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Jochen Krautz

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  • Herausgeber: Diederichs
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Bildung ist das Thema der Zeit. Ob PISA-Panik, Elitendebatte, neue Studiengänge oder Beschwörung der Disziplin – Schulen und Universitäten stehen mitten im Reformgewitter. Der Markt diktiert, welches Wissen wirklich relevant ist. Dagegen wehrt sich die junge Generation. Der Erziehungswissenschaftler Jochen Krautz entlarvt die ökonomische Ausrichtung der deutschen Bildungspolitik. Anhand zahlreicher Beispiele - vom Kindergarten bis zur Hochschule – zeigt der Autor, wie die Bildung zur Ware schrumpft. Die Streitschrift analysiert diesen Prozess in seiner ganzen Tragweite, benennt die dafür Verantwortlichen und plädiert für eine Pädagogik, in deren Mittelpunkt wieder der Mensch steht.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung1 - Was ist Bildung?
1.1 Der Mensch im Mittelpunkt: Personale Bildung1.2 Erziehen und bilden: Die pädagogische Aufgabe der Schule
Copyright

Einleitung

In einem großen Raum sitzen 50 Schüler einzeln an Arbeitstischen. Die Tische sind durch Sichtschutz voneinander getrennt. In der Mitte des Raums sitzen mehrere Coaches (früher: Lehrer). Sie haben »Ampeln« an ihrem Platz. Rot heißt: Ich will auf keinen Fall gestört werden. Gelb: Du kannst kommen, wenn es unbedingt sein muss. Grün: Ich habe gerade Zeit. Mit den Coaches vereinbart jeder Schüler seinen individuellen Lernoutput. Dazu bearbeiten sie Lernjobs, bestimmen den dazu notwendigen Input, ermitteln die Ressourcen und Prozessvariablen. Dann gehen sie an ihren Arbeitsplatz und produzieren ihren »Output«. In eine Tafel an ihrem Arbeitsplatz tragen sie ihren Lernfortschritt in ein Kompetenzraster ein.

Wir beginnen mit einer hochmodernen Erfindung, einer Schule, in der Schüler als »Unternehmer ihrer selbst« gelten. Hier ist bereits Gegenwart, was andere noch als »Zukunftsvision« beschwören: Die Schule der Zukunft soll »eine Dienstleistungsorganisation im Bereich Bildung und keine soziale Einrichtung« sein, so das Wunschbild etwa des Hessischen Unternehmerverbandes. 1

Dass Bildung und Erziehung dazu beitragen sollen, die Humanität des Menschen zu entfalten, ist eine alte Überzeugung des Abendlandes. Das ist der soziale Erziehungsauftrag der Schule und der Bildungsauftrag der Hochschulen. Wenn Bildungseinrichtungen Dienstleister sind, ist das, was sie verkaufen, eine Ware und ihre Schüler und Studenten sind die Produkte. Dann läuft es ab wie in einem Produktionsbetrieb: Input geben, Maschine läuft, Output präsentieren. Die Großraumklasse ist nichts anderes: Sie reduziert die Kinder auf Lernmaschinen, die unverbunden und vereinzelt vor sich hinwerkeln.

Das Beispiel führt mitten hinein in die gegenwärtige Diskussion um das Bildungswesen, mitten hinein ins Gewitter der Reformen. Zwischen PISA-Panik, Elitedebatten, Hochschulreformen und Beschwörung der Disziplin gehen die Grundfragen verloren: Welche Aufgabe haben eigentlich Schule und Hochschule? Worum geht es bei Bildung und Erziehung? Seit der legendären PISA-Studie scheinen diese Fragen letztgültig geklärt: um einen besseren Rangplatz. Und dazu brauchen »wir« im Bildungssystem mehr Wettbewerb und Effizienz, Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, moderne Management-Methoden, Leistungsmessungen und Evaluationen, Bildungsstandards und zentrale Prüfungen, Sprachtest im Vorschulalter, Entrümpelung der Lehrpläne, Verkürzung der Schulzeit, Wirtschaftskenntnisse, neue Lernformen und vor allem Laptops für alle Schüler. Denn jeder soll lebenslang am Computer weiterlernen können. Lehrer sollen nur noch Lernprozesse moderieren statt zu unterrichten. Und man braucht wieder Disziplin. An den Universitäten soll schneller und praxisorientiert studiert werden, Studiengebühren und internationale Abschlüsse müssen her.

Fazit: »Unser starres Bildungssystem ist überholt«, weiß zum Beispiel der Vorsitzende der Bertelsmann-Stiftung.2 Folgerung: Wir brauchen Reformen, Reformen, Reformen. Und zwar jetzt. Denn sonst können »wir« nicht im globalen Wettbewerb bestehen.

So oder ähnlich klingen die gängigen Formeln. Sie prägen bereits heute den Alltag von Schülern und Studenten, von Eltern, Lehrern und Hochschuldozenten. Schon jetzt ist spürbar, dass Schule und Hochschule nicht mehr Bildung und Erziehung um des Menschen willen leisten, sondern als Standortfaktor im globalen Wirtschaftskampf gelten: Der Markt diktiert, welches Wissen relevant sein soll. Aus Bildung wird Ausbildung, Wissen wird zur Ware, Schüler und Studenten zu »Humankapital«.

Dies ist kein Buch über PISA. Davon kann man – zu Recht – kaum mehr hören. Dies ist ein Buch über viel mehr: Über die Bedeutung einer Bildung und Erziehung, die human heißt und zu sozialer Verantwortung beiträgt. Und darüber, wie Bildung und Erziehung heute auf Verwertbarkeit reduziert werden, wie das Bildungswesen so umgebaut wird, dass junge Menschen für ein reibungsloses Funktionieren in der globalen Ökonomie angepasst werden. Eine globalisierte Wirtschaft, die immer mehr Ungerechtigkeit produziert, die über dem Profit den Menschen vergisst, ja ihn zum Mittel degradiert.

Will man in dieser Situation über Bildung reden, ist es wichtig, zuerst aufzuräumen. Noch einmal geistig reinen Tisch zu machen. Alles, was in den öffentlichen Debatten so an Meinungen und Vorannahmen herumgeistert, beiseite zu schieben und den PISA-Kleister aus dem Kopf zu kratzen, sich zu besinnen. Und dann die Fragen zu stellen, von denen dieses Buch handelt: Was ist denn Bildung eigentlich? Worum geht es in der Erziehung wirklich? Und was geschieht derzeit in Deutschlands Bildungswesen? Sind die genannten Schlagworte Antworten auf diese Fragen? Was bedeuten sie tatsächlich? Was geschieht, wenn man Bildung und Erziehung unter den Maßstab der Effizienz und der Rankings stellt? Und wie hängt damit all das zusammen, was die am Bildungswesen Beteiligten täglich erleben?

Diesen Fragen folgt der Aufbau: Wir fragen in einer Grundlegung zunächst, was Bildung eigentlich ist, was die Aufgaben von Schule und Hochschule sind. Auf dieser Grundlage baut das Weitere auf. Das zweite Kapitel resümiert dann den heutigen Zustand der Schulen und Universitäten: Wie konnte es überhaupt zu der allseits beklagten »Bildungskatastrophe« kommen und welche Rolle spielt eigentlich PISA dabei? Der dritte Teil geht hinein in die Schlagworte und Annahmen der heutigen Diskussion und beleuchtet die ökonomisch geprägten Vorstellungen, nach denen Schulen und Hochschulen funktionieren sollen. Die Auswirkungen solch einer Bildung unter der Führung der Betriebswirtschaft werden im vierten Kapitel beleuchtet. Zahlreiche Beispiele machen klar, dass die Ökonomisierung der Bildung längst begonnen hat, dass Eltern, Lehrer und Professoren die Auswirkungen täglich spüren. Das fünfte Kapitel stellt dann die Frage, wer denn eigentlich solche »Reformen« vorantreibt. Wer steckt hinter der Kommerzialisierung der Bildung? Wer verdient daran und welche politischen Absichten gibt es? Ein Ausblick sucht schließlich Antworten auf die entscheidende Frage: Was tun?

Die Ausführungen begnügen sich nicht mit pauschalen Antworten. Sie bemühen sich um Genauigkeit und Differenzierung, zeigen Grundlagen, Entwicklungen und Zusammenhänge auf, um ein möglichst klares Bild zu zeichnen. Wer aber aus gezieltem Interesse zunächst Antworten auf bestimmte Fragen sucht, kann auch »modular« lesen: Die einzelnen Abschnitte sind in sich abgeschlossen und verständlich. Gleichwohl entsteht das Gesamtbild am besten aus den nacheinander entfalteten Gedankengängen.

Die hier behandelten Fragen sind brennend. Das deutsche Bildungssystem steht tatsächlich am Scheideweg. Die bildungspolitischen Weichenstellungen der Gegenwart und das Handeln aller am Bildungswesen Beteiligten werden entscheiden, ob wir weiterhin Menschen bilden oder funktionierende Ich-AGs herstellen. Die Frage, die tatsächlich alle angeht, ist: Wollen wir eine wahre oder eine Ware Bildung?

Dieses Buch steht auf den Schultern von vielen, die nicht explizit genannt werden können. Neben all den Vorarbeiten in der Wissenschaft, auf die es sich stützt, wäre es niemals zustande gekommen ohne die ungezählten Gespräche mit Familie und Freunden, Kollegen in Schule und Hochschule, Studenten und Schülern, Eltern und Bürgern aller Berufe und politischer Anschauungen. Zahlreichen Freunden, Kollegen, Studenten und meinen Geschwistern danke ich für ihre tragende und ermutigende Hilfe und Unterstützung. Meiner Frau Bianka, die viel entbehren musste, verdanke ich die Kraft und den Mut für dieses Unternehmen. Ihr, der besten Lehrerin, die ich kenne, sei das Buch gewidmet.

1

Was ist Bildung?

1.1 Der Mensch im Mittelpunkt: Personale Bildung

Was Bildung eigentlich ausmacht, zeigt das Relief über dem Eingang einer Volksschule in einer kleinen Stadt in Nordböhmen. Wenn die harmonisch wirkende Darstellung des Jugendstils auch aus einer anderen Zeit stammt, uns beinahe schon fern zu sein schient, bleibt die menschliche Essenz doch gültig.

Rechts kniet die Mutter vor ihrem Sohn und macht ihn liebevoll zurecht, damit er in die Schule gehen kann. Ihre Sorge gilt nicht seinem Aussehen, sondern in der Gestik und Mimik liegt neben der Liebe zu ihrem Kind auch ein gewisser Ernst. Das Zurechtrücken der Kleidung heißt auch: »Du gehst da hinaus ins Leben, an deine Aufgabe als Schüler. Da hast du so auszusehen, wie es ein geordnetes Miteinander verlangt. Du musst diese Aufgabe, das Lernen, ernst nehmen. Du musst bereit sein für das, was das Leben von dir verlangt und deinen Beitrag dazu leisten.« Mütterliche Sorge ist hier also nicht ängstliches Beschützen und Nicht-Zutrauen. Es ist eine handfeste, zutrauende und ermutigende Fürsorge. Die Mutter gibt dem Sohn eine »Ausrüstung« für seine Aufgabe mit. Die besteht nicht im neusten, ergonomisch optimierten und sicherheitsgetesteten Scout-Schulranzen. Der hilft ihm nicht bei den Aufgaben, die sich im Leben stellen. Nein, sie gibt im etwas viel Wesentlicheres mit: Liebe, festen Rückhalt und Zutrauen. Sie fördert ihn durch ihre Zuneigung und fordert ihn, indem sie ihn an seine Aufgabe schickt. Und Schule ist eine Aufgabe: Keine Spaßveranstaltung, sondern der Beginn der öffentlichen Verantwortung des Kindes. Hier beginnt das Kind, in die gemeinsame Kultur und Tradition hineinzuwachsen. Mit seinem Lernen kommt es nicht nur persönlich voran. Zur Schule zu gehen ist ein verantwortungsvoller Beitrag zum Werden und Wachsen des gemeinschaftlichen Lebens. Der junge Mensch muss hineinwachsen in Gesellschaft und Kultur, muss fähig sein, am Arbeitsleben und an der Selbstbestimmung als Bürger aktiv teilzunehmen. Und er soll dabei nicht nur als Rädchen funktionieren, sondern selbstbewusst und kritisch an einem menschlicheren Zusammenleben mitwirken. Diese große Perspektive kann der Mutter Sicherheit und Halt geben, den Knaben auch zu schicken, wenn er gerade mal »keine Lust« hat.

Abb. 1Relief an einer Volksschule in Roudnice nad Labem, Tschechien (Foto: Jochen Krautz)

Die Szenerie wird eingerahmt von angedeuteten Naturformen, Baumästen und einem Bienenstock im Hintergrund. Dies verweist zum einen auf die ländliche Gegend, in der sich die Schule befindet. Gemeint ist aber noch mehr: Bildung und Erziehung sind eingebettet in einen großen Zusammenhang von Mensch und Natur. Der Mensch ist Teil der Welt. Wachsen und Werden der Pflanzen verweisen auf den Kreislauf des Lebens, auf das Heranwachsen der Jugend. Bildung und Erziehung finden nicht im Nirgendwo statt, sondern sind Teil des Lebens und bereiten auf dieses vor. Das Sammeln und Horten der Bienen deutet auf die Beschaffung der Nahrung und die Notwendigkeiten des Lebens. Gleichzeitig sind die Bienen ein Symbol der Kultur, versinnbildlichen eine aktive Gemeinschaft, die in und durch Zusammenarbeit lebt. Zugleich sind die Bienenstöcke wiederum vom Menschen angelegt und gepflegt, sind Teil seiner Kultur.

In diesem, von Natur und Mensch aufgespannten Bogen gehen die Kinder zur Schule. Sie werden empfangen von der Lehrerin. Diese sitzt in Augenhöhe mit ihren Schülern. Die Lehrerin ist gekennzeichnet durch das Symbol der Eule, die seit dem alten Griechenland symbolisch für die Klugheit steht. Die Lehrerin ist also klug, sie verfügt über Wissen und kann die Welt erklären. Die Bücher enthalten dieses Wissen der Welt, die Kenntnisse über die Welt. Der Globus steht dabei nicht nur für das Fach Erdkunde, sondern zeigt, dass die ganze Welt mit ihren Phänomenen und ihren Problemen Thema der Schule ist. Die Welt kann nicht außen vor bleiben, sondern ist der eigentliche Vermittlungsgegenstand der Schule: Man lernt die Welt kennen, reduziert auf ein altersgemäß verstehbares Maß und aufgeteilt in bewältigbare Probleme. So kommen die Schulfächer zustande: Sie behandeln die für den Menschen wesentlichen Themen der Welt: Die Welt der Zahl (Mathematik), die der Sprache (Deutsch, Fremdsprachen), der Natur (Naturwissenschaften wie Biologie, Physik, Chemie), das Zusammenleben der Menschen heute und früher (Politik, Geschichte, Wirtschaft), die Kultur der Menschen (Kunst, Musik) und blendet auch den Körper nicht aus (Sport).

Wie funktioniert nun diese Vermittlung? Das Bild macht hier den eigentlichen Kern von Pädagogik, von Bildung und Erziehung deutlich. Die Lehrerin legt ihren Arm auf die Schulter des Schülers. Sie schaut ihm in die Augen. Sie nimmt also eine direkte Beziehung zu ihm auf. Blick und Geste der Hand verdeutlichen, dass Erziehung wesentlich Führung bedeutet: Erziehung bedeutet liebevolle, aber klare Anleitung. Sie leitet den Schüler zur Sache, die hier durch das Buch symbolisiert ist. Im Bild greift der Arm des Schülers zu dem Buch, das die Lehrerin hält, und er nimmt so Verbindung zur Sache auf. Diese Sache ist wiederum unmittelbar mit der Lehrerin verbunden. Die Themen und Gegenstände in der Schule sind also an die Vermittlung durch die Person der Lehrerin oder des Lehrers gebunden. Lernen geschieht in diesem Bezug von Lehrer, Schüler und Sache.

Dieses im Bild erkennbare Dreieck zwischen Lehrer, Schüler und Sache beziehungsweise Welt ist das Kerngeschäft aller Erziehung und Bildung. Die Lehrerin vermittelt über ihre Person die Dinge der Welt, der Schüler findet Zugang zu den Sachen und Themen über die Person der Lehrerin, er baut seinen persönlichen Bezug zur Welt über die zwischenmenschliche Beziehung auf. Das wusste schon der große Humanist Erasmus von Rotterdam (1469 – 1536): »Der erste Schritt beim Lernen ist die Liebe zum Lehrer«. Hier sehen wir, was das bedeutet: Nicht Verliebtsein in den Lehrer (was ja auch vorkommen soll …), sondern die menschliche Verbindung ist die Brücke zur Sache. Das kann dazu führen, wie Erasmus weiter erklärt, dass einem Unterrichtsfächer, deren Nutzen und Wert man eigentlich noch gar nicht beurteilen kann, gefallen »durch die Zuneigung zum Lehrer«. Das ist beinahe jedem Menschen, der eine Schule besucht hat, bekannt. Ob man ein Fach oder ein Unterrichtsthema besonders mochte, hing oft mit dem Lehrer oder der Lehrerin zusammen: Ob sie/er es interessant und spannend vermittelte, ob sie/er über Schwierigkeiten hinweghalf, ob sie/er ermutigte oder lobte, unterstütze oder auch einen kräftigen »Tritt« gab und ermahnte oder sogar die Eltern anrief, die einen dann wieder auf die richtige Bahn setzten, wenn es notwendig war. All das macht aus, ob und wie ein Schüler Zugang zur Sache findet. Vorlieben und Abneigungen, Stärken und Schwächen hängen oft mit diesen zwischenmenschlichen Vermittlungsprozessen zusammen. Oftmals sind es die Fächer eines Lehrers, den man besonders mochte, die noch den Berufswunsch prägen.

Leider wird heute in der pädagogischen Theorie wie auch in der Praxis oft unterschätzt, wie entscheidend für das Unterrichten einer Sache die Person des Lehrers ist. Eine literarische Schilderung wie etwa Tschingis Aitmatows ergreifende Erzählung »Der erste Lehrer« vermag wieder vor Augen zu führen, welches Glück im Lernen von einem leibhaftigen Lehrer liegen kann.

Weil also Lehren und Lernen, Erziehen und Bilden letztlich nur im persönlichen Bezug von Lehrer und Schüler, von Professor und Student funktioniert, sprechen wir im Weiteren von personaler Bildung und Erziehung. Das Dreieck der pädagogischen Beziehung kann als Hintergrund dienen, um die heutigen Entwicklungen zu beurteilen. Zum Beispiel erscheinen dann die immer wieder auftretenden Versuche, den Lehrer – wie früher durch Radio oder Fernsehen oder wie heute durch Computer, Internet und Lernsoftware – zu ersetzen, als notwendig zum Scheitern verurteilt: Sie werden dem Bedürfnis des Menschen nicht gerecht.

Bildung und Erziehung beziehen sich zwar beide auf das Heranwachsen des jungen Menschen, betrachten dieses aber aus leicht unterschiedlicher Perspektive und sind deshalb nicht dasselbe.

Bildung meint eigentlich Selbstbildung. Man wird nicht gebildet, sondern man bildet sich. Niemand kann gezwungen werden, sich zu bilden. Der Mensch kann nur aus eigenem Entschluss zur Bildung kommen. Hier erscheint der Mensch gewissermaßen als Autor seiner selbst. Die Pädagogik betont diese »Selbstherstellung«, um deutlich zu machen, dass der Mensch nicht von anderen gemacht wird. Er ist Herr seiner selbst. Das ist seit der Aufklärung gemeinsame Überzeugung in Europa: Der Mensch ist frei und darf von niemandem zu irgendwas gemacht oder gebraucht werden. Er wird nicht gebildet und erzogen für den Staat, für die Wirtschaft oder die Kirche – sondern nur um seiner selbst willen.

Nun haben wir andererseits im Bild gesehen, dass der Bildungsprozess tatsächlich aber nicht im luftleeren Raum völliger Unabhängigkeit geschieht, sondern in Beziehung zum Mitmenschen. Tatsächlich macht der Schüler nicht, was er gerade will, sondern er wird geführt, »gezogen«, also erzogen. Während »Bildung« eher die Selbstbildung, die selbständige innere Entwicklung betont, verweist »Erziehung« auf die notwendige Führung in einer Beziehung. Beides gehört untrennbar zusammen, auch wenn das zunächst reichlich widersprüchlich klingt.

Aus der Erforschung des frühsten Erziehungsverhältnisses, nämlich der Beziehung von Mutter und Säugling, kennt man dieses merkwürdige Doppelverhältnis: Nur eine Mutter, die eine enge Bindung zum Kind aufbaut, ermöglicht ihm später, selbständig zu werden. Die so genannte Bindungsforschung hat gezeigt, dass nur Kinder mit einer verlässlichen Beziehung, einer sicheren Bindung zur Mutter, sich dann auch trauen, die Umgebung zu erkunden und auf andere Menschen zugehen. Unsicher gebundene Kinder »fremdeln«, weinen, schreien, lösen sich nicht vom Arm der Mutter.

So ist das auch später in Bildung und Erziehung: Nur durch eine persönliche Beziehung, durch ein neues Erziehungsverhältnis, kann Unabhängigkeit entstehen. Die Ruhe, das Zutrauen und die innere Freiheit, sich zu bilden, entstehen nur durch eine sichere Bindung. Ohne diesen inneren Halt, ohne Verbindung zum Mitmenschen, bleibt das Leben hohl, unsicher und eindimensional. Erst in diesem Bezug bildet sich die Persönlichkeit aus.

Unabhängigkeit und Autonomie bedeuten also gerade nicht Ungebundenheit, was nämlich mangelnde Rücksichtnahme und Verantwortung heißen würde. Freiheit ist gebunden an die Verantwortung gegenüber den Mitmenschen. Solche verantwortete Freiheit kann nur entstehen, wenn Kinder zur Selbstbildung in Beziehung zu den Mitmenschen erzogen werden. Der Individualpsychologe Alfred Adler hat es daher als Ziel aller Erziehung angesehen, das »Gemeinschaftsgefühl« des Menschen zu fördern und auszubilden. Der Begriff meint die tief im Gefühl verankerte innere Verbindung zum Mitmenschen, die allein verhindern kann, dass man andere ausnutzt, dass man kriminell und gewalttätig wird oder Krieg führt. Nur eine solche innere Verbindung macht möglich, dass das Leiden anderer einen Menschen nicht kalt lässt. In Adlers Worten: »Man muss mit den Augen des anderen sehen, mit den Ohren des anderen hören und mit dem Herzen des anderen fühlen, man muss sich mit ihm identifizieren.«3 Daher sei, so Adler, die zentrale Frage der Schulbildung: »Wie entwickeln wir Menschen, die im Leben selbständig weiterarbeiten, die alle Erfordernisse notwendiger Art nicht als fremde Angelegenheiten, sondern auch als ihre eigene Sache betrachten, um daran mitzuwirken?«4 Das heißt heute zum Beispiel: Wie erziehen, wie bilden wir Schüler und Studierende, die nicht allein auf den eigenen Erfolg, auf Karriere und Gewinn achten, die den anderen als Mitmenschen betrachten und nicht primär als Konkurrenten, denen jene nicht egal sind, denen es schlechter geht, und denen es nicht gleichgültig ist, dass der größere Teil der Menschheit unter Ausbeutung und Krieg leidet?

Im Mittelpunkt von Bildung und Erziehung steht nicht die Frage, wie man möglichst gut verdienende Arbeitnehmer herstellt. Oder welches Wissen morgen zur Förderung des Wirtschaftswachstums gebraucht wird. Im Mittelpunkt steht der Mensch und seine freie Entwicklung zu mehr Menschlichkeit.

Damit schließt eine personal verstandene Erziehung und Bildung auch ein bloßes »Wachsenlassen« des Kindes oder des Schülers aus. Man kann Schüler nicht alles selbst machen, entwickeln, lernen, steuern lassen. Das klingt zwar modisch und soll vielleicht »Selbständigkeit« erzeugen, lässt die Schüler jedoch tatsächlich im Stich. Selbständigkeit fällt nicht vom Himmel, sondern braucht geduldige und genaue Anleitung in der pädagogischen Beziehung. Wird dies unterlassen, haben die Schüler keine Orientierung, dann entsteht statt Selbständigkeit Egoismus oder das Recht des Stärkeren. Selbständigkeit ist also das Resultat eines Entwicklungsprozesses. Der ist auch nicht, wie manche Eltern und Lehrer meinen, bereits in der Pubertät zu Ende. Jugendliche Abgrenzungsversuche heißen eben nicht: »Lass mich in Ruhe!«, sondern: »Versteh’ mich und fordere mich! Aber rechne auch damit, dass ich erst mal dagegen protestiere.« Da braucht der Erzieher den längeren Atem, Geduld und Zuversicht.

Selbstverständlich zielt der Bildungsprozess im Ergebnis auf unabhängige Persönlichkeiten, die gelernt haben, selbständig zu lernen. Der Lehrer muss also sehr wohl langfristig darauf hin arbeiten, sich mehr und mehr überflüssig zu machen. In der Universität etwa erwarten wir gerade diese Fähigkeit bei den Studenten: selbständig arbeiten zu können. Die Fähigkeit ist aber das Ergebnis eines schulischen Bildungs- und Erziehungsprozesses, der eben zu solcher Selbständigkeit hinführen soll. Doch findet auch und gerade in der Hochschule noch Bildung im Austausch zwischen Personen, zwischen Professor und Student statt. Hier erzieht der Professor nicht, sondern man begegnet sich auf einer grundsätzlich gleichberechtigten Ebene und diskutiert wissenschaftliche Fragen. Aber auch diesen Prozess leitet der Lehrende an.

Um zu verstehen, was Bildung ist, hilft es zu klären, was Bildung nicht ist: Bildung ist nicht Wissen. Das widerspricht einem Bestseller wie Dietrich Schwanitz’ »Bildung. Alles, was man wissen muss«. Hier wird gerade behauptet, dass eine Ansammlung von Wissensinhalten etwas mit Bildung zu tun hätten. Schwanitz sieht den Zweck der Bildung darin, an gesellschaftlichen Anlässen wie Cocktail-Partys oder Geburtstagsfeiern klug mitreden zu können und nicht peinlich aufzufallen. Das mag ein angenehmer Nebeneffekt sein, wenn man denn Bildung am Erfolg bei Cocktail-Partys messen möchte. Ein anderer Nebeneffekt könnte sein, dass man bei Günter Jauchs »Wer wird Millionär?« einige 10.000 € gewinnen kann. Hierzu reicht aber eigentlich, das Konversationslexikon auswendig zu lernen und zu trainieren, dieses Wissen zu »vernetzen«, wie es heute so schön heißt. Denn gefragt ist hier Einzelwissen von Fakten aus allen möglichen und unmöglichen Bereichen: Literatur ist ebenso wichtig wie Sport oder Darsteller einer Soap-Opera, biologische Faktenkenntnis genauso entscheidend wie Automarken, Werbespots oder das Liebesleben von Filmstars. Das bedeutet nicht, dass Jauchs Sendung nicht etwa amüsant, unterhaltsam und mitunter spannend ist. Dies liegt im übrigen auch daran, dass Jauch selbst sehr wohl über Bildung verfügt. Man merkt seiner Person an, dass er nicht bloß totes Wissen angehäuft hat, sondern mit alldem etwas anzufangen weiß (und sei es, sich als Oberlehrer gegenüber den Kandidaten aufzuführen).

Man kann also viel wissen, ohne gebildet zu sein. Andererseits kann man aber nicht gebildet sein ohne Wissen. Wissen ist angeeignete Information: Ich weiß von einer Tatsache, die ich irgendwo gelesen oder gehört habe. Bildung dagegen ist personalisiertes Wissen. Also Wissen, dass für mich irgendwie wichtig geworden ist, das mir etwas gesagt hat, mich beeinflusst, mich gar geprägt hat, mit dem ich mich beschäftigt habe, an dem ich mich abgearbeitet habe. Wissen kann man anhäufen, ohne dass irgendetwas von dem stattgefunden hätte, was wir oben als Bildung beschrieben haben. Bildung entsteht daraus, dass der Umgang mit Wissensbeständen persönlichkeitswirksam geworden ist, die Person geprägt hat. Aus Wissen entsteht nicht Verantwortung, Ich-Stärke, Mitgefühl und kritisches Bewusstsein. Das kann erst entstehen, wenn das Wissen zu etwas Eigenem umgearbeitet worden ist: Bildend wirkt Wissen, für das man sich begeistert, das einem etwas bedeutet, über das man nachdenkt, das man kritisch befragt, über das man streitet, das man immer wieder im Geiste hin und her wendet.

Ein Beispiel aus der Kunst: Wissen bedeutet etwa, das Entstehungsdatum des berühmten Isenheimer Altars von Matthias Grünewald zu kennen. Man kann wissen, wo sich das Werk befindet, warum es sich dort befindet, wie es entstanden ist. Man kann die Maltechnik kennen, den Bildaufbau erklären, es dem Stil einer Epoche begründet zuordnen . Man kann wissen, dass darauf Maria Magdalena zu sehen ist und was dieses seltsam blutende Lamm im Vordergrund soll. Dieses Wissen kann man verschriftlichen oder digitalisieren. Das kann man im Brockhaus finden oder bei Wikipedia abrufen. Damit könnte man bei Günther Jauch eine Million gewinnen oder und bei Herrn Schwanitz’ Cocktail-Party schlau tun. All das muss einen aber nichts angehen, ja nicht einmal interessieren. Wenn heute von der »Wissensgesellschaft« geredet wird, dann ist das gemeint: Fakten, die man kennt, die einem aber vollkommen gleichgültig sein können.

Bildend kann nur die eigene Begegnung mit dem Kunstwerk wirken (ob als Abbildung oder im Original): Bildend kann wirken, sich auf den Ausdruck des Werks einzulassen, den Schmerz nachzufühlen; in intensiver Betrachtung zu spüren, wie ihn der Maler mit Farbe und Form hervorbringt; sich in die pestkranken Menschen, für die das Bild gemalt wurde, hineinzuversetzen, die Hoffnung zu spüren, die für sie davon ausging; was es bedeutete, im Angesicht des Todes den Leib Christi zu sehen, der genauso zerschunden war wie man selbst, der aber von den Toten auferstanden war; etwas vom Leben und Leiden der Menschen durch die Jahrhunderte zu ahnen; zu merken, wie sich unser Blick dagegen verändert hat und welchen Wert dennoch solch ein Bild, das die Zeiten überdauert hat, heute noch für uns haben kann, weil wir immer noch Menschen sind usw. Dann ist das Kunstwerk nicht mehr gleichgültig: Es geht mich etwas an, es spricht mich an. Das muss nicht positiv sein, es kann auch zu Ablehnung oder Kritik führen. Ich kann diese Auferstehungsgeschichte für faulen Zauber und einen Betrug an den Menschen halten. Aber die Frage nach unserem Umgang mit Not und Leiden, die Frage der Hoffnung und die Bedeutung der Kunst hierfür, die ist einmal in meinen Betrachtungsbereich gerückt.

Bildendes Lernen braucht also Selbsttätigkeit als innere Haltung. Nicht äußerliches geschäftiges Basteln an Arbeitsblättern in »Freiarbeit« führt zu selbsttätiger Bildung. Es geht vielmehr um einen inneren Prozess, den man nicht per PISA-Test erfassen kann, sondern er muss von gebildeten und pädagogisch geschulten Lehrer durch didaktische, methodische und pädagogische Hilfen angeregt werden. Solche Bildung ist eben Selbstbildung und kann daher nur angestoßen, nicht aber verordnet werden.

Abb. 2Matthias Grünewald: Kreuzigung, Isenheimer Altar, 1515

Bildendes Lernen ist auch nicht dadurch garantiert, dass man etwa Goethe und Schiller liest. Klassische Literatur und Musik bieten zwar große Bildungsmöglichkeiten. Man kann aber auch den »Faust« lesen und ihn einfach nur »ätzend« finden. Die Schule und auch die Hochschule müssen Bildungsprozesse anregen, provozieren und begleiten. Die Hoffnung, dass es reicht, die »hohen Bildungsgüter« den Schülern vorzusetzen, ist im 20. Jahrhundert tragisch enttäuscht worden. Romane wie Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues« schildern, wie im Kaiserreich hochgebildete Studienräte, die Griechisch und Latein fließend sprachen, ihren Schülern all das klassische Bildungsgut vorgekaut hatten – und ihre Schützlinge dann beim Kriegsausbruch 1914 mit »Hurra!« an die Front schickten, für Volk und Vaterland. Weder Schüler noch Lehrer sahen darin irgendeinen Widerspruch zur erworbenen »Bildung«. Das ist eine bittere Lehre, die sogleich die zweite pädagogische Tragödie im letzten Jahrhundert nach sich zog: Man warf die klassischen Bildungsinhalte aus den Lehrplänen, weil sie ja nichts »nützen«, weil sie nicht zu Kritikfähigkeit und Friedfertigkeit führten. Damit waren diese potentiell bildungswirksamen Gehalte auch noch verschwunden. Übrig blieb Beliebigkeit und Zweckdenken. Tatsächlich wäre es darum gegangen zu überlegen, wie Bildung wirklich entsteht.

Allgemeine Bildung ist also nicht bloß allgemeines Wissen. Es geht nicht um Wissen und Redenkönnen, sondern um verantwortliches Handeln. Das hat kein anderer als Wilhelm von Humboldt hervorgehoben. Gerade mit seinem Namen wird bis heute eine angeblich schöngeistige, lebensferne Bildung im Wolkenkuckucksheim verbunden. Tatsächlich betonte er: »Nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um.« Demnach gehe es nicht »um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln«. Die bitteren Erfahrungen des letzten Jahrhunderts zeigen, wie wesentlich eine Bildung ist, die nicht auf Wissen reduziert wird. Eine Bildung, die Menschlichkeit fördert und Verantwortlichkeit stärkt. So auch Simone Weil, die französische Philosophin und Widerstandskämpferin gegen Hitler-Deutschland mitten im Krieg 1943: »Das Wesen der Erziehung (…) besteht darin, dass sie seelische Antriebe zum Handeln hervorruft. Dem eigentlichen Unterricht liegt es ob, aufzuzeigen, was vorteilhaft, was verpflichtend, was gut ist.«

An dieser Stelle wird heute nun gerne eingewandt: »Das ist ja alles schön und gut. Sicherlich sollen die Schüler in einer guten Atmosphäre lernen und zu vernünftigen Menschen werden. Man soll sie nicht zwingen und ihnen Freiraum lassen. Aber sie sollen ja auch etwas lernen, mit dem sie später etwas anfangen können. Es geht doch nicht nur um Bildung, um Schöngeistigkeit, sondern um Ausbildung. Die Schüler müssen vorbereitet werden für das Leben im Beruf. Sie müssen sich durchsetzen können im Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze.«

Solche Einwände basieren auf einem Missverständnis: Wie gesagt geht es gerade nicht um Schöngeistigkeit. Es geht um Handeln, gerade auch im späteren Beruf. Selbstverständlich dienen Schule und Hochschule auch der Ausbildung. Junge Menschen müssen einen Beruf erlernen, dazu müssen sie Wissen und Fähigkeiten erwerben. Und sie müssen in der Lage sein, im Arbeitsleben zu bestehen. Aber: Das ist nicht die ganze Aufgabe der Schule und der Universität. Schule dient nicht allein, ja, nicht einmal vorrangig der Vorbereitung auf einen Beruf. Schule ist kein vorgelagertes Ausbildungsinstitut der Betriebe, ein Studium ist kein ausgesourctes Job-Training von Konzernen. Es geht um allgemeine Bildung, um Menschenbildung. Und das ist mehr als der künftige Job.

Allgemeine Bildung findet nicht für etwas anders statt, sondern Bildung geschieht nur für den jeweiligen Menschen. Und nur deshalb, weil er ein Mensch ist. Weil er uns als Mensch so wertvoll erscheint, dass er die Möglichkeit haben muss, sich zu entwickeln und seine Fähigkeiten zu entfalten. Das ist noch völlig unabhängig davon, was er später damit machen möchte.

Richtet man diese Entwicklung schon von Beginn an auf den Zweck »Job« aus, so verunmöglicht man diese freie Entwicklung, man schneidet dem jungen Menschen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung ab. Genau hiergegen hatte vor zweihundert Jahren wiederum Wilhelm von Humboldt sein Konzept einer allgemeinen Bildung für jeden entwickelt. Er wusste sehr wohl, dass der junge Mensch in Arbeitsverhältnisse eintreten und einen Beruf lernen muss. Aber er wehrte sich dagegen, dass diese Zwecke den Menschen von Anfang an bestimmen. Gegen die »Abzweckung« (ein schönes altertümliches Wort) bestand er darauf, dass jeder Mensch auf seinem Niveau zuerst eine allgemeine Bildung durchläuft. Dies müsse, so Humboldt, der einzige Zweck jeder Schule sein, gleichgültig, ob Volksschule, Realschule, Gymnasium oder Universität. Danach könnten dann Spezialisierungen und Ausbildungen stattfinden. Aber zuerst die Menschenbildung. Humboldt hatte nämlich genau das beobachtet: Dass Schüler allein für die Interessen der Kirche, für den Staat oder für ein Handwerk ausgebildet wurden. Und er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die großen Hoffnungen der französischen Revolution auf »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« in einem Blutbad des Terrors geendet waren. Daraus folgerte er aber nicht, dass diese falsch gewesen seien. Doch schien ihm ein gesellschaftlicher Fortschritt, ein menschenwürdiges Leben nicht durch eine blutige Revolution möglich, sondern nur, wenn der einzelne Mensch gebildet würde, wenn er sich und sein Schicksal selbst bestimmen könne. Daher dürfe der Mensch keinesfalls politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Zwecken untergeordnet werden, denn, so Humboldt: »Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlaßliche Bedingung.«5 Nur in Freiheit könne jeder Mensch seine Möglichkeiten entfalten und zu einem Fortschreiten der Menschheit beitragen.

Es ist nicht einzusehen, warum diese Einsicht, dass der Mensch nicht zu etwas gemacht werden, sondern sich selbst zu etwas machen soll, heute veraltet wäre. Wer sich, wie 1997 der damalige Bundesbildungsminister und heutige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, nicht entblödet zu verkünden: »Humboldt ist tot!«, erklärt mit dieser Phrase, dass er diese Freiheit der Bildung abschaffen will. Er will, dass Bildung zu einer Anpassung an äußere Bedingungen werden soll, heute also vor allem an die angeblichen Notwendigkeiten einer globalisierten Wirtschaft.

Wenn man also Bildung vor allem als Ausbildung versteht, als Vorbereitung auf das konkurrenzgeprägte Wirtschaftsleben, bleibt noch ein gewichtiger Einwand zu ergänzen. Die Beschreibung stimmt ja leider: Die Ökonomie ist von einem brutalen Verdrängungswettbewerb gekennzeichnet, heutige Schulabgänger werden einem knallharten Wettbewerb ausgesetzt, in dem nicht Bildung, Persönlichkeit und Werte zählen, sondern Flexibilität, Anpassungsbereitschaft, Mitläufertum einerseits und gezielte Qualifikationen in bestimmten, anwendungsorientierten Bereichen andererseits. Wenn wir nun argumentieren, dass Schule und Hochschule der Anpassung an diese Situation dienen müssten, dann bejahen wir diese Zustände vollkommen. Aber wollen wir tatsächlich unsere Kinder ohne Zögern in ein Haifischbecken stoßen, in dem sie entweder fressen oder gefressen werden? Dann müssen wir ihnen beibringen, brutaler und skrupelloser als alle anderen zu sein. Dann müssen wir sie lehren, nicht auf Gewissen und Mitgefühl zu achten, sondern über Folgen und Zusammenhänge ihres Handelns nicht nachzudenken. Dann müssen wir fieberhaft darauf hinarbeiten, dass sie nicht zu den Verlierern des Systems gehören, Hilfsarbeiten machen müssen oder zum Heer der Arbeitslosen gehören. Dann ist nicht nur Humboldt tot, sondern eben jene Menschlichkeit, auf die seine Bildungsidee zielte.

Selbstverständlich können wir uns nicht mit dem Hinweis auf Bildungsideale der Realität der heutigen Arbeitswelt, des Arbeitsmarktes und der Wirtschaftsweise entziehen. Die auf Profitmaximierung gerichtete Ökonomie setzt Arbeitnehmer unter hohen Druck. Der Zwang zur Flexibilität bestimmt die Gegenwart. Unsicherheit prägt das Leben vieler Menschen. Gerade deshalb kann es aber umso wichtiger sein, dass Schule und Hochschule Menschen heranbilden, der einerseits auf diese Anforderungen reagieren, in ihnen leben und überleben können. Die aber zugleich um die weiteren Möglichkeiten des Menschen wissen, die es nicht dabei belassen, für das eigene Fortkommen zu sorgen, denen die Verlierer nicht gleichgültig sind. Die eine ethische Orientierung haben, die wissen, dass trotz allen Drucks diese Art von Leben nicht das eigentliche Leben ausmachen kann. Müssen wir nicht gerade heute Menschen bilden, die versuchen, das Unmenschliche zu verändern, im Kleinen wie im Großen?

Die Bildungsfrage lässt sich nicht unabhängig von dem diskutieren, was in der Welt, was in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft vor sich geht. Es stellt sich die Frage, ob wir die Folgen der gnadenlosen Globalisierung einfach so hinnehmen wollen. Ob wir die eigenen Kinder schlicht in dieses System der brutalen Bereicherung eingliedern wollen. Oder ob es nicht zur Menschenpflicht gehört, für die Zukunft der eigenen und die anderer Kinder daran etwas zu ändern. Tun wir das nicht, dann ist Bildung nicht mehr »als eine resignierende Anpassung an die jeweiligen Zeitumstände«, so der Humboldt-Experte Clemens Menze. Eine Anpassung an den Zeitgeist. Eine Unterwerfung unter das Diktat fremder Interessen. Wenn wir zustimmen, dass schulische Bildung und das Studium für das Leben tauglich machen sollen, dass sie auf das Leben vorbereiten sollen, dann müssen wir auch die Frage beantworten: Was ist das für ein Leben? Was ist sein Zweck? Was ist sein Sinn? Ist der Zweck des Lebens, sein Sinn, möglichst viel Geld für sich und andere zu verdienen? Ist sein Sinn, dabei alles andere zu vergessen? Stellen und beantworten wir die Frage nicht selbst, tun es andere für uns. Dann wird für uns definiert, was wir, was unsere Kinder sein, tun und werden sollen. Wollen wir das?

1.2 Erziehen und bilden: Die pädagogische Aufgabe der Schule

Wer nun meint, das alles sei aber doch »die Welt von gestern«, hat natürlich ein gutes Stück recht: Schüler flanieren heute nicht an Bienenstöcken vorbei, wenn sie zur Schule gehen, und werden auch nicht von Lehrerinnen in wallenden Gewändern und mit geflochtenem Haar empfangen (was man je nach Geschmack auch bedauern kann …). Schüler fahren heute in U-Bahnen durch Trabantenstädte, lungern an Kiosken mit Porno-Magazinen herum, spielen unterwegs auf ihren Handys Gewaltspiele, sind in eine Prügelei verwickelt oder werfen sich zumindest üble Schimpfworte zu, bekommen auf dem Schulhof noch Drogen angeboten und finden sich schließlich in heruntergekommenen Klassenräumen eines Betonbaus der 70er Jahre wieder. So weit, so richtig. Aber, und dieses Aber ist für alles weitere in dieser Darstellung die entscheidende Grundlage: Es ändern sich zwar die Szenerie, die Moden, die Umstände, aber es ändern sich weder die beteiligten Personen noch das beschriebene Beziehungsgeschehen. Bildung und Erziehung funktionieren auch in Brennpunktschulen und mit Schülern in Baggy-Pants, die kaum Deutsch sprechen, noch genauso wie damals: Nämlich in dem Dreieck von Lehrer, Schüler und Sache bzw. Welt. In der Beziehung von Menschen und Sachen. Mögen die Unterrichtsthemen sich auch ändern, mögen die Schüler nervös, abgelenkt, verunsichert sein und mögen sie nicht mehr so deutlich auf die Erwachsenen ausgerichtet sein wie im Bild zu Beginn: Die Natur des Menschen ändert sich nicht. Der Mensch ist grundsätzlich auf den Mitmenschen ausgerichtet, das ist seine Natur, die »conditio humana«, die Bedingung des menschlichen Lebens. Jüngere lernen von den Älteren: Diese Weitergabe von Wissen und Können, von Werten, Einstellungen und Gefühlen außerhalb unseres Erbguts durch das Lernen, durch die Kultur, in die wir hineinwachsen, ist unser Vorteil in der Evolution gewesen. Der Mensch konnte auf alle Veränderungen der Umwelt erfinderisch reagieren, weil er lernen konnte. Und weil er seine Kinder erziehen konnte. Die waren nicht genetisch vorgeprägt wie kleine Schafe, die kurz nach der Geburt auf vier Beinen stehen und beginnen zu fressen – aber dann auch nicht mehr viel hinzulernen. Nein, der kleine Mensch ist hilflos, er muss und kann unendlich viel lernen in der Beziehung zu den älteren Menschen.

Und auch heutige Schüler sind und bleiben ausgerichtet auf den Lehrer, den Erwachsenen, auch wenn sie den hoffnungsfrohen Pädagogen erst mal begrüßen: »Boah, nööö, nicht schon wieder Mathe heute!« Sie versuchen so – mitunter schwer zu erkennen –, eben jenen Beziehungsfaden herzustellen, den wir aus dem Bild kennen. Es ist nun am Lehrer, diesen Ball aufzunehmen, zu verstehen, warum die Schüler das so machen, sie auf die Sache zu lenken und einen vernünftigen Umgang anzuleiten.

Daher ist die Kernaufgabe der Schule eine pädagogische. Das klingt scheinbar banal, ist aber nahezu vergessen. Denn von der Schule verlangt man heute alles Mögliche und Unmögliche: Sie soll »Rechenkompetenz« schulen und PISA-tauglich machen, soll vermitteln, wie man Bewerbungsschreiben verfasst und Verkehrserziehung betreiben, soll in Computer-Handhabung und Internetrecherche einführen, zugleich Kreativität ermöglichen und Disziplin beibringen, soll Börsenkurse verstehen lehren und zur Nachhaltigkeit erziehen, soll auf gesunde Ernährung der Schüler achten und Anti-Mobbing-Trainings durchführen usw. Man könnte die Liste beliebig erweitern, weil die Auswahl beliebig ist: Es gibt kein verbindendes, grundlegendes Prinzip. Jedem fällt noch etwas Neues, noch etwas Anderes ein, was Schule soll. »Die aktuelle Diskussion um die Schule zeigt, dass es einen enormen Bedarf an Orientierung in der Frage nach dem Grund, dem Sinn und dem Zweck von Schule gibt. Will die Schule nicht den wechselnden gesellschaftlich-politischen Bedürfnissen, Interessen, Moden und Vorstellungen ausgesetzt sein, bedarf es eines Grundprinzips, auf das sie sich gründen kann«6, so die Erziehungswissenschaftlerin Gabriele Weigand. Und sie verfasst dann ein ganzes Buch über die »pädagogische Grundlegung von Schule«: Der Mensch, die Person kann alleiniger Maßstab jeder Schultheorie, jeder bildungspolitischen Entscheidung und jeder einzelnen pädagogischen Handlung sein.7

Was heißt das nun, wenn die Schule vor allem eine pädagogische Aufgabe hat? Zum Beispiel, dass alle angeführten Inhalte, Ziele und Wünsche zwar bedenkenswert sind, aber zunächst daraufhin geprüft werden müssen, ob sie die allgemeine Bildung und Erziehung der Schüler fördern. Das heißt zum Beispiel auch, dass Unterrichten eben nicht bei Didaktik und Methodik endet, wie man es heute Studenten und Referendaren in der Ausbildung zum Lehrer weismachen will: Wie ich die Dezimalrechnung einführe, den Konjunktiv erkläre oder ein Musikstück einübe, ob ich dazu Gruppenarbeit wähle, ein Stationenlernen organisiere oder ein Klassengespräch führe, wie ich eine Unterrichtsreihe über die Römer sinnvoll aufbaue, ein Arbeitsblatt gestalte oder eine Klassenarbeit verstehbar stelle – das ist zwar wichtiges Handwerkszeug, hat aber mit Pädagogik noch nichts zu tun. Und genauso wenig sagen Schulfeste, Projektwochen, Werbebroschüren, Internetauftritte und sonstige öffentlichkeitswirksame Aktionen, mit denen sich Schulen heute überall hervortun müssen, über die Qualität von pädagogischer Arbeit einer Schule aus.

Diese besteht im Kern darin, was der Pädagoge Otto Friedrich Bollnow einmal die »pädagogische Atmosphäre« genannt hat. Den Untertitel seines Buches werden heutige Junglehrer, Schulmanager, PISA-Forscher und methodenfetischistische Seminarausbilder nicht nur nicht kennen, sondern wahrscheinlich nicht einmal mehr verstehen. Bollnow schreibt über »die gefühlsmäßigen zwischenmenschlichen Voraussetzungen der Erziehung«. Er meint damit menschliche Haltungen, innere Einstellungen, gefühlsmäßige Bedingungen, die notwendig sind, »damit überhaupt so etwas wie Erziehung gelingen kann«.8 Dazu gehören für den Erzieher, den Lehrer, das Vertrauen zum Kind, das Zutrauen in seine Fähigkeiten, die erzieherische Liebe, die Geduld, die Hoffnung sowie Heiterkeit, Humor und Güte. All das sind gefühlsmäßige Grundlagen der Erziehung und Bildung, die sich weder messen noch testen lassen, die man nicht zu praktischen Methodenpaketen schnüren und als Ratgeber verkaufen kann, die man nicht auf der Schulhomepage anpreisen und per Power-Point-Präsentation vorführen kann. Und doch sind dies die unleugbaren Voraussetzungen von erfolgreicher Erziehungs- und Bildungsarbeit.

Wenn also der oben zitierte Schüler kein »Mathe« machen will, dann bringt man heutigen jungen Lehrern bei, ihm Freiarbeit anzubieten, bei der er selbst wählen kann, was er denn gerne machen möchte. Der Witz ist, dass der Schüler gar nicht wählen kann, was er will, weil er sich das ja gerade nicht zutraut. Freiarbeit gibt ihm allenfalls Gelegenheit, auszuweichen und alle möglichen anderen Dinge zu tun, nur nicht, sich seinen Schwierigkeiten in Mathematik zu stellen. Er bräuchte die ermutigende Beziehung zum Lehrer, der ihm zutrauen muss, dass er auch Mathematik lernen kann. Der Lehrer muss ihn fordern und fördern. Dazu braucht er eben Geduld, Liebe zum Schüler, die Hoffnung, dass er das schaffen wird, und er braucht eine große Portion Humor, natürliche Heiterkeit und schließlich Güte. Güte, so Bollnow, versteht die Schwäche des Schülers, sie versteht, warum er Mathe »Scheiße« findet, aber sie erhält sehr wohl »in stiller Selbstverständlichkeit« den Anspruch aufrecht, dass er dies lernt, und zwar jetzt. Der Schüler wird also nicht für sein Verhalten abgewertet, abgestraft, es geht nicht einfach um »Unterrichtstörungen« und »Disziplin«, er wird aber auch nicht einfach in Ruhe gelassen oder mit einem »Methodenschnickschnack« versorgt; nein, der Lehrer wendet sich ihm zu. Das kann innerlich oder äußerlich geschehen, deutlicher oder nebenbei. Klar ist aber: So benimmt man sich nicht und wenn man Schwierigkeiten hat, kann man fragen. Und vor allem: Man beginnt zu lernen. So wird der Schüler gefordert und gefördert, so wird er ermutigt und erfährt klare Werte. Denn das stärkt ihn.

Die Bedeutung der pädagogischen Beziehung für das Lernen hat mittlerweile auch die Hirnforschung erkannt9. So fasst etwa Manfred Spitzer zusammen: »Gelernt wird, wenn positive Erfahrungen gemacht werden. Dieser Mechanismus ist wesentlich für das Lernen der verschiedensten Dinge, wobei klar sein muss, dass für den Menschen die positive Erfahrung schlechthin in positiven Sozialkontakten besteht. (…) Menschliches Lernen vollzieht sich immer schon in der Gemeinschaft, und gemeinschaftliche Aktivitäten bzw. gemeinschaftliches Handeln ist wahrscheinlich der bedeutsamste ›Verstärker‹. Die biologischen Wurzeln der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden werden so unmittelbar deutlich.«10

Die hier beschriebene pädagogische Kunst bezweckt letztlich, die Schüler für die eigentlichen Bildungsinhalte aufzuschließen, aufnahmefähig zu machen. Denn dass die Fächer der Schule eine Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler besitzen, ist die Überzeugung, aus der

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