Warmabbruch - Roland Bühs - E-Book

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Roland Bühs

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Beschreibung

Die noch rauchende Ruine eines abgebrannten Kaufhauses stellen Kommissar Schilling und seine Partnerin Dunker vor ein Rätsel. Wer hat das Feuer gelegt und wer ist verantwortlich für den Tod der beiden Männer im Dachgeschoss? Die beiden Kommissare der Wall-Wache tappen im Dunkeln – bis eine der Spuren sie in den Bremer Westen führt. Ein weiterer Mord lässt Böses ahnen, und der Fall entwickelt sich zu einem rasanten Kampf gegen Gewalt, Betrug, Lügen und Habgier. Wer gewinnt? Roland Bühs, Jg. 1949, lebt seit fast sechzig Jahren in Bremen. Er veröffentlichte mehrere Bücher, viele Illustrationen und Cartoons. ›Warmabbruch‹ ist sein erster Bremen-Krimi, dem noch weitere über die ›Wall-Wache‹ folgen werden.

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Roland Bühs

Warmabbruch

Kellner-Verlag

Taschenbuch: 192 Seiten

Verlag: Kellner, Klaus; Auflage: 1 (12. Oktober 2016)

ISBN-10: 3956511182

ISBN-13: 978-3956511189

Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Ich danke meiner Schwester Waltraud Mika für ihre hilfreichen Vorschläge zum Manuskript.

Die noch rauchende Ruine eines abgebrannten Kaufhauses stellen Kommissar Schilling und seine Partnerin Dunker vor ein Rätsel. Wer hat das Feuer gelegt und wer ist verantwortlich für den Tod der beiden Männer im Dachgeschoss?

Die beiden Kommissare der Wall-Wache tappen im Dunkeln – bis eine der Spuren sie in den Bremer Westen führt.

Ein weiterer Mord lässt Böses ahnen, und der Fall entwickelt sich zu einem rasanten Kampf gegen Gewalt, Betrug, Lügen und Habgier. Wer gewinnt?

Roland Bühs, Jg. 1949, lebt seit fast sechzig Jahren in Bremen. Er veröffentlichte mehrere Bücher, viele Illustrationen und Cartoons. ›Warmabbruch‹ ist sein erster Bremen-Krimi, dem noch weitere über die ›Wall-Wache‹ folgen werden.

1

»Darauf werden sie bestimmt alle neidisch sein, aber ...«, dachte Hauptkommissar Schilling und ließ seinen Blick aus Schwindel erregender Höhe über die Stadt gleiten, denn dieser Tag präsentierte die Highlights der Stadt in einer ungewöhnlichen Morgenblässe. Die leisen Geräusche, die von irgendwoher am anderen Ende der Stadt zu ihm herüberwehten, verstärkten die Wirkung des Entferntseins.

»... aber hierauf werden sie alle wohl nicht neidisch sein«, vollendete er in Gedanken den Satz, denn weit unter sich vorne konnte er das Rot der Feuerwehrfahrzeuge und das Blaulicht der Streifenwagen ausmachen. Hinter dem Löschwagen stand ein Versorgungsfahrzeug der Feuerwehr. Er selbst befand sich in einer Art Gondel am Kran eines Feuerwehrfahrzeugs, die im Wind leicht hin- und herschwang. Seine Füße steckten in klobigen Stiefeln, und seinen Anzug hatte er gegen einen schweren, feuerfesten Overall eingetauscht.

Er registrierte erleichtert, dass es ein wenig nieselte. Vielleicht würde so seine Kleidung und auch seine Haare weniger von dem massiven Brandgeruch aufnehmen. Jetzt spürte er auch das bittere Aroma von verkohltem Holz. Unter ihm lag das, was von dem Kaufhaus am Wall übrig geblieben war, und er erinnerte sich an die schöne Fassade und die etwas schiefen Holztreppen im Inneren des Gebäudes.

Jetzt ragten geschwärzte Dachsparren, wie die Rippen eines gestrandeten Wals, unter ihm in die Luft. Ein Feuerwehrmann mit Helm und Schutzjacke stocherte unter ihm in nicht erkennbaren Trümmerteilen herum, mit denen der Dachboden übersät war. Wie gigantische Riesenschlangen wanden sich von unten Schläuche in das ausgebrannte Gebäude hinein.

Ganz weit unten hinter der Absperrung drängten sich Schaulustige, Fotografen und Journalisten, und eine Crew im Übertragungswagen des Fernsehens wartete auf Neuigkeiten.

Den großen Mann neben sich kannte er als Brandermittler Ingo Schlichting – sie hatten bereits in einigen Fällen zusammengearbeitet. In seinem Schutzanzug sah er, wie Schilling auch, durch Helm, Maske, Schutzanzug, Handschuhe und einen Gesichtsschutz einem Astronauten ähnlich. Als sich die Gondel senkte, neigte er sich zu Schilling: »Ich habe die Fotos vom Mittwochabend gesehen. Hier oben ist der Brandherd. Seien Sie vorsichtig, wo Sie hintreten. Bewegen Sie sich nicht, bleiben Sie dicht hinter mir, es besteht Einsturzgefahr. Wir werden direkt am Fundort abgesetzt.«

Einsturzgefahr! So ein wunderbares Haus war das gewesen. Nun wird es sicher abgerissen. Er versank für einen Moment in Erinnerungen. Seine Mutter hatte dieses Kaufhaus als alte Bremerin bevorzugt und ihn als Kind häufig hierhin mitgenommen und das alles durch einen Besuch bei der Konditorei Stecker zu einem leckeren Abschluss gebracht.

Doch diese schönen Erinnerungen an die Kindheit wurden brutal hinweggefegt, als die Gondel mit einem leichten Ruck aufsetzte. Der Geruch war nun erstickend. Schilling fühlte, wie er in seinen Kleidern und Haaren hängen blieb, wie er durch die Haut in seine Nase drang und seine Augen tränten. Doch in diesem infernalischen Gestank erkannte er auch noch den schwachen, süßlichen Geruch verbrannten Fleisches.

Auf dem Boden schimmerte das Löschwasser der Feuerwehr in Pfützen wie flüssiger Asphalt. Schilling beugte sich leicht vor, um die Umgebung genauer zu beobachten und schluckte krampfhaft, um das Brennen aus seinem Hals zu vertreiben.

Der Brandermittler hob mit einem Steuergerät die Gondel an und bewegte sie langsam zu etwas, das wie eine verbogene Stahltür aussah, und wandte sich dann an Schilling. »Bleiben Sie in der Gondel, wenn’s geht«, sagte er. »Wir wollen versuchen, möglichst wenig Spuren zu vernichten.«

In der Nähe der Tür lagen sie. Es war kaum zu erkennen, dass es sich um die Überreste von Menschen handelte, teilweise waren sie zudem verdeckt von einem Laken. Wie verdorrte Äste krümmten sich Arme und Beine der auf dem Rücken liegenden Leichen zusammen, ausgelöst durch die Verkürzung der Muskeln bei dieser starken Hitze. Die Haut war schwarz verkohlt, die Zähne schimmerten noch leicht. Haare und Kleidung waren verbrannt, und Schilling konnte nicht erkennen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Er schluckte und musste gegen eine plötzlich aufsteigende Übelkeit ankämpfen.

Mit einer Taschenlampe leuchtete er die Leichen und die nähere Umgebung ab, konnte aber nichts entdecken.

»Warten Sie, wir müssen extrem vorsichtig sein«, sagte Schlichting halblaut und schlang einen langen Hosengurt um den Haken, der die Gondel trug. Dann öffnete er eine kleine Tür am Rand und prüfte den Untergrund mit einem Fuß. Schilling sah, wie er vorsichtig einen Schritt nach vorne machte und seinen Kopf neigte, um rechtzeitig verdächtige Geräusche hören zu können, wippte ein wenig mit dem Körper, um den Boden zu testen, hörte wieder genau hin. Dann kehrte er in die Gondel zurück und nickte bejahend. »Sie können hier aussteigen, wenn Sie hier vorne auf diesem Balken bleiben.« Er wies auf eine imaginäre Linie im Raum, unter der er einen momentan noch tragfähigen Balken lokalisiert hatte. Mit einem zustimmenden Murmeln schob sich Schilling an ihm vorbei, legte ebenfalls den Hosengurt an und trat einen Schritt aus der Gondel heraus.

Trotz des teilweise offenen Daches, durch das graues Tageslicht herein sickerte, trotz der Lampen am Kran dominierte die Schwärze. Noch vorhandene Wände, Decken, Böden und seltsam verformte Gegenstände absorbierten alles Licht und ließen Formen und Konturen zu einer undurchdringlichen Finsternis verschwimmen.

Auch die beiden Leichen hoben sich kaum von der Wand und der Tür ab, vor der sie lagen. Offenbar war das ein Raum gewesen, der nur durch diese eine Tür zugänglich gewesen war, ohne Fenster oder sonstige Öffnungen.

Er beugte sich nach vorne, fasste eine Seite des Tuchs, zog es beiseite und machte eine Reihe von Bildern.

»Der Größe der Leichen nach zu urteilen, sind es vermutlich erwachsene Personen«, begann Schlichting.

»Gewebeproben nehmen wir später, das soll der Pathologe machen, auch den Zahnabgleich.«

Schlichting nickte. »Es wird aber ein paar Stunden dauern, bis wir sie bergen können.«

Dann schließlich hatten sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt, und Schilling konnte einige Umrisse identifizieren. Die seltsamen Sternformen zu seiner Linken entpuppten sich als Bürostühle. Weiter weg lagen ineinander gefallene, krumm gebogene Metallschränke, ein zusammengeklapptes Tischgerüst und ein offener Tresor, der halbwegs unversehrt geblieben war. Eine Reihe seltsamer Eisenprofile durchtrennte den Raum, und Schilling nahm an, dass es sich um Stützen handelte, die beim Zusammenfall von Zwischenwänden stehen geblieben waren. Die Brandspuren auf dem Fußboden ließen zwar noch allerhand von dem bretterverschalten Fußboden übrig, aber er warf dennoch einen besorgten Blick nach vorne, wo ein ausgefranstes Loch im Fußboden gähnte.

Dann erblickte er zur Linken mehrere zu einem Klumpen zusammengeschmolzene Computer oder Drucker und eine unregelmäßige Form, die sich bei näherem Hinsehen als Reste von Büromöbeln entpuppte. Ein Büro also. Warum waren diese Menschen in ihrem Büro geblieben? Waren Sie vom Feuer überrascht worden? »Hier ungefähr ist der Brand wahrscheinlich entstanden«, hatte ihm der Brandermittler erklärt. »Wir haben Fotos vom Mittwoch, kurz nachdem das Feuer ausgebrochen ist. Sie geben Aufschluss, wo es begann. Man kann so das Suchgebiet eingrenzen.«

Schilling nickte. Er konnte keine Brandursache entdecken, aber das war ja ohnehin Sache der Spezialisten. Er setzte seinen rechten Fuß auf den nächsten Balken und hoffte, dass ihn der Gurt im Ernstfall halten würde. Langsam beugte er sich mit einer vorsichtigen Bewegung zu den beiden Leichen, die ein aufmerksamer Feuerwehrmann bei einer ersten Inspektion der Brandstelle entdeckt hatte.

»Was haben Sie gesehen?«, hatte Schilling gefragt.

»Ich konnte eigentlich nichts sehen. Vielleicht einen Meter weit, trotz der Lampe auf meinem Helm. Es war alles schwarz vom Rauch«, hatte dieser geantwortet und ihn aufmerksam angeschaut.

»Mir blieb nur eine Leine als Orientierung, und der Fußboden war unsicher. Ich blieb auf einem Balken stehen, sah die Arme und Beine, und dann flackerte unten wieder ein Feuer auf, glaubte ich zumindest, und dann bin ich wieder in die Gondel hineingesprungen.«

Schilling leuchtete mit seiner Lampe noch einmal nach vorne, blieb aber in unmittelbarer Nähe der Gondel und hielt sich an ihrem Rand fest.

Auf Veranlassung des Brandermittlers hatte Schilling vor einigen Jahren an einer Übung der Feuerwehr teilgenommen. In einem Schutzanzug war er in ein brennendes Haus gegangen und war sofort durch die unglaubliche Hitze und den Rauch orientierungslos geworden. Seitdem bewunderte er diejenigen, die sich tagtäglich mit derart gefährlichen und verwirrenden Situationen auseinander setzen mussten.

Schilling drehte sich ein wenig um und hielt sich mit beiden Händen an der Gondel fest.

»Wo hat das Feuer angefangen?«, fragte er Schlichting. »Können Sie das erkennen?«

»Wie Sie sehen, ist ja fast alles bis zur Unkenntlichkeit verbrannt«. Schlichting zuckte mit den Achseln und nickte in Richtung der Tür. »Ich würde vermuten, dass es vor der Tür begann. Kommen Sie in die Gondel. Wir schauen uns das von oben an.«

Als Schilling sich mit ein wenig Schwung in das Gefährt befördern wollte, gab der Fußboden unter dem rechten Fuß nach. Panisch klammerte er sich am Rand fest, und weil der Gurt sich straffte, verdrehte sich sein Körper.

In Sekundenbruchteilen hatte ihn Schlichting zu sich gezerrt und die Gondel ein Stück hochgefahren. Schilling hatte Mühe, sich zu fassen.

Nach einem prüfenden Blick auf ihn nickte der Brandermittler ihm zu.

»Nichts passiert«.

Als Schilling nicht antwortete, fuhr Schlichting fort: »Ich fahre jetzt noch ein wenig höher, und wir schauen gemeinsam.«

»Zuerst müssen wir den Brandherd identifizieren. Kommen Sie.« Er zeigte auf den Fußboden vor der Tür. »Hier können Sie sehen, dass an dieser Stelle am meisten verbrannt ist. Also hier hat es vermutlich am längsten gebrannt. Und schauen Sie sich den Bereich vor der Tür genauer an« – er machte mit der Hand eine weite, halbkreisförmige Bewegung – »diese C-Form, können Sie die erkennen?«

Nachdem er so mit der Nase darauf gestoßen wurde, konnte Schilling tatsächlich einen Bogen sehen: einen Bereich, der eine Spur verbrannter war und der ihm zerstörter erschien.

»So ein Feuer brennt natürlich nahe dem Ursprung länger. Das kann man häufig gut erkennen. Aber das Besondere hieran ist diese merkwürdige Form.«

»Was soll das bedeuten? Was hat hier denn gestanden und gebrannt?«, fragte Schilling und war kurz davor, wieder aus der Gondel zu treten und sich den Boden genauer anzusehen. Schlichting hielt ihn mit einem kräftigen Griff zurück.

»Das ist nur meine Vermutung. Aber sollte das wirklich der Brandherd sein, hat hier jemand eine brennbare Flüssigkeit oder einen anderen Brandbeschleuniger ausgekippt und angezündet. So jedenfalls sieht es auf den ersten Blick aus.«

»Gibt es noch andere Möglichkeiten?«

Schlichting fing an, mit den Fingern abzuzählen. »Erstens: Der Brand startete hier oben. Zweitens: An dieser Stelle ist es am meisten verbrannt. Drittens: Hier sind keine Überreste von Möbeln, Papierstapeln, Akten oder sonst wie brennbaren Materialien. Viertens: Von der Form her sieht es so aus, als hätte jemand einen Kanister genommen und ihn mit einer raschen Bewegung ausgeschüttet.«

»Und wie können wir das genauer bestimmen? Haben Sie Hunde, die das erschnüffeln können?«

»Nein. Theoretisch ja, aber hier ist es für die Hunde zu gefährlich. Wir müssten sie in der Gondel behalten. Das wird so wahrscheinlich nicht klappen.«

»Würde der Hund hier einen Brandbeschleuniger finden können?«, fragte Schilling.

»Nicht unbedingt.« Der Brandermittler schloss die Gondel und legte seine Hand auf die Steuerung. »Er könnte vollständig verbrannt sein, etwa wenn es Aceton oder Benzin ist. Und hier hat es so heftig gebrannt, dass der Hund vermutlich nichts mehr finden wird. Merkwürdigerweise kann man die Spuren noch sehen. Vielleicht waren Decke oder Fußboden isoliert oder hier, sind die Sprinkler losgegangen. Da hinten«, er wies mit der Hand in die andere Raumecke, »da hinten hat hat es nämlich mehr gebrannt.«

Er drückte auf eine Taste und bewegte die Gondel ein wenig nach links. »Und nun sollten wir sehen, dass wir hier wegkommen.«

»Moment noch.« Schilling legte ihm die Hand auf den Arm. »Wer wird denn die Leichen bergen?«

»Das werden die Kollegen von der Feuerwehr wohl machen müssen. Für Sie haben wir eine Ausnahme gemacht. Aber wir werden wahrscheinlich keine Ausnahme für die Spurensicherung machen. Das ist sicher zu gefährlich.«

Die Gondel setzte sich in Bewegung.

»Halt, bitte!«

Schlichting warf ihm einen ungeduldigen Blick zu.

»Kann die Feuerwehr denn auch Dinge aus der Umgebung der Leichen mitnehmen und die Fundstellen auf einem Foto eintragen?«

»Natürlich«, knurrte der Brandermittler. »Ich werde das alles veranlassen.

Schilling fühlte starke Bedenken in sich aufsteigen. Er nahm sein Handy und machte mehrere Fotos der Umgebung.

»Bitte, wir müssen das noch einmal wiederholen. Wir brauchen die Fotos des Polizeifotografen und ein Video, denn wir müssen den Raum rekonstruieren.«

»Na, Chef, wie war’s da oben?«

Schilling lächelte Inge Dunker an. Sie waren ein unzertrennliches Duo bei der Bremer Kripo und hatten zusammen schon so manchen Fall gelöst. Sie stand in respektvollem Abstand von der Gondel und vom Haus, von dem noch immer in unregelmäßigen Abständen Dachziegel herunterfielen und auf dem Glasdach, das den Flaneuren Schutz vor Regen bieten sollte, zerschellten.

»Hätte Ihnen gut gefallen«, gab er zurück, »Ich habe schon die nächste Fahrt für Sie reserviert. Geht gleich los«, und schmunzelte in sich hinein, weil er wusste, das sie unter Höhenangst litt, aber dies nie aussprach.

Vorsichtig wich sie einen Schritt zurück, und als sie sein Lächeln sah, zog sie ihr Notizheft aus der Tasche.

»Ich kann’s ja von Ihrem Handy abzeichnen.«

Inge Dunker würde es auch hinbekommen, von einem Handyfoto eine ihrer Tatortskizzen anzufertigen, aber Schilling verwies auf die bald eintreffenden Fotos des Polizeifotografen, sicherlich eine bessere Grundlage für ihre Zeichnungen.

»Da oben sind zwei Tote, wahrscheinlich direkt neben dem Brandherd. Wir müssen schon sehr viel Glück haben, wenn wir sie identifizieren können, so wie die aussehen.«

»Nee! Da ist ja noch der Film. Dann haben wir vielleicht den einen oder beide auf dem Video. Könnte natürlich auch der Täter sein.«

Als er dann sehr viel später über den Osterdeich, entlang der Weser mit dem Fahrrad ins Räteviertel nach Hause fuhr, schweiften seine Gedanken zurück zu jenem merkwürdigen Mittwoch im Polizeihaus am Wall.

2

Alles stand ihm wieder vor Augen wie an jenem Maiabend vor drei Tagen, als er noch spät am Schreibtisch saß und plötzlich die beginnende Abendstimmung von infernalischem Lärm brutal unterbrochen wurde, der aus sämtlichen in Bremen verfügbaren Feuerwehrsirenen zu stammen schien. Und als er ans Fenster ging, drang der Geruch in sein Arbeitszimmer, der von verbrennendem Holz, Dachpappe und weiteren übel riechenden Materialien stammte, während bereits sein Telefon klingelte und er an den Wall beordert wurde. Schilling nahm in weiser Voraussicht sein Fahrrad, denn der Wall war verstopft von Feuerwehrfahrzeugen. Nachdem er es am Brückengeländer bei der Bischofsnadel angeschlossen hatte, erblickte er gigantische Rauchschwaden, die sich auch über die Straße legten, und aus den Fenstern eines Kaufhauses flackerte ihm das rötlich-orangefarbene Licht entgegen. Beißender Rauch drang in seine Nase, als er sich näherte. Er wich zurück und suchte das Auto der Einsatzleitung. Aus den Augenwinkeln sah er die Schaulustigen, die aber auch alle vor dem Rauch zurückwichen.

Dann fand er die Einsatzleitung und näherte sich ihrem Fahrzeug. Aus sicherer Distanz, zwischen rennenden Feuerwehrmännern mit ihren Funksprüchen »Die Rückseite ..., da kommen wir nicht ... auf die Straße zurück ... daneben, was ist damit? …« konnte er beobachten, wie die Männer auf den Drehleiterfahrzeugen bereits Schläuche ausgelegt hatten, Atemschutzgeräte anlegten, ihre Visiere herunterklappten und sich auf ihre Aufgaben konzentrierten.

Von einigen Leitern schossen bereits dicke Wasserstrahlen in das Feuer und auf benachbarte Häuser, fast völlig verdeckt von schwarzem Rauch. Sengende Hitze drang sogar bis zu ihm vor, und er konnte das unheilverkündende Knacken eines voll entwickelten Feuers hören. Scheibenreste schossen durch die Luft und knallten auf die Glasdächer, Dachziegel flogen durch die Gegend – Geräusche wie zu Silvester. Die Feuerwehrleute müssen sich ja fast auf ihren Tastsinn verlassen dachte Schilling. In dem Gebäude und auf den benachbarten Dächern würde man nur wenig vor sich sehen können, und er hoffte sehr, dass die Männer vorsichtig genug waren.

Immer wieder prasselten Steine, Ziegel und Glas aus großer Höhe auf die Straße sowie auf die vor dem Gebäude parkenden Autos und verwandelte sie in Wracks, während die gläserne Überdachung, die als Schutz vor Bremer Schmuddelwetter gedacht war und den Wall in eine Flaniermeile verwandeln sollte, sich schon beängstigend durchbog.

»Da werden Sie noch warten müssen, bis Sie etwas unternehmen können«, sagte der plötzlich neben ihm auftauchende Brandermittler. »Das Gebäude muss erst auskühlen und ist sicher auch in Teilen einsturzgefährdet. Aber wenigstens gut, dass das ein altes Gebäude ist. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn ein mit Kunststoffen ausgestopftes und gegen Wärme isoliertes Gebäude an dieser Stelle in Brand geraten würde. Dann müsste man die halbe Innenstadt evakuieren.«

Er wandte sich wieder seiner Videokamera zu, die von einem hohen Stativ aus den Brand filmte. Die Feuerwehr würde den Film zusammen mit Fotos von Passanten später für die Bestimmung der Brandursachen nutzen. Schon jetzt war deutlich erkennbar, dass das Feuer in einem der oberen Geschosse ausgebrochen war, denn Erdgeschoss und erster Stock erschienen Schilling noch weniger betroffen.

Jetzt vermisste er Inge Dunker an seiner Seite, die wahrscheinlich schon eine Skizze des Gebäudes und den Verlauf des Brandes, soweit für sie ersichtlich, angelegt hätte. Sie befand sich sicherlich, wie üblich, abseits vom Getümmel, um besser beobachten und sich konzentrieren zu können.

»Hoffen wir, dass niemand mehr im Gebäude ist«, unterbrach der Brandermittler seine Gedanken. »Wir haben schon versucht, den Eigentümer des Gebäudes zu erreichen. Der ist im Urlaub, irgendwo in der Savanne. Der Geschäftsführer ist nicht zu erreichen, weder in seinem Haus noch auf dem Handy. Hoffentlich ist er nicht im Gebäude, denn es ist unmöglich, dort hineinzugehen. Das Geschäft schließt aber um acht, also sollte es eigentlich leer sein.«

Zwischen den vielen Polizeiautos am Rand der Szene entstand plötzlich eine Bewegung. Eine Person in der Mitte hielt ihr Handy in die Luft und wedelte damit herum, Scheinwerfer eines TV-Übertragungswagens leuchteten auf, und Schilling erkannte einige Kollegen, die sich um den Einsatzwagen drängten. Gleichzeitig knackte sein Sprechfunkgerät: »Der Geschäftsführer ist plötzlich aufgetaucht. Kommen Sie bitte!«

Das wiederum wollte Schilling nicht ohne Inge Dunkers Unterstützung erleben, denn Inge war Spezialistin für die Deutung von Körpersprache, er wählte ihre Nummer und bat um ihre Unterstützung.

Als er sich der Gruppe von Polizisten näherte, war der Geschäftsführer schon in einem der Polizeifahrzeuge verschwunden.

Der Geschäftsführer Klemm machte einen verwirrten Eindruck, er sah auf den ersten Blick fast aus wie Doc Brown, aus »Zurück in die Zukunft«, die weißen Haare standen wirr vom Kopf ab. Schilling versuchte zunächst, ihn zu beruhigen, aber der Mann war so aus der Fassung, dass seine Kommentare zu dieser ungewöhnlichen Situation kaum verständlich waren. »Zwei Männer mit Pistolen«, verstand Schilling. Ständig wackelte Klemm unruhig hin und her, sackte auf seinem Sitz in dem Einsatzwagen zusammen, richtete sich wieder auf, ließ den Blick nervös nach draußen schweifen, wischte sich ständig über die Mundwinkel und zappelte mit Armen und Beinen.

In diesem Zustand konnte Schilling wenig mit ihm anfangen, und er bat den Fahrer, Klemm zum Polizeihaus zu bringen, einen Arzt zu rufen, und er beorderte dann auch Inge dorthin.

Noch während er zum Polizeihaus fuhr, meldete sie sich. »Der Typ hat das Videoband von ’ner Überwachungskamera, sagen jedenfalls die Cops hier. Ich werf’ mal eben ’nen Blick darauf, dann komm ich ins Besprechungszimmer.«

Als Schilling im Polizeihaus ankam, wartete Klemm zusammen mit zwei Polizisten in einem kleinen Nebenzimmer. Erst jetzt schien ihm klar zu werden, in welcher Gefahr er sich befunden hatte. Jemand hatte eine Decke um seine Schultern gelegt, aber er schien trotzdem zu zittern, und ein Polizist saß mit Stift und Notizblock vor ihm.

»Halt! Halt!«, befahl Schilling. »Jemand soll ihn bitte hier rausbringen! Am besten in das Besprechungszimmer.«

»Nein!« Klemm schüttelte den Kopf.

»Nun kommen Sie schon«, sagte Schilling. »Ich habe Ihren Arm. Kommen Sie, ich helfe Ihnen!«

»Nein«, murmelte er.

Schilling setzte sich vor ihn, die Tür öffnete sich in diesem Moment und Dr. Sonntag, eine der Polizeiärztinnen, kam herein.

»Haben Sie sich verletzt? Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie. Klemm war hysterisch, und er hatte einen tiefen Kratzer im Gesicht, doch das schien ihn nicht weiter zu kümmern.

»Zeigen Sie mal her«, sagte Sonntag, drehte behutsam Klemms Kopf zu sich und betrachtete die Wunde. Er zitterte nun am ganzen Leib.

»Wann haben Sie die letzte Tetanusspritze bekommen?«, fragte sie, aber Klemm antwortete nicht.

Sie nahm seinen Arm. »Wir müssen hier raus«, sagte sie.

In der Atmosphäre des Besprechungszimmers schien sich Klemm zu beruhigen. Schilling platzierte ihn auf einen komfortablen Stuhl und versorgte ihn mit einer Tasse gesüßten Tees. Die Ärztin saß daneben und beobachtete die Szene.

»Sie beruhigen sich ein wenig hier, ich bleibe dabei, und anschließend gehen wir in mein Zimmer«, sagte sie und lehnte sich zurück.

»Ich glaube, Herr Schilling möchte Ihnen einige Fragen stellen. Er will sicher wissen, wie es zu dem Brand kam und ob noch Personen im Gebäude sind.«

Schilling sprach klar und akzentuiert, legte seine Hände auf die Lehnen, setzte sich aufrecht und schlug die Beine übereinander, um möglichst entspannt zu wirken, wie er es von Inge Dunker gelernt hatte. Dann lehnte er sich vor und versuchte, dem Verhör einen möglichst privaten Anstrich zu geben, um den Geschäftsführer zu beruhigen. Er schaltete seinen Rekorder ein und bat um Erlaubnis, das Gespräch aufnehmen zu dürfen. Später würde das Interview transkribiert und mit den späteren Berichten Klemms verglichen werden. Inzwischen war auch Inge erschienen und hatte sich so auf einen Bürostuhl gesetzt, dass sie Klemm gut beobachten konnte. Dann summte ihr Handy, sie stand auf und verließ den Raum.

Nach einigem Zögern berichtete Klemm dann stockend über die Einzelheiten dieses dramatischen Abends.

»Von zwei maskierten Männern bin ich im Büro überfallen worden.«

»Waren Sie alleine im Haus?«

»Ja, alle Angestellten waren schon gegangen.«

»Sind Sie sicher? Die Feuerwehr könnte vielleicht noch ins Parterre und ins Untergeschoss.«

»Ja, ganz sicher. Da ist keiner mehr.«

Inge Dunker stand auf und verließ den Raum, um mit der Einsatzleitung zu telefonieren, und kam dann nach einer Minute zurück.

Schilling lehnte sich erneut vor: »Haben Sie eine Idee, wie die Täter in das Haus gekommen sind?«

»Keine Ahnung. Aber an der Rückseite des Gebäudes ist der Personaleingang. Da ist die Videokamera. Die Kassette habe ich mir noch geschnappt. Da könnte man sehen, ob sie dort hineingekommen sind. Sonst haben sie sich vielleicht irgendwo versteckt. Die Kassette habe ich schon der Polizei gegeben. Vielleicht ist da was drauf.«

Seine Stimme wurde allmählich fester, und er sprach verständlicher.

»Und was wollten die Männer?«

»Die wollten Geld, wollten, dass ich den Tresor öffne. Einer hat mich mit einer Pistole bedroht. Was blieb mir anderes übrig? Ich bin in den Raum im dritten Stock gegangen und habe den Tresor geöffnet. Aber da war nur wenig Geld. Die meisten Kunden bezahlen mit Kreditkarte, wissen Sie.«

»Was genau haben die Männer gesagt?«

»Einer hat nur ›Tresor‹ gesagt und mit der Waffe rumgefuchtelt.«

Klemm bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Ich habe fürchterliche Angst gehabt. Ich dachte, jetzt erschießen sie dich. Dann haben sie mich mit der Waffe gezwungen, in die Gästetoilette zu gehen. Einer hat den Finger auf den Mund gelegt und ›Pssst‹ gemacht und dann auf die Waffe gezeigt.«

»Gibt es da kein Fenster?«

»Nein, die Toilette liegt innen. Ich habe mein Ohr an die Tür gelegt und gelauscht. Sie rumorten im Gebäude herum und haben wahrscheinlich nach Geld gesucht, oder was weiß ich.«

»Wie lange waren Sie eingesperrt?«

»Ich habe die Orientierung verloren, ich war in Panik. Vielleicht eine Stunde?«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, Inge Dunker steckte ihren Kopf herein und winkte ihn mit einer Kopfbewegung zu sich. Schilling war genervt. Was konnte so wichtig sein, dass sie ihn in einem Verhör unterbrach? Er bat Klemm um einen Moment Geduld, und ging auf den Flur, und die Ärztin nutzte die Zeit, um ihm ein Pflaster auf die Schläfe zu kleben.

»Chef, wir haben da ein Video von den Überwachungskameras. Da ist ein Typ drauf, kräftig, mit Jeans, Bomberjacke und Sturmhaube. Sieht man für drei Sekunden. Watschelt wie eine Ente. Können Sie sich später in Ruhe anschauen.«

»War’s das?«

Inge blickte ihn verunsichert an. »Fragen Sie ihn, dann wissen Sie, ob er lügt.«

Schilling akzeptierte ihre Absichten, drehte sich um und ging zu Klemm zurück, der unaufgefordert weiter erzählte.

»Ich habe die ganze Zeit angestrengt auf Geräusche im Geschäft gelauscht. Verstehen Sie, ich hatte Angst.«

Schilling nickte.

»Irgendwann hörte ich keine Schritte mehr. Es knallte und klirrte weit entfernt. Dann roch ich den Rauch. Ich habe die Toilettentür eingetreten. Dann habe ich den Notruf gewählt – besetzt. Und dann bin ich nur noch zur Treppe gerannt. Am Ende der Treppe fiel mir das Band von der Überwachungskamera ein. Ich bin wieder hochgerannt, habe es mir gegriffen.«

Schilling stutzte. Der Notruf sollte besetzt gewesen sein? Davon hatte er bisher noch nichts gehört, und er würde das überprüfen lassen, natürlich auch das Handy.

Er breitete seine Hände aus. »Und den Rest wissen Sie. Es brennt wie verrückt, und ich laufe auf die Feuerwehrleute und Polizisten zu.«

»Sie hatten ein Telefon bei sich?«, fragte Schilling ungläubig.

»Ja, das haben mir die Typen nicht weggenommen. Ich habe mich nicht getraut, von der Toilette aus die Polizei anzurufen. Ich dachte, die erschießen mich dann. Ja, und dann, dann haben sie das Feuer gelegt, bevor sie abgehauen sind.«

»Und warum, glauben Sie, haben die das Feuer gelegt?«

»Die wollten vielleicht ihre Spuren verwischen.«

»Wie sahen die Männer aus?«

»Beide waren schlank, Jeans, dunkle Jacken. Das mit den Sturmhauben habe ich schon gesagt.«

Klemm überlegte. »Komisch war noch, dass sie fast nichts gesagt haben. Eigentlich haben die nur mit der Pistole rumgewedelt und mit den Händen auf etwas gezeigt.«

»Könnte das Feuer nicht auch aus einem anderen Grund ausgebrochen sein?«

»Schon möglich, aber das glaube ich nicht. Die waren wütend, und da haben sie das Feuer gelegt. Vielleicht wollten die auch ihre Spuren verwischen, was weiß ich.«

Schillings Handy summte, und er verdrehte ein wenig den Kopf, um eine Nachricht auf dem Display zu lesen.

Habe Akteneinträge und Personelles zu Klemm.

Er übergab Inge Dunker die Leitung der Vernehmung und machte sich auf den Weg zu Dora Harms. Inge würde so viele Details wie möglich erfragen und notieren, die Basis für die weitere Arbeit.

Aber für Schilling war es jetzt wichtiger, über Klemm möglichst viel in Erfahrung zu bringen. Wenn Dora neben den Personendaten auch Akteneinträge gefunden hatte, könnte der Fall plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Und so war es auch.

»Guten Abend, Niklas! Kein unbeschriebenes Blatt, dieser Klemm«, begrüßte sie ihn, als er seinen Kopf durch die Tür steckte, und lächelte ihn freundlich an. Doras Stärke waren Recherche und gute Laune. Sie konnte fast alle Mitarbeiter zum Lächeln bringen, was ihr nur bei Steinbrück, ihrem vor einigen Jahren aus Niedersachsen eingeworbenen Chef, nicht gelang. Auch in den ersten komischen Situationen hatte er ihr nie den Gefallen getan, sich von ihrem Lächeln anstecken zu lassen. Aber nun sollte Steinbrück, kaum dass er plötzlich befördert worden war, auf eine Fortbildung zum Thema ›Social Media unter einsatztaktischen Gesichtspunkten‹ und war dort nach seinen eigenen Aussagen unerreichbar, weil unverzichtbar, so dass es sich erübrigte, ihn über die laufenden Ermittlungen zu informieren.

Sie reichte ihm ein kleines Bündel Papiere. »Ich habe die wichtigen Seiten kopiert«, sagte sie, und nachdem sie ihn aufmerksam gemustert hatte: »Gehen Sie doch nach Hause, und nehmen Sie sie mit. Hier«, und sie zeigte auf ein weiteres Bündel, »hier ist auch noch eine Kopie für Dunker. Kraft ist gerade erschienen, der kann die Vernehmung übernehmen.« Dabei lächelte sie ihn unwiderstehlich an, und er nickte dankbar.

Schilling blätterte in den Unterlagen. Überwiegend alte Einträge in Gerichtsakten, Gutachten und ein paar Kontenaufstellungen. Er sortierte sie: Gerichtsakten auf einen Stapel, Gutachten auf einen zweiten, Kontenaufstellungen auf einen dritten. Diese drei Stapel sortierte er dann nach Datum und Thema, das er jeweils auf Notizzettel notierte, die aus dem Stapel herausragten. Die sich so ergebenden Untergruppen legte er auf einen großen Tisch und sah sie nacheinander aufmerksam durch. Die Methode hatte er von Inge gelernt. So konnte er sich schnell einen strukturierten Überblick über die Unterlagen verschaffen und die Dokumente immer wieder in neue Zusammenhänge einbetten, um Muster zu erkennen. Schließlich legte er noch eine kleine Übersicht dazu an. Am nächsten Morgen würde Inge seine Ergebnisse in ihr Cluster am Whiteboard eintragen. Dann machte er sich auf den Weg und nahm die Fallakte mit.

Eine halbe Stunde später stand er nur etwa zwei Meter von der dichten Ligusterhecke entfernt, die sein Haus gegen die Straße abschirmte. Neben dem Eingang führte ein Weg hinter das Haus, von wo aus man einen schönen Blick auf die spärlich beleuchteten Bäume des Gartens und den Himmel hatte.

Das Haus sah belebt aus. Die Fensterläden der oberen Etage waren geöffnet, die Fenster unten besaßen keine Vorhänge. Der Rasen, der den Vorgarten ausfüllte, hatte einen Schnitt nötig. Aus den unteren Zimmern klang leises Gelächter. Ayşe, seine Frau, hatte einige Freundinnen eingeladen, fiel ihm jetzt ein. Schilling schnupperte an seinem Anzug. Auch seine Schuhe und Haare würden bestialisch nach Rauch stinken. Und er hatte im Polizeihaus vergessen, in den Spiegel zu schauen. Sicherlich hatte er noch Rußflecken im Gesicht. Wie konnte er dieser Falle entkommen? Lautlos schlich er durch den Garten zum Hintereingang, schloss die Tür auf und betrat den Flur. Gut. Alle Türen waren geschlossen. Er trat einen Schritt zurück, zog den Anzug aus und hängte ihn über einen Gartenstuhl. Dann nahm er eine Decke aus dem Regal, wickelte sie um sich und schlich so leise wie möglich die Treppe hoch zum Bad im ersten Stock.

Ayşe bemerkte seine frisch gewaschenen Haare sofort und zog eine Augenbraue hoch, während sie ihn ihren Freundinnen vorstellte.

»Wir waren wohl zu laut, ich habe dich gar nicht kommen gehören.«

Mit der Bemerkung, er habe noch zu arbeiten, zog Schilling sich zurück, hängte draußen seinen Anzug auf einen Bügel und glättete ihn. Er ging wieder nach oben, verteilte den Inhalt des Aktenordners auf seinem Schreibtisch, nahm sein vorgefertigtes Register, so eine Art Merkzettel, untersuchte den Fall auf die dort notierten Schwerpunkte und trug ein, was seiner Ansicht nach für eine fundierte Tatrekonstruktion fehlte, der erste Schritt, ein Verbrechen aufzuklären und ging anschließend ins Badezimmer.

Er drehte das Wasser auf, wartete, bis es warm wurde, und wusch sich noch einmal das Gesicht, versuchte an seinen Haaren zu riechen, ohne Ergebnis. Mit den nassen Händen fuhr er sich durch die schon etwas grau melierten Haare und kratzte seinen Dreitagebart, dessen Farbe auch allmählich ins Graue wechselte. Prüfend fuhr er mit den Fingern über sein Gesicht und kam zu dem Schluss, dass er sauber genug aussah. Er betrachtete seinen schlanken, ja fast mageren Oberkörper und befand sich noch als ganz gut in Form. Schließlich fuhr er fast nur Fahrrad. Dann entschloss er sich, doch noch einmal seine Haare zu waschen, föhnte sie, und dann wartete das Bett auf ihn und zog ihn in einen erholsamen Schlaf.

3

Inge hatte mit unbegreiflicher Geschwindigkeit bereits die Geschosspläne des abgebrannten Gebäudes besorgt und am Whiteboard befestigt, als er am nächsten Vormittag im Polizeihaus eintraf. Daneben hing eine dreidimensionale Skizze des Hauses. Inge hatte alle Türen und Treppen rot gemarkert. Für sie war jedes Detail bedeutsam. Für den Obduktions-bericht, die Todeszeit, den toxikologischen Befund hatte sie bereits Spalten angelegt. Alle verfügbaren Bilder und Filme waren aufgelistet, und auch eine virtuelle Rekonstruktion des Tatorts war geplant, und alles wartete auf eine Auswertung.