlerweile nahezu vollständig aus der klinischen Psychiatrie verschwunden, und die Aversion vieler Leute gegen Homosexualität wird von medizinischer Seite nicht mehr gestützt.

Das ›Coming-Out‹ der Homosexuellen ist ein sehr wichtiger Vorgang mit erheblichen Konsequenzen für die Sexualität im allgemeinen. Sein auffallendstes Kennzeichen war die Popularisierung des bis dahin nur von den Homosexuellen selbst benutzten Begriffs ›gay‹ (›schwul‹) – ein Beispiel für jenen reflexiven Prozeß, durch den ein soziales Phänomen durch kollektives Engagement angeeignet und transformiert werden kann. Der amerikanische Ausdruck für ›schwul‹: ›gay‹ (wörtlich: heiter, lustig, fröhlich, Anmerkung der Übersetzerin) suggeriert eine bunte, offene und allgemein anerkannte Existenz, weitentfernt von dem Bild der Homosexualität, das die praktizierenden Homosexuellen selbst und ein Großteil der Heterosexuellen hatten. Die Gemeinschaften der Schwulenkultur, die in den amerikanischen Großstädten und in vielen städtischen Zentren Europas entstanden, gaben der Homosexualität ein neues öffentliches Gesicht. Auf einer persönlicheren Ebene wurde der Begriff ›schwul‹ jedoch stärker mit einer sexuellen Bedrohung aufgeladen, die Sexualität als Eigenschaft oder Eigentum des Selbst faßt. Eine Person ›hat‹ eine Sexualität, eine schwule oder wie auch immer geartete, die reflexiv erfaßt, befragt und entwickelt werden kann.

Sexualität wird damit frei verfügbar; in dem Augenblick, in dem ›Schwulsein‹ als etwas erkannt wird, was man ›sein‹ kann oder wovon man ›entdecken kann, daß man es ist‹, öffnet sich die Sexualität für viele neue Liebesobjekte. So beschreibt der Kinsey-Report von 1990 den Fall eines 65jährigen Mannes, dessen Frau nach einer 45jährigen glücklichen Ehe gestorben war. Im Jahr nach dem Tod seiner Frau verliebte sich der Mann in einen Mann. Seinen eigenen Aussagen zufolge hat er sich nie zuvor von einem Mann angezogen gefühlt oder homosexuelle Phantasien gehabt. Diese Person geht heute ihren veränderten sexuellen Orientierungen ganz offen nach, wenn der Mann sich auch dem Problem hat stellen müssen, »wie er es seinen Kindern beibringen soll«.[8] Hätte er nur einige Jahre zuvor überhaupt an die Möglichkeit gedacht, daß er seine ›Sexualität‹ in dieser Weise ändern würde? Genauso wie Graham hat auch er eine ganz neue Welt betreten.

In der homosexuellen Szene hat die Idee von ›Beziehungen‹ gleichermaßen Fuß gefaßt wie in der heterosexuellen Welt. Männliche Homosexuelle haben gewöhnlich viele verschiedene sexuelle Partner, mit denen der Kontakt manchmal nur flüchtig ist – ein Verhalten, das am offensichtlichsten in der Sauna-Kultur zum Ausdruck kam, bis ihr praktisch durch Aids ein Ende gesetzt wurde. Während einer Untersuchung in den späten siebziger Jahren wurden ungefähr 600 männliche Homosexuelle in den USA befragt, wie viele sexuelle Partner sie gehabt hatten; 40 Prozent nannten die Zahl 500 oder mehr.[9]

Es könnte so scheinen, als ob wir hier ein sich ausdehnendes soziales Universum männlicher Sexualität vorfinden, in dem aus One-Night-Stands zufällige Zehn-Minuten-Quickies geworden sind. In Wirklichkeit lebt ein hoher Anteil schwuler Männer und die Mehrheit der lesbischen Frauen die meiste Zeit in dauerhaften Partnerbeziehungen. In den zitierten Untersuchungen zeigt sich, daß die meisten der Befragten mindestens einmal in ihrem Leben eine feste Beziehung gehabt hatten, die über zwei Jahre gehalten hatte. Untersuchungen, die zu Beginn der achtziger Jahre vom Kinsey-Institute auf der Grundlage von Interviews mit mehreren hundert homosexuellen Männern gemacht worden waren, ergaben, daß tatsächlich alle Befragten irgendwann einmal für mindestens ein Jahr in einer festen Beziehung gelebt hatten.[10] Lesbische Frauen und schwule Männer sind den meisten Heterosexuellen darin voraus gewesen, daß sie genau solche Beziehungen aufbauten, von denen wir heute sprechen, wenn wir von Beziehungen im privaten Bereich überhaupt reden. Sie mußten nämlich ohne einen traditionellen Rahmen wie die Ehe ›klarkommen‹, und zwar so, daß die Beteiligten einigermaßen gleichberechtigt waren.

›Sexualität‹ hat sich heutzutage entfaltet, ist entdeckt und zugänglich gemacht worden für die Entwicklung unterschiedlichster Lebensstile. Sie ist etwas, was jeder und jede von uns ›hat‹ oder kultiviert, keine natürliche Bedingung mehr, die das Individuum als unabänderlichen Zustand akzeptiert. Irgendwie – und das ›wie‹ muß genauer untersucht werden – funktioniert Sexualität, indem sie sich den Eigenheiten der Person anpaßt, als wesentliche Verbindung zwischen Körper, Identität und sozialen Normen.

Solche Veränderungen können nirgendwo besser aufgezeigt werden als am Fall der Masturbation, einst das furchterregende Zeichen einer fehlgeleiteten Sexualität. Masturbation hatte das gleiche ›Coming Out‹ wie die Homosexualität. Der Kinsey-Report fand heraus, daß 90 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen irgendwann einmal in ihrem Leben masturbiert haben. Die Prozentzahlen in neueren Untersuchungen sind noch höher, bei den Männern sind es dort 100 Prozent und bei den Frauen 70 Prozent. Was jedoch genauso wichtig ist: Masturbation wird weitgehend als eine der Hauptquellen sexueller Lust befürwortet, und sie wird sogar empfohlen mit dem Hinweis, daß dadurch beide Geschlechter besser aufeinander eingehen können.[11]

In welchem Verhältnis stehen die soeben beschriebenen Veränderungen zum Wandel im persönlichen Leben ganz generell? Wie hängen die Veränderungen der letzten Jahrzehnte mit langfristigeren Einflüssen auf das sexuelle Verhalten zusammen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir dem nachgehen, wie ›Sexualität‹ überhaupt entstanden ist, was sie ist und wie es dazu kam, daß Individuen eine Sexualität ›besitzen‹. Das sind die Probleme, mit denen ich mich in diesem Buch beschäftige. Ein ganz bestimmtes Werk hat jedoch das Denken über diesen Gegenstand in den letzten Jahren beherrscht, und wir sollten uns in einer kurzen, kritischen Würdigung diesem Werk nähern: Ich meine Michel Foucaults Geschichte der Sexualität.

Um einem möglichen Mißverständnis zuvorzukommen, möchte ich betonen, daß eine umfassende Beschäftigung mit Foucaults Denken in dieser Arbeit nicht möglich ist und daß ich sie auch überhaupt nicht zu unternehmen versuche. Foucaults brillante innovative Perspektiven stellen bestimmte grundsätzliche Fragen in einer Weise neu, wie sie niemand zuvor gesehen hat. Meiner Meinung nach aber gibt es in seinen Schriften dennoch tiefe konzeptionelle Brüche, sowohl was seinen philosophischen Standpunkt anbelangt als auch im Hinblick auf seine expliziten oder impliziten historischen Behauptungen. Bewunderer von Foucault werden sich nicht freuen: Ich begründe meine Behauptungen nirgendwo. Meine Meinungsverschiedenheiten mit Foucault dürften in meiner Argumentation trotzdem eindeutig genug werden; ich benutze seine Arbeit hauptsächlich als Folie, auf deren Hintergrund ich meine Argumentation entwickeln möchte.

2. Foucault über Sexualität

In seinem Buch Sexualität und Wahrheit greift Foucault das, was er in einer berühmt gewordenen Formulierung als die »Repressionshypothese«[1] bezeichnet hat, an. Ihrzufolge zwingen uns die modernen Institutionen für die Vorteile, die sie uns bieten, einen Preis – nämlich die zunehmende Repression – auf. Zivilisation bedeutet Disziplin, und Disziplin beinhaltet eine Beherrschung der inneren Triebe – Kontrolle muß, um effektiv zu sein, verinnerlicht werden. Wer Moderne sagt, meint auch Über-Ich. Foucault selbst hatte eine ähnliche Sichtweise in seinen früheren Schriften vertreten, in denen er den inneren Zusammenhang zwischen modernem sozialem Leben und dem Aufkommen einer »disziplinierenden Macht« hervorhob, die nicht nur charakteristisch für das Gefängnis und die Irrenanstalt war, sondern auch für andere Institutionen wie Schulen und Krankenhäuser. Disziplinierende Macht brachte angeblich »fügsame Körper« hervor, die eher in der Lage waren, ihre Handlungen zu kontrollieren und zu regulieren, anstatt den Impulsen ihres Begehrens zu folgen.

Macht erscheint in diesem Zusammenhang vor allem als restriktiv. Mit der Zeit stellte Foucault jedoch fest, daß Macht auch ein aktivierendes Phänomen ist, das nicht nur Grenzen setzt; und diejenigen, die der disziplinierenden Macht ausgesetzt sind, müssen sich ihr auch in ihren Reaktionen keinesfalls um jeden Preis fügen. Macht kann deswegen auch Mittel zur Produktion von Lust sein: Macht und Lust stehen nicht nur in Opposition zueinander. ›Sexualität‹ sollte nicht nur als Trieb verstanden werden, den die sozialen Kräfte beherrschen müssen. Vielmehr ist sie ein Brennpunkt, in dem Machtbeziehungen aufeinandertreffen, etwas, das als Fokus der sozialen Kontrolle durch genau die Energie nutzbar gemacht werden kann, die er selbst hervorbringt und die immer schon von der Macht infiltriert ist.

In der modernen Zivilisation ist der Sex nicht verdrängt worden. Ganz im Gegenteil, ständig wird über Sex geredet, und er wird unermüdlich erforscht. Sex ist zum Gegenstand einer ›großen Predigt‹ geworden, die die ältere Tradition des theologischen Predigens ersetzt. Verkündungen über sexuelle Repression und die Predigt über Transzendenz verstärken sich wechselseitig; der Kampf für die sexuelle Befreiung ist Teil des gleichen Machtapparats, den er denunziert. Hat irgendeine andere soziale Ordnung, so fragt Foucault rhetorisch, sich so beharrlich und so vorwiegend mit Sex beschäftigt?

Das 19. und frühe 20. Jahrhundert stehen im Mittelpunkt von Foucaults Untersuchungen, die sich mit der Repressionshypothese auseinandersetzen. Während dieser Zeit haben sich Sexualität und Macht auf unterschiedliche Weise miteinander verwoben. Sexualität wurde als Geheimnis konstituiert, dem man unaufhörlich auf der Spur bleiben und vor dem man sich gleichzeitig ständig schützen mußte. Nehmen wir zum Beispiel die Masturbation. Ärzte und Erzieher zettelten ganze Kampagnen an, um dieses gefährliche Phänomen einzukreisen und über seine Konsequenzen aufzuklären. Dieses Phänomen zog soviel Aufmerksamkeit auf sich, daß die Vermutung naheliegt, es ginge offensichtlich gar nicht um seine Beseitigung; vielmehr ginge es darum, die körperliche und geistige Entwicklung des Individuums zu organisieren.

Ebenso verhielt es sich, so fährt Foucault fort, mit den zahlreichen Perversionen, die von Psychiatern, Ärzten und vielen anderen aufgelistet wurden. Mit diesen unterschiedlichen Formen der abweichenden Sexualität geschah zweierlei: Sie wurden öffentlich zur Schau gestellt, und man konnte sie als Prinzipien der Klassifizierung für das individuelle Verhalten, die Persönlichkeitsstruktur und die Identität benutzen. Das Ziel war nicht, Perversionen zu unterdrücken, sondern ihnen eine analysierbare, sichtbare und permanente Realität zu verleihen; sie waren den ›Körpern eingepflanzt‹, wurden den Formen des Verhaltens untergeschoben. So war etwa die Sodomie »so wie die alten zivilen oder kanonischen Rechte sie kannten […] ein Typ von verbotener Handlung«, nicht aber die Eigenschaft oder das Verhaltensmuster eines Individuums. Im 19. Jahrhundert wurde der Homosexuelle »zu einer Persönlichkeit […], die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt«, eine Fallstudie ebenso wie ein Typus, eine Lebensform, eine Morphologie.

»Man darf sich nicht vorstellen«, so Foucault, »daß all diese bis dahin geduldeten Dinge plötzlich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und eine pejorative Bestimmung erhalten hätten, als man dem allein zur Reproduktion der Arbeitskraft und der Familienform fähigen Typ von Sexualität eine regulative Rolle zuweisen wollte […], durch die Isolierung, Intensivierung und Verfestigung der periphären Sexualitäten vermehren und verästeln sich die Beziehungen der Macht zum Sex und zur Lust, durchmessen den Körper und durchdringen das Verhalten.«[2]

Viele traditionelle Kulturen und Zivilisationen haben Künste der erotischen Sensibilisierung gefördert; aber nur die moderne westliche Gesellschaft hat eine Wissenschaft der Sexualität entwickelt. Foucault zufolge wurde dies möglich durch die Verbindung des Prinzips des Geständnisses mit einer bestimmten Akkumulation des Wissens über den Sex.