Wär mein Leben ein Film, würd ich eine andere Rolle verlangen - Cornelia Franke - E-Book

Wär mein Leben ein Film, würd ich eine andere Rolle verlangen E-Book

Cornelia Franke

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jess' große Leidenschaft sind Filme und seit dem Tod ihrer Mutter ist das Kino ihr zweites Zuhause. So scheint es ein Leichtes, für ein Schulprojekt einen Blog über ihr Lieblingsthema ins Leben zu rufen. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Und dann ist da auch noch Marvin, der plötzlich mehr von ihr will, als nur der hilfsbereite Freund zu sein. Langsam merkt Jess, dass sich das Leben durchaus nicht immer wie im Film abspielt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 325

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DIE AUTORIN

Foto:© Random House/Isabelle Grubert

Cornelia Franke wurde 1989 in Mönchengladbach geboren. Nach ihrem Abitur zog sie nach Berlin, studiert Kulturwissenschaften und arbeitet freiberuflich als Lektorin im Bereich Jugendbuch und Fantasy. Seit 2011 engagiert sie sich für Schreibworkshops an Schulen. MitWär mein Leben ein Film, würd ich eine andere Rolle verlangenerscheint jetzt ihr erstes Jugendbuch bei cbt.

CORNELIA FRANKE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Originalausgabe August 2016

Copyright © 2016 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: © *zeichenpool, München

unter Verwendung eines Motivs von

© Shutterstock (Vectomart, mayakova)

jb · Herstellung: AnG

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15501-8V002

www.cbt-buecher.de

1. Kapitel

Jedes Mal, wenn ich vor der Glasfassade meines Stammkinos am Potsdamer Platz stehe, überkommt mich ein Kribbeln. Die bunten Kinoplakate begrüßen mich, und die Schauspieler schauen erwartungsvoll auf mich herab, als wäre ich zu lange weg gewesen. Hab ich etwa wieder Sport geschwänzt, um früher im Kino zu sein, scheinen mich die Actionhelden mit ihren strengen Blicken zu fragen. Doch heute gibt es keinen Grund zum Vorwurf. Heute habe ich mich zusammengerissen und Sport irgendwie überstanden, weil Lisa und Tom es erst in die Vorstellung um 17 Uhr schaffen. Eigentlich ist die Uhrzeit nebensächlich, solange wir uns wie jeden Donnerstag hier treffen. Wenn die neuen Filme anlaufen, sind wir sofort mit dabei.

Das Kribbeln fährt über meine Arme, denn das erste Plakat zu Boom the Beat 5 wurde angeschlagen. Kaum fällt mein Blick auf die beiden Tänzer, erwacht das Pärchen in meiner Fantasie zum Leben. Ein gewagter Sprung und sie platzen aus dem Plakat hervor, wirbeln durch die Luft und landen direkt vor meinen Füßen. »Komm, bald beginnt die Vorstellung«, sagt mir ihr stummes Lächeln.

Der Mann streckt mir auffordernd die Hand entgegen, doch ich lehne ab und lasse meinen Tagtraum platzen. Stattdessen stoße ich die Schwingtüren zum Foyer auf, streife den Straßendreck an den Fußabtretern ab und schlüpfe aus meinem Parka. Meine Mitschüler lieben den Klang des letzten Schulgongs, mein Vater entspannt, wenn seine Schlüssel nach einem Arbeitstag in der Schale auf der Kommode klirren. Ich liebe es, wenn der Gong hier die nächste Vorstellung ankündigt. Es ist wie nach Hause kommen, wenn mich der Duft von frischem Popcorn und das vielstimmige Murmeln der Kinobesucher empfängt. Dann bin ich ein Teil dieses Kinos und nicht mehr so einsam, wie ich mich manchmal fühle.

Anders als die meisten Besucher gehe ich nicht gleich zu den Ticketkassen, sondern bleibe einen Moment stehen und blicke hoch zur Galerie der ersten Etage. Neue Woche, neue Dekoration. Vor allem neue Banner. Fünf Meter hoch und locker zwei Meter breit, grinsen mich die Schauspieler von Mummy Love an. Gebastelte Sandwolken und braune Stoffstreifen hängen von der Decke, um das Kino aussehen zu lassen wie eine Wüstenlandschaft.

Wenn mein Zimmer nur groß genug wäre, dann würde ich den Banner des Wüstenpalasts quer über die Decke spannen und mich vom Bett aus in den Dünen verlieren. Allerdings müsste ich ein Loch für meine Lampe hineinschneiden … und das bringe ich nicht übers Herz. Fanartikel werden nicht zerschnitten.

Ich laufe an einer lebensgroßen Legofigur zum kommenden Superheldenstreifen vorbei und im Zickzack durch die Wartenden. »Hey Andreas«, ich winke dem Mann hinter der zweiten Kasse zu, der meinen Gruß mit einem Lächeln erwidert. Das Rattern der Drucker begleitet meine quietschenden Converse, bildet den Takt meiner Schritte.

Der Kartenabreißer an den Treppen beachtet mich nicht, als ich in den Durchgang für die Projektorräume im Erdgeschoss schlüpfe. An der nächsten Tür klopfe ich zweimal kurz, zweimal lang, das vereinbarte Zeichen. Schon öffnet sie sich und ich stoße fast mit Olaf zusammen.

»Hallo Jess! Was hat dich aufgehalten?«

»Die BVG fährt doch nie nach Plan.«

»Stimmt, heute Morgen fiel der S-Bahn-Ring schon wieder aus. Vermutlich haben die Fahrer eine Schneeflocke gesehen und sind deshalb kollektiv in Streik getreten.« Olaf arbeitet seit fünfzehn Jahren im Kino, das muss man sich mal vorstellen. Fast so lange, wie ich auf der Welt bin, kümmert er sich um die Technik meines Lieblingskinos. Hauptsächlich hält er die Projektoren in den neunzehn Sälen in Schuss, kontrolliert deren Abläufe und bekämpft mit Feuereifer die kleinen Macken im Haus. Ein Ticketdrucker klemmt? Olaf findet eine Lösung. Der Film läuft, aber das Licht brennt noch? Ruf Olaf. Saal drei hat keinen Ton? Olaf!

Früher habe ich Olaf für einen Zauberer gehalten, der alles reparieren kann. Dafür haben mir sein Vollbart und Kugelbauch als Kind Angst eingejagt. Den Grund weiß ich nicht mehr, denn Olaf ist einer der nettesten Menschen überhaupt. Immer fröhlich eine Melodie pfeifend, weil sein Job ihm Spaß macht. Immer einen Witz auf Lager. Heute macht er mir keine Angst mehr und ich gebe meine beschädigte Hardware ebenfalls in seine Zauberhände.

Inzwischen erinnert er mich eher an einen Teddybären, der stets eine Umarmung für mich bereithält.

»Sag schon, wie war’s? Ihr habt doch heute eure Ergebnisse bekommen.«

»Na ja.« Ich winde mich unbehaglich. Für Olaf ist Physik ein Kinderspiel. Wenn er mir Versuche und Gesetzmäßigkeiten erklärt, klingt es wirklich einfach. Leider entsprechen die Fragen in meinen Tests nie seinen Antworten. »Ist nur eine Drei geworden«, quetsche ich hervor.

Ich wende den Blick ab. Jetzt ist er bestimmt enttäuscht. Für mich ist Olaf wie ein Onkel. Ein alter Freund meiner Mutter, der für mich da ist, wenn mein Vater mal wieder keine Zeit für mich hat.

»Das ist super!« Olaf herzt mich überschwänglich. »Letztes Mal hattest du eine Vier. Ich nenne das eine Verbesserung, Jessica.«

Seit Jahren besuche ich dieses Kino mehrmals die Woche. Der Donnerstag ist Pflicht und, wenn ich es schaffe, auch die Sneak Previews am Mittwoch. Manchmal verbringe ich hier einen faulen Sonntagvormittag, um zwischen einer Horde von Kindern den neuesten Animationsfilm zu sehen.

Nach dem Tod meiner Mutter vergrub sich mein Vater in die Arbeit, sodass er unser allwöchentliches Filmerlebnis immer häufiger absagte. Ich hingegen bestand darauf, und wie zur Entschädigung, dass er nie zu Hause war, wollte er mir ein Hobby sponsern. Ich hätte mir Musikunterricht aussuchen können, Fußball, Karate, Reiten, irgendeinen anderen Sportverein … Ich entschied mich allerdings für eine Kinojahreskarte. Fünfmal in Folge.

Außerdem freute Olaf sich, dass er auf mich aufpassen durfte. Obwohl ich schon lange kein Kind mehr bin, das einen Aufpasser braucht, ist Olafs Freude über meine Besuche geblieben.

»Sind Lisa und Tom schon da?«, frage ich.

»Die beiden besetzen die gleichen Plätze in der letzten Reihe wie jeden Donnerstag.« Olaf grinst. »Warte, ich lasse dich hinten rum rein. Willst du Popcorn? Ich bin hier noch eine halbe Stunde beschäftigt, danach könnte ich euch welches bringen.«

»Danke, sehr gern.«

»Wie immer salzig?«

»Wie immer.« Ich strahle.

Olaf stellt etwas am Projektor ein, bevor er mich zu einem Fahrstuhl begleitet. Aus der Kabine kommt uns ein anderer Mitarbeiter entgegen. Anstatt zu fragen, was ich hier zu suchen habe, begrüßt er mich mit einem »Hey, Jess« und geht seiner Wege.

»Glückwunsch zur Drei!«, freut sich Olaf erneut, gibt mit seinem Mitarbeiterschlüssel den Fahrstuhl frei und die Kabine ruckelt nach oben.

Leise schiebe ich die Metalltür des Notausgangs auf, sodass es kein anderer Besucher bemerkt. Saal sieben füllt sich langsam und über die Leinwand flimmert schon die Werbung. Mal wieder dieser athletische Wasserskifahrer mit seinem ach so tollen Mineralwasser. Neue Kinowerbespots sind seltener als ein Drama mit Happy End.

Kurz lasse ich den Blick über die roten Stuhlreihen schweifen und genieße die Aussicht. Hunderte von Menschen passen in Saal sieben. In ein paar Minuten werden wir alle zusammen denselben Film sehen, lachen, weinen, uns fürchten. Ich glaube nicht an Übernatürliches, Aliens oder Elben, aber das hier ist Magie. Die Magie des Films.

Die Beleuchtung geht aus und ich mache mich auf den Weg zu meinem Platz. Tom entdeckt mich als Erster und streckt mir die geballte Faust zum Gruß entgegen. Ich erwidere die Geste, woraufhin meine beste Freundin Lisa genervt schnaubt.

»Das Universum ist weit …«, grüßt Tom mit einem Grinsen.

»… und voller Abenteuer, die es zu bestreiten gilt«, beende ich die Losung unserer liebsten Raumschiffserie Captain Calderon.

»Du benutzt auch nie die Treppen wie normale Leute, oder?«, fragt Lisa und deutet dabei auf einen Trinkbecher in meiner Halterung. Sie hat sogar daran gedacht, mir eine Sammelfigur zu holen, sodass mein Trinkhalm durch den Bauch einer Gummi-Mumie stößt. »Schuldest mir was.«

Zufrieden falle ich in meinen Sitz. Die Polsterung ist so gemütlich, am liebsten hätte ich so einen Sessel zum Schlafen. Außerdem würde ich dank des Getränkehalters nie mehr mein Bett fluten.

»Olaf bringt uns gleich Popcorn. Seid ihr schon lange da?«

»So begleicht man nicht seine Schulden«, mault Lisa trotzdem. »Ich schreib’s auf deine Liste, Jess.«

Ich werfe einen Blick zur Leinwand, doch den Trailer des Katastrophenfilms kenne ich bereits.

»In Gold und Edelsteinen kann ich dich nicht auszahlen.«

»Theoretisch lässt du das Kino für dich bezahlen«, hält meine Freundin mir vor.

Ich zucke mit den Schultern. »Letzte Woche war das noch in Ordnung. Ich esse deine Portion Popcorn gerne mit, wenn du es nicht magst.«

»Das war letzte Woche. Und natürlich möchte ich Popcorn!«

Tom stößt mit dem Fuß gegen eine leere Nachopackung im Fußraum. »Sie braucht Nachschlag.«

Da kommt mir eine Idee. »Was hast du denn Schönes gesehen, dass du sofort meine Schulden einforderst? War es golden oder glitzernd?«

Lisas Finger spielen unbewusst mit den Anhängern ihrer Kette. »Beides.«

»Als ob sie sich mit einem davon zufrieden gibt«, scherzt Tom und greift nach seiner Cola. Dabei fällt mir sein T-Shirt mit der Aufschrift »Han shot first« auf. Wie immer trägt er seine Nickelbrille mit den blauen Gläsern, die angeblich Hintergrundstrahlung sichtbar machen. Mit seiner Sehkraft steht es bestens, Tom wählt solche Accessoires aus, wie manche Mädchen ihre Fingernägel passend zum Outfit lackieren. Nicht, dass Tom besonders eitel wäre, er vergöttert einfach Science-Fiction. Wenn es nach ihm ginge, würde er sich an einer Weltraumakademie einschreiben, anstatt Englisch und Geschichte zu lernen. Leider braucht man diese weltraumtechnisch irrelevanten Fächer für einen Abschluss. Mehrere Aliensprachen fließend zu beherrschen, reicht nicht aus.

»Okay, ich begleiche meine Schulden gleich morgen, Lisa«, lenke ich ein und blicke wieder zur Leinwand.

»Nicht Lisa.«

»Was dann? Hast du dir einen neuen Namen zugelegt?«

Sie verengt die Augen zu Schlitzen. »Nessa Faelivrin.«

»Vanessa … was?«

»Laut dieser Webseite, die ich gefunden habe, ist mein elbischer Name Nessa Faelivrin.« Es klingt wie eine genuschelte Variante von Vanessa. ’ness-a. Beim Rest des Namens tritt meine Zunge in den Streik.

Lisa richtet sich auf, als sei sie eine Prinzessin oder als sei es ihr vorherbestimmt, den Einen Ring ins Feuer zu werfen. »Willst du wissen, was das bedeutet?«

Tom wedelt hinter ihr warnend mit den Armen. Er ist deutlich größer als ich und wirkt bei der Bewegung wie ein Hampelmann.

»Vermutlich die Schöne oder das edle Licht …«, rate ich langsam.

»Nö, nicht wirklich.« Meine Freundin verschränkt ganz unelbenhaft die Arme und grunzt. Sie ist nicht gerade ein typisches Mädchen, zieht dazu Pizza dem Fitnessstudio vor. Regelmäßig. Wenn sie eine Figur aus Der Herr der Ringe wäre, dann ein Zwerg. Lisa ist knausrig, liebt es, gut zu essen und zu feiern, außerdem kann sie ziemlich austeilen. Man sieht es ihr nicht an, aber sie betreibt seit dem Kindergarten Kampfsport.

»Wieso habe ich die ewig lange Erklärung bekommen und Jess kommt so durch?«, wirft Tom ein und gibt vor, beleidigt zu sein.

»Weil du keine Ahnung hast.«

»Du hast keine Ahnung, Baumkuschlerin.«

»Hab ich sehr wohl.«

Ich überlasse meine Freunde ihren Streitereien und schaue mir den Trailer zu Boom the Beat 5 an. Das Gezanke bricht jedes Mal aus, denn keiner will einsehen, dass der eine das liebste Filmgenre des anderen nicht vergöttert.

Beim letzten Trailer stürmt eine Gruppe Mädchen herein. Ihr Schnattern und Kichern höre ich bis in unsere letzte Reihe. Mein Blick fällt auf deren Fanshirts, eng anliegende Teile mit Ausschnitten bis zum Bauchnabel. I love Mummy, steht da drauf, und mir dreht sich der Magen um. Genau aus diesem Grund mag ich die 13:30-Uhr-Vorstellungen, da teilt man sich den Saal mit dem Kinopersonal und zwei Rentnern. So eine peinliche Gruppe habe ich abgesehen von speziellen Events dort nie angetroffen.

»Warum noch mal haben wir diesen Film ausgesucht?«, flüstere ich, weil die Gruppe uns garantiert nerven wird. Der Hauptfilm geht gleich los, ab jetzt ist jedes laute Wort strafbar. Handyklingeln ein Frevel.

»Weil das der Blockbuster der Woche ist«, erklärt mir Lisa.

»Müssen wir jeden Blockbuster schauen?«, wirft nun auch Tom ein. Er überragt selbst im Sitzen den Kopf meiner Freundin und schaut mich fragend an.

»Das haben wir die letzten drei Jahre so gemacht«, betont Lisa.

Mit einem Schulterzucken ist das Thema für mich beendet, an gewissen Regelmäßigkeiten halte ich unbeirrbar fest. Und der Box-Office-Donnerstag gehört eindeutig dazu.

Wegen dieser unausgesprochenen Regeln ziehe ich auch die Augenbrauen hoch, als Tom die Füße auf die freie Lehne vor sich legt.

»Ja, ja, Schuhe aus. Du benimmst dich manchmal, als wäre das hier dein Wohnzimmer.«

Mehr oder weniger fühlt es sich genauso an.

»Wir könnten uns noch mal das Schlachtenepos in Saal vierzehn ansehen«, schlägt Tom vor, das Fangirl-Fest im Parkett beobachtend. Auch ihm schwant Fürchterliches.

»Saal vierzehn? Wir sollen an einem Donnerstag Untertitel lesen?«, spottet Lisa und richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Leinwand. »Ich musste heute in der Schule schon genug lesen.«

Der Vorspann beginnt und aus einem gewaltigen Sandsturm erscheinen Logo und Titel: Mummy Love – Liebe ist sein Fluch.

»Mein Favorit ist der Film trotzdem nicht.« Genervt lehnt Tom sich zurück. »Wir haben schon Mädchen gehabt, die sich in Vampire verlieben, Mädchen, die sich in Werwölfe verlieben, und jetzt halt eine Mumie. Aber wenn Captain Calderon in der Serie auf eine Alienrasse mit blauer Haut trifft und mit einer was anfängt, ist das widerlich. Ist klar.« Er seufzt und zieht geräuschvoll an seinem Strohhalm. Jeden anderen hätte ich mit einem »Pssst!« bestraft.

Allerdings beschäftigen mich Toms Worte. Vollkommen unrecht hat er nicht.

Die Mumie taucht für ihre erste Szene auf und die Mädchengruppe weiter vorne quietscht sofort los. Ich rolle nur mit den Augen und habe dadurch einen Teil des ersten Dialogs verpasst. Nach fünf Minuten regelmäßiger Seufzer und Gekicher an den unmöglichsten Stellen reicht es mir endgültig. Was wohl der Mumienprinz davon halten würde, wenn Mädchen in seiner Gegenwart nur noch Oooohs und Aaaaahs von sich geben? Ja, was wäre, wenn …?

Meine Gedanken schweifen ab, und ich stelle mir vor, wie Ankh neben mir im Kinosessel sitzt und genervt die bandagierte Stirn runzelt.

Vorhang auf für meine ganz eigene Spezialfähigkeit: Jess’ Kopfkino. Meine Vorstellungskraft ist manchmal so lebhaft, dass sie mich in Tagträume zieht. So wie jetzt gerade.

»Vermisst du nicht auch Mumienfilme, in denen es um einen Fluch geht?«, frage ich leise Ankh. »Einen richtigen Fluch. Nicht, dass die Mumie in einem kleinen Kaff in den USA ausgestellt und dort zufälligerweise von ihrer großen Liebe zum Leben erweckt wird.«

»Irgendwie unrealistisch«, erwidert die Mumie neben mir. Innerhalb meines Kopfkinos spricht sie langsam und bedächtig, ir-gend-wie … un-rea-lis-tisch. Denn viele, viele Sandkörner haben sich im Laufe der Jahrtausende in ihrem Sprachzentrum festgesetzt. Ankh im Film besitzt die rauchige Stimme eines Rockstars.

»Es ist zwar nett, dass du ein Mädchen findest, das dich trotz deiner Situation mag, aber trotzdem … Wer glaubt bitte schön, dass du dadurch dein Königreich zurückbekommst? Ich fürchte, das Land Ägypten händigt dir das nicht einfach so aus.«

»Zeitsprung«, brummelt die Mumie.

»Oh ja, das erklärt ja heute alles. Das Mädchen wird sich riesig freuen, ins Altertum zu reisen.«

Der Mumienprinz seufzt und ich stimme mit ein.

Wenigstens innerhalb meiner Fantasie sind wir uns einig.

»Bekommst du überhaupt was vom Film mit?«, zischt Lisa von der Seite und reißt mich aus meinen Gedanken. »Du starrst jetzt schon ’ne Weile ins Leere.«

»Oh.« Ich drehe mich zum Platz links von mir, doch kein Mumienprinz erwartet mich.

Lisa und Tom ziehen mich oft damit auf, dass ich in mein Kopfkino abtauche. Manchmal macht es eben mehr Spaß, innerhalb eines Tagtraums mit einer Filmfigur zu scherzen, als den Heulkrampf der weiblichen Hauptrolle zu verfolgen, weil sie von Skarabäen gejagt wird.

Zwei Stunden später warten wir lediglich aus Respekt vor den vielen Menschen, die im Hintergrund an Mummy Love mitgearbeitet haben, auf das Ende des Abspanns. Nur die Fangirls stehen noch klatschend an ihren Plätzen und kreischen sich gegenseitig in Ekstase. Neben den Namen der Beteiligten läuft ein Filmchen mit Outtakes, und ich fürchte, die Mädchen fallen gleich in Ohnmacht. Von dem Geschrei müsste ihnen eigentlich langsam mal die Luft wegbleiben.

Mit einem letzten Seufzer verlasse ich den Saal. Auch Tom und Lisa sind ungewöhnlich still, verlieren sich nicht in ihrem üblichen Gezanke. Die Zuschauer vermischen sich im Vorraum mit den Wartenden vor den Nachbarsälen, und von irgendwoher dröhnt das Krachen einer Explosion, das die Schalldämpfung nicht völlig abschirmt.

»Ja …« Meine Begeisterung hält sich in Grenzen.

»Also«, stimmt Lisa mit ein, »das war Mummy Love.«

»Die weibliche Hauptrolle war süß«, meint Tom grinsend. »Ich bin auf meine Kosten gekommen.«

Wir drei sehen uns einen Moment an. Schlechte wie gute Filme, wir haben sie alle gemeinsam gesehen. Sie gelobt, über sie gelästert. Uns an den Händen gehalten, wenn ein Axtmörder über die Leinwand wütete oder Taschentücher verteilt, weil das krebskranke Mädchen ihren Kampf doch verlor. Anhand eines Plakats oder eines Trailers kann man die Qualität eines Films nicht abschätzen, insbesondere da Trailer heutzutage immer weniger aussagen.

Wichtiger ist die Tradition, dass wir uns jeden Donnerstag hier zusammenfinden. Früher mit meiner Mutter, jetzt mit meinen besten Freunden.

Hinter uns trabt die Mädchengruppe heran. Ein paar fächeln sich Luft zu und sie plappern aufgeregt über ihr grandioses Filmerlebnis.

»Das war der beste Film meines Lebens!«

»Oh, Ankh«, fächel, fächel, »der war so heiß.«

»Megaheiß«.

»Wüstenheiß.«

»Ich würde Ankh gerne ablecken.«

»Das ist bestimmt staubig«, flüstere ich, woraufhin Lisa und Tom in Gelächter ausbrechen.

Die Gruppe stapft davon und zu meinem Entsetzen steuern sie auf den Saal zu, in dem der Film gleich wieder läuft. Einmal Wüstenprinz scheint ihnen nicht zu reichen.

»Der war die gesamte Zeit über in Klopapier eingewickelt oder hab ich was übersehen?«, frage ich fassungslos.

Lisa nickt. »Nur sein Sixpack war zufälligerweise sichtbar.«

»Zufälligerweise«, wiederholt Tom verschwörerisch und schiebt sich die Brille hoch.

Ich sehe den gackernden Mädchen nach. »Seit wann ist Klopapier heiß?«

»Wer weiß.« Lisa zuckt mit den Schultern. »Vielleicht haben sie schon den Trailer für den zweiten gesehen und da wird er ausgewickelt. Jemanden um den Finger wickeln bekommt so eine ganz neue Bedeutung.«

»So oft, wie die Schauspielerin ihm in den Armen lag und ihn vollheulte, war das Toilettenpapier hoffentlich dreilagig«, scherzt Tom.

»Das war jetzt gemein«, meint Lisa und boxt ihm in die Seite.

»Fortsetzung?«, bringe ich keuchend hervor. »Oh Gott, der Film hat einen Untertitel, natürlich wird es eine Fortsetzung geben.«

2. Kapitel

Auch wenn Lisa und Tom auf meine Schule gehen, sehe ich die beiden bloß während der Pausen. Tom ist fast zwei Jahre älter als ich und somit eine Stufe höher. Lisa hängt zu meinem Leidwesen in einer Parallelklasse fest und wir teilen uns nur die Fächer Spanisch und Medien. Dementsprechend sind das auch meine Lieblingsfächer, obwohl niemand diese Liebe mit Leistung verwechseln sollte. In Spanisch komme ich gerade so durch. Allerdings kann ich nicht so katastrophal sein, wie meine Lehrerin behauptet. Bei unserem Urlaub auf Mallorca habe ich mich dank der internationalen Zeichensprache super verständigt.

Zwischen mir und den Mädels in meiner Klasse passt es nicht so richtig. Ich teile genauso wenig ihr Interesse für Mode oder Sport, wie sie meine Leidenschaft fürs Kino nachvollziehen können. Tom würde mit einem Grinsen behaupten, ich bin einfach von einem anderen Stern, seinem Stern, auf dem alle willkommen sind, die wissen, warum er bei einer blauen Telefonzelle sofort anklopfen möchte. Andererseits ist es genauso meine Schuld, ich spreche mit ihnen ja auch nur über die allgemeinsten Dinge wie »Kam euch die Mathestunde auch so ewig lang vor?« oder »Nicht schon wieder Montag«. Ich verbringe die Pausen, den Mittag und die schulfreie Zeit halt mit meinen Freunden und lache über ihre endlosen und wilden Wortgefechte. Im Moment drehen sich ihre Diskussionen hauptsächlich um die Frage, ob die Figuren aus Science-Fiction-Werken auch ohne ihre Technik in Fantasy-Welten bestehen könnten. Oder wie kann es sein, dass es in diesen Geschichten immer einen Königsthron gibt, den es zu besetzen gilt? Das ist eindeutig spannender als die neue Handtaschenkollektion.

An diesem Freitag quatschen die Mädchen in meiner Klasse darüber, wann sie ihre derzeitigen Beziehungen beenden sollen. »Ich bin jetzt drei Wochen mit ihm zusammen. So langsam wird die Küsserei langweilig«, hallt es zwischen Mathe und Englisch für alle gut hörbar durch den Raum. »Das war am Anfang viel aufregender. Ich mach Schluss, wir passen einfach nicht zusammen.«

»Klingt so. Schon gehört? Der Schauspieler von Ankh ist in der Stadt.« Seufzen unterbricht kurz das Gespräch. »Wenn du den triffst, solltest du Kai definitiv abschießen.«

Nicht, dass ich Experte in Sachen Beziehungen bin, aber so ein Verhalten ist unfair. Besonders wenn Kai im gleichen Raum sitzt und sein Gesicht mit jedem Wort weiter an Farbe verliert.

»Ach, Ankh«, seufzen sie erneut, und ich erkenne die unverhoffte Chance, mich mit ihnen über Filme auszutauschen.

»Mummy Love habe ich gestern auch gesehen«, meine ich daher lauter als beabsichtigt. Die Fünf-Minuten-Pause ist fast rum. Das wird nicht der Anfang einer neuen Freundschaft, aber es ist ein Versuch. »Der Film war ganz okay.«

Die vier Mädchen drehen sich überrascht zu mir um.

»Ganz okay?«, fragt eines.

»Ja.« Während ich auf meinem Stuhl fläze, sitzen sie mit überschlagenen Beinen auf den Tischen. Das muss so unbequem sein. »Ein bisschen vorhersehbar, fand ich.«

»Ach, du hast doch keine Ahnung.«

Das versetzt mir einen Stich, aber noch gebe ich nicht auf. Mich mit ihnen über Filme zu unterhalten, passiert so gut wie nie. »Haben euch die offensichtlichen Fehler nicht gestört?«, versuche ich es erneut. »In einer Szene hat Ankh ein grünes und ein violettes Auge, weil seine Kontaktlinse verrutscht …«

»Ankh ist perfekt!«, fällt mir eins der Mädchen ins Wort. »Ich schau einen Film, um abzuschalten, nicht, um dabei zu denken. Du bist echt seltsam, Jessica.«

Damit wenden sie sich wieder von mir ab und steigern sich bis zum Klingeln in ihre Schwärmereien hinein.

Manchmal glaube ich, die Mädchen in meiner Klasse stammen von einem anderen Stern. Allerdings schicken uns hochentwickelte Alienrassen in Filmen nur Prinzen, die dann zu Superman werden. Oder eine Armee, um den Planeten plattzumachen. Aber eine Invasion durch oberflächliche Teenager-Mädchen? Das wäre eine echt fiese Kampfansage.

Es nervt jedenfalls, niemanden im Unterricht zu haben, mit dem ich Zettel schreiben kann oder der mich mit ins Buch schauen lässt, wenn ich es vergessen habe. Eine Freundin, mit der ich über Jungs schwärmen kann, ohne dass sie mir gleich vorwirft, ich würde mich mit sechzehn Jahren wie eine Nonne benehmen. Wie zur Bestätigung höre ich zwischen gackernden Lachern ein »Also, Ankh würde ich nicht aus meinem Bett schubsen. Hast du sein Sixpack gesehen?«, und bin irgendwie froh, anders zu sein.

Wenigstens gibt mir der Stundenplan in diesem Halbjahr einen Hoffnungsschimmer: die Freitage. Die letzten zwei Stunden verbringe ich mit Lisa und somit starten wir gemeinsam ins Wochenende.

Und da die Ereignisse des restlichen Schultags nicht erwähnenswert sind, spule ich einfach bis zur letzten Doppelstunde vor. Voller Ungeduld warte ich vor dem Medienzentrum auf das Ende der Pause, denn obwohl ich an den üblichen Plätzen gesucht habe, konnte ich keinen meiner Freunde entdecken.

Während der verflogenen Unterrichtsstunden habe ich aufgrund mangelnder Gesprächspartner jede Menge Mumienwitze gesammelt sowie eine Liste mit vernünftigen Mumienfilmen erstellt. Mit Wissenschaftlern, Ausgrabungen, fiesen Sandstürmen und Flüchen, die die Darsteller den Film über bekämpfen. Und natürlich Mumien, die sie erwürgen wollen, anstatt sie liebevoll zu umarmen.

»Wo ist dein Handtuch, Jess?«

Ich sehe auf und blicke in Marvins grüne Augen, die mich vorwurfsvoll mustern. Ein grellblaues Handtuch kringelt sich um seinen Hals, wie eine Art Schal.

»Was für ein Handtuch?«, platzt es aus mir heraus. »Sollten wir das für Medien mitbringen?« Es wäre nicht das erste Mal, dass ich was zu Hause liegen lasse.

Marvin schüttelt den Kopf und greift fest nach den Handtuchzipfeln. Erleichtert atme ich auf.

»Tom hat es uns doch lang und breit erklärt«, meint er.

Doch auch dieser Hinweis bringt mich nicht auf die zündende Idee. Ich ernte ein Augenrollen, bevor ich den nächsten Tipp erhalte. »Heute ist der elfte Februar. Der zweiundvierzigste Tag des Jahres.«

Zweiundvierzig … zweiundvierzig. Die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest …

»Heute ist Handtuch-Tag?«, frage ich erschrocken nach. »Mist! Daran habe ich nicht gedacht, ich bin über’m Handy eingeschlafen, weil ich mit Lisa noch über den Film gequatscht habe … Sag mal, wo warst du gestern eigentlich?« Mit ein bisschen Glück springt er auf den Themenwechsel an.

»Augenarzt, diese blöde Halbjahreskontrolle«, brummt Marvin und blickt über den Flur, wie um mir auszuweichen. »Hast du das auch vergessen? Meine Ma hat mich dreimal dran erinnert, dann hat sie den Termin gemacht. Ihr ist es egal, ob wir Karten reserviert haben oder nicht. Bei Kontrollen kennt sie keinen Spaß.«

»Du hättest das Debakel sehen sollen.« Ich lache beim Gedanken an den gestrigen Film.

Marvin stimmt nicht ein, sondern umfasst immer noch das Handtuch. »Weißt du, wie viele Sprüche ich mir heute deswegen anhören musste?«

»Du hast es den ganzen Tag getragen?«

»Ja. Das wollten wir alle.«

»Tut mir leid …«

»Noch ist der Tag nicht vorbei.« Marvin greift in seinen Rucksack, holt ein dunkelblaues Handtuch hervor und reicht es mir. Es fühlt sich flauschig an. »Man weiß ja nie, wen man unterwegs retten muss.«

»Danke.« Ohne ihn wäre ich verloren. Am Handtuch-Tag und im Universum sowieso.

Ich kenne Marvin schon seit einer Ewigkeit, er ist einer meiner engsten Freunde. Im Gegensatz zu Lisa, Tom und mir ist er kein riesiger Filmfan, eigentlich hat Marvin immer eine Spielkonsole zur Hand. Und seit die Dinger an unserer Schule verboten sind, hat er zumindest eine Zeitschrift dabei, die über Games berichtet. Er ist genauso Feuer und Flamme für das neuste Role-Playing-Game wie auch für ruckelige Jump&Run-Spiele aus den Neunzigern. Wenn er davon schwärmt, leuchten seine Augen auf, und ich will sofort mit ihm zocken. Bei jedem Besuch freue ich mich, ihn zu einer Runde Mario Kart auf einem alten Nintendo-64-Klotz herauszufordern. Ein Nachmittag voller herumfliegender Schildkrötenpanzer, Bananenschalen und Schokokekse – das sind wir.

Was unsere Besessenheiten betrifft, sind Tom, Lisa, Marvin und ich uns ganz ähnlich, lediglich die Themen unterscheiden sich.

»Wo ist dein Handtuch, Jess?«, schallt es erneut durch den Flur, und ich zucke zusammen. Doch vor mir baut sich nur Lisa auf. Sie trägt ein mit Goldfäden verziertes Handtuch um den Hals, das sie aus einem Nobelhotel geklaut haben könnte.

»Hallo Lisa!«, begrüße ich sie und will schon meine Filmliste hervorholen. Es tut gut, sie endlich zu sehen.

»Es heißt Nessa Faelivrin!«

»Sogar in der Schule?« Ich warte keine Antwort ab, sondern umarme meine Zwergenprinzessin.

Marvin runzelt fragend die Stirn. »Faeli-was? Ist das elbisch?«

»Laut einer Website schon«, werfe ich ein.

»Die Quelle ist eindeutig zuverlässig, aber zunächst zu den aktuellen Problemen.« Lisa zeigt auf mein dunkelblaues Handtuch, das ich weiter in den Händen halte. »Also, Jess, wieso trägst du kein Handtuch? Das gehört Marvin, das hat er gestern noch extra besorgt.«

»Sie hat es vergessen«, erklärt Marvin.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, denn leugnen bringt nichts.

»Tom hat uns doch die ganze Woche in den Ohren gelegen, dass wir zu Ehren Douglas Adams’ heute ein Handtuch tragen. Er wird die komplette Rede, die Rede, aufsagen, Jess, wenn er das spitzkriegt.«

Die Rede ist ein zwei Stunden langer Powerpoint-Vortrag, warum Douglas Adams und sein Werk Per Anhalter durch die Galaxis Tom so wichtig sind. Fast die Hälfte der Zeit betont Tom, wie vielseitig und genial Handtücher sein können.

Toms Geburtstag zu vergessen, ist weniger schlimm, als heute kein Handtuch zu tragen. Schuldgefühle überfluten mich wie eine eiskalte Welle.

Der Gong schallt durch den Flur und die Tür des Medienzentrums öffnet sich von innen. Unser Lehrer verbringt dort die meisten Pausen, um den Beamer und die Computer hochzufahren. Offiziell ist er natürlich im Lehrerzimmer, sollte aber trotzdem jemand an die Tür klopfen, stellt Herr Bornbach sich taub. Lisa und ich scherzen regelmäßig, dass er wahrscheinlich nur ungestört eine Folge seiner Lieblingsserie über das Schulnetzwerk schaut.

Es ist unsere letzte Doppelstunde vor dem Wochenende und mit genauso viel Elan schlurft Lisa hinein. Kaum aus dem Gang, legt sie jedoch das Handtuch ab.

Kopfschüttelnd setze ich mich neben sie an unseren Computerplatz und schicke ihr einen fragenden Blick.

»Glaubst du, ich trage es während des Unterrichts?« Lisa faltet ihr Tuch ordentlich zusammen, streicht zärtlich über die goldfarbenen Verzierungen und packt es in ihre Tasche. »Nee, die Sprüche deswegen kann ich mir sparen. Tom sieht mich nur in den Pausen, da erfülle ich meine Pflicht.«

Marvin, zwei Tische weiter, sackt in sich zusammen. Wie schlimm der Tag mit einem Handtuch um den Hals wohl war? Er macht immer mit, egal, was für eine Idee unsere Gruppe ausheckt. Zum Kinostart meines Lieblingssuperheldenstreifens habe ich alle überredet, die Schule in Umhängen und Augenmasken zu verlassen. Wir haben viele dumme Sprüche geerntet, letztendlich war es trotzdem ein riesiger Spaß.

Also lege ich das mitgebrachte Handtuch um und lächle Marvin zu. Sofort richtet er sich wieder auf und strahlt mit der Wintersonne um die Wette.

Deniz und Finn kommen herein, klatschen Marvin ab und witzeln über sein Handtuch. Die drei arbeiten oft gemeinsam in Medien, obwohl Marvin stets zur Stelle ist, wenn Lisa und ich die Aufgaben auf die umständlichste Weise lösen wollen und mal wieder nicht weiterkommen.

Kurz vor Stundenbeginn erscheinen Antonia und Michelle. Antonia ist so was wie die ungekrönte Stufenqueen. Sie besitzt die unschlagbare Kombination aus langen Beinen, vollem, glänzenden Haar und tiefem Ausschnitt. Ich dagegen bin durchschnittlich groß, habe einen Undercut mit lila Strähne und in meinem Kleiderschrank hängen fast nur Shirts mit Rundhalsausschnitt. Die meisten Jungs stehen auf Antonia, die Mädchen wollen sein wie sie. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, ist Antonia dazu noch wirklich intelligent, was sie leider zu oft ausnutzt, um ihre Mitschüler anzufeinden und niederzumachen.

Michelle ist dagegen so hohl wie eine leere PET-Flasche. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, Antonia hinterherzudackeln und alles zu bestätigen, was sie sagt. Welchen Kurs Antonia auch besucht, Michelle folgt ihr und schwingt dabei die Hüften wie auf dem Laufsteg. Ich finde das ja total lächerlich, auch wenn viele es sexy nennen. Einmal habe ich es versucht und mich so sehr darauf konzentriert, dass ich über meine eigenen Converse gestolpert bin. Lisa lieferte mir dafür auch prompt die Erklärung: »Michelle denkt nie, also muss sie sich nicht konzentrieren.«

Jedenfalls betrachtet Antonia unsere Handtücher und grinst daraufhin hämisch. »Zu blöd, um einen Schal zu kaufen? Ist es für euch Freaks echt so schwer, ein Stück Kaschmir um den Hals zu wickeln?«

Ich knirsche mit den Zähnen, während Marvin im Gesicht rosa anläuft. Im Gegensatz zu mir hat er nicht immer einen Spruch auf den Lippen, dafür regt er sich aber auch nicht so über Antonias Lästereien auf.

»Zu pleite, einen richtigen Schal zu tragen?«, wirft Michelle ein und räkelt sich wie ein Fotomodell auf ihrem Stuhl. »Kannst dir ja auch nur ein Paar Schuhe leisten, Jessica.«

Unser Lehrer verhindert, dass ich antworte, wer hier zu blöd ist und wen ich mit meinem einzigen Paar Converse am liebsten treten würde. Mit »Einen schönen Nachmittag« beginnt er laut und deutlich die Stunde. Wie immer steht er vor seinem Computerpult, das Deckblatt einer Präsentation wird bereits vom Beamer an die Wand geworfen. »Solltet ihr heute auf die Idee kommen, alle Fragen mit 42 zu beantworten, kann ich das leider nicht gelten lassen, da das unseren Unterricht nicht voranbringt. Ich hoffe, ihr zeigt mehr Einsicht als Tom Wenzel heute Vormittag.«

Marvin, Lisa und ich grinsen. Der Rest des Kurses hat bestimmt keine Ahnung, wovon er spricht.

»Hätte nicht gedacht, dass Herr Bornbach das kennt«, flüstert Lisa.

»Ich auch nicht.«

Ich wünsche mir mal wieder, mehr Fächer mit Lisa zu haben.

»Also, nach dem kurzen Ausflug im Januar in die Programmiersprache ist das Thema für das kommende Halbjahr: Blogs. Gerade in der heutigen Zeit entwickeln sich Blogs zu dem Medium innerhalb des Internets. Ursprünglich angelehnt an eine Art digitales Tagebuch, gibt es mittlerweile Blogs zu den unterschiedlichsten Gebieten. Sie alle haben jedoch eins gemeinsam: sie berichten. Über den Alltag des Bloggers, seine Vorlieben, seine Gedanken. Blogs sind eine der schnellsten Formen, um heutzutage Informationen zu publizieren. Schneller als eine Tageszeitung.«

Ich gebe mir Mühe zuzuhören, linse dabei allerdings zu Marvin rüber, der aufmerksam lauscht. Ich habe dieses Fach gewählt, weil Lisa mich dazu überredet hat, Marvin dagegen sitzt hier aus Überzeugung.

»Eure Aufgabe wird es sein, in Gruppenarbeit einen Blog zu erstellen, ihn mit Inhalten zu füllen und zu verbreiten.«

Unauffällig schiebe ich Lisa die Liste mit den Mumien-Filmen zu, und wir kreuzen und kringeln an, was in die engere Auswahl kommt. Herr Bornbach erklärt etwas über die ersten Schritte, die wir bis nächste Woche als Hausaufgabe erledigen sollen, doch ich höre ihm kaum zu. Folie für Folie der Präsentation wechselt, und ich hoffe, unser Lehrer lädt sie nachher auf den Schulserver hoch, damit ich alles nachlesen kann.

»Da wir eine Medienklasse sind, möchte ich nicht, dass ihr einfach nur eure Fotos ins Netz stellt oder schreibt, was ihr in den Winterferien erlebt habt. Ich möchte, dass ihr in euren Gruppen Blogs betreibt, die sich mit dem Thema der Berichterstattung beschäftigen.«

Die Klasse reagiert verhalten auf das kommende Projekt. Herr Bornbach dagegen wippt vor Begeisterung auf seinen Fußballen. Bei solchen Vorträgen umgibt ihn immer eine Aura aus Entschlossenheit und Tatendrang, die an uns Schülern jedoch völlig abprallt. Ob er genauso vor Freude sprühen würde, wenn ihn am Ende eine Note erwarten würde?

»Der Blog, der sich im Laufe des Wettbewerbs die meisten Follower erarbeitet und besonders aktiv ist, erhält einen Preis«, versucht Herr Bornbach uns zu ködern.

Ich lächle schwach über das Angebot. Lisa stupst mich an und grinst, als hätte sie einen hinterlistigen Plan. Sie ist eben durch und durch Zwerg. Für einen Goldschatz – oder jeden anderen Gewinn – würde sie sich durch fremde Länder prügeln und Drachen zu einem schicken Umhang verarbeiten. Bei unserem Lehrer stellt sich der Preis bestimmt als Freikarten für das Technische Museum heraus.

»Daraus ergeben sich auch die Themengebiete«, fährt Herr Bornbach fort. »Radio – wobei es bei euch liegt, ob ihr eine Sendung, einen Podcast oder ein Hörspiel produziert –, Nachrichten und natürlich Film und Fernsehen.«

Finn meldet sich und hakt nach: »Was ist mit Videospielen?«

Marvin, Deniz und er arbeiten nicht nur zusammen, weil sie als Team gut funktionieren. Sie spielen auch in der gleichen Gilde eines Onlinespiels und treffen sich regelmäßig zu LARPs. Was nichts anderes ist als ein Rollenspiel live und in Kostümen.

Herr Bornbach verneint das und nimmt Antonia dran.

»Was genau verstehen Sie unter Berichterstattung?«, will sie wissen.

»Ja, aber warum dürfen Videospiele kein Themengebiet sein?«, unterbricht Finn.

Mit einem Stirnrunzeln, das so viel aussagt wie »Wenn du aufgepasst hättest, wüsstest du das«, wendet Herr Bornbach sich wieder an Antonia.

»Nun, wer sich das Thema Nachrichten aussucht, sollte über aktuelle Ereignisse berichten. Schaut notfalls in euren Unterlagen aus dem ersten Halbjahr nach.«

Ich erinnere mich dunkel, klappe aber sicherheitshalber meinen Ordner auf und schaue die Notizen durch. Neuigkeiten informativ verbreiten und Wissen verständlich zugänglich machen, heißt es relativ am Anfang meiner Aufzeichnungen. Aha. Herr Bornbach möchte also, dass wir eine Dokumentation auf den Blog stellen?

Unser Lehrer beugt sich runter zu seinem Laptop und in dem Moment landet ein zerknüllter Zettel vor meiner Tastatur. Ich sehe in die Richtung, aus der er geflogen kam. Marvin nickt mir zu, deutet vorsichtig auf den Zettel und nickt noch überschwänglicher. Schnell falte ich das Papier auf. Willst du … Weiter komme ich nicht.

»Okay, Leute, dann gebt mir mal eure Gruppen an«, will Herr Bornbach wissen. Ich verstecke die Nachricht in meiner Faust, denn er macht zwar Späßchen wie den Handtuch-Tag mit, Zettel oder Chatfenster, die während seiner Stunden geöffnet sind, stellt er dafür gerne als Scan oder Screenshot zur Strafe für alle sichtbar ins Schulnetzwerk.

Lisas Arm schießt in Sekundenschnelle nach oben.

»Ja, Lisa?«, meint Herr Bornbach.

»Ich bilde mit Jess ein Team und wir nehmen das Thema Film.«

Herr Bornbach trägt unsere Namen in die entsprechende Spalte ein.

»Was ist noch mal die Aufgabe?«, wispere ich ihr zu.

»Du hast nicht zugehört«, seufzt sie. »Bei welcher Filmfigur warst du wieder in Gedanken? Ankh?«

In diesem seltenen Fall bin ich unschuldig, doch das will ich Lisa später erklären. Wenn nicht die komplette Medienklasse, inklusive Herr Bornbach, mithört. »Hast du etwa zugehört?«, frage ich zurück.

»Klar.«

Lisa ist der einzige Mensch, den ich kenne, der Blödsinn machen und gleichzeitig im Unterricht aufpassen kann.

Die anderen Mitschüler melden sich, um ihre Themen zu wählen. Ich nutze die Chance und lese den Rest von Marvins Nachricht: Willst du mit mir eine Gruppe bilden?

Oh. Mist.

Marvin sucht meinen Blick und zuckt traurig mit den Schultern, während Deniz und Finn schon Ideen austauschen. Warum wollte er dann mit mir zusammenarbeiten? Nachrichten interessieren mich nicht. Ich beachte nicht einmal die fett gedruckten Schlagzeilen der Tageszeitung, die beim Frühstück das Gesicht meines Vaters verdeckt.

»Tut mir leid«, flüstere ich tonlos, worauf Marvin nickt und sich abwendet.

Lisa bemerkt unseren Austausch und zieht überrascht die Augenbrauen hoch. »Er sollte endlich mit der Sprache rausrücken. Von allein kapierst du es …« Der Schulgong zur Fünfminutenpause unterbricht meine Freundin und ich bekomme den Rest nicht mehr mit.

Die Tür zum Medienzentrum fliegt auf, sodass der halbe Kurs erschrocken zusammenzuckt. Tom steht schnaufend im Gang und zeigt auf Lisa. »Hast wohl gedacht, du kannst dich vor mir verstecken! Ha! Meine stundenlange Suche war nicht umsonst!«, ruft er und fragt dann keuchend: »Warum trägst du kein Handtuch, Lisa?«

»Nicht Lisa, nenn mich gefälligst Nessa Faelivrin!«

Nach der Schule leihen Lisa und ich uns zuerst einen vernünftigen Mumienfilm in meiner Stamm-Online-Videothek aus, um uns von Ankh und seinem Fluch zu erholen. Danach wollen wir möglichst schnell diese Blog-Geschichte hinter uns bringen. So lautet zumindest der Plan, damit wir es uns mit unserer liebsten Mumie Imhotep gemütlich machen können. Die Arbeit fällt immer leichter, wenn die richtige Belohnung winkt.

Während Lisa also am Schreibtisch die ersten Einstellungen festlegt, sitze ich mit dem Rücken gegen mein lebensgroßes E.T.-Kuscheltier gelehnt und arbeite die Power-Point-Präsentation durch. Ich lese die Folien zwar, doch wirklich weiter helfen sie mir nicht. Das ist wie eine