Wanderer - Alban Nikolai Herbst - E-Book
SONDERANGEBOT

Wanderer E-Book

Alban Nikolai Herbst

0,0
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alban Nikolai Herbsts Erzählungen und Novellen bestechen in ihrer klassisch-strengen Faktur und erzeugen in ihrer Intensität eine Ungeheuerlichkeit, die nicht mehr loslässt. Nirgendwo können Vielfalt und Entwicklung im Schaffen des musischen Autors deutlicher überblickt werden als in seiner Kurzprosa: wie früh Themen und Stilmittel angelegt sind, welche motivischen Zusammenhänge sich daraus ergeben, die wiederum zu den Jahrhundertromanen wie Wolpertinger oder das Blau und den Andersweltromanen Thetis, Buenos Aires und Argo führen. Die scharfe Beobachtung realistischen Alltagsgeschehens und der gleichermaßen unmerkliche wie kühne Übergang in die Phantastik zeichnen das Schreiben Alban Nikolai Herbsts aus – ebenso wie die hohe Musikalität seiner Sprache, deren Tonlagen vom Lyrischen bis ins Groteske reichen. Aus dem Vertrauten geraten Protagonist und Leserin immer wieder in die Falle geschlossener Welten, aus denen es kein Entrinnen gibt. Stärker als in den Romanen sind hier Einflussgeber zu erkennen und als solche oft auch ausgewiesen – Bonaventura, H. P. Lovecraft, F. M. Dostojewski, E. A. Poe, Thomas Mann, Arno Schmidt, Jorge Luis Borges, deren Erzähltechniken Herbst aufnimmt und auf seine unverkennbare Art verwandelt. Wanderer ist der erste Band der zweibändigen Ausgabe und versammelt alle Prosastücke des Meistererzählers von den Siebzigerjahren bis etwa zur Jahrtausendwende.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1147

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autor und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Inhalt

Svenja

Drei Straßenstücke

Gesellschaft

Die Sache mit Kark-Jonas

Ein Freund erzählt

Armer Ulrich

Sabinenliebe

Besuch eines Kaufhauses

Walkürchen

Eva oder Tagesende

Auf dem Lande

Der Sieg

Gehirn

Joana. Nachtstück.

Müde Gegner

Marlboro

Der letzte Wille

Schluß machen mit denen

Roses Triumph

Fahrtgespräch

Der Getretene

Traum

Ein Ton

Azdreds Buch

Nachruf auf Asmus Hornacek

Die Niedertracht der Musik

Joachim Zilts' Verirrungen

Der Gräfenberg-Club

Geständnis für die literarische Welt

Kette

Pyramiden

Geliebte Männer

Der Hundstod

Selzers Singen

Apocalypse New

Bücherkoffer

Die Orgelpfeifen von Flandern

Nachwort - Spuren an den Ufern von Musik und Mythe

Zu den einzelnen Erzählungen

Leseproben

Corinna Antelmann - Hinter die Zeit

Jürgen Bauer - Ein guter Mensch

Jürgen Bauer - Was wir fürchten

Gudrun Büchler - Koryphäen

Ute Cohen - Satans Spielfeld

Myriam Keil - Das Kind im Brunnen

Peter Rosegger - Weltgift

Marlen Schachinger - Martiniloben

Jan Kjaerstad - Das Norman-Areal

Ryu Murakami - Vaterland (I: Die Invasion)

Matthew Parker - Goldeneye - Ian Fleming und Jamaika

Ekaterine Togonidze - Einsame Schwestern

© 2019, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Die in den Erzählungen verwendete Rechtschreibung

richtet sich nach dem Autor.

Lektorat: Elvira M. Gross

Cover: Jürgen Schütz

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-69-9

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-81-6

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

Band 2 WÖLFINNEN erscheint im Herbst 2019

ISBN: E-Book: 978-3-903061-70-5

ISBN: Hardcover: 978-3-902711-83-0

Alban Nikolai Herbst

wurde 1955 in Refrath, Nordrhein-Westfalen, geboren. Er publiziert seit 1981 und lebt seither – abgesehen von einem fünfjährigen Zwischenspiel als Aktien- und Devisenbroker – als freier Schriftsteller. Mit seinem 1000-seitigen Roman Wolpertinger oder Das Blau und der Anderswelt-Trilogie wurde er als Dichter der deutschen Postmoderne bekannt und erhielt u. a. den Grimmelshausen- sowie den Fantastik-Preis. Mit dem Verbotsprozess um seinen Roman Meere geriet Herbst nachdrücklich in die Skandalzeilen. Zuletzt erschienen der Gedichtzyklus Aeolia.Gesang und der Gedichtband Der EngelOrdnungen sowie die romantheoretischen Vorlesungen Kybernetischer Realismus, alle drei 2008.

Ebenfalls 2008 hat Ralf Schnell den exklusiv Herbst gewidmeten Horen-Band 231Panoramender Anderswelt, Expeditionen ins Werkvon Alban Nikolai Herbstherausgegeben. Der Autor arbeitet seit 1994 in Berlin und gibt in dem von Knallgrau in Wien gesponserten literarischen WeblogDie Dschungel.Anderswelt(https://dschungel-anderswelt.de) nahezu täglich Einsicht in seine dort ständig weiterentwickelte Poetologie.

Mit der ErzählungLena PonceinPERSPEKTIVENWECHSEL No 1erschien Alban Nikolai Herbst im Septime Verlag.2019 erscheinen seine gesammelten und neu editiertenErzählungen in 2 Bändenbei Septime.

Klappentext

Alban Nikolai Herbsts Erzählungen und Novellen bestechen in ihrer klassisch-strengen Faktur und erzeugen in ihrer Intensität eine Ungeheuerlichkeit, die nicht mehr loslässt. Nirgendwo können Vielfalt und Entwicklung im Schaffen des musischen Autors deutlicher überblickt werden als in seiner Kurzprosa: wie früh Themen und Stilmittel angelegt sind, welche motivischen Zusammenhänge sich daraus ergeben, die wiederum zu den Jahrhundertromanen wie Wolpertinger oder das Blau und den Andersweltromanen Thetis, Buenos Aires und Argo führen. Die scharfe Beobachtung realistischen Alltagsgeschehens und der gleichermaßen unmerkliche wie kühne Übergang in die Phantastik zeichnen das Schreiben Alban Nikolai Herbsts aus – ebenso wie die hohe Musikalität seiner Sprache, deren Tonlagen vom Lyrischen bis ins Groteske reichen. Aus dem Vertrauten geraten Protagonist und Leserin immer wieder in die Falle geschlossener Welten, aus denen es kein Entrinnen gibt. Stärker als in den Romanen sind hier Einflussgeber zu erkennen und als solche oft auch ausgewiesen – Bonaventura, H. P. Lovecraft, F. M. Dostojewski, E. A. Poe, Thomas Mann, Arno Schmidt, Jorge Luis Borges, deren Erzähltechniken Herbst aufnimmt und auf seine unverkennbare Art verwandelt. Wanderer ist der erste Band der zweibändigen Ausgabe und versammelt alle Prosastücke des Meistererzählers von den Siebzigerjahren bis etwa zur Jahrtausendwende. »Womöglich ist das eine neue Form von Literatur.« DIE ZEIT»Von alles verschlingender Vielfalt, panoramisch, epochal und überhaupt.« NEUE ZÜRCHER ZEITUNG 

Alban Nikolai Herbst

WANDERER

Erzählungen I

Editiert und mit einem Nachwort von

Elvira M. Gross

... eine der wichtigsten menschlichen Dimensionen […]:

die Sensibilität für das Tragische.

Jan Kjærstad , Der Verführer

Ein zu pathetischer Wind, fürchte ich, aber letztendlich sind alle Wahrheiten so lächerlich banal, daß man nur in Rätseln darüber sprechen darf, und je weiter sich die Rätsel von den Antworten entfernen, desto erträglicher wird unser Reden.

Christopher Ecker, Fahlmann

… und ich habe oft gedacht, daß die Gegend, die man als Kind durchstreift, genauso großen Enfluß darauf haben muß,

wer man wird, wie (…) Gene und Erziehung.

Jan Kjærstad , Das Norman-Areal

»Noch wiegt sich die Freude im Abendwind«,

sagt Vater leise zu mir, während er sich die Ledertasche umbindet. »Aber wenn wir dereinst nichts als Trauer sind, werden wir verdampfen wie Morgentau im Sonnenlicht.«

Christopher Ecker, Der Bahnhof von Plön

Svenja

Elfenkönigin seine

schon, als sie zum ersten Mal vor ihm steht: im Halbprofil schräg jemandem andres zuwendet. Wie sehnig sie ist und wie schmal!

Ihr durchgedrücktes Hohlkreuz. Ihre sehr kleinen Brüste. Die sich gegenseitig Lügen strafenden Gesichter auf den drei Bildern, die ihm von ihr geblieben sind. Höhere Tochter, Verwegene, Versunkene – sogar »Die Versunkene« – meine Güte! Doch genau so hat er eine der Fotografien genannt. Für die hat sie, die Fünfzehnjährige, stundenlang vorm Objektiv seiner alten Rollei posiert. Heimlich daheim. Den Schlüssel zur Tür des Nebenzimmers herumgedreht, achtsam. Niemand sollte etwas hören. Niemand außer ihm ihr ungebundenes Haar sehn.

Es riecht gedämpft nach Naphtalin.

Niemand werde sie jemals so sehen … so verstehen … Davon war er überzeugt. Dann fuhr sie fort auf ihrem Mofa, verhöhnte ihn später auch noch.

In der Tanzschule hat er sie kennengelernt.

Welch ein Umher! Die Bässe wummern überm Parkett. Sie kamen aus Gesellschaftskreisen, die sich nicht handgemein machen wollten, eine überkommene Etikette bewahrten; Svenja bewahrte freilich nichts. Er schloß, der Junge, nicht zu ihr auf. Und schon war alles vorüber.

Er hat getrunken. Das tut er damals häufig. Morgens ist er schulflüchtig. Mittags findet man ihn im Schloßpark, den es heute nicht mehr gibt. (Doch war das Gelände schon seinerzeit durch den anrainenden Bau von Horten verschandelt.)

Seit einem Jahr verbringt er seine Abende in der Kantine des Staatstheaters, bis man je schließt. Dann erst kehrt er heim. Es sind von dort kaum zweihundert Meter Jasperallee. Dennoch weiß er sich nachher oft nicht mehr an sie zu erinnern, ein Filmriß folgt auf den andern.

Er erklimmt anderthalb Stock Hauswand und drückt mit Kraft den Holzrahmen des Fensters auseinander. Zwar liegt sein Zimmer wie die mütterliche Praxis souterrain. Doch seit der Junge nicht mehr in den Griff zu kriegen ist, schließt sie unten feste ab, denn er soll oben schlafen. Seinen Schlüssel hat er abgeben müssen.

Kommt dennoch unbemerkt herein. Geht es morgens wieder in die Schule, bereitet unten die Mutter meist schon die Praxis vor. Sie kann sich Helferinnen nicht leisten.

Er ist sechzehn. Wohin mit sich, weiß er schon gut. Exzesse in seinem schwarz verkleideten Zimmer. Die schweren Vorhänge blutrot. Zwölf Lautsprecher hinter ihnen verteilt. Immer wieder Tschaikowski b-moll, drohend aufgedreht. Raskolnikoff, Selbsthypnose, Apollo 11. Sankt-Pauli-Nachrichten, Wochenend. Die lüstern sich wälzenden Nonnen in Russells Verfilmung der Teufel von Loudun.

Die Mutter hält auf Form. Deshalb die Tanzschule, in der er sich zweimal die Woche sehen läßt. Da nämlich Svenja. Sie steht nicht, sie schwirrte. Ihre transparenten Flügel sind es, die sie über das Parkett tragen. Direkt auf ihn zu. In den Taschen seiner Hose das aus der mütterlichen Kasse geklaute Geld. Dies aber nicht macht ihn schwer.

Sie fordert ihn auf. Was bei ihr einer Forderung tatsächlich gleichkommt.

Er hebt sich an wie von Jahrhunderten. So auch nimmt er das Mädchen in die Arme. Es braucht all ihren Witz, ihn zum Lachen zu bringen.

Eigentlich hat er sich gegen die Tanzschule gewehrt. Es sind die postrebellischen Jahre. Wenn einer aber so wenig leicht ist wie er, steht er in Diskotheken bloß in Ecken herum.

Ein letztes Mal den Arm um Marie-Luises Schultern, wartet er mit auf ihren Bus. Den Arm ein letztes Mal um ihre Schultern. Weiter waren sie füreinander nicht gegangen.

»Und warum? fragte er.

»Ach laß mich doch!«

Sie streifte seinen Arm ab. Er kniff die Lippen zusammen.

Und jetzt wirbelt ihn Svenja umher. Das Zittern des Stroboskoplichts. Man verliert die Orientierung. An ihrem Pferdeschwanz hält er sich fest. Den trug sie so gern. Einmal kreischt sie auf. Er hat zu ungelenk, zu feste gezogen. Aber sie lacht schon wieder, dankt es ihm.

Als Marie-Luise und er auf der Bank saßen, stumm, klatschten dicke Tropfen Regens herunter. Wildbäche strömten vor ihren Füßen. Der ganze Himmel flennte.

Dann der Bus, dröhnend durch Pfützen spritzend. Wir sprangen auf, kamen uns ein letztes Mal dabei nahe.

Svenjas Reitgertenleib. Jederzeit ein Pfeil von der Sehne. Wie stolz und wild sie von ihrem Wallach herabsah! Grenzen mißachtend, doch spöttisch, auf andere Weise als er, eine spöttische Weise. Sie verhöhnte Kleinmut ohne ein Wort. Er hätte meinen können, sie habe keine Moral.

»Du bist so verstockt!« Sie wirft das Haar in den Nacken.

Hubertusjagd. Der Junge weiß nicht mehr, wie er, unberitten, auf diese Lichtung kam. Svenja stürmt soeben aus dem Wald, den anderen voran. – Da verfehlt ihr Wallach im Sprung die Höhe, die Hinterhände schlagen gegen den queren Baumstamm, so geht es fast über Kopf: Das Mädchen aus dem Sattel geworfen, hoch in die Luft geschnellt, in Sekundenschnelle zusammengerollt und in den Sprungschatten des Stamms gekugelt, um nicht von den Hufen der hinter ihr Heranpreschenden getroffen, erfaßt, zerschmettert zu werden. Ein Eisen streift sie dennoch. Armins.

Die prustende Meute stiebt, stoppt, die Tiere schnauben und tänzeln. Man sitzt ab, läuft alarmiert herbei. Svenja aber steht schon wieder. Sie wirft den Pferdeschwanz und lacht. In ihrem Lachen klingeln alle die Ästchen des Waldes. Selbst das wilde Gras klirrt. Ein jeder Halm wie mit gläsernen Glöckchen behängt.

Niemand wird mit ihr fertig. Von niemandem ist sie zu bändigen. Teufelchen Elfe, das vertilgt, was ihr naht. Läuft darauf zu und schlingt es hinunter: in einem einzigen Husch ihrer Augen.

Sie besitzt einen Giftzahn, den sie beim Lieben nutzt. So lähmt sie ihre Opfer. Die sie danach beständig umkreisen.

Er denkt, sie sei überhaupt nicht gereift. Mit ihm solle sie wachsen.

»Kommst du mit zu mir? Ja, jetzt gleich.« Er habe Wein zuhause, zwei Flaschen.

Ihr schmaler Leib ein Bogen, der seine Spannung erst neben ihm auf der Couch löst. Ganz wie ihr Haar. Jetzt fällt es seitlich der Schläfen seidenblond zurück. Ihr gliedriger Hals wird frei, die Linien hinauf aus der Mitte des Schlüsselbeins strahlen.

Sie wartet.

Er ist aufgeregt unruhig, unselbstgewiß. Seine Hand gleitet über ihr Haar. Vorsichtig fährt er mit gespreizten Fingern durch die Seide.

Wie er endlich seinen Atem in sie gießt.

Natürlich wohnt sie noch bei den Eltern. Eine vierstöckige weiße Villa mit braunen Fensterrahmen. Der weite Rasen dahinter rutscht zum trägen ockergrünen Fluß hinab.

Ihr Stiefvater ist seit Jahren Pensionär. Sie nennt ihn Vätchen. Ein kleiner drahtiger Mann, keine einssechzig. Keep-smiling-kettenrauchend. Mitunter ist er geistvoll, jedenfalls witzig. Sein Vermögen stammt aus einer Fabrik für Schwermaschinen. Er hat sie aus den Trümmern erhandelt und ins Wirtschaftswunder überführt. Auf der massiven Anrichte stehen Fotos von ihm und Sinatra. Er und Frankyboy schwenken die Hüte und zeigen ihr Colgatelachen. Come on, lets have a drink.

Männchen zwar, doch mächtig, ist er ein Satyr. Auf stille und, kann man denken, fast naive Weise lüstern sitzt er übern ganzen Tag gespitzter Lippen im Lehnstuhl und schaut. In die Armlehnen sind Armaturen eingelassen, vermittels derer er die Fensterläden im Haus, sämtliche, herunterlassen und auch alle Türen verriegeln und wieder öffnen kann. Was er auch gerne tut.

Svenjas Jungen mag er gern, ist ihm ein Gönner ohne Gehabe. Gibt ihm Zigaretten stangenweise mit, gibt ihm Zweiliterflaschen eines schweren Muskatellers, den er aus Griechenland einführen läßt. Vielleicht hat ihn auch nur meine Armut gerührt. Und daß ich einen Vater suchte.

Armut, nun jà. Aber wir hatten nicht viel. Ich erinnere mich des Badeofenrohrs, in dem das Wasser bullerte und zischte. Die Kochwäsche blubberte auf dem Herd in der Küche. Am Abend wurde penibel zusammengerechnet, was man sich leisten könne und was nicht. Manchmal kamen Kartons mit gebrauchter Kleidung für die Jungs. Für neue wuchsen sie zu schnell.

Dem Vätchen auf spöttische Weise unterworfen, führt Svenja einen heimlichen Stutenkrieg mit der Mutter, begehrt nie offen gegen sie auf, tut dennoch nur, was sie selbst will. Ihr Haar ist zuhaus stets aus dem Antlitz und hinter die Ohren gestrichen. Adrett, beinah züchtig sieht sie da aus. Spät erst hat der Junge begriffen, welch Ausdruck ihrer inneren Freiheit dies war. Da war er schon Junge nicht mehr. Sie hätte auch Haarspangen getragen, wenn es verlangt worden wäre.

Was hätte es ihr gebracht, wenn sie wie alle anderen rebelliert hätte? In der Villa bewohnte sie ein eigenes Stockwerk mit eigenem Bad, eigner Toilette. Und wenn das sinnliche Vätchen sie, wie sie es nannte, kitzelte, hatte sie ihre Freude daran. Das spielt sie gegen die Mutter aus.

Die spielte nun mich gegen sie aus. Was ein solcher Junge nicht merkt, und wenn, dann zu spät.

Ehrlichkeit hatte für Svenja keinen Wert. Ihr einen beizumessen, fand sie naiv. Warum sollte sie Leute verletzen, wenn es auch anders ging?

Wäre sie schon Auto gefahren, sie hätte keine Kurve genommen, ohne daß die Reifen quietschten.

Auf seiner Couch.

Ihre Lippen liegen festgesaugt um seine. So küßt sie immer, wenn sie erregt ist. Sie saugt die Lippen des Jungen in ihren Mund. Dann durchbricht ihre Zungenspitze sein Muskelgekräusel. Von selbst bekommt man den Mund in dem ihren nicht auf.

Oder das Kußspiel. Die Unterlippe des anderen mit den Zähnen zu fassen versuchen. Wer es schafft, hat gewonnen. Zehn erfüllte Minuten schnappen beide herum.

Da ruft seine Mutter zum Essen. Und Svenja enthuscht, kichernd, durchs Fenster.

Eine Ephebe.

Vier Wochen, nachdem sie sich kennengelernt haben, besuchen sie das Gestüt ihres leiblichen Vaters nahe dem Elm. – War es noch im Sommer? Nein, es muß schon Herbst gewesen sein, Altweibersommer also. Denn über den Nacken rann ihm Schweiß. Noch waren alle Wiesen grün.

Da schreit Svenja: »Deckhengst!« Der Ridgeback rast heran.

Wie sie aufjubelt, als der große Hund sie anspringt! Selbst ihr Haar triumphiert. Es flattert derart im Sonnlicht! »Hasso, du alter, alter Deckhengst!«

Sie küßt ihn auf die glänzende Nase, leckt sogar kurz über sie. Dann strafft Svenja sich, geht ins Hohlkreuz und reißt gleich beide Arme hoch. Die Vorderpfoten des Hundes liegen auf ihren Schultern.

Ich war gar nicht mehr da. Nur noch dieser Rüde.

Er wird immer wilder, aber Svenja fällt nicht um, hält dem Gewicht des Tieres stand. Sein rotausgefahrenes Glied tänzelt irrsinnig glühend ein paarmal schnell in der Luft, reibt sich an ihren Oberschenkeln, reibt bis zu ihrem Bauch hoch.

Ekelte es mich? Nein. Ich war bloß verpeint. Und verlor aus moralischem Abscheu den Glauben an Gott.

Nach einigen Sekunden gibt Svenja dem Hund einen Klaps auf die Kruppe. »Ab!« ruft sie. »Genug jetzt … Na lauf!«

Dann sieht sie zu mir, als hätte sie gesagt: »Ach, du bist ja auch noch da …« Tatsächlich aber sagt sie, während sie sich abklopft: »Guck! Is gar nichts passiert. Ich brauch nicht mal ein Taschentuch.« Wobei sie an sich heruntersieht.

Dann sieht sie wieder zu mir, in halbschrägem Hochblick, bemerkt mein Beklommensein und bekommt einen Ausdruck ins Gesicht, der mitleidig wäre, läge nicht so viel Verachtung darin.

Dieses Mädchen also hat der Junge an sich gezogen. Sie hält er umfaßt und will sie schützen.

Eher hat wohl sie den Jungen an sich gezogen. Dabei ist sie gar nicht sein Typ, der dunkelhaarig ist, melancholisch und milde. Blond und energisch ist seine Mutter genug.

Nicht sein Typ. Plötzlich sitzt der neben ihm und saugt seine Lippen in einen weiblichen Mund. Plötzlich schlingen sich verlangende Arme um den Jungen, legt ihm Svenja eine Hand in den Nacken, die zweite um den Hinterkopf, und er, anders läßt es sich nicht sagen, berührt ihre ephebischen Brüste. Wozu er sich ein wenig verrenkt. Den bis dahin Bindungslosen band nun die Bindungslosigkeit an sich.

Leidliche Ruhe.

Es ist kühl geworden. Die Marktstände sind fortgeräumt. Entfernt kreischt eine Straßenbahn in den Gleisen.

Neben dem Jüngling – Teenager will nicht recht passen – sitzt auf der Bank ein Obdachloser. Penner nennen wir die. Der schimpft, doch tonlos, vor sich hin.

Auf den Schenkeln des Jungen Block, Bleistift, Radiergummi, in einem Umschlag paar Fotografien. Zwei Wochen ist es her, daß Svenja auf ihrem Mofa davonfuhr und ihn für immer stehen ließ.

Stimmt nicht. Er ist noch einmal bei ihr gewesen. Sie hat die Tür sogar selbst geöffnet.

»Ach, du. Na meinetwegen komm mit hoch.«

Svenja legt eine Platte auf, nachdem sie ihre Etage betreten haben. Als er in ihrem Zimmer herumsteht. Du lebst in deiner Welt. Der Schlager ist das schlimmste. Zumal sie dazu, ohne ihn, tanzt. Sie singt auch mit, während sie sich in den Hüften wiegt. Du sprachst von verzeih’n, ich wollt dich befrei’n, wir konnten zusammen nicht sein.

Er schaut ihr zu wie versteint.

Dann sagt er: »Ich werde nach Bremen fahren.« Daß Svenja nicht darauf reagiert, ist menschlich. Es erspart dem Jungen ihr Achselzucken.

In einem Gebäude übereinangeworfene Stühle, die wie übereinandergeworfene Menschenleiber wirkten: aufeinandergeschichtete, durcheinandergewühlte Menschenleiber.

Über den Giebeln geht die Sonne unter, überzieht sie wie auf Bildern naiver Malerei mit blauweißem Licht. Drunter spazieren Menschen. Manche gehen einfach ihrem Ziel zu, andere begrüßen sich, klopfen einander auf die Schulter, spielen mit Faustzeichen, manche lachen, manche kichern. Auf einem Sockel sitzen, in Pullis und Jeans, um Jungsbekanntschaften pfeifende, bisweilen keckernde Mädchen, werfen das Haar und lassen ihre Zähne blitzen.

Er hat Svenja in Braunschweig tatsächlich zurückgelassen, hat seiner Mutter nichts gesagt, nichts dem Bruder, nur wieder Geld aus der Kasse gestohlen und sich damit das Ticket gekauft. Dann hat er sich, statt zur Schule zu gehen, in den Zug gesetzt. Bei seiner Großmutter gibt es für ihn immer einen Unterschlupf. Sie wird ihn nicht verraten.

»Aber Junge! Und wenn sie die Polizei ruft?«

Würde sie nicht. Sie wird froh sein, daß er weg ist.

Wie federnd Svenja neben ihm auf der Couch saß!

Wie sie durchs Fenster enthuscht war! Windsbraut meine.

Sie hatten sich für den nächsten Tag wieder verabredet. Sie werde ihn nach der Schule abholen kommen. »Ich freu mich, du!« rief sie. »Ich freue mich irrsinnig!«

Das war vor einem halben Jahr.

Er erzählte ihr nicht, was er normalerweise tat. Sie fragte auch nie danach. Sie hätte damit nichts anzufangen gewußt. Es wäre ihr egal gewesen, auch wenn er Musik wie Bach geschrieben hätte. Wer war schon Bach? (Wer war schon Daisy Door? Wer war Jimi Hendrix?)

Gleichgültig, wer er war, was irgendjemand ist. Sie hing nicht in ihrer Generation fest, nicht mal an ihr. Sie berührte anderes. Wahrscheinlich wußte sie selbst nicht, was.

Ob sie körperlich noch Jungfrau ist, wußte er sehr bald. Doch war sie es noch seelisch? Das, tatsächlich, trieb ihn wochenlang um. Hätte er ihr das gesagt, sie wäre in Prusten ausgebrochen.

Ihr Jungmädchenzimmer, das sie »mein Wohnzimmer« nannte. Zu ihrer Etage hatte sie einen eigenen Schlüssel; sie konnte sie als ihre Wohnung versperren. Es gab neben dem weiten, von der Toilette getrennten, verspiegelten Bad einen Flur, ein Ankleide- und ein Schuhzimmer sowie ein Schlafkabinett, das sie aber niemals benutzte. Darinnen – violett bezogen – ein, nannte seine Mutter sowas, »französisches Bett« –

Er, als er dieses Kabinett zum ersten Mal sah, dachte sofort an Tausendundeine Nacht.

– das sie aber niemals benutzte.

Svenjas Mutter war eine rasend schöne Frau mit aber herben, ein wenig ordinären Zügen. Sie mochte um die vierzig sein. Vielleicht war sie auch jünger; er schätzte noch mit Jünglingsblick. Ich weiß bis heute nicht, ob sie ihr Haar gefärbt hatte oder ob es wirklich derart schwarz war. Einst, erzählte sie ihm, habe sie so blondes Haar wie die Tochter gehabt.

Gern trug sie enge dunkle Rollkragenpullover. Sie wußte, warum. Nie hat er sie einen Rock tragen sehen, nur einmal, zum Abschlußball, ein mit Pailetten besetztes Kleid, schwarz auch dieses.

Auch seine Mutter war dort gewesen. Eine hochgewachsene, mit Kraft, ja energisch verhärmte Frau, Erzengel Michaela, Führerin der himmlischen Heerscharen eines dogmatischen Gottes, Mutter Theresa zugleich und Medea.

Svenja im azurblauen Kleid, um den Hals einen Aquamarin an einer Silberkette. So filigran wie sie selbst. Ihr rechter Arm bis zum Ellbogen in Gips. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß sie mit voller Absicht vom Mofa gestürzt war.

So tanzen sie. Er in seinen – aus dem mal wieder Klamottenkarton – viel zu großen Schuhen, deren Spitzen sich schon hochgeknickt haben. Um dem Mädchen nicht auf den Kleidersaum zu treten, beugt er sich ungelenk vor. Vogelgestelze.

Keine Chance, beim Wettbewerb auch nur den dritten Platz zu belegen. Mindestens das, mit ihrem Gipsarm, hat Svenja aber vor.

Er las damals viel. Ein paar Wochen lang führte ihm das Straßentheater vor, was er selbst sich nicht traute.

Beim Wiener Walzer kommt Svenja auf eine Idee. Sie stellt sich ihm – während des Wettbewerbs – auf die zu großen Schuhe. Dazu eignen sie sich. Dann klammert sie sich in seinem Nacken fest. Und er, er dreht sie und sich, doch verliert den Griff um ihre Taille, und ihre Hand rutscht aus seiner. Schon fällt sie nach hinten weg, wobei sie aber aufkreischend lacht. Inmitten der rotierenden Paare plumpst sie, einfach weitermachend, auf ihr Gesäß. Beibt lachend auf allen Vieren sitzen. Die Tränen laufen über ihre Wangen. »Du bist ein solcher, solcher Tolpatsch!«

Es kommt Stockung in den Walzer, die Paare verwirren sich komplett. Nur die Musik läuft weiter. Und weiter im Gemenge hockend, zieht sie den Jungen zu sich herunter, ja zerrt an seinen Händen. »Küß mich! Küß mich hier!«

Ihm ist es furchtbar peinlich. »Aber Svenja …« sagt er.

Und dann wieder, kaum einen nächsten Tanz weiter, packt sie erneut der Ehrgeiz. »Nun halt dich endlich grade!« faucht sie ihn an. »Hör auf, dich wie ein Krüppel zu benehmen! Ich will mich nicht dauernd blamieren!« Sie macht sich wütend von ihm los, stößt ihn auf der Tanzfläche weg, einfach weg. Dann läuft sie aus dem Saal.

Er bleibt hilflos zurück. Ihr hinterherzulaufen, hat keinen Sinn.

Er duckt sich unter den halb mitleidigen, halb verachtungsvollen Blicken der anderen. Jedenfalls kommt es ihm so vor. Er ist ein geschlagener Hund, der nicht die Traute hat, in die Hand zu beißen, die ihn schlägt.

Vielleicht fünf Minuten bleibt Svenja weg. Dann kommt sie, ihn suchend, zurück. »Komm, laß uns um die Wette rennen!« Sie greift seine Hand, pest los, zieht ihn hinter sich her mitten ins Tanzgetümmel, läßt von seiner Hand wieder ab und ruft: »Fang mich! Fang mich doch!« So daß der Betrieb abermals gestört ist.

Aber er genügte auch als Bücherwurm nicht. Er lernte nicht, er floh. Stundenlang saß er hinter zugezogenen Gardinen und schrieb Heftchen mit Science-Fiction voll. Dabei war die selbstgebaute Stereoanlage bis auf den Anschlag aufgedreht. Manchmal rief genervt die Mutter, deren Praxis ja gleich nebenan. Schon war der nächste Ärger da.

Oder er vergrub sich, um seinen Abscheu zu pflegen, in die Freudsche Massenpsychologie, überschlug angeödet die französischen Dialoge in den Dämonen und zog sich die erste Nikotinvergiftung zu. Mit Perry Rhodan kam er drüber hinweg.

Eine Woche nach ihrem ersten Kuß. Er steht auf der breiten und hohen Freitreppe, die auf die Anlagen des Löwenwalls führt; ihr laufendes Mofa hat Svenja hinaufgewuchtet, dabei immer wieder Zwischengas gegeben. Wirklich mal zu Fuß gehen kann sie nicht. Es ermüdete sie.

Nun rast sie, wieder aufgesessen, die je nicht sehr hohen Stufen abermals hinunter, gibt Gas, beschreibt eine Kurve, nimmt Anlauf, knattert und hoppelt die Stufen wieder herauf, drückt ihm, ohne anzuhalten, einen Kuß auf die Lippen, rast wieder hinunter. So zweidrei Mal oder vier.

Und jauchzt vor Lebensglück.

Was für ein Kind! denkt er – ein alter Mann schon mit sechzehn.

»Zu wem kommst du eigentlich, zu mir oder zu meiner Mutter?« – Wie die in ihrem schwarzen Rollkragenpullover dastand! Er hatte neben dem Kühlschrank Platz genommen, kurz fortrücken müssen, als sie die Milch herausnehmen wollte. Woraufhin sie ihre Linke in die Hüfte stemmte und mit der Rechten den Milchpack an die Lippen führte.

In fast einem Zug trank sie den leer, vor seinen Blicken leer, und sah ihn dabei an.

Svenja und er unter seiner Bettdecke. Sie müssen leise sein, damit in der Praxis die Mutter, seine, nichts hört. Svenja, hat er den Eindruck, legt es darauf aber an.

Es ist ein strahlender Sommernachmittag. Der zugezogenen Vorhänge wegen schwimmt das ganze Zimmer in hellrotem Licht. Trotzdem brennt eine Kerze.

So ist er.

Schumanns Klavierkonzert dazu. Ihre Musik ist es nicht. Aber das spielte für sie keine Rolle.

Weil er es vermeidet, durch die Praxis seiner Mutter zu gehen, verläßt er sein Zimmer nahezu ausschließlich durch das Fenster. Das darum meistens offensteht oder nur angelehnt ist. Auch seine Freunde wissen das und nutzen es deshalb ebenso.

Allmählich wird es dämmerig. Plötzlich galoppiert draußen Henning, sein Freund, zum Souterrain herab: kurze, harte, fast hämmernde Schritte. Schon zieht er den Vorhang zur Seite, steckt den Kopf durch.

»Hau ab, du Idiot!«

Der versteht erst, obwohl schon halb drinnen, als Svenja zu lachen beginnt, die doch – entspannt, ja gelöst – beinah stundenlang dagelegen hat. Indem sie Henning vernimmt, zieht sich ihr Körper spontan zusammen– und schon schnellt sie auf. Dann dieses ungebändigte Lachen. Sie kriegt sich gar nicht mehr ein.

Ich zu Henning wieder: »Hau endlich ab!«

Svenja lacht und lacht. Der Vorhang fällt wieder zu und Svenja auf das Bett zurück. Doch sie lacht weiter, wenn auch jetzt silberhell leise. Vorbei die zarte Ergebenheit.

Manchmal gelang es ihr, auch ihn ein kleines bißchen leicht zu machen. Wenn sie Hand in Hand durch den Regen liefen und in jede Pfütze hüpften. Damals schon trug er Anzug und Krawatte und liebte seinen pelzbesetzten Ledermantel. Jeans lehnte er ab; sie waren für ihn Uniform. Menschenaufläufe floh er. Sie führten ins Unheil und würden es abermals tun.

Wie der Bus durch diese Pfütze fuhr! Wie Marie-Louise aufgesprungen war! Wir auch er aufgesprungen war! Wie sie sich dabei ein letztes Mal nahegekommen waren.

Er müsse, denkt er, Svenja Ruhe geben. Sie finde sie nicht in sich, sei so getrieben, begreife einfach nicht, daß niemand völlig glücklich sein kann, wolle es auch gar nicht begreifen, zerrissen wie sie sei. Er werde sie an der Hand in das Erwachsensein führen.

»Ich freue mich irrsinnig!«

In der ganzen Zeit, die wir zusammenwarfen, habe ich sie nur zweimal weinen gesehen. Meistens lachte sie, oder sie hatte – selten aus biologischen, meist aus ihm unerfindlichen Gründen – schlechte Laune. Tatsächlich war sie oft launisch. Seine Mutter nannte sie ein verzogenes Luder. Auch ihre Mutter nannte sie so. Nur das Vätchen war, und zwar immer, auf ihrer Seite.

Weinen tat sie jedenfalls nur zwei Mal.

Er notiert Gedanken über ein ihm fremdes Geschöpf. Auch sich selbst kennt er nicht. Es ist, als ob ihn etwas abgeschnitten hätte. Nicht er selbst jedenfalls kann mit der Elfe zusammengewesen sein. Es war nicht er, der auf ihr gelegen. Nicht er hat ihren Atem gespürt. Woran ich mich erinnere, hat niemals stattgefunden.

Darum will er seine Notizseiten abtippen später, ihr dann alles schicken. Aber wahrscheinlich wird sie es nicht lesen. »Kennen wir uns?« wird sie fragen. So, wie eine junge Frau schnippisch den anschaut, der sie anmacht: halb die Frage darin, ob es sich lohnt. Um nein zu sagen, reicht der Blick. Dann wird sie wieder auflachen. Abstand zu haben, macht nüchtern. Auch wenn es den Schmerz nicht verringert. Menschen und Elfen, das geht nicht.

Einmal weinte Svenja wegen ihrer Mutter. Denn als Rivalin war sie ihr schon rechtlich nicht gewachsen; sie war ja noch nicht einmal sechzehn. Doch sie wollte sich nicht mehr bestimmen lassen. Wollte weggehn und heimkehrn, wie ihr der Sinn stand. Sorgerecht hatte die Mutter allein, die Tochter mit in die Ehe gebracht. Das Vätchen konnte deshalb nie wirklich etwas sagen. Nahm zwar, der pfiffige Satyr, immer Svenjas Partei, ging hartem Streit indes aus dem Weg. Doch habe ich den kleinen Mann nie verstanden, und wollte, was ich ahnte, besser gar nicht wissen.

Aber auch diese Frau begriff der Junge nicht, vielleicht sogar noch weniger als ihren Mann, wie sie sich fordernd, scherzend, elegant durch die Besseren Kreise bewegte, denen ihre Tochter eine Nase nach der anderen drehte. Die Mutter hielt Hof, die Tochter machte mit dem Gesinde herum.

Einmal hat sich die Frau ihm wirklich gezeigt – jetzt muß er denken: vor ihm demaskiert. Wie mit dem Milchpack war es ein Moment ihres innren Erhitztseins. Es wird ihm auf dieser Bank etwas übel. Der Notizblock, die Stifte, die Fotos.

Sie kam, die Frau, von einem Turnier. Sie war durchgeschwitzt, ihr Antlitz glühte von roten, nicht konturierten Erregungsflecken. Dunkelblaues Jackett, beige Reithose, die strahlend gewichsten Stiefel bis unters Knie. In den verstärkten Einsatz zwischen ihren Schenkel hatte sich der Pferdeschweiz eingeätzt.

Sie sah an sich herunter, lachte obszön, fuhr mit drei Fingern durch ihren Schritt und sah den Jungen dabei an. Sie wollte, daß er hinsah. »Guck doch nur!« Sie war wie verzückt. »Als hätte ich in die Hose gepinkelt …«

Er lief komplett rot an, spürte es, wand sich. Was sie bemerkte. Natürlich bemerkte sie es, sagte: »Lecker, nicht wahr?« Und lachte erneut, diesmal über seine Verlegenheit. Dann zwinkerte sie ihm zu und drehte sich endlich (endlich!) weg, um Bübchen in die Box zu führen.

Ihr Lachen war schärfer als Svenjas, auch rauher.

Aufgeregte Stimmen, durch die Entfernung gedämpft, drangen in die Stallungen. Dann war ein Motorrad zu hören, das ankam; das tiefe Röhren verhallte kurz. Und irgendwo röhrte ein Ghettoblaster.

Also Svenja weint wegen genau dieser Frau.

»Laß uns gemeinsam abhaun«, sagt sie. Es ist, als ob sie bäte. Nichts fällt ihr so schwer, wie zu bitten. Jetzt bettelt sie beinah. »Laß uns abhaun von hier!«

Es hat einen Streit gegeben. Aber sie will nicht erzählen. Er hat den Eindruck, es ist um ihn gegangen.

»Bitte! Bitte laß uns zusammen weggehen!«

Soweit ist er aber nicht, für sowas viel zu ängstlich.

»Du mußt Geduld haben«, sagt er. Sie sei doch bald fertig mit der Schule. Alles sehe dann eh anders aus. Was sollten sie beide woanders denn tun? Sie würden dann ja auch sicher gesucht. »Willst du dich dauernd verstecken?« Und wovon leben?

Doch Svenja will nicht hören. »Ich habe ein Sparbuch, das reicht für ein Jahr. Außerdem können wir jobben. Machst du doch sowieso.«

»Guck doch«, sagt er, »wie du lebst! Du hieltest es in der Armut nicht aus.«

»Ich halte es überall aus. Wenn nur diese Frau nicht mehr da ist!«

»Das ist doch Unsinn«, sagt er. »Es ging doch auch sonst immer.«

Er ist ein Ausbund an Vernunft.

Sie wird still, sieht zu Boden.

Er will sie in den Arm nehmen. Sie wehrt es ab. Die Tränen rollen über ihr Gesicht. Wieder einmal fühlt er sich hilflos.

Spontan hört sie zu weinen auf. Sie wischt nicht mal die Tränen ab, denn die sind unversehens in die Haut eingetrocknet. Es gibt keine Spuren, auch von verwischtem Lidschatten nicht. Allerdings schminkt sich Svenja kaum.

Sie sieht auf.

»Nadannnicht«, sagt sie. Und spricht nicht mehr darüber. – Sie weinte bei ihm auch nie mehr.

Daß er dennoch ein zweites Mal Zeuge ihres Weinens wurde, nahm sie ihm sehr übel.

Er kommt aus purem Zufall hinzu, ist zur Reitanlage geradelt, weil das Mädchen nicht zuhaus war. Niemand hat dort geöffnet, obwohl das Vätchen die Villa nie verläßt. Selbst auf Empfänge geht er nicht mit. Es ist ihm ganz recht, wenn sich seine Frau allein amüsiert.

»Bücklinge mach ich schon lange nicht mehr«, bemerkt er süffisant zu dem Jungen. »Ich muß mich nicht mehr verstellen und Fatzken gute Miene zeigen.«

Allerdings ist er in der Gesellschaft auch nicht besonders beliebt. Er mache, hat der Junge gehört, allem zu deutliche Avancen, das noch Miniröcke trage. Mit seiner Vorliebe hält der Satyr selbst nicht hinterm Berge. »Nichts geht über junge Haut.«

Doch auch er, wie gesagt, öffnete ihm nicht, obwohl er dazu nur in seiner Armlehne den Türknopf hätte drücken müssen.

Als der Junge im Reitgelände ankommt, sitzt Svenja schon zu Pferd. Sie teilt sich Bübchen mit der Mutter – es heißt, bis sie volljährig geworden sei. Für jenen Tag habe ihr nämlich ihr Vater einen Hengst versprochen. Einen größeren Wunsch habe sie nicht.

Es ist enorm voll, wahrscheinlich ein Sonntag. Genau weiß ich es nicht mehr. Jedenfalls ist es überfüllt. Svenja hat sich einer Gruppe Anfänger anschließen müssen, die in der Reithalle übt.

Der Junge sieht Svenja sofort. Pferdeschwanz, Reiterkluft, als einzige keine Gerte. Sie verabscheut Gerten und reitet am liebsten ohne Sattel. Als er ihr winkt, sieht sie es nicht oder übersieht es bewußt. Sie hat einen schlechten Tag.

Jedenfalls sitzt sie auf Bübchens Rücken erstaunlich ungelenk und scheint das Tier nicht in den Griff zu bekommen. Es tänzelt und bockt. Das bringt die Gruppe durcheinander und den Lehrer in Harnisch. Ein Elend, es mitanzusehen.

Weshalb bin ich nicht weggegangen?

Aber der Junge faßt es nicht. Svenja schwach?

Vielleicht blieb er rein deshalb dort.

Der Reitlehrer beginnt zu schimpfen. Der Ton von Sporttrainern ist immer heftig. Sie verlangen Gehorsam. Bleibt er aus, werden sie verletzend.

So auch dieser.

»Setz dich endlich vernünftig hin! Nimm die Zügel fester! Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du eine Gerte benutzen sollst, wenn du den Gaul nicht anders lenken kannst!«

Je schärfer er wird, desto mehr Kapriolen macht das Tier, desto weniger gewinnt Svenja ihre Führung zurück.

»Sei nicht so erbärmlich steif! Verdammt, so nimm die Fersen!«

Daß in diesem Moment Svenjas Mutter in die Halle tritt, macht es nicht besser. Der ist es ein Triumph. Man sieht ihn ihr an.

Svenja bemerkt es sofort, bemerkt auch aber mich und mein Mitleid. Ihre Nervosität wird zu Wut. Die Tränen laufen und laufen. Sie kann nichts dagegen tun, kann sie nur noch vereisen lassen. Aber sie werden immer heißer. Dafür wird der Reitlehrer zunehmend lauter, ruft die anderen Reiter an den Rand. Da sitzen sie jetzt in Reihe auf ihren Pferden und sehen zu, wie er nur noch Svenja dirigiert, sie anschreit und demütigt, die in ihrem Leben mehr geritten ist, als alle Anfänger zusammen Pferde auch nur gesehen haben. Runde um Runde treibt er das Mädchen ums Innenoval, flucht, schimpft, brüllt.

Svenja in die Enge getrieben. Es schüttelt ihren ganzen Körper, mehrmals verliert sie fast den Halt. Dann reißt sie brutal an der Kandare, beugt sich plötzlich vor, weit vor und – genau so sieht es aus – beißt dem Tier in die Mähne. Doch die Zähne greifen tiefer. Weshalb sich das Tier auf die Hinterbeine stellt, laut schnaubt und dann in rasendem Galopp, Svenja fest auf ihm drauf, aus der Halle hinausprescht – erst direkt auf den Reitlehrer zu, der gerade noch zur Seite springt und im Sand landet.

Die Sache hatte ein Nachspiel, das aber der Satyr regelte – wahrscheinlich vermittels eines Schecks. Die Mutter hätte Svenjas Rauswurf befriedigt hingenommen.

Selbstverständlich läuft der Junge dem hinausgaloppierenden Mädchen sofort nach. Es hat Bübchen schnell gestoppt und ist schon abgestiegen.

»Hallo«, sagt er.

»Laß mich in Ruhe«, sagt sie. Die Tränen laufen ihr noch immer.

Dann sieht sie Armin.

»Kommst du mal bitte?« ruft sie ihm winkend zu, wobei sie sich mit dem Arm, deren Hand die Zügel hält, das Gesicht abwischt.

Mit mir spricht sie an diesem Tag nicht mehr.

Armin. Er ist es gewesen, der sie, auf der Hubertusjagd knapp hinter ihr, nach ihrem Sturz fast überritten hätte. Die hinteren Hufe seines Pferdes hatten sie sogar noch gestreift.

Seither bemühte er sich um sie, und sie fand ihn bezaubernd. Sie flirtete mit ihm auf Teufelkommraus, egal, ob ich dabeistand. Auf dem Reiterball tanzte sie ein einziges Mal mit mir. Ansonsten ließ sie mich stehen und tollte mit Armin herum. Ich setzte mich an unseren Tisch und sah den beiden zu. Wozu ich mich betrank. Was hätte der Junge denn tun sollen? So litt er vor sich hin. Je mehr er aber litt – je deutlicher man es ihm ansah –, desto ausgelassener trieben es die beiden. Dann verschwanden sie für mehr als eine Stunde ganz: Der Junge sah auf die Uhr. Höchstens daß er irgendwo ihr Silberlachen in der Musi klingeln hörte. Einem fernen Hauch leichter Brisen gleich wehte es mal von hier, mal von da an sein Ohr. Wie weit weg war, daß sie sich noch einmal auf seine Füße gestellt hätte, um spöttisch den Walzer zu zertanzen!

Später, da ist er schon betrunken, trifft er Armin unten an der Bar. Hat Svenja auch ihn stehen lassen? Jedenfalls gibt Armin dem Jungen nun Tips. Wie ein Mädchen wie Svenja behandelt werden müsse.

Es ist ziemlich erniedrigend.

»Am kurzen Zügel mußt du die halten. Sie wird unglücklich, wenn du ihr keine Grenzen zeigst. Dann geht sie durch und macht Dummheiten.«

Beide tragen sie schwarze Anzüge. Armin trägt zudem ein Rüschenhemd und goldene Manschettenknöpfe, deren Oberseiten Kameen sind: Jede zeigt einen Rappen.

Der junge Mann raucht stiftdünne schwarze Cigarillos. Er überragt den Jungen fast um Kopfeslänge, ist wohl auch etwas älter als der.

»Sie fordert dich heraus«, sagt er. »Merkst du das denn nicht? Du mußt reagieren. Such dir eine andere, zeig Svenja, daß du sie nicht brauchst. Dann wird sie angebettelt kommen.«

»Aber ich liebe sie«, antwortet der Junge. Woraufhin Armin mit zwei Fingern schnippt und zur Decke sieht, als hätte er geseufzt: Ach du meine Güte! Dann stürzt er den letzten Schluck Bier aus seinem Glas. »Wie du meinst«, sagt er, klopft dem Jungen jovial auf die Schulter und geht.

Meine Mutter kehrte den Erzengel aus sich heraus und warnte mich vor Svenjas Mutter. Diese Frau kenne keinen Anstand. »Ich habe keinen Zweifel daran, daß sie dich verführen will.« Sie, meine Mutter, sei sich nicht einmal sicher, ob es ihr nicht längst gelungen sei.

Sicher, es war eine betörende Frau. In ihren dunklen Augen loderte Glut, und ihr Leib war der einer Spanierin auf den einschlägigen Gemälden. Das zeigten ihre Pullover, zeigten die engen Hosen. Alleine die Magnolie fehlte in dem gewellten schwarzen Haar.

Doch liebt der Junge Svenja zu sehr, um dafür empfänglich zu sein. Meist ist die Frau ja auch mütterlich ihm gegenüber.

Seine Mutter, die mütterlich niemals gewesen, verachtete sie. Vielleicht spielte Neid eine Rolle, weil Svenjas Mutter zu Geld gekommen war, ohne jemals gearbeitet zu haben, während sie selbst bis zu zehnzwölf Stunden täglich dabei war, sich ihren Rang zu erkämpfen – als alleinerziehende Mutter aus dem engsten Kleinbürgertum. Um Nestwärme zu geben, fehlte ihr die Zeit; um Liebe zu erbitten, war sie zu stolz. Es gelte, sich zusammenzureißen.

Sie schätzte harte Frauen, für weiche Männer hatte sie nichts als Hohn mit schmalen Lippen. So einer war sein Vater gewesen. Ihm selbst, dem Jungen, so stand zu befürchten, hatte die Weichheit sich vererbt.

Dennoch war seine Mutter von Zeit zu Zeit mildherzig. Sie kümmerte sich um alte Leute, wenn sie verwahrlosten oder sonstig Hilfe brauchten. Sie übernahm Pflegschaften, beherbergte sogar einen Obdachlosen einmal. Doch selbst ihr mildes Herz mutete scharfkantig an.

Einmal allerdings, er erinnert sich plötzlich, hat ihm geträumt, daß ihn Svenjas Mutter verführe. Wobei sie sich nur entkleidet hat. Und er ist aufgewacht, um zu entfliehen. Doch floh er nicht wirklich vor ihr, sondern weil er selbst in seinen Träumen nie penetrierte. Bevor es dazu kommen konnte, kam immer etwas dazwischen.

Ob ich sie anrufen soll? Soll ich versuchen, sie zu erreichen? »Svenja, ich komme zurück.«

Was soll denn das ganze Papier?

Nein, es ist zu spät. Sie wird sich über mich lustig machen.

Habe ich wirklich davor Angst? – Irgendetwas will hinaus.

Von ihrer Krankheit erfuhr er bereits in der Tanzschule, jedenfalls davon, daß sie krank war. Man spricht über sowas nicht direkt.

Sie sitzen mit ihrer Freundin Alexandra beisammen. Er schenkt Svenja Cola aus seiner Flasche ein. Sie lächelt und nimmt einen Schluck. Sonst trinkt sie stets Mineralwasser.

Alexandra wirft erst ihm, dann Svenja einen verärgerten Blick zu. Als er das Glas der Freundin erneut füllen will, zischt sie ihn an: »Laß das!« Und zu Svenja: »Hör auf damit, so’n Zeug zu trinken!« – Svenja erwidert den Blick und hebt das Glas, um es auf einen Zug zu leeren.

Als Svenja kurz ausgetreten ist, zischelt ihm Alexandra zu: »Bitte gib ihr sowas nicht. Verleite sie nicht. Du weißt doch, wie sie ist.«

»Wieso darf sie keine Cola?«

Da ist Svenja aber schon wieder zurück. »Laß dir von der keinen Quatsch erzählen!«

»Svenja, bitte …!«

»Laß mich in Ruhe! Du bist nicht mein Vormund!« Nimmt meine Colaflasche und kippt den ganzen Rest.

Sie spazieren durch die Parkanlagen. Was bedeutet, er geht und sie fährt, zeitweise neben ihm im Schrittempo. Immer wieder aber dreht sie auf und fährt ruckartig voraus. Der Hinterreifen spritzt Kies. Ihm weit voran fährt sie schließlich eine Kurve und knattert wieder zu ihm her. Ihr silberner Pferdeschwanz weht.

Es ist bereits der späte goldene September. Durchs bunte Blätterdach tropft das Licht auf die Wege. Er schreitet aufrecht, aber hat sich angewöhnt, ein Bein leicht nachzuziehen. Das gibt ihm, meint er, die Aura von Lebenserfahrung.

Der Fuß streift durch das gefallene, bereits raschelnde Laub. Es duftet moderig herauf.

Svenja schon wieder voraus. Sarastro-Rübezahl er, uralter Erdgeist; sie ein Geistchen der Luft, Ariel halb, halb Titania. Kecke kokette, hin- und hergerissene Fee, die noch gar nicht begreift, was sie tut.

Nichts liebte sie so sehr wie Lakritze. Kleine schwarze Lakritzkätzchen. Sie schüttete sie tütenweise in sich rein.

Und durfte es doch nicht.

Knapp seitlich unter ihrem Knabenpo setzte sie sich dreimal täglich die Spritze in den linken Oberschenkel. Dort spüre sie sie kaum mehr. Es war ein sonderangefertigtes Besteck, das einen Gummiring um die Spitze hatte. Er erlaubte ihr, das Insulin sich selbst zu injizieren, ohne sonderlich achtsam sein zu müssen. Was ihr ja nicht lag.

Verkümmerte Langerhans’sche Inseln.

Mittags das Fleisch aufs Gramm abgewogen, abends die Frucht.

Sie stehen im Alpha, Magnitor, vorm Flipper. Wie immer gewann sie. Sie ist einfach reaktionsschneller als er. Doch erstarrt plötzlich, bleich geworden von einer Sekunde auf die andere.

»Ich muß sofort los! Komm!«

»Aber was ist denn?«

»Komm!«

Ihre panische Angst vor dem Koma. Aber futtert Lakritzkätzchen, hat es auch eben getan, zwei ganze Beutelchen. Er bringt ihr heimlich immer wieder welche mit. Dafür liebt sie ihn. Dafür in jedem Fall. Das tut sonst niemand. So sind sie Verschwörer. Sie küßt ihn aus Dankbarkeit, vor Lust. Und verschlingt die Welt.

Bloß nie dreißig werden! Das war ihre nächste Angst. Mit dreißig werde sie sterben. Das habe ihr ein Arzt vorausgesagt. Also wenn sie sich nicht an die Diät halte. So erzählte sie ihm, als sie mal ruhig nebeneinanderlagen. Was selten genug vorkam.

»Ich werde mich niemals daran halten!«

Schuld war ein Sturz von der Kippe eines Lastwagens gewesen, auf die sie als Fünfjährige geklettert sei. Derart unglücklich hinuntergefallen, daß Wirbel auf die Bauchspeicheldrüse drückten. Was lange niemand bemerkte. Sie könne sich nicht mal an Schmerzen erinnern. Schließlich sei es zu spät gewesen, um noch etwas zu richten. Sie müsse halt damit leben. Wenn sie vernünftig sei, sei es auch gar kein Problem.

»Ich bin nicht auf der Welt, um vernünftig zu sein.«

Lakritzkätzchen, kleine schwarze Lakritzkätzchen.

Sie fährt, sie rast, sie läuft und sie springt. Sie hat nicht vor zu studieren. Die Schule noch, dann das pure Leben.

Er hat sich immer gesagt, sie müsse ja zerrissen sein. Mit dieser Geschichte könne sie gar nicht zur Ruhe finden. Und hätte sie noch so gerne Elfe sein wollen.

Also werde er ihr diese Ruhe geben. Er werde sie beschützen, werde sie behüten.

Als er, auf dieser Sitzbank, begreift.

Fast springt er auf.

Es ist ja alles falsch!

Erschrocken blickt er in seine Notizen. Hat in ihrer beider Geschichte auch nur irgendetwas mit ihrer Krankheit zu tun? Nichts, gar nichts hat damit zu tun!

Er gräbt seinen Kopf in die Hände und versucht, was da aus ihm herausdrängt, nicht zurückzudrängen, nein, aber doch im Griff zu behalten. Ich muß mich bewegen! Er schließt das Notizbuch.

Hand zu den Zigaretten. So geht er erstmal auf und ab.

Es ist wirklich eine Bedrohung. Er hat sich gefangengeschrieben. Da ist nur noch eine Lücke in dem Text, allein durch die er wird wieder hinauskommen können. Aus dem eigenen Gefängnis hinaus.

Ich wollt’ dich befrei’n, wir konnten zusammen nicht sein.

Er ist zur Großmutter zurück.

»Junge, was ist mit dir?«

Er weicht aus, versucht sich an Gelächel. Ihm ist so furchtbar elend.

»Gisela hat angerufen.« So heißt seine Mutter. »Natürlich hab ich nichts gesagt. Aber ich glaube, sie weiß Bescheid.«

»Mir doch egal.«

»Aber irgendwas müssen wir ja machen! – Nur iß jetzt erst mal was.«

Dann sitzt er vor dem Fenster seines Bremer Interimzimmers und klammert sich am Fensterbrett fest. Seine Daumenkuppen werden ganz weiß.

Er ist sich nicht sicher, ob er seine Notizen durchstreichen soll. Den ersten Impuls, sie zu zerreißen, hat er verworfen. Es käme ihm zu billig vor. Statt dessen hat er mehrmals Svenjas Namen daruntergeschrieben. Einfach nur ihren Vornamen. Um ihn nicht dauernd vor sich hinzusprechen.

Es geht nicht um die Krankheit, es ist allein um Jugend gegangen. Schon gar nicht ist dieses Mädchen hilflos oder gar schwach. Die Schwäche liegt allein bei ihm. Das sieht er jetzt.

Und welch eine furchtbare Schwäche! Reicht es nicht schon, daß ich selbst keine Leichtigkeit habe? Muß ich sie auch noch dem einzigen Menschen nehmen, der mir wirklich nah ist? – Genau das hat er versucht.

Jetzt würde er die Wände hochgehen mögen.

Er hat versucht, Svenja zu bannen, hat versucht, ihr die herrliche Wildheit, die er zugleich doch rasend liebt, zu coupieren, indem er sie auf seine eigene Schwere heruntermäßigen wollte. Die aber doch nur hohl, weil letzten Endes feige ist.

Wieso bin ich nicht abgehaun mit ihr, als mich Svenja darum bat? Was hätten wir riskiert? Klar, wir wären aufgegriffen worden irgendwo. – Ja, und?

Kafka, Dostojewski, Tschaikowski, Selbsthypnose – nichts als Haufen Sands, in die er bis über den Hals seinen Kopf gesteckt hat. Fast ist es erleichternd, das zu begreifen.

Nicht nur fast. Es ist wirklich erleichternd. Auch wenn zu ändern nichts mehr ist, allenfalls fortan besser zu machen. Ohne Svenja allerdings.

Hinaus. Auch wenn es angefangen hat zu regnen. In Bremen regnet es andauernd.

Er zieht sich seinen Trenchcoat über, fährt mit dem Lift das Treppenhaus runter.

Würde er lernen, es besser zu machen? Eher wohl nicht. Nicht nur Lektüre hat ihn geprägt.

Man streift sich selbst nicht ab. Das schlimmste ist, er denkt schon wieder. Zu denken heißt, Geschichten zu erfinden, die auf die eine oder andre Weise die eigenen Haltungen heroisieren. Allein schon, indem sie erklären wollen. Geschichten nehmen Partei. Dagegen muß, wer schreiben will, sich wenden.

Die Weser fließt als schwerer Schlamm.

Die Dunkelheit fällt wie ein nasser Vorhang.

In den Ohren nichts als ein einziges Rauschen. Vor den Augen ein flüssig gewordenes Lichtflirrn.

Im Steintor setzt sich der Junge in die Kneipe und betrinkt sich. Das immerhin ist vertraut. Ebenso, von den anderen abseits zu sitzen. Den Notizblock vor sich zu haben. Er schreibt aber nichts, hat ihn nicht einmal geöffnet.

Er hat versucht, seine Schwere, die ihm seit jeher fehlende Leichtfüßigkeit auf Svenja zu übertragen. Woher die immer auch stammt. Kalte fliegende Nacktschnecke. Huxleys Rampion über Shelley. Zitate fallen mir dauernd ein. Kein Buch, das er liest ohne Bleistift zur Hand. Die übereinangeworfenen Stühle, die wie übereinandergeworfene Menschenleiber wirkten: aufeinandergeschichtete, durcheinandergewühlte Menschenleiber. Die frühherbstlichen, raschelnden Blätter im Moderduftpark. Seine, des Jungen, Liebe zum unwirklich Faden.

Sein Haß auf die Lüsternheit, die ihn selbst heimlich antrieb. Das glühend zuckende Glied des Hundes, als dieser Svenja ansprang. Der in den Reithosenschritt ihrer Mutter wie hineingepißte Pferdeschweiß. Dagegen der entsetzliche, seiner Mutter, protestantische Asketismus! Daß wir mehr von dem geprägt werden, was wir ablehnen, als von dem, was wir uns ersehnen, geschweige was wir achten. Daß wir immer zu spät begreifen.

Nein, »immer« kann er nicht sagen, für »immer« ist er wirklich zu jung. So daß er kurz einmal auflachen muß – und weiß doch zugleich, es wird sich diese Helligkeit nicht in ihm halten.

»Krieg ich noch ein Bier?«

Es ist sein viertes.

Was in ihm hat sich, seit seiner Kindheit, verschworen – nicht nur gegen andere, nein, auch gegen sich selbst? Was ist da in ihn eingepflanzt worden?

Wirklich klar denken kann er in diesem Moment natürlich nicht mehr. Aber vielleicht ist genau das die Voraussetzung dafür, seine Erkenntnis zuzulassen – daß sein Bewußtsein sie nicht länger zensieren kann? – Sogar das Wort »natürlich« stimmt hier einmal.

Seine Mutter hat ihn vor den Trieben und der Masse gewarnt; Leute, die sich nicht beherrschen können, sind ihr körperlich ein Greuel. Der Abscheu muß eingedrungen sein in mich, als er, der Junge, noch klein war. Kamen mehr als drei oder vier Menschen zusammen, warnte sein Instinkt. Dann – sofern er sich nicht zurückziehen konnte – panzerte er sich. Schon mit zehn stand er quasi ständig im Kampf. Den er fast immer verlor.

Woran sich orientieren? An der Mutter sicherlich nicht, ihr ging’s ja zugleich um den Aufstieg. Sie war durchaus bereit, sich zu korrumpieren, aber aus Geschäftspragmatismus, nicht etwa aus Einsicht. Ihm hingegen ging es um Reinheit; er war schließlich noch jung.

Reinheit! Ich habe Reinheit von Svenja verlangt! (Kein schlimmeres Wort in der Menschheitsgeschichte – so wird er es Jahrzehnte später formulieren.)

Und nun? Was haben ihm seine Heiligen gebracht, Kafka ihnen allen voran? Was hat ihm die Entdeckung seiner Musik gebracht? Wozu die verbissenen Stunden heimlichen Yogatrainings hinter zugezogenen Vorhängen? Alles, worauf er sich mit anderen einläßt, tut er mit Vorbehalt. Nie sieht er mal weg: Fünfe sind nicht grade, darauf beharrt er. Doch Kienzles Evangelimann! Selig sind, die Verfolgung leiden. Selbstverherrlichung aus Notwehr. Darinnen die Angst.

Und gleichzeitig aber die Lockung! Er sieht Svenjas Mutter vor sich, die Hand in der Hüfte, den Milchpack am Mund. Wie ihre Kehle hüpft! Das schlimmste ist ja nicht, daß er sich selbst, und heuchlerisch auch noch, zum Heiligen hochstilisiert. Seine Fantasien vorm Einschlafen unter der Bettdecke, Orgien der Onanie. Jedesmal die Panik: wohin mit dem Sperma. Wirklich einem Mädchen ging er kaum an den Leib, es sei denn vergeistigt in Zärtlichkeit. Daß er seinem Mädchen dasselbe abgefordert hatte! Elfe hatte sie zu sein, nicht etwa Frau zu werden. Und also hat er Svenja versagt, wonach ihr Körper verlangte, wie spöttisch auch immer maskiert.

Zum Beispiel, wenn er tanzte. Er spielte eine Rolle, bisweilen auch gern; Rolle blieb es aber. Wirklich dabei, als ich selbst, war er nie. Die populäre Musik war banal. Er durchschaute sie, sie sollte Menschen lenken. Es war ihr nicht zu vertrauen. Imgrunde lehnte er sie völlig ab. Doch gab sie mir die Möglichkeit, anderen näherzukommen. Vor allem Mädchen waren anders gar nicht kennenzulernen, schon gar nicht bei seiner Musik, der unzeitgemäßen. Die sich politisch desavouiert hatte. In Konzerte und Opern ging das Establishment und was sich reaktionär dafür hielt.

Svenja liebte die Beatles, Elvis, Davedee, Dozy, Bicky, Mick und Tich. Sie liebte deutschen Schlager. Tschaikowski war ihr völlig egal.

Es ist einfach nur zum Lachen. Sie schützen. Sie ist’s, die zu helfen versucht hat. Bei der Hand hat sie ihn gefaßt, ihn bei den Freundinnen eingeführt, ihn auf den Reiterball mitgenommen, ganz so, wie sie es gewesen ist, die mich beim Abschlußball aufgefordert hat. Er selbst, sie von sich aus anzusprechen, hätte die Traute nicht besessen.

Mitgegangen ist er. Voll Dünkel, voller Widerwille hat er die Rolle zu spielen versucht, doch letztlich jedes Mal versagt.

Liebe ich sie? Wen liebe ich?

Habe ich jemals einen Menschen geliebt?

Sogar sich selbst liebt der Junge nur als Idee.

Wieso verhielt er sich nie als der, der er war – Physiologie? Warum nahm er zu essen, zu trinken, zu atmen und zu küssen nicht als Essen, Trinken, Atmen und eben nur Küssen? Immer sollte es mehr sein als das. Als wäre, wenn etwas einfach ist, es nichts wert. Als brauchte es Rechtfertigungen von irgendwo.

Wär doch er es gewesen, Svenja zu bitten, fortzulaufen mit ihm!

Ob es mich retten wird, daß ich nicht konsequent gewesen bin und meinen Ansprüchen selbst nicht genüge? – Der Kitsch und die Pornographie. Er sieht sich ja selbst mit hochgeschlagenem Kragen aus den Pornokinos schleichen. Damit ihn niemand erkennt.

Wenigstens habe ich Svenja zwischen den Beinen geküßt.

Gern hätt’ er gehabt, daß sie ein wenig leidet. Nein, nicht umfassend. Aber doch mit bitterem Zug um den Mund. Und sollte zugleich von gänzlich realem Dasein nicht sein. Sie aber liebte den Ridgeback, liebte sein tanzendes, züngelndes Glied – und eben weil es tanzte.

Ob sie jetzt an mich denkt?

Er steht mühsam auf, zahlte und schwankt durch den immer noch währenden Regen zurück. Ein Teil des Weges geht ihm verloren. Plötzlich schlägt hinter ihm die Zimmertür zu.

Schlafen kann er dennoch nicht. Auf das Bett ist er nur gefallen.

Zu wissen, dies ist die erste große Liebe gewesen, ist ein seltsames Gefühl. Egal, wie betrunken man ist. Daß sie vorbei ist. Man weiß es und kann trotzdem an eine zweite nicht glauben. Wenn einer so versagt hat.

Nicht die erste Liebe war es, nein. Geliebt hat er schon vorher, aber nie die Hand auf der Geliebten Haut gehabt. Die ist uns nun entzogen, und zwar mit allem Recht. Weil wir die feigste aller Sünden begingen, die Unterlassungssünde.

So liegt er betrunken im Bett und sieht sich bei ihr auf dem Bett, aber sitzend. Es ist auch gar nicht ihr eigenes Bett.

Er ist damit beschäftigt, seine Schnürbänder aufzunesteln. Was ihm vor Aufregung und Angst erstmal nicht gelingt. Ihm ist auch alles zu banal. Mit welcher Unbefangenheit sich Svenja auszieht, entgeht ihm komplett. Kleidungsstück für Kleidungsstück legt sie spielerisch beiseite. Wie so oft lacht sie leise dabei.

Schon die Idee gefiel ihm nicht. Ihrer Mutter und ihres Vätchens Ehebett! – Die beiden waren verreist.

Er denkt, welch ein Übergriff! Zu sich nach oben will Svenja aber partout nicht. Sie will eine Usurpation. Auch sie, wie er, steht im Krieg. So sieht sie den Jungen als Waffengefährten. Wer sonst als ihr Freund könnte es sein? Aber der ist moralisch verpeint. Sein erstes Mal – und dann in diesem Bett!

Nackt legt sie sich hin und streckt sie sich aus. Sie spreizt die Beine leicht.

Er ist aus den Schuhen endlich herausgekommen, bleibt aber sonst noch bekleidet. Nein, er hat nicht das Gefühl, mißbraucht zu werden, nicht im geringsten. Aber will sie zur Vernunft bringen.

Das geht ihm völlig daneben. Schon weil er furchtbare Angst hat, sich zu blamieren, und darum mehr sich selbst im Auge als seine Freundin. Dabei hilft ihm dummerweise der riesige Spiegel an der Seitenwand. Der macht aus dem ganzen Akt eine Inszenierung.

Noch niemals hatte eine Frau den Jungen gebissen. Svenja war jetzt eine, war nicht länger Elfe. Selbst er mußte es erkennen, geriet darüber erst richtig in Panik. Da biß ihn Svenja erst in den Hals, dann links in die immer noch bekleidete Schulter. Ihre Kiefer schnappten nicht leicht zu, sondern verlangend.

»Zieh endlich dieses Zeug aus!«

Zwei Hemdknöpfe springen. Svenjas Zähne bohren sich in seine Brust. Er ist ein Junge und nicht Mann: Ein Mädchen würde er nie schlagen.

Nacktschnecke. Kalte fliegende Nacktschnecke.

Immerhin ist ihm Petting nicht mehr fremd. So geht der erste Ansturm vorüber.

Svenjas Erschöpfung währt nicht lange. Nun fast schon wirklich Frau, dreht das Mädchen die Spirale weiter: »Du, vorhin habe ich … bei Vätchen im Nachtschrank.«

»Was hast du?« Natürlich weiß er es, weiß es sofort.

Und daß er weiß, weiß sie: »Sollen wir?«

»Ich verstehe nicht«, weicht er aus.

»Ich meine, es ist ja sonst gefährlich.«

»Was ist gefährlich?« Mir pochte die Angst bis in den Hals.

Sie greift über ihre Bettseite hinaus zum Nachschränkchen und zieht die Lade auf. Sie muß weder hinsehen noch wühlen, holt das schmale Heft heraus und hält es wie einen Wimpel in der Luft.

»Hier«, sagt sie und lächelt nicht. Er hat sie selten ernst gesehen, eigentlich vorher noch nie. Sie will, nein: erwartet.

Der Junge aber? Ich aber?

Lang und des breiten holt er aus. Wenn, dann richtig. Nichts zwischen dir und mir. – Er spricht sich richtig in Fahrt.

Sie sieht ihn nur an und schweigt. Der Ernst weicht nicht aus ihrem schönen Gesicht. Seine Abwehr steigert sich bis in den Ekel. Das sagt er zwar nicht, aber ich habe keinen Zweifel, daß sie ihn spürt. Deshalb überträgt er sich. Der Ekel strömt von dem Mädchen auf den Jungen wieder zurück. Ihre Liebe, in diesem Moment, ist vorüber.

Sie stand auf. Er sprach immer noch weiter. Obwohl, das weiß ich gar nicht mehr genau. Möglicherweise lagen sie schon ein paar Minuten stumm nebeneinander, sie jedenfalls nicht länger an ihn geschmiegt Aber wahrscheinlich kam er aus dem Dozieren erst heraus, als sie sich anzog. Erst wird er gedacht haben, vielleicht geht sie zur Toilette. Jetzt brach er mitten im Satz, auf jeden Fall die Gedanken ab.

Immer deine vielen Gedanken, hätte sie gesagt haben können. Sie sagte aber nichts.

»Was tust du?« fragte er.

»Siehst du doch. Ich ziehe mich an.«

»Aber warum denn?«

»Ich brauche etwas Luft, brauch jetzt wirklich Luft!«

In Slip und Söckchen huschte sie zum Balkonfenster und riß es auf. Dann sog sie laut die Luft ein. Noch lauter, demonstrativ, stieß sie sie wieder aus.

»Wie hell es ist!« rief sie. »Und wie frisch!«

»Und läßt mich hier liegen?«

»Aber i wo!« Zu ihm zurückgedreht ihr Silberlachen. »Kannst doch mitkommen.«

»Ja – wohin denn?«

»Na, hinaus! Bewegung bekommt dir bestimmt gut.« Sie hüpfte geradezu in ihre engen Jeans, blieb zugleich in beiden Hosenbeinen stecken und kicherte. Und während sie sich nun hineinstrich und -zog, sagte sie vollkommen offenherzig: »Du gehst doch so gerne spazieren.«

Einer ihrer typischen Stimmungsumschwünge, dachte er und ergab sich wieder drein.

Er erzählt ihr, was er für Pläne habe. Eine neue Erzählung hat er zu schreiben begonnen, gleich nach Abschluß des langen Romans, der ihm aber peinlich ist. Mehr als fünfhundert Seiten, über die er deshalb nie spricht. Mit ihnen ist seine Kindheit abgeschlossen worden.

Weggeworfen hat er ihn dennoch nicht.

Der dampfende Park läßt schon Oktobernebel ahnen. Svenja, auf dem Mofa, röhrt voraus, röhrt zurück. Der Junge spricht auch dann weiter, wenn sie es nicht hören konnte. Nur spricht er dann im stillen, spricht mit seiner inneren Svenja, einer, die es auch interessiert.

Hat ihn eigentlich sie interessiert, sie wirklich?

Wieder fährt seine Elfenkönigin voraus, wieder röhrt sie heran.

»Ich fahr dann mal«, sagt sie plötzlich.

»Tust du doch dauernd«, sagt er.

Sie lacht, und indem sie neues Gas gibt, rief sie einfach »Tschüß!« Kein Kuß, keine Umarmung. Er sieht sie nur noch den sich zwischen den Bäumen dahinschlängelnden Weg zur Straße entlangfahren. Ihr Pferdeschwanz weht. Das ist bis ganz zuletzt zu sehen, dann ist sie weg und meldet sich tagelang nicht mehr.

Eigentlich meldet sie sich überhaupt nicht mehr. Doch hat er schon zu ahnen begonnen, fortan erneut alleine zu sein. Da macht er dem Mädchen seinen letzten Besuch.

Wie die Großmutter vorausgesehen hatte, war es auch bei ihr nur ein Besuch. Der Junge mußte nach Braunschweig zurück. Seine Misere verließ er erst anderthalb Jahre nachher, auch dann durchaus nicht freiwillig. Und wird Jahrzehnte später Braunschweig als Stadt seiner Jugend verklären – nicht ganz ausgeschlossen, daß er es Svenjas wegen tut:

Stadt der Bäume, des spindeldürren Geästs

Bedeckt von Laub ist die Zeit

in einem herbstlichen Dornengestrüpp

steckengeblieben

In einem Park, der das Meer ist,

und die Stadt ist die Insel,

treibt der kleine schmutzige Fluß

Lichtblüten

Drei Straßenstücke

Erstes Stück

Am Straßenrand stehen. Den vorbeirollenden Verkehr betrachten. Es ist, als wartete der junge Mann.

Es war später Herbst. Seine Trübheit ließ den Autolärm hohl hallen.

Das aber war es nicht, was diesen Menschen aufhielt, – so wenig wie das Gepolter, Rumpeln und Schleifen der nahen Eisenbahn. Bisweilen allerdings knüpfte ein aufblitzendes Chromstück Knötchen in seine Gedankengänge: Früher hat man, um sich zu erinnern, sowas ins Taschentuch gebunden oder sogar in einen Schnürsenkel, wie ihn zu diesem Zweck sein Großvater in der Hosentasche bei sich trug.