Wanderschuhe und andere Erzählungen - Anna Schieber - E-Book

Wanderschuhe und andere Erzählungen E-Book

Anna Schieber

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Beschreibung


Novembernebel lag dicht und schwer auf der Erde; droben auf der rauhen Alb war es. Kaum daß man zwei, drei Schritte vor sich sah. »’s könnt’ Schnee kommen, Herr Pfarrer,« sagte der Ulmer Bote, der neben seinem schwergeladenen Wagen herging und prüfend in die Luft guckte. »Aber freilich, nichts Gewisses weiß man nicht.«
Der Pfarrer hatte einen Gast abgeholt, einen jüngeren Freund und Bundesbruder. Er selber war alt geworden im Amt, er war schon viele Jahre hier und mochte auch nicht mehr ans Wandern denken; er war verwachsen mit dem rauhen Stück Erde da oben und mit den Menschen, die auf ihm emporwuchsen.

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Wanderschuheund andere Erzählungen

Von

Anna Schieber

1914

© 2023 Librorium Editions

ISBN : 9782383839798

 

N

ovembernebel lag dicht und schwer auf der Erde; droben auf der rauhen Alb war es. Kaum daß man zwei, drei Schritte vor sich sah. »’s könnt’ Schnee kommen, Herr Pfarrer,« sagte der Ulmer Bote, der neben seinem schwergeladenen Wagen herging und prüfend in die Luft guckte. »Aber freilich, nichts Gewisses weiß man nicht.«

Der Pfarrer hatte einen Gast abgeholt, einen jüngeren Freund und Bundesbruder. Er selber war alt geworden im Amt, er war schon viele Jahre hier und mochte auch nicht mehr ans Wandern denken; er war verwachsen mit dem rauhen Stück Erde da oben und mit den Menschen, die auf ihm emporwuchsen.

»Ich hätte dir gern die Gegend in sonnigerem Lichte gezeigt,« sagte er zu dem Jüngeren. »Gestern noch wäre es schön gewesen, da hatten wir blauen Himmel und Sonne, die Wälder sind noch vielfarbig bunt, nun müssen wir uns im Hause einspinnen.« Dann saßen sie einander gegenüber in der großen Wohnstube. Ein gutes Feuer brannte in dem mächtigen eisernen Ofen, der von der Küche aus geheizt wurde. Draußen hantierte die alte Magd, die Pfarrfrau war verreist. »Großmutterpflichten,« sagte der Pfarrer lächelnd, »es ist das sechste Enkelkind, drunten im Unterland, wir werden immer reicher.«

Drüben auf dem Turm fing eine Glocke an zu läuten. Ernst und schwer drangen die Töne durch den Nebel; oder schien es dem Gast nur so? »Ich muß dich nachher eine halbe Stunde lang allein lassen, du magst dich so lang an meinen Bücherschränken umsehen, die sind dir doch schon längst im Sinne. Es ist eine Beerdigung – und sonderbar genug ist der Fall, ich erzähle dir nachher davon, da du doch auf Geschichten erpicht bist. Nein, nein, laß nur, das wissen wir noch von früher her. Und im Grunde, was ist uns auch näher, als der andern Menschen Geschichte, Lust und Leid, Arbeit, Liebe und Tod?«

Der Gast nickte. So war der Pfarrer immer gewesen; unter allen Interessen waren ihm die, die des Menschen Schicksale betrafen, am nächsten gestanden. So war er warmen Herzens ein Vater seiner Gemeinde geworden, ihn konnte man wohl so nennen, es war keine Phrase.

Nun läuteten die Glocken zusammen. Draußen der Nebel war dicht und dichter geworden. Der Gast stand am Fenster, das auf den Kirchhof ging und sah, wie sich die Schulkinder mit dem Lehrer um einen aufgeworfenen Hügel versammelten, und wie ein kleiner Leichenzug zu dem unteren Tor herein kam, wie sich der Pfarrer zu ihm gesellte und wie der Sarg, auf dem ein einziger Kranz lag, niedergestellt wurde. Ein Mann mit einem kleinen Bübchen auf dem Arm stand zunächst des Sarges; das mußte der Hauptleidtragende sein. Das alles sah der Gast nur in schattenhaften Umrissen, es war alles dicht eingehüllt in den Nebel, und aus dem Nebel heraus drangen auch dünn und wie verschwommen die Stimmen der singenden Kinder, dann die tiefe Stimme des Pfarrers. In der Stube war es heimelich warm und die Bücherschränke übten ihre Anziehungskraft aus; bald saß der Gast mit einer seltenen Ausgabe der Aeneide im Sofa, aus deren altertümlichen Kupfern er erst den Blick wieder erhob, als der alte Pfarrer vor ihm stand.

Der kurze Novembertag ging schon stark zur Neige, und, als müßte es so sein, fielen nun weich und lautlos die Schneeflocken vom Himmel und legten sich auf das neue Grab da draußen, in dem ein unruhiges Menschenherz war zur Ruhe gelegt worden.

»Nein, kein Licht, Ursel,« sagte der Pfarrer, als die alte Magd mit der Lampe erschien, »wir wollen im Dämmer sitzen und uns Geschichten erzählen.« Dann, als die Pfeifen brannten, fing er an: »Es war so ein Tag wie heut, das ist nun drei Jahre her. Ich weiß es wohl noch. Wir hatten die beiden ältesten Enkelkinder da, die spielten um den Tisch herum und jauchzten laut, daß es meiner Frau und mir zumute war, als kämen die alten Zeiten noch einmal herauf, wo unsere Eigenen so herumtollten.

Über dem ging die Tür auf; wir hatten ein leises Klopfen überhört, und in dem Rahmen stand ein junges Zigeunerweib. Ursel war an den Brunnen gegangen und hatte die Haustür solange offen gelassen, so war die Fremde unberufen bis in die Wohnstube gekommen. Die Kinder verstummten in ihrem Jubel und hingen sich meiner Frau an das Kleid. Ich habe schon viele aus diesem fahrenden Volke gesehen, Siegfried, es hat immer mein Herz bewegt, daß sie sind wie die Wanderschwalben, immer mit dem Trieb in die Ferne, und doch mit der Sehnsucht nach einer Heimat. Aber die hier stand und bittend die Hand ausreckte, die war so das Urbild eines Mädchens aus der Fremde, ein blütenjunges Weib, dem in dem bräunlichen Gesicht Lippen und Wangen in einem matten Rot leuchteten und dem aus dem bläulichen Weiß die Augensterne in einem feuchten, goldenen Braun hervorglänzten, die noch schlanke, junge Gestalt in ärmliche, doch etwas phantastische Gewänder gehüllt. Ich weiß das noch so genau, denn dieses junge Weib ist hernachmals noch oft in meinen Weg getreten und immer sah ich an ihr das Fremdartige, das sich in die Ferne sehnte und doch aus der Ferne wieder zurückstrebte, das Rätsel der Menschenseele, die ein Zuhause sucht durch alle Welt hindurch.

Für jetzt bat sie nur in fremdartig klingender Sprache um etwas alte Leinwand und Bettzeug, da in dem Wagen draußen vor dem Dorf, da, wo es hart an den Wald anstößt, ein Kind zur Welt geboren sei, und nichts vorhanden, es einzuwickeln. Meine Frau ging, unter mütterlichem Schelten über den Leichtsinn, solch ein junges Wesen in die Tür zu dieser Welt treten zu lassen, eh’ ihm ein Bett bereitet sei, um einiges, was ihr das Herz eingab, zusammenzusuchen. Da, während ich diese und jene Frage an die Wandernde stellte, beugte sie sich plötzlich, wie von einem unwiderstehlichen Trieb geheißen, zu dem kleinen Mädchen nieder, das sie mit großen Augen ansah, und strich ihm mit einer sachten, weichen Bewegung über das Blondhaar, irgend etwas Zärtliches in fremder Sprache murmelnd. Und sonderbar, das Kind, das sonst scheu sich vor Unbekannten zurückzieht, faßte von dem Augenblick an eine Zuneigung, eine fast leidenschaftliche Liebe zu der Fremden. Das ist nachher – doch ich greife voraus – noch andern so gegangen. Es war ein paar Tage später. Da brachte unsere Ursel eine fast unbegreifliche Kunde mit ins Haus, die im Dorf die Zungen und die Gemüter stark in Bewegung brachte und die auch uns, ich muß es gestehen, nicht ohne einige Aufregung ließ.

Draußen, am südlichen Ende des Dorfes – du hast vielleicht beim Hereinfahren das stattliche Giebelhaus mit dem gebräunten Balkenwerk gesehen – wohnte damals ein Junggeselle, von dem man allmählich die Meinung gewonnen hatte, daß er es bleiben würde, ein begüterter Bauer, der sich den Vierzigern näherte, und, seit ihm seine alte Mutter gestorben war, allein mit einer halbtauben Magd in seinem großen Anwesen hauste. Der sollte, so ging nun die Sage, mit der schönen Zigeunerin versprochen sein und sie zur Bäurin machen wollen. Ich konnte es nicht glauben, aus allerlei Gründen nicht. Aber am selben Abend noch, als ich schon in meiner Studierstube bei der Lampe saß, klopfte es an meiner Tür und der Bauer erschien, den weichen Filz etwas verlegen in den Händen drehend, und doch die sonst etwas trockenen Züge des hartgeschnittenen Gesichts von einem inwendigen Licht überglänzt. Ich habe dieses Licht schon je zuweilen auf Menschengesichtern leuchten sehen, und wenn ich es sah, ist es mir immer schwer gefallen, etwas dagegen zu sagen und es hat auch nie viel geholfen. Denn was ist die menschliche Vernunft gegen die geheimnisvolle Macht, die über alles hinüber die Menschen zueinander zieht? Nun, es war richtig so, wie die Ursel es ins Haus getragen hatte. Der Bauer saß mir gegenüber, und als er dann Worte gefunden hatte, da kam die Geschichte zutage. Du weißt, wir stehen gut miteinander, meine Pfarrkinder und ich, sie sind nicht scheu gegen mich.

Er hat es vielleicht nicht mit den gleichen Worten gesagt, aber so ungefähr war es doch: als er an jenem düsteren Nebelabend hinausging, die schweren Holzläden an den Wohnstubenfenstern vorzulegen, da stand, wie aus der Erde gewachsen, die Fremde vor ihm. Sie bat um etwas Milch für die Wöchnerin; man konnte von dort aus das flackernde Feuer, über dem der Kessel hing, vor dem Wagen der fahrenden Leute, durch den Nebel sehen. Der Bauer, er heißt Markus Lohrmann, hieß sie ins Haus kommen und führte sie unter das Licht der hängenden Ampel in der großen Stube, wo in einer Ecke die alte Burge saß und spann. Er war von jeher so ein wenig anders, als die meisten Leute im Ort, er gab sich auch mit Bücherlesen ab und hat schon manchen Band von mir geliehen, hat auch eine stattliche Bücherreihe auf dem Brett über dem Sofa stehen. Die alte Burge sah wohl etwas unwillig drein: die Zigeunerin hätt’ auch draußen warten können, was wollte sie hier in der Stube? Aber sie stand doch auf und ging in die Milchkammer, die hinter der Küche lag, um nach einer Weile mit dem gefüllten Gefäß des Mädchens wiederzukommen. Was derweil drinnen in der Stube geschehen war, wußte wohl keines von allen dreien zu sagen; aber es war doch so, daß aus den jungen, seltsam-schönen Augen der Fremden und aus ihrem ganzen Gesicht und Wesen der rätselhafte, zündende Funke auf den Mann übergesprungen war, der seither von den Mädchen im Dorf für einen hagebüchenen Einspänner hatte gehalten werden müssen. Burge mußte sich fast zu Tode wundern, daß nach dem Abendessen der Bauer, der sonst um diese Zeit sich über eines seiner nachdenklichen Bücher zu beugen pflegte, noch einmal seine Kappe aufsetzte und in den dicken Nebel hinausging. Sie blieb, als sie mit den Abendgeschäften fertig war, hinter dem Spinnrad sitzen und mag da wohl über dem Warten eingenickt sein, denn sie fuhr erschrocken empor, als ihr mit einemmal der Bauer die Hand auf die Achsel legte: »Warum gehst du nicht ins Bett, Burge? Es hat elf Uhr geschlagen, du solltest längst drinnen sein.«

Ihm selber hingen im Haar und in dem dunkelblonden, dünnen Schnurrbart die feuchten Nebel, die sich zu kleinen Tropfen sammelten. Er war stundenlang umher gelaufen, um eine Unruhe los zu werden, die er selber nicht an sich kannte, aber sie war nur größer geworden. Freilich, er hatte sie auch im Umkreis des flackernden Feuers herumgetragen, anstatt weit hinaus zu laufen über die Felder hin oder ins Dorf hinein. Aus dem Wagen war Zitherklang gekommen und Gesang einer Frauenstimme; eine fremdartig-sehnsüchtige Melodie kam zu ihm herüber, die Worte konnte er nicht verstehen. Dann, als eine Weile alles still war, glaubte er das Weinen eines Kindes, ein dünnes, hohes Stimmlein zu hören. Aber es wurde durch Männerstimmen und dann wieder durch ein Hundegekläff abgelöst. Am andern Morgen erschien das Mädchen wieder mit dem Milchgefäß, gerade zu der Zeit, als Burge im Stall auf dem Melkstuhl saß und der Bauer die beiden Taglöhner, die bei ihm schafften, anwies, ihm nur voraus auf den Rübenacker zu gehen.

Und da geschah das Merkwürdige, daß der große schottische Schäferhund des Bauern, der in der Stube auf einer alten Strohdecke lag, winselnd zu der Zigeunerin herrutschte und ihr seine eiternde Vorderpfote zeigte, wie ein Kind, das fragt: Kannst du mir nicht helfen? Sie aber beugte sich, wie sie es bei unserem Enkelkind getan hatte, nun zu dem Tier herunter, das sie mit großen, ausdrucksvollen Augen ansah, strich ihm sachte und lind über das Fell mehrere Male und fing dann an, die kranke Pfote zu bestreichen. Das alles tat sie nur mit einigen leisen, halbsingenden Tönen, – su su – sie schien den Bauer dabei vergessen zu haben. Und, nun magst du darüber sagen, was du willst, aber der Hund, der schon seit Wochen auf dem Stroh gelegen, der stand doch, als das Mädchen gegangen war, auf, und kratzte bellend an der Tür; er wollte ihr nach, und seinem Herrn erging es nicht anders. Die Pfote soll auch noch denselbigen Tag geheilt sein. – Der Pfarrer blies nachdenklich einige leichte Wölkchen aus seiner Pfeife, als wollte er in den krausen Gebilden, die sich im Dämmerschein ergaben, eine Lösung suchen für das Rätselhafte, das mitunter in unser Leben tritt in allerlei Gestalten. – Dann fuhr er fort: früher hat man Hexen verbrannt, heute nennt man es Sympathie. Aber wir wollen nicht zu den Alleswissern gehören, Siegfried. Es ist so viel Wunderbares rings um uns herum, was hilft es uns, daß wir ein Wort dafür suchen? Es liegt doch hinter unserem Horizont, wenigstens jetzt noch. –

Aber ich habe ja nur zu berichten, nicht zu erklären, sagte er lächelnd. Markus Lohrmann war es, als habe dieselbe leichte Hand, die vor seinen Augen den Hund gestreichelt hatte, auch ihm selber Stirn und Augen berührt und dort allerlei weggetan, was ihm bisher das Leben verhüllt hatte: er sah, daß die alte Burge doch bei all’ ihrer grämlichen Treue nicht das für ihn sei, was er zum Leben brauche; daß seine Stube öd sei und sein Tagwerken niemand nütze. Und er fing an, sich zu wundern, daß nie eine von den Dorfmädchen so in seinen Augenkreis getreten sei, daß er sich, wie bei der Wandernden, immerfort herzklopfend nach ihr hatte hinwenden müssen. Wie oft hatte man ihm früher das Heiraten vergeblich vorgestellt; aber dies hier war doch ein anderes Ding.

Und daß ich’s kurz mache; nachdem er sich den einen und andern Tag umsonst damit herumgequält hatte, die schöne Fremde aus seinem Denken und Fühlen auszuschließen, ging er ihr nach, als sie dort am Waldrand dürres Holz aufzusammeln beschäftigt war und fragte in stockenden Worten, ob sie denn nicht bei ihm bleiben könne, nun die andern, die im Wagen dort, weiterzögen. »Als deine Magd?« fragte sie und richtete sich auf. Es sei ein seltsames Glänzen dabei in ihren Augen gelegen, – doch das lag ja eigentlich allezeit darin – so als wenn die Königstöchter in den Märchen für eine Zeitlang in Lumpen gehen müssen, weil ihnen ein Zauberer das angetan hat, und nun doch ein Eckchen des goldenen Kleides darunter hervorguckt.

 

Da faßte sich der Bauer ein Herz; er mag wohl in den wenigen Sekunden, die es dauerte, seine ehrsame Verwandtschaft im Dorf überflogen haben und die Gesichter, die sie machen würden, wenn er ihnen die Zigeunerin zuführte, und das Gesicht der Burge, wenn sie die neue Bäuerin sähe. Aber das konnte alles nichts helfen, denn wenn er dachte, daß Mirza wieder aus seinem Leben entschwinden würde und er sie nie mehr sähe, dann tat ihm etwas im Innersten weh, wie noch nichts in seinem Leben.

Also atmete er tief auf und sagte: »nein, als mein Weib, denn –« da wußte er nicht mehr weiter und sah sie nur hilflos an; aber als sie wie in ausbrechender Freude das gesammelte Holz aus der Schürze fallen ließ und die Arme hoch in die Luft hob, da wagte ers und legte zaghaft den einen Arm und dann auch den andern um sie.

Sie hatte sich immer, wenn sie durch die Städte und Dörfer kamen, nach einer Heimat gesehnt, nach einem Dach, unter dem man wohnen und bleiben konnte; ob auch nach einem Herzen, das ihr allein gehöre, das weiß ich nicht.

»Der Jarno ist gestorben,« sagte sie; »er hat mich gewollt und ich hätte ihn auch nehmen müssen. Aber er war so wild und ich kann das nicht leiden.« Sie sah ihn aufmerksam an, als müsse ihr aus dem minutenlangen Sehen ein Wissen um des Freiers ganzes Wesen erwachsen. »Du bist gut,« sagte sie dann kopfnickend, »ich habe es gleich gesehen, daß du gut bist. Nun kommt der Winter und es wird kalt; ja, ich will bei dir bleiben.« Das alles sagte sie wie aus Träumen heraus; sie ließ es aber geschehen, daß er sie fester an sich zog. Mehr hat er mir nicht davon erzählen wollen; ich mußte es aus seinem freudig aufgewachten Wesen lesen, daß für ihn mit Mirza, – denn wir nannten sie bald alle so – wirklich die Zeit angebrochen war, da man aus dem Alleinsein für sich in das Alleinsein zu Zweien übergegangen ist.«

»Aber,« der Gast rückte etwas unruhig in seiner Sofaecke hin und her, – »du als Pfarrer, ich meine, es hätte da doch« –

Sein freundlicher Wirt unterbrach ihn. »Kommt schon, Siegfried, ich weiß, du meinst, ich hätte da nachsehen müssen, wie es mit dem Katechismus und mit der Moral und dem Vorleben bestellt gewesen sei. Das haben andere mich auch gefragt; ich weiß, ich bin dazu bestellt, daß alles ordentlich und recht zugehe in meiner Herde.

Aber siehst du, manche Menschen haben es auf dem Gesicht geschrieben, was sie sind. Da haben Gott oder die Natur oder wie du es nennen willst, etwas gemacht, das für sich selber redet. – Wir hatten in meinem väterlichen Garten ganz hinten in der Ecke einen Schutthaufen, auf den alles Abgängige geworfen wurde. Es wuchsen Nesseln darauf, auch manchmal ein Stechapfel oder eine Distel. Aber eines Tages standen weiße Lilien darauf. Weiße Lilien, hoch und schlank und mit den goldenen Staubfäden in dem Grunde der weißen Kelche. Und wir versammelten uns alle darum und staunten, und mein Vetter, der Apotheker, sagte, daß das eigentlich gar keine richtigen Lilien sein könnten, denn die wüchsen nur, wenn man sie pflanze und pflege. Aber da lachten Alle, denn es waren unzweifelhaft weiße Lilien und man wußte nur nicht, wie der Samen, oder eine Zwiebel davon unter die Komposterde gekommen sei; sonst war da keine Frage. – Nun,« er unterbrach sich, »ich wollte nicht sagen, daß Mirza eine weiße Lilie gewesen sei. Nur, etwas Besonderes unter ihresgleichen, das war sie schon. Und das andere fand sich auch noch. Markus Lohrmann hatte sie zu einer Base gebracht drüben im Filialdorf. Das war die einzige aus seiner Verwandtschaft, die er um solche Güte ansprechen konnte, wie es die war, eine Zigeunerin ins Haus zu nehmen. Sie war arm, und es war so mancher Sack mit Kartoffeln und mancher Brotlaib schon in ihr Häuslein gewandert im Lauf der Jahre.

Er hatte ihr Geld gegeben, daß sie die Fremde in landesübliche Gewänder kleide und sie hatte das auch getan. »Aber,« flüsterte sie dem Vetter zu, als er darauf kam, die Braut zu besuchen, »sie sieht trotzdem nicht aus, wie eine Bäurin, da magst du machen, was du willst.«

Nein, so sah sie ja freilich nicht aus. Als er in die niedrige Stube trat, erhob sich von der Bank, wo sie nähend gesessen hatte, eine Gestalt, die ihm vertraut und doch fremd war, in dem weiten, gefältelten Rock, der die Füße in blauen Strümpfen und niederen Lederschuhen freiließ, der breiten Bundschürze und dem Leibchen aus rot und blau gewürfeltem Zeug, aus dem die weißen Hemdärmel hervorkamen. Drüben auf dem Bett, dessen Vorhänge zurückgeschoben waren, lagen noch die weiteren Stücke der Ausrüstung, der tuchene Spenser und das breitbebänderte Spitzhäubchen der Älblerinnen. Also das war seine Bäurin, seine. Sie sah nicht aus wie die andern, sie war auch jetzt nur in einer Vermummung, wie sie es zuvor in den zusammengeschenkten Bettlerkleidern gewesen war. Aber sie sah ihn lächelnd an, mit freudigen Blicken, sie hatte sich das dunkle, weiche Haar gescheitelt und in zwei Zöpfe geflochten. Draußen sauste der Wind vorbei, die Fenster des Stübchens klirrten. Da erschauerte sie leise und barg sich bei ihm. »Ich habe nun Heimat und Haus und dich,« sagte sie, »wo aber mögen die andern sein?« Ihm aber war es recht, daß sie nichts von »den andern« wußte, er wollte nur sie allein und bei aller Liebe, mit der er sie umfaßte, die übrige Gesellschaft wußte er doch am liebsten in möglichst weiter Ferne. Sie hatte auch keine nahen Verwandten unter ihnen, ihre eigenen Leute waren gestorben.

Bald darauf kamen sie einmal miteinander zu mir; es war in der Abenddämmerung. Markus Lohrmann wollte so schnell als möglich Hochzeit machen und, da es doch einmal sein sollte, war es auch besser so, schon damit das Geschrei und Gezeter im Dorf aufhöre; denn das hatte er nicht mit Unrecht vorausgesehen, es war ihm nichts davon geschenkt worden.

Nun hatte ich mit ihnen zu reden, wie sie es mit dem Hausstand und mit der Trauung halten wollten. Denn er war evangelisch; Mirza aber gehörte, wenn man davon überhaupt reden konnte, der katholischen Kirche an. Freilich, sie wußte nicht viel von deren Lehren, nur einige stark abergläubisch vermischte Formeln, wie sie unter den fahrenden Leuten von Mund zu Mund gingen.

Ich hatte einiges gefragt und es war still in der Stube. Da sah sie mit hingebenden Augen ihren Verlobten an: »Du bist gut und ich will bei dir daheim sein – ja, ich will sein, wie du bist.«

Das war vielleicht ein mangelhafter Grund, auf dem die neue Gotteserkenntnis aufgebaut werden sollte. Aber ist nicht beim Besten in uns immer wieder das Verlangen nach einer Gemeinschaft, ist nicht die Liebe immer wieder die treibende Kraft gewesen?

Nun kamen manche Tage, da das fremde Mädchen, freilich jetzt in Bauerntracht und mit hängenden Zöpfen, mir gegenüber saß. Es war bald nicht mehr der Wunsch allein, so zu sein wie Markus Lohrmann, es war, als sprängen in dieser jungen Seele lauter Quellen auf, die bisher geschlafen hatten. Mitunter öffnete sie die Lippen, wie durstig, einen frischen Trunk einzuschlürfen, wenn ich sie an der Hand nahm, um sie aus dem dämmernden Halbdunkel, in dem Dämonen, Amulette, Alräunchen und allenfalls die fernen Heiligen regierten, unter den freien Himmelsdom zu führen, in dessen tiefem Blau eine Sonne über allen schien, und, wie wir in Ehrfurcht und Herzensmüssen glauben, ein Herz für alle war.

Ich habe nicht von mir zu reden. Sonst, Siegfried, es ist auch nicht nichts für unsereinen; wenn man Sonntag für Sonntag seine Bauern vor sich sitzen hat – nun, ich habe die meinigen gern – aber man weiß nicht sicher, denken sie nun an Korn und Haber und Viehhandel, oder an ihre Krauthäfen daheim die Weiber, oder hören sie, was du sagst.

Es ist auch nicht nichts, wenn so ein paar durstige braune Augen so dringlich fragen: »Hast du sonst noch etwas? gib mir alles, was du hast.«

In diesen Stunden stahl sich wohl mein Enkeltöchterchen leise zu uns herein und schlüpfte, die Augen auf mich gerichtet, ob ich es nicht verjagen werde, zur Mirza hin. Die faßte die kleine, warme Kinderhand, ohne sich im übrigen zu rühren, und das Kind saß glücklich dabei, wie ein Vögelein unter Flügeln sitzt.

Auch das nahm sein Ende. Eines Tags im Dezember standen die beiden, Markus Lohrmann und Mirza, vor dem Altar. Draußen wehte es stark, ein scharfer Nordostwind fegte durch die Gassen und über unsere Hochfläche hin, und ich, als mir bei den wenigen Schritten vom Hause bis zur Sakristei der Kirchenrock flatternd um die Beine schlug, mußte es nachsprechen, was ein anderer vor mir gesagt hat: »weh’ dem, der keine Heimat hat.«

Nun, die beiden, die sich in dieser Stunde die Hände gaben, die hatten ja nicht nur ein Dach über sich, sondern, was erst recht die Heimat macht, ein Herz, um darin daheim zu sein, ein jedes im andern. Zwar daß bei ihm die Leidenschaft stärker und tiefer war, als bei ihr, das hatte ich schon gesehen. Aber sie hatte sich doch hingebend und nicht ohne eine stille Innigkeit in ihn gefunden und wollte ihm allein gehören; das mußte genug sein. Seltsam, daß so die Rollen vertauscht waren: unsere Albbauern haben es sonst nicht so stark mit den Gefühlen, sie sind mehr aufs Nüchterne, Praktische gerichtet, und das fremde, dunkeläugige Volk der Zigeuner, das gilt bei uns eher für heißblütig und leicht hingerissen. Das war aber nun, wie es war.

Mir kamen die beiden nun für eine Zeitlang mehr aus den Augen; es war Winter und es gab allerlei Kranke am Ort, die ich zu besuchen hatte. Doch hörten wir ab und zu, daß dort draußen in dem Hause mit den braunen Balken alles gut gehe, den Schwarzsehern und Unglücksraben, die alles Böse hatten prophezeien wollen, zum Trotz. Selbst die alte Burge, die anfangs gemeint hatte, daß nun der Himmel einstürzen müsse, ließ sich, als gegen den Frühling hin eine böse Grippe ins Dorf kam, gern von den leichten und geschickten Händen des jungen Weibes pflegen, und mir war, als ich sie besuchte, als ob ihre grämlichen, harten Züge einen sanfteren Ausdruck gewonnen hätten.

Da kam ich einmal, als die Märzstürme mit aller Macht bliesen und auf den höhergelegenen Flächen den Schnee wegfegten, gegen Abend vom Nachbarort her. Es war eine frische, reine Luft, es lag etwas frühlinghaftes trotz der Schärfe darin und ich blieb stehen, um – den Hut hatte ich abgenommen – ein paar tiefe Züge davon einzuatmen und mir auch den alten Kopf ein wenig durchwehen zu lassen. – »Du weißt, ich bin hart gewöhnt worden da oben,« unterbrach sich der Erzähler lächelnd, »ihr Jungen hättet euch vielleicht dabei einen Schnupfen geholt.«