Mördergrube - Roland Bühs - E-Book

Mördergrube E-Book

Roland Bühs

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Beschreibung

Skrupellose Habgier Eine nächtliche Verabredung lockt Kommissar Schilling zum Bahnhof, wo er den Bauamtsleiter Poppe treffen soll. Diesen findet er nach einer missglückten Verfolgungsjagd tot in der Baugrube auf dem Bremer Bahnhofsplatz. Was enthielten die Dokumente, von denen Poppe vorher am Telefon gesprochen hatte? Wer von den vielen zwielichtigen Gestalten in dieser Branche und einigen Behörden zieht mehr als die üblichen Vorteile aus dem Bauprojekt? Die Ermittlungen führen das Kommissar-Duo Schilling und Dunker zu mehreren Bauunternehmen, doch der Kripo-Chef zieht das Team von dem Fall ab und übergibt ihnen einen ungeklärten Suizid. Bei den Untersuchungen stoßen die Kommissare ebenfalls auf Bauunternehmen. Ist das ein Zufall oder hängen die Fälle zusammen, warum mussten Poppe und eine junge Frau sterben? Können die Verbrechen rund um das »Bremer Loch« aufgeklärt werden?

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1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

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20. Kapitel

21. Kapitel

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24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Mördergrube

Kriminalroman

Wall-Wache

Band 3

Kellner-Verlag

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 2018 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 Bremen

Tel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat: Sebastian Liedtke, Klaus Kellner

Satz und Umschlag: Roland Bühs

unter Verwendung von Fotos von pixelio.de

ISBN 978-3-95651-161-5

Roland Bühs, Jahrgang 1949,

studierte Kunst und Germanistik

in Berlin und war Seminarleiter

in Bremen. Er zeichnet Cartoons,

seit er zurückdenken kann, und

hat schon mehrere Cartoonbände

publiziert.

Seine Bremen-Krimis sind

angenehm informativ-unterhaltend.

Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Ich danke meiner Schwester Waltraud Mika für ihre

hilfreichen Vorschläge zum Manuskript und Klaus

Kellner für die gute redaktionelle Durchsicht.

Skrupellose Habgier

Eine nächtliche Verabredung lockt Kommissar Schilling zum Bahnhof, wo er den Bauamtsleiter Poppe treffen soll. Diesen findet er nach einer

missglückten Verfolgungsjagd tot in der

Baugrube auf dem Bremer Bahnhofsplatz.

Was enthielten die Dokumente, von denen Poppe vorher am Telefon gesprochen hatte? Wer von den vielen zwielichtigen Gestalten in dieser Branche und einigen Behörden zieht mehr als die üblichen Vorteile aus dem Bauprojekt?

Die Ermittlungen führen das Kommissar-Duo

Schilling und Dunker zu mehreren Bauunter-

nehmen, doch der Kripo-Chef zieht das Team von dem Fall ab und übergibt ihnen einen ungeklärten Suizid. Bei den Untersuchungen stoßen die Kommissare ebenfalls auf Bauunternehmen.

Ist das ein Zufall oder hängen die Fälle zusammen, warum mussten Poppe und eine junge Frau sterben?

Können die Verbrechen rund um das

»Bremer Loch« aufgeklärt werden?

1. Kapitel

»Schilling«, meldete sie sich mit verschlafener Stimme.

»Ayşe, du musst mir helfen. Ich … ich kann das nicht

alleine. Ich schaff das nicht.«

Niklas Schilling hörte, wie seiner Frau Ayşe am anderen Ende der Leitung das Telefon aus der Hand glitt und polternd zu Boden fiel. Sie hob es ächzend wieder hoch.

»Was hast du gesagt? Warum …?«

Ihre Stimme erstarb in einem Murmeln.

»Ayşe! Es geht nicht. Ich kann nicht. Du musst mir helfen! Es ist … ist so schrecklich!«

Abrupt ging ihre Stimme in eine schrille Tonlage über, sie sog erschrocken die Luft ein und rief:

»Niklas! Was ist los? Was ist mit dir? Bist du verletzt?«

Er starrte auf seine mit Lehm beschmierte Hose, auf seine verdreckten Schuhe und die schmutzigen Hände, die das Handy umklammerten, und zögerte mit der Antwort, als könne er so alles ungeschehen machen.

»Niklas! N I K L A S!« Ihre Stimme klang nun hysterisch. Sie hatte Angst.

Sein Hals war trocken, und er hörte sich krächzen.

»Es ist wegen Siegfried. Siegfried Poppe.« Pause. »Er

ist tot.«

Schilling konnte die Stille am anderen Ende der Leitung fast greifen, schließlich hörte er ihr leises Schluchzen.

Ruhig murmelte er: »Ich muss es ihr nun gleich sagen. Verstehst du? Gleich sagen. Bevor jemand es …«

Er brach ab, versuchte, sich zu fassen und stotterte fast: »Ich bin in 20 Minuten bei dir. Bitte, komm dann mit mir. Ich schaff’ das nicht alleine.«

Ayşe hatte sich inzwischen etwas gefasst, sie verstand, was er wollte, und antwortete leise: »Natürlich. Ich warte auf dich. Vor unserem Haus. Wir gehen gemeinsam zu Claudia, es sind ja nur ein paar Schritte.«

Niedergeschlagen saß er wenige Minuten später auf dem kalten Polster im Fond eines Streifenwagens, der leise in der Nacht durch das regnerische Bremen glitt. Was würde er zu Claudia sagen? Was würde Ayşe fragen? Was er gemacht habe? Warum er Siegfried nicht ernst genommen hatte, als der ihn nachts zum Bahnhof gebeten hatte? Dass er ihn irgendwie als leicht neurotisch einordnete, weil es in der Welt, die Schilling kannte, keine Hinweise auf Verschwörungen und finstere Mächte gab?

Nach Poppes Anruf bei ihm in der Wall-Wache, spät am Abend, war Schilling zum Ende seiner Arbeitszeit vom Wall aus durch die Dunkelheit, bei leichtem Regen zum Bahnhof gelaufen, hatte darauf vertraut, dass die kleinen Tropfen ihn erfrischen würden.

Erst an seinem Ziel fiel ihm auf, wie nass die Straßen waren, denn bei jedem Schritt hörte er ein leises Platschen. Ein verschleierter Nachthimmel hatte sich über die Stadt gelegt wie ein Deckel aus Watte, die Passanten und das Pflaster wechselten durch die Lichter der Neon-Reklamen ständig die Farbe.

Ein erdiger Geruch durchdrang die Luft. Sein Blick war auf den diffus leuchtenden Mond geheftet, den ein doppelter Hof umgab und an dem gerade graue Schleier vorbeizogen. Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen.

Die Mischung aus Kathedrale und Schloss am Ende der Straße war der alte Bahnhof aus dem 19. Jahrhundert. Seine beleuchteten Rundbogenfenster überstrahlten in der Nacht die Backstein-Fassade mit ihrer Leuchtkraft wie die Zähne das Gesicht von Louis Armstrong. Ihr Licht schien bis zur Hochstraße, von der ihre Erbauer einst geglaubt hatten, sie würde Bremen die Aura einer modernen Großstadt verleihen, und die jetzt ein abgewracktesSymbol vergangener Vorstellungen von Mobilität war.

Die jungen Afrikaner, die an der Ecke zum Breitenweg, direkt an der Hochstraße herumstanden, hatten sich eine Art Unterstand hergestellt und einen großen Regenmantel über ihren Köpfen ausgebreitet. Nur noch wenige Imbissbuden waren geöffnet, um die Eingänge scharten sich mehrere Gestalten. Mit den pantomimischen Gebärden von Komikern, die durch Gesten Kälte und Nässe vertreiben wollen, schlugen sie die Arme um ihre Körper oder rieben ihre Hände aneinander. Wachsam schauten sie sich um, immer wieder gingen ihre Blicke in alle Richtungen. Erkannten sie in ihm einen Polizisten, der ihre Drogengeschäfte unterbinden würde? Aber das lag heute nicht in Schillings Interesse.

Um fünf vor zwölf hatte er Siegfried Poppe direkt vor dem Haupteingang treffen sollen. Er schüttelte den Kopf, als er an den Anruf dachte. Das war seltsam gewesen und hatte sich wie aus einem Verschwörungs-Thriller angehört. Fünf vor zwölf! Poppe hatte tatsächlich eine Neigung zu Verschwörungstheorien. »Aluminium-Experten« vergiften uns, hatte sein Nachbar neulich behauptet. Zu fortgeschrittener Stunde und mit viel Rotwein gelang es ihm häufig, eine Runde geladener Gäste mit Einwürfen dieser Art von ernsthaften Themen abzulenken und das Gespräch an sich zu ziehen.

Manchmal beugte er sich über den Tisch; seine Augen waren wie dunkle Steine, die sich daraufhin verschleierten; mit leiser, verschwörerischer Stimme warf er ohne jeglichen Zusammenhang ein: »Es geht mich eigentlich nichts an, aber habt ihr schon mal von Blackrock gehört? Die machen uns fertig – lauern nur auf eine Gelegenheit, die deutsche Wirtschaft dicht zu machen. Wenn die noch zusammen mit der NSA … dann sind wir geliefert. Ehrlich.«

So ging es meist munter weiter. Die Welt sei böse, Regierungen korrupt, Konzerne gierig und machthungrig, wir würden nur noch belogen von den USA, der CIA, von Geheimbünden. Im Dunkeln verborgene, einflussreiche Männer steuerten die Welt. Manchmal, von der Seuche solcher Theorien angesteckt, ergänzten dies seine Besucher mit zusätzlichen Details, die gedanklich kleben blieben und sich anhäuften mit Zinseszinsen. Claudia, seiner Frau, war das nicht weiter peinlich. In Kindererziehung erfahren, wusste sie, dass es aus taktischen Erwägungen besser war, nicht auf seine Themen einzugehen. Wenn man ihm nämlich in seinen Argumenten folgte, führte das in der Regel zu einem uninteressanten Abend für alle, wie Schilling aus leidvoller Erfahrung wusste, weil Siegfried seine Weisheiten unentwegt den ganzen Abend herumtrompetete.

Nun aber hatte er zu später Stunde überraschenderweise Schilling angerufen, was er zuvor nie getan hatte, schon gar nicht am Wall, im Polizeihaus. Schilling war überrascht gewesen, dass Poppe überhaupt seine Nummer hatte. Aber seine Stimme hatte schon seltsam geklungen, so gehetzt, nervös, ängstlich, erschien es Schilling im Nachhinein.

Jedenfalls war Schilling aus Gewohnheit etwas früher zu der Verabredung erschienen und näherte sich durch die Bahnhofstraße langsam dem Bahnhofsvorplatz. Unpünktlichkeit hasste er nicht nur, sie bereitete ihm ein körperliches Unbehagen, so wie Vegetarier vor einem Salat zurückschrecken, wenn sie feststellen, dass der Koch das Aroma der Sauce so verstärkt hat, das sie an gebratenen Speck erinnert.

Hinter der Hochstraße bemühten sich linksseitig einige kümmerliche und, entsprechend der Jahreszeit, kahle Bäume vergeblich, die banalen Fassaden von Bürohäusern aus den 1960er-Jahren zu kaschieren. Rechts verbarg ein heruntergekommener Bauzaun die riesige Grube einer großen Baustelle. Aus für die Allgemeinheit nicht nachvollziehbaren Gründen war sie schon seit längerer Zeit stillgelegt. In Fetzen herunterhängende Poster, umherliegende Getränkedosen und Verpackungsmüll vor dem Zaun schienen den Eingang zu einem zeitgenössischen Purgatorium Dantes zu verbergen.

Er überquerte die Straßenbahnschienen. Die Eingangshalle des Bahnhofs entließ nur noch vereinzelt Passanten auf den Vorplatz. Hier würde er Poppe leicht finden können; deshalb hatte dieser wohl auch den Treffpunkt vorgeschlagen. Schilling stellte sich so hin, dass er die Ausgänge gut im Blick hatte.

Im Licht der Straßenbeleuchtung wirkte die Fassade flach. Anders als am Tage, wo das Gebäude immer neue Formen entwickelte – wie ein sich drehender Körper, der dem Betrachter stetig neue, überraschende Perspektiven präsentierte, wodurch das Gebäude fast lebte.

»Ich werde brisante Dokumente dabei haben«, hatte Poppe am Telefon gesagt. »Die hier im Bauamt aufzubewahren, ist mir zu unsicher. Aber zu Hause auch.« Schilling hatte ungläubig reagiert. Siegfried Poppe hatte ihm aber versichert, eine Aufbewahrung in seinem Büro sei zu riskant, deshalb habe er extra ein Schließfach im Bahnhof gemietet. Das sei sicher, und jetzt werde er die Papiere holen. Ob Niklas ihm helfen könne, die sicher nach Hause zu transportieren? Und morgen, morgen würde er … Poppe hatte abgebrochen, als habe er zu viel gesagt.

Verschwörungstheorien hin, Verschwörungstheorien her. Schilling hatte zugesagt, nicht länger nachgefragt und schrieb das auf sein Konto Gutwilligkeit. Schließlich waren ihre Frauen sehr gute Freundinnen, und außerdem musste er sich gerade auf den Fall der stummen Erzieherin konzentrieren, der keine Freude bereitete.

Für Freunde macht man sowas, hatte er noch gedacht.

Noch fünf Minuten. Er rückte seine Krawatte gerade und strich über seinen Regenmantel, um ihn zu glätten. Von hinten näherten sich zwei junge Männer, gingen langsam zum Eingang und unterhielten sich dabei. Unter dem Vordach hatten Obdachlose unter seltsamen Gebilden aus feuchter Pappe und alten Bettdecken Schutz vor der Nässe gesucht und waren in dem Gewühl kaum erkennbar. Über ein wüstes Durcheinander umgekippter Fahrräder hinweg konnte er wartende Taxifahrer sehen, die sich in einer kleinen Gruppe unterhielten. Hier und da tauchten Passanten aus der Dunkelheit auf, um kurze Zeit später wieder darin zu verschwinden. Weit entfernte Geräusche durchdrangen zögernd, aber stetig die Luft: Auspufflärm, quietschende Straßenbahnräder, ankommende und abfahrende Züge, undefinierbarer Lärm.

Kein Poppe in Sicht. Die Nässe trübte sein Vergnügen,diese nächtliche Szene zu beobachten. Warten, wenn es sich allzulange ausdehnt, wird zur Marter. Los, komm endlich!, schickte er einen stummen Ruf in die Bahnhofshalle.

Daraufhin kniff Niklas die Augen zusammen, trat von einem Bein aufs andere und konzentrierte sich nacheinander auf jeden der drei Ausgänge. Aus welchem würde er kommen, überlegte sich Schilling ein kleines Ratespiel, um die Wartezeit zu überbrücken. Würde er überhaupt von dort kommen? Das hätte Poppe doch wenigstens sagen können, dachte er. Warum sie sich nicht sogleich bei den Schließfächern treffen sollten, blieb ein Rätsel.

Noch immer nichts. Aus den Augenwinkeln sah er rechts eine Bewegung am Seiteneingang und wurde gleichzeitig durch eine Gruppe Frauen abgelenkt, die mit scheppernden Rollkoffern durch die sich wie von Geisterhand öffnenden Eingangstüren in Richtung Straßenbahn liefen.

Halt! War das dort rechts nicht Poppe? Mit schnellen Schritten, nein, fast rennend, hatte ein Mann im hellem Trenchcoat, mit Schlapphut und einem Aktenkoffer den Seiteneingang verlassen und war schon fast bei den Kiosken auf dem Platz angekommen. Genau, das musste er sein, so etwas trug er meist. So hatte Schilling ihn kennen gelernt.

Aber warum lief Poppe vor ihm weg, weg vom Bahnhof, auf den Bauzaun zu?

2. Kapitel

Als Schilling sich aus seiner Erstarrung löste, immer noch unsicher, ob die fliehende Silhouette wirklich zu Poppe gehörte, war der Mann bereits wie ein flüchtiger Schatten hinter den Kiosken verschwunden, die eine Barriere zwischen Taxiständen und Straßenbahnschienen bildeten. Erst als Poppe aus dem Dunkel ins Licht der Laternen trat, bemerkte Schilling auch die beiden Männer, die ihm nachliefen. Zuerst leuchtete im Licht einer Straßenlaterne ein auffallend dicker, blonder Haarschopf auf, der zweite Mann dahinter war kaum zu erkennen in seiner schwarzen Kleidung. Dann waren beide verschwunden. Irritiert blieb Schilling noch einen Moment stehen, rannte dadurch verspätet los, vorbei an den kleinen Läden, die fast alle geschlossen waren. Als er am Ende der Zeile um die Ecke rannte, rutschte er aus, musste sich an einem Verkehrsschild festhalten und ermahnte sich, vorsichtiger zu laufen.

Er stand nun Ecke Breitenweg, kein Poppe zu sehen. Niemand rechts bei den Bushaltestellen des ZOB. Also links suchen, aber er wurde von einer einfahrenden Straßenbahn aufgehalten, wollte an dieser links vorbeilaufen, musste aber vor der nächsten, in die andere Richtung fahrenden Bahn stoppen, die zu allem Überfluss auch noch kurz anhielt. Nach rechts oder nach links ausweichen? Die Lücke zwischen den Waggons erschien ihm zu schmal, zu gefährlich, deshalb lief er nach links, als sich die hintere Straßenbahn langsam in Bewegung setzte.

Leise sein Pech verfluchend, wartete er auf die Lücke,zwischen den Straßenbahnen, um dann weiter zu eilen.

Kein Poppe weit und breit. Vielleicht war er ja an dem Bauzaun entlang gerannt? Sich weiter umschauend setzte sich Schilling wieder in Bewegung. Nach links war Poppe offenbar nicht gerannt, soviel war ihm klar, als er die Ecke des Zaunes erreichte. Vielleicht war er rechts – aber da war auch niemand zu sehen. Er warf einen Blick Richtung Stadtmitte. Kein Poppe. Nirgendwo.

Jetzt erst fiel sein Blick auf den Aktenkoffer, den jemand achtlos vor die Baustelleneinfahrt geworfen hatte. Mit düsteren Vorahnungen einer kommenden Katastrophe rannte er los. Jemand hatte das Gitter an der Baustelleneinfahrt beiseite geschoben. Davor lag der Koffer. Er hob ihn hoch – leer. Vorsichtig betrat er die lehmige Einfahrt und versuchte, in der tiefen Baugrube etwas zu erkennen. Sofort steckte er mit seinen Schuhen im Matsch fest. Ärgerlich zog er die Hosenbeine hoch, näherte sich der nach unten führenden Rampe und kniff die Augen zusammen. Im Regen verschwammen alle Konturen, und er erkannte kaum die hellen Plastikfolien über den Spundwänden. Er würde jedenfalls nicht die Rampe hinunterlaufen und den Boden der Baugrube nach irgendwelchen Papieren absuchen, nahm er sich vor.

Vom Rand aus spähte er nach unten, sah den Sand

und den Lehm, hielt sich an einem provisorischen Geländer fest, um nicht abzurutschen. Da, ein heller Fleck am Boden, war das ein Mensch? Wieder kniff er die Augen zusammen und schützte sie mit vorgehaltener Hand vor dem Regen. Ja, das sah definitiv wie ein Mensch aus, der dort auf dem Boden der Baugrube lag.

Wenige Sekunden später kniete er auf dem matschigen Untergrund neben dem leblosen Poppe und berührte seine Wange; sie war noch warm. Sein Gesicht war fast vollständig in den Schlamm gedrückt. Behutsam drehte Schilling Poppes Kopf ein wenig und tastete nach der Halsschlagader. Er fühlte keine Pulsbewegung, sein Lebenslicht war verloschen wie das einer umgedrehten Fackel.

Langsam richtete Schilling sich auf, starrte auf seine lehmigen Schuhe, auf seine schmutzigen Hosen und wischte seine Hände mit dem Taschentuch ab.

Dann griff zum Telefon, um seine Kollegin Inge Dunker, eine Ambulanz, und schließlich seine Frau Ayşe anzurufen.

Wenige Minuten lang stand er still und dachte erschüttert, hätte dieser Tod verhindert werden können? Die sich nähernde Sirene eines Streifenwagens riß ihn aus seinen Gedanken, durchdrang seinen ganzen Körper wie Hammerschläge.

3. Kapitel

Claudia Poppe hörte sicherlich, wie die Türen eines Wagens vor ihrem Haus zugeschlagen wurden. Sie hatte auf Siegfried gewartet, denn Schilling sah ihren Schatten schon zur Tür kommen, als sie ausstiegen.

Der Streifenwagen blockierte die schmale Straße mit den Reihen parkender Autos. Schilling hatte den Fahrer gebeten, das Blaulicht abzuschalten, aber die Innenbeleuchtung strahlte in der Dunkelheit, und Claudia würde die Silhouette des Fahrers und einen Streifenwagen erkennen können. Er trat weiter vor, in das Licht der Außenbeleuchtung, wo Ayşe schon auf ihn wartete. Hastig dachte er über die letzten 30 Minuten nach. Hatte er alles richtig bedacht, oder hatte er etwas vergessen?

Nachdem seine Kollegin Inge Dunker die große Grube hatte absperren lassen und eine Fahndung vorbereiten wollte, verließ er den Baustellenbereich, um mit ihr das weitere Vorgehen abzusprechen.

»Aber wonach sollen wir suchen, Chef? Einen Kerl mit blonden Haaren? Noch einen Kerl, der ungefähr genau so groß ist? Mit dunkler Mütze oder so ähnlich? Wir halten die Augen offen, aber …«

Regen und Dunkelheit hatten aus Schilling einen schlechten Zeugen gemacht. Außerdem konnte er die beiden Männer nur einige Sekunden aus 100 Metern Entfernung sehen. Deshalb nickte er nachdenklich.

»So einen Fall habe ich auch schon mal gehabt«, sagte er. »Da war dieser Winge, vielleicht erinnern Sie sich. Er war ausgesprochen klug, aber eben ein Verbrecher. Der würde uns immer wieder entkommen – glaubte er zumindest. Wir haben ihn immer nur von hinten gesehen und hatten keine gute Beschreibung. Letztlich haben wir ihn doch geschnappt. Er hatte in einem Laden aus lauter Langeweile etwas geklaut, weswegen ein Verkäufer die Polizei rief. Damals gab es auch nur eine vage Beschreibung. Er lief auf der Straße vor dem Laden in eine Polizei-Kontrolle und wanderte ins Gefängnis.«

Schilling fasste seine spärlichen Beobachtungen zusammen.

»Also noch einmal. Dunkel angezogen, einer auffallend blond. Außerdem haben sie wahrscheinlich Papiere bei sich, Akten oder so etwas Ähnliches. Vielleicht in einer Tasche oder Tüte. Natürlich auch lehmbeschmierte Schuhe.« Bereits während er das aussprach, erkannte er aber auch, wie wenig hilfreich diese Informationen für die Fahndung waren. Es gab kaum einen Platz in der Innenstadt, der geeigneter gewesen wäre, um unbemerkt zu entkommen: Zwei Hauptverkehrsstraßen, die Hochstraße, ein Tunnel, zwei große Grünanlagen in der Nähe und viele kleine Straßen. Aber das alles war kein Grund, es nicht doch zu versuchen.

Nun aber wartete er vor dem Haus der Poppes, und hätte das Unausweichliche gerne noch ein paar Minuten hinausgezögert. Aber Claudia war schon an die Tür geeilt. Sie schob zuerst die zierliche Gardine an der verglasten Tür beiseite und öffnete den Eingang, sobald sie Ayşe erkannt hatte. Sie trat auf das Podest hinaus, zupfte ihren dunklen Rock zurecht und erstarrte in der Türöffnung. Eine erste Träne glänzte mit einem Mal auf ihrer Wange, als sie auch ihn mit dem uniformierten Polizeibeamten ins Licht treten sah. Als sie näher kamen und Claudia Ayşes tränenüberströmtes Gesicht und Schillings feuchte Augen sah, wich sie zurück, sank langsam in sich zusammen und saß schließlich auf dem Treppenpodest, die linke Hand hilfesuchend nach einem Halt ausgestreckt. Beide Schillings setzten sich neben sie.

Nach einer Weile halfen sie ihr hoch und brachten sie ins Wohnzimmer.

Im Schein der Zimmerbeleuchtung erkannte Schilling die Spuren eines auszehrenden Berufs in ihrem Gesicht. »Es tut mir sehr, sehr leid, aber ich muss dir leider mitteilen ...«, begann er und noch während er diese Phrase leise und ohne Betonung aussprach wünschte er sich, sie nicht benutzen zu müssen.

»Siegfried ist tot.«

»Wo ist er? Kann ich ihn bitte sehen?«

Langsam schüttelte er den Kopf. Ayşe wusste, was jetzt kommen würde und ergriff Claudias Hände.

»Ich glaube, das war kein Unfall. Er muss deshalb noch untersucht werden. Danach komme ich sofort und bringe dich zu Siegfried.« Claudia wandte sich Ayşe zu, die noch immer ihre Hände hielt.

»Kümmere dich bitte um unsere Kinder«, flüsterte Ayşe kaum hörbar. Schilling verstand den Wink, verließ das Haus und befreite den noch vor dem Haus wartenden Polizisten aus seiner Verlegenheit. Mit hängenden Schultern ging er langsam die Straße hoch.

Leise schloss er die Haustür, zog seine dreckverkrusteten Schuhe aus und bewegte sich lautlos auf Socken, damit das Geräusch seiner Schritte nicht in den Schlaf seiner Kinder eindrang. Wie immer bürstete er seine Schuhe ab, diesmal aber fast schlafwandlerisch, ohne laute Geräusche zu machen. Ebenso leise zog er die Tür zur Küche und zum Wohnzimmer zu, deckte den Frühstückstisch und hinterließ Rosa und Harkan eine Nachricht.

Als er am späten Vormittag, nach vielen Wachphasen, noch immer müde und von der Wucht der vorausgegangenen Ereignisse gedämpft, in der Küche einen starken Kaffee zubereiten wollte, staunte er und gewann ein Stück Zuversicht zurück.

Es gibt auch Kinder, das wusste Schilling, die zwar im Hinblick auf bestimmte Zimmer, wie etwa die ihrer Großeltern, begeistert für Ordnung eintraten, um kurze Zeit später in ihren eigenen Räumen Unordnung als Tugend hochzuhalten. Hier jedenfalls fand er alles gut, ja fast penibel aufgeräumt vor. Er strahlte. Seine Nachricht lag noch auf dem Tisch, aber die Kinder hatten sie ergänzt. Er erkannte Rosas Handschrift und war gerührt. Er solle gut schlafen, sie wären um 12 Uhr wieder da, und sie hätten ihm etwas Obst, einen Teller und eine Kaffeetasse auf den Tisch gestellt, weil er vielleicht zu müde sei, das selbst zu tun.

Auf seinem Handy waren inzwischen mehrere SMS aufgelaufen. Ayşe hatte die ganze Nacht bei Claudia verbracht. Sie war wie immer besorgt um seine Gesundheit, hatte seinen Schlaf nicht durch Telefonanrufe unterbrechen wollen. »Kannst du bitte bei uns vorbei kommen?«, las er noch. Die von Inge Dunker eingeleitete Fahndung hatte sich – wie bereits von ihm vermutet – als erfolglos erwiesen.

»Dreimal dürfen Sie raten, Chef, was dabei rausgekommen ist!«, las er auf seinem Handy.

Der Kaffee schmeckte ihm nicht so recht, er ging in die Küche, stellte einen Mittagsimbiss für die Kinder zusammen und verließ bald danach das Haus. Kurz darauf stand er vor einer cremefarbenen Gründerzeitfassade, nur ein halbes Dutzend Häuser entfernt, und las mit traurigen Gedanken »Dr. Claudia und Siegfried Poppe« auf dem Messingschild. Er hoffte, dass seine Intuition ihm jetzt den rechten Weg weisen würde.

Eine Verwandte hatte ihm die Tür geöffnet, und er fand beide Frauen mit Poppes beiden Mädchen am Küchentisch eng beieinander versammelt, so wie man in der Not immer zusammenrückt; ein Anblick, der ihn rührte, denn er sah die erschöpft gebeugten Schultern und ihre Tränen in den Augenwinkeln. Schweigend nahm er Platz. Ayşe schob ihm einen Kaffee zu. Er wartete. Sie wirkte völlig erschöpft, hatte dunkle Ringe unter den Augen und war blass. Claudia stützte mutlos mit den Fingerspitzen ihre Stirn; ihre Haare, glanzlos herunterfallend, waren scheinbar seit dieser Nacht wie mit silbernen Fäden durchzogen.

Schilling beugte sich vor. Auch er wirkte müde und sprach schleppend. Die Sätze brauchten ihre Zeit, weil ihm die Worte nur zögernd über die Lippen kamen.

»Möchtet ihr heute vielleicht mit zu Rosa und Harkan kommen?«, wandte er sich an Elena und Miriam. »Die sind bestimmt gleich zu Hause. Ayşe, kannst du sie bitte mitnehmen? Ich muss gleich los.«

Rosa und Harkan würden dafür sorgen, dass auch Ayşe sich ausruhen könnte.

Claudia, eine schlanke Frau mit hellem Teint und dem erschöpften Aussehen einer Person, die ihr bisheriges Leben vor allem damit zugebracht hatte, anderen zu helfen, nickte kaum sichtbar. Sie verstand, worum es ging.

Kraftlos erhob sie sich und begleitete Ayşe zur Tür, dankbar für die nächtliche Unterstützung.

Schilling blieb zögernd sitzen, und nach einiger Zeit wisperte sie: »Du kannst dir alles ansehen, sein Zimmer, seine Sachen.«

Sie schüttelte den Kopf und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Wieder eine lange Pause.

»Ich glaube, er hatte Angst. Das war eine andere Angelegenheit als diese CIA-Geschichten, die er immer erzählte. Aber darüber hat er kaum etwas erzählt. Du weißt ja, wie er war«

Schilling nickte stumm. Sie begriff, dass er mit dem Schweigen seinem Beileid Ausdruck gab und wartete noch einen Moment. Schließlich stand sie auf, und ihre Schwägerin brachte sie nach oben.

4. Kapitel

Am Bahnhof sah er sofort die pulsierenden blauen Lichter der Streifenwagen. Reporter stampften in der Kälte mit den Füßen und rieben sich die frierenden Hände. War das gewaltsame Ende eines Menschen etwa eine Show? Wie auch immer, das hier war ein trostloser Ort, aber besonders trostlos zum Sterben. Ein kalter Wind blies aus dem Osten, pustete zwischen den Häusern hindurch auf die Baugrube. Es zog lausig. Straßenbahnen und Busse entluden ihre Passagiere, die mit schnellen Schritten zu weiteren Anschlußbahnen eilten.

Die Polizei hatte nur wenig absperren müssen. Rotweiße Flatterbänder verschlossen lediglich den vielleicht zehn Meter breiten Eingang, das gesamte restliche Gelände war komplett durch einen hohen Bauzaun abgesperrt. In weitem Bogen umfuhr Schilling das Verkehrschaos und stellte sein Fahrrad an der gegenüberliegenden Straßenseite ab, direkt vor einer Werbetafel, die verkündete: »3-2-1-meins!«. Schöne gekaufte Welt, dachte er.

Auch ihm war kalt. Unter seinen Füßen zerstob das welke Laub; der Herbst war noch nah, aber gleichzeitig schon vergangen, der Himmel war irgendetwas zwischen eisblumenweiß und staubgrau. Es war feucht, und seine Jacke glänzte.

Inge Dunker hatte ihn schon von weitem erkannt und ging auf ihn zu. Sie sah müde aus, hatte Sorgenfalten um den Mund. Trotzdem bemerkte sie seinen musternden Blick. Sie blieben beide stehen und starrten auf die Baustelle, während sie der Regen langsam durchnässte.

»Hab’ ein wenig im Streifenwagen geschlafen«, erklärte sie leichthin. »Sonst hätt’ ich zu Hause doch nur ein uraltes Video zu Ende angeschaut und mir dann auf der Couch einen abgeschnarcht.« Auch ihre Jacke glänzte vor Feuchtigkeit, und ihre Gummistiefel waren voller Schlammspritzer. Die Kapuze hatte sie mit Sicherheitsnadeln am Kragen festgesteckt. »Hab’ auch schon die Suche nach seinem Handy eingeleitet. Bisher noch nichts. Da unten in der Grube ist es jedenfalls nicht.« Sie musterte ihn. Diesmal war Schilling richtig gekleidet, auch er trug passendes Schuhwerk, Regenjacke und eine Regenhose.

»Am Eingang ist fast nichts zu holen, Chef.« Schnell verbesserte sie sich. »Oder doch. Viel zu viel! Wir gehen mal!«

Darüber hatte er während der Fahrt schon nachgedacht, es würde in der Tat schwierig, wenn nicht gar unlösbar werden. Sie würden Unmengen von Fußabdrücken und Reifenspuren finden, schließlich war das der einzige Zugang zu der Großbaustelle. Eine höllische Arbeit für die Spurensicherung, dachte er.

Vorsichtig ging er mit kleinen Schritten die Rampe hinunter, hielt seine Hände so, dass er sich abstützen könnte, damit er nicht, wie in der Nacht, ausrutschen und ei kleines Schlammbad nehmen würde. Poppes Körper ruhte noch immer auf einer matschigen Fläche, mit dem Gesicht ein wenig zur Seite gedreht, von einem weißen Zelt vor Regen und Nässe geschützt. Ein Schuh hing noch am Fuß, und er konnte die abgewetzte Sohle erkennen. Der andere Fuß steckte in einer von Schlamm verdreckten Socke und war in eine Spurensicherungstasche gehüllt. Poppes Hände waren vom Körper verdeckt. Dr. Bernd Bornemann, der Gerichtsarzt, kniete auf einer sauberen Gummimatte neben ihm, ein blütenweißes Taschentuch zum Schutz seiner Hosen darauf gelegt. Auch diesmal sah er aus wie aus dem Ei gepellt, in seiner adretten Hose aus blauem Tuch, mit dem weißen Hemd und einer schmalen, dunkelblauen Krawatte. Sogar bei einer solchen Untersuchung schien er die Kälte nicht zu spüren. Auch diesmal kam sich Schilling in seiner Gegenwart eher unordentlich angezogen vor, mit knittriger Hose und faltigem Jackett. Seinen Trenchcoat hatte Bornemann im Zelt aufgehängt, und sein einziges Zugeständnis an das Wetter und die Umgebung waren seine Duck Boots. Irgendwie hatte er es geschafft, dass diese auch fast sauber geblieben waren. Draußen vor dem Zelt suchten zwei Männer in Schutzanzügen nach Spuren. Nur wenige Marker waren in den Lehm gestellt worden. Die Polizeifotografin richtete gerade nach einem unfreiwilligen Ausrutscher im Schlamm die Tatortleuchten neu aus.

Interessiert sah Schilling sich um. In der Zeitung hatte er mehrfach gelesen, dass die Spundwände in der Baugrube nicht stabil genug waren, konnte aber keinen Hinweis darauf entdecken. Außerdem waren sie von Plastikfolien verhüllt. Wie tief war die Grube wohl? Er schätzte 14, 15 Meter, auf jeden Fall hoch genug, um vom Rand aus in den Tod zu stürzen. Neben der einen Längsseite fuhren Autos über die Hochstraße, neugierige Gesichter schauten aus den Autofenstern und versuchten sich einen Reim auf das Spektakel unter ihnen zu machen. Es fing stärker an zu regnen, die Wassertropfen rannen an seiner Kleidung herunter, zerplatzten auf dem Boden und bildeten zusammen mit dem Lehm eine unappetitliche Brühe.

Beulten sich die Wände hier ein wenig nach Innen? Wenn das wirklich stimmte, was in den Zeitungen stand, musste der Erdboden an der Oberfläche etwas abgesackt sein, denn die BSAG hatte die Bahngleise sicherlich nicht ohne Grund gesperrt. Aber Schilling konnte nichts entdecken.

Bornemann winkte ihn zu sich: »Schau dir das mal an. Ich glaubte zwar, er wäre durch den Sturz aus dieser Höhe gestorben, aber …«

Mit dem Zeigefinger wies er auf eine dunkel verfärbte Stelle am Hinterkopf und auf einen Fleck auf dem Hemdkragen. »Das ist Blut. Und es sieht nach einem sehr heftigen Schlag aus.

»Wie ist er hierher gekommen? Was glaubst du?« antwortete Schilling. »Jedenfalls ist er nicht hierhin gelaufen. Den hat jemand von da oben heruntergeworfen, denke ich.«

Bornemann zeigte auf eine Stelle links neben der Rampe.

»Etwa von da. Ich glaube nicht, dass man eine Person viel weiter als bis hierhin stoßen kann. Die genaue Todesursache sollte ich mittels Autopsie feststellen können. Soll ich noch irgendetwas machen? Fotos sind schon fertig.«

Inge Dunker schlingerte die Rampe herunter. Sie hatte es geschafft, zwischendurch ein Würstchen zu essen, denn er sah einen frischen Senffleck auf ihrer Jacke.

»Ich kann’s nicht beschwören, Chef. Aber ich vermute – Poppe haben sie von oben runter geworfen. Gitter beiseite geschoben, hochgehoben und zack!«

Am Rand oben suchte jemand nach Spuren. Sie zeigte darauf und breitete die Hände zu einer Geste aus, die Ratlosigkeit ausdrücken sollte.

»Dort sind auch Fußspuren. Aber ganz viele.« Inzwischen hingen ihre grauen Haare in nassen Strähnen vor ihren Augen. Ärgerlich schob sie diese zurück und meinte: »Dann finden wir nur noch was bei der Autopsie. Wenn wir Glück haben. Wir sollten die Hände sichern. Vielleicht hat er sich gewehrt.«

Schilling nickte. »Einverstanden.«

Gemeinsam drehten sie ihn auf den Rücken, und Schilling konnte nicht einmal sein Gesicht unter der Schlammmaske erkennen.

»Macht keinen Sinn, ihn hier weiter zu untersuchen.«

Der Gerichtsarzt sah ihn fragend an. »Machen wir das Übliche? Du weißt schon.«

»Schau bitte vorher in den Taschen nach!«

Mit seiner feingliedrigen Hand tastete Bornemann alle Taschen ab, fand Brieftasche, Schlüsselbund und Taschentücher. Kein Handy dabei, wie sie schon vermutet hatten, aber Poppe hätte es natürlich auch ausschalten können. Nochmals fuhr er unter den Stoff und brachte einen Schlüssel hervor, den er in eine von Schilling bereit gehaltene Sicherungstasche fallen ließ. Anschließend schob er den Kommissar näher an die Tatortleuchten und hielt den Beutel ans Licht.

»Sieht mir aus wie ein Schließfach-Schlüssel.«

Der Kommissar nickte zustimmend und schaute sich um. Er sah Inge Dunker, inzwischen wieder nahe an der Einfahrt und winkte ihr zu. Sie war gerade dabei, einen der Spurensucher zu interviewen, und so stieg er die Rampe hoch.

»Klar doch, Chef! Wir suchen das Schließfach.« Sie hatte sofort begriffen, worum es ging, schnappte sich zwei uniformierte Polizisten und ging los. Er beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sie sich an die Polizisten wandte, um sie zu instruieren.

Schilling hatte das Gespräch mit dem Spurensucher wegen Inge Dunker unterbrochen und sprach diesen erneut an. »Entschuldigung. Was rausgefunden?«

»Bei den vielen Spuren schlecht zu sagen. Hier haben wir Abdrücke von Halbschuhen, darüber Profilsohle, könnten Bauarbeiterstiefel sein. Wie auch immer, wir gießen sie aus und schauen mal.«

Offensichtlich fand er ein weiteres Gespräch überflüssig und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu. Breitbeinig bewegte er sich den Rest der Rampe hinauf.

Schilling musste sich noch einmal vergewissern, dass er am Tag zuvor alles unternommen hatte, was in seiner Macht gestanden hatte, deshalb stieg er ebenfalls aus der Baugrube und ging er zum Haupteingang des Bahnhofs.

Wo hatte er noch einmal gestanden? Er stellte sich zwischen die beiden Türme aus rotem Backstein, die links und rechts neben der Eingangshalle aufragten. Unter dem Gesims zeigte ihm eine allegorische Sandsteinfigur den Weg nach rechts; sie ritt auf einem Rad in diese Richtung und führte einen Drachen. Genau das war die Richtung, in die er nun erneut gehen musste. 100 Meter bis zu den Kiosken, hinter denen jetzt parkende Busse standen – das kam ungefähr hin. Vielleicht hatte er 20 oder 30 Sekunden gezögert, bis er losgelaufen war? Aber er war nicht sofort schnell gelaufen. Machte also zusammen vielleicht eine Minute. Dann stand dort eine Straßenbahn, wie jetzt, die von links gekommen war. Er lief los, stoppte und wartete auf eine andere Bahn von rechts. Wie am Abend zuvor musste er sich eine Zeit lang gedulden, bis zwischen zwei Bahnen eine Lücke frei wurde und er dazwischen schlüpfen konnte. Mindestens eine halbe Minute. Noch einmal bis zur Ecke, diesmal schneller, vielleicht 50 Meter, zehn Sekunden. Er erinnerte sich, dass er vorsichtig gelaufen war, weil seine Schuhe mit den Ledersohlen rutschig waren. Dann warten an der Ecke, zurückschauen, in alle Richtungen peilen. Ja, das waren insgesamt mindestens zweieinhalb, vielleicht sogar dreieinhalb Minuten gewesen. Zeit genug für die beiden Männer, Poppe in die Grube zu werfen. Er selbst hatte keine Chance gehabt, dies zu verhindern.