Warten bis der Frieden kommt (Ein berührendes Jugendbuch über die Zeit des Zweiten Weltkrieges, Rosa Kaninchen-Trilogie, 2) - Judith Kerr - E-Book

Warten bis der Frieden kommt (Ein berührendes Jugendbuch über die Zeit des Zweiten Weltkrieges, Rosa Kaninchen-Trilogie, 2) E-Book

Judith Kerr

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Beschreibung

Ein jüdisches Mädchen flieht mit ihrer Familie vor den Nazis durch ganz Europa: die kindgerechte Aufarbeitung einer wahren Fluchtgeschichte Annas Familie ist nach England geflohen. Als der Luftkrieg über London hereinbricht, wird das Hotel, in dem sie eine notdürftige Unterkunft gefunden haben, zerstört. Die finanzielle Lage wird noch schwieriger, aber das Leben geht weiter - und irgendwann wird Frieden sein. Die gesamte Reihe: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Warten bis der Frieden kommt Eine Art Familientreffen

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHUngekürzte LizenzausgabeText copyright © Kerr-Kneale Productions Ltd 1971, 1975The author asserts the moral right to be identified as the author of this work.»Warten bis der Frieden kommt« erschien unter dem Titel »The Other Way Round«© 1975 by Judith KerrUmschlagillustration: Henriette SauvantÜbersetzung aus dem Englischen: Annemarie BöllAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47687-9www.ravensburger.de

Welcher Wahn dem ErdengastAuch entdämmert und erblasst –Eines fühlt man in dem Treiben:Eltern … bleiben.Stiller Pol im Lebensbraus.Leuchten. Übers Grab hinaus.Minne fällt und Freundschaft fällt,Wenn die Seelen unsrer WeltSich in Trug und Kampf zerreiben:Eltern … bleiben.Welcher Wahn dem ErdengastAuch entdämmert und erblasst:Eines starken Engels HandSoll es überm TotenlandIn die ewigen Sterne schreiben:Eltern … bleiben.

Alfred Kerr

Teil 1

1

Im Haus der Bartholomews in London stand Anna in ihrem Zimmer im obersten Stockwerk. Sie hatte endlich daran gedacht, den herunterhängenden Saum ihres Rockes auszubessern, und sie trug neue Flor-Strümpfe, keine schwarzen von Woolworth, sondern teure beigefarbene von Marks & Spencer. Ihr selbst gestrickter Pullover passte einigermaßen zu ihrem Rock, und die hübschen Schuhe, die sie von einer der Bartholomew-Töchter geerbt hatte, waren frisch geputzt. Sie kippte den Spiegel des Frisiertisches ein wenig, um sich in voller Größe betrachten zu können, und hoffte, dass sie mit sich zufrieden sein würde.

Wie gewöhnlich war sie enttäuscht. Das Zimmer erdrückte ihre Erscheinung. Es war zu deutlich, dass sie nicht hierher gehörte. Vor der seidigen Steppdecke des Bettes, der eleganten Tapete, den schönen, polierten Möbeln wirkte sie ordentlich, aber langweilig, eine kleine Person in Braun. Wie ein Dienstbote, dachte sie, oder ein Waisenkind. In dieses Zimmer gehörte jemand, der unbekümmert war, reicher; der häufiger lächelte.

Sie setzte sich auf den chintzbezogenen Schemel und betrachtete mit zunehmender Gereiztheit ihr Gesicht. Dunkles Haar, grüne Augen, der Ausdruck zu ernst. Warum war sie nicht wenigstens blond. Jeder wusste, dass blondes Haar besser ankam. Alle Filmstars waren blond, von Shirley Temple bis zu Marlene Dietrich. Auch mit ihren Augenbrauen stimmte etwas nicht. Sie hätten dünn und bogenförmig sein sollen, wie mit einem Bleistift gezogen, stattdessen waren sie dicht und beinahe gerade. Und ihre Beine – an ihre Beine mochte Anna gar nicht erst denken, denn sie waren ziemlich kurz. Kurze Beine zu haben, das war schon kein Unglück mehr, sondern einfach eine Geschmacklosigkeit. Sie beugte sich vor, und ihr Spiegelbild neigte sich ihr entgegen. Wenigstens sehe ich intelligent aus, dachte sie. Sie zog die Stirn kraus und schürzte die Lippen, um diesen Eindruck zu verstärken. Gescheit hatten sie sie in Miss Metcalfes Internatsschule für Mädchen genannt. Das gescheite kleine Flüchtlingsmädchen. Sie hatte zuerst gar nicht gemerkt, dass dies abschätzig gemeint war. Niemand hatte sie in Miss Metcalfes Schule sehr gemocht. Das habe ich nun wenigstens hinter mir, dachte sie.

Sie griff nach ihrer Handtasche – rissiges braunes Leder, eine alte Tasche von Mama, die diese aus Berlin mitgebracht hatte – zog ein Döschen mit Kompaktpuder heraus und fing an, sich sorgfältig die Nase zu pudern. Kein Lippenstift, noch nicht. Nur leichtfertige Mädchen benutzten mit fünfzehn schon Lippenstift. Zu Miss Metcalfe wäre ich nie gekommen, dachte sie, wenn wir nur eine Wohnung gehabt hätten. Dass sie in einem Hotel leben mussten, hatte alles so schwierig gemacht, dies und der Mangel an Geld. Denn als Mama und Papa Annas Hotelzimmer nicht mehr bezahlen konnten (obgleich es ein ganz billiges Hotel war), war sie wie ein Paket herumgeworfen, von einer Hand zur anderen weitergereicht worden, ohne zu wissen, bei wem sie landen würde. Zu Miss Metcalfe war sie einzig und allein aus dem Grunde geraten, weil diese angeboten hatte, sie umsonst aufzunehmen. Und der Grund, warum sie jetzt bei den Bartholomews wohnte (obwohl die Bartholomews natürlich alte Bekannte und viel netter waren als Miss Metcalfe), der einzige Grund war wiederum, dass es nichts kostete.

Sie seufzte. Welches Haarband sollte sie nehmen? Immerhin hatte sie zwei, unter denen sie wählen konnte – ein braunes und ein grünes. Sie entschloss sich für Grün. Sie streifte das Band über den Kopf und dann von der Stirn zurück über das Haar. Dann betrachtete sie sich. Mehr ist nicht zu machen, dachte sie.

Irgendwo schlug eine Uhr zehn. Es war Zeit zu gehen. Mama und Papa erwarteten sie. Sie nahm ihren Mantel und prüfte den Inhalt ihrer Handtasche. Schlüssel, Taschenlampe, Personalausweis, Portmonee. Das Portmonee fühlte sich seltsam leicht an, und sie machte es auf. Es war leer. Die vier Pennies Fahrgeld mussten in die Handtasche gefallen sein. Sie stülpte die Tasche um. Schlüssel, Taschenlampe, Personalausweis, Puderdose, zwei Bleistifte, ein Busfahrschein, die Papierhülle eines Schokoladenkekses und ein paar Krümel. Das Geld war nicht da. Aber es musste da sein. Sie hatte es doch gehabt. Sie wusste bestimmt, dass sie es am Abend zuvor noch gehabt hatte. Aufgeregt durchsuchte sie die Taschen ihres Mantels. Nichts. Ach, verflixt, dachte sie. Gerade als ich meinte, alles wäre in Ordnung. Dass das jetzt wieder passieren musste!

Sie stopfte all den Kram wieder in die Tasche, nahm den Mantel und verließ das Zimmer. Was soll ich jetzt machen, überlegte sie. Sie warten doch auf mich, und ich habe kein Fahrgeld. Im Treppenhaus war es dunkel – die Mädchen mussten vergessen haben, die Verdunkelungsrollos hochzuziehen. Ob sie sich bei den Dienstmädchen Geld leihen sollte? Nein, dachte sie, das geht nicht. In der Hoffnung, dass irgendein Wunder geschehen würde, begann sie, die mit einem dicken Läufer belegten Stufen hinunterzusteigen.

Als sie in der Diele an dem ehemaligen Schulzimmer, das jetzt als eine Art Wohnzimmer diente, vorbeikam, rief eine freundliche Stimme mit amerikanischem Akzent: »Bist du’s, Anna? Komm doch einen Augenblick herein. Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen.«

Mrs Bartholomew.

Sollte sie mit ihr über das Fahrgeld sprechen?

Sie machte die Tür auf und sah sich Mrs Bartholomew gegenüber, die, noch im Morgenrock, Kaffee trank. Sie saß an dem alten Schultisch. Vor ihr auf der tintenfleckigen Platte stand ein Tablett, daneben lag ein Stapel alter Kinderbücher.

»Dafür, dass es Sonntag ist, bist du früh auf«, sagte Mrs Bartholomew. »Gehst du deine Eltern besuchen?«

Anna wollte schon sagen: »Ja, aber leider habe ich nicht –« oder »Könnten Sie mir vielleicht das Fahrgeld auslegen, bitte …?« Stattdessen blieb sie in der Tür stehen und sagte nur: »Ja.«

»Sie freuen sich doch sicher schon auf dich.« Mrs Bartholomew schwenkte ein Buch. Es schienen Andersens Märchen zu sein. »Ich hab hier gesessen und mich nach den Mädchen gesehnt. Judy mochte dieses Buch so gern – noch vor drei oder vier Jahren. Auch Jinny. Das waren doch noch schöne Zeiten, nicht wahr, als ihr alle zusammen hier eure Aufgaben gemacht habt!«

Anna machte es Mühe, Mrs Bartholomew zuzuhören, so sehr beschäftigte sie der Gedanke an das Fahrgeld.

»Ja«, sagte sie. Sie hatten wirklich viel Spaß gehabt, damals.

»Dieser Krieg ist verrückt«, sagte Mrs Bartholomew. »Nun haben wir alle unsere Kinder aus London fortgeschickt, weil wir meinten, Hitler werde es dem Erdboden gleichmachen, seither ist ein halbes Jahr vergangen, und es ist überhaupt nichts passiert. Ich habe jetzt wirklich genug davon. Ich möchte sie wieder hier bei mir haben. Jinny schreibt, dass vielleicht die ganze Schule wieder nach London zurückverlegt wird – wäre das nicht schön?«

»Ja«, sagte Anna.

»Sie würden sich bestimmt freuen, dich hier im Haus zu haben.« Mrs Bartholomew schien plötzlich zu bemerken, dass Anna unschlüssig in der offenen Tür herumstand.

»Aber komm doch herein, Kind!«, rief sie. »Trink eine Tasse Kaffee mit mir und erzähle, wie’s steht. Wie läuft denn der Zeichenkursus?«

»lch müsste jetzt wirklich gehen«, sagte Anna, aber Mrs Bartholomew war hartnäckig, und schließlich saß Anna mit einer Tasse in der Hand am Schultisch. Durch das Fenster konnte sie graue Wolken sehen. Zweige bewegten sich im Wind. Es sah kalt aus. Warum hatte sie nicht um das Fahrgeld bitten können, als die Gelegenheit günstig war?

»Was hast du also gemacht? Erzähle«, sagte Mrs Bartholomew. Was hatte sie gemacht?

»Nun, natürlich ist es nur ein Anfängerkurs.« Es fiel ihr schwer, daran zu denken. »Wir machen ein bisschen von allem. Vorige Woche haben wir uns gegenseitig porträtiert. Das macht mir Spaß.«

Der Lehrer hatte Annas Zeichnung betrachtet und ihr gesagt, sie sei wirklich begabt. Die Erinnerung daran wärmte ihr das Herz.

»Aber natürlich lässt sich damit nicht viel anfangen – ich meine finanziell«, fügte sie hinzu. Wahrscheinlich wollte der Lehrer einfach nett sein.

»Aber hör mal!«, rief Mrs Bartholomew. »In deinem Alter brauchst du dir doch keine Gedanken über finanzielle Dinge zu machen. Nicht, solange du in diesem Haus lebst. Ich weiß, dass es schwer für deine Eltern ist, in einem fremden Land zu leben und all das, aber wir haben dich gern hier, und du kannst bleiben, solange du willst. Also denk jetzt nur an deine Ausbildung. Ich bin sicher, du wirst das alles sehr gut machen, und du musst den Mädchen schreiben und ihnen alles erzählen; ich weiß, wie sehr es sie interessiert.«

»Ja«, sagte Anna. »Vielen Dank.«

Mrs Bartholomew sah sie an. »Fehlt dir etwas?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Anna. »Nein, bestimmt nicht. Aber ich glaube, ich muss jetzt wirklich gehen.«

Mrs Bartholomew begleitete sie in die Diele und sah zu, wie Anna ihren Mantel anzog.

»Moment«, rief sie, steckte den Kopf in einen Wandschrank und kam gleich darauf mit etwas Dickem, Grauem wieder zum Vorschein. »Nimm lieber noch Jinnys Schal.«

Anna musste sich den Schal um den Hals wickeln, und Mrs Bartholomew küsste sie auf die Wange.

»So«, sagte sie. »Und hast du jetzt auch bestimmt alles, was du brauchst? Fehlt dir noch irgendetwas?«

Jetzt war wirklich der Augenblick, sie um das Geld zu bitten. Es wäre ganz einfach, und sie wusste, dass Mrs Bartholomew es nicht übel nehmen würde. Aber wie sie so dastand, in Judys Schuhen, mit Jinnys Schal um den Hals, und in Mrs Bartholomews freundliches Gesicht blickte, fand sie es plötzlich unmöglich. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Mrs Bartholomew lächelte zurück und schloss hinter ihr die Tür.

Verdammt noch mal, dachte Anna, als sie sich daranmachte, die Holland Park Avenue entlangzutrotten. Jetzt musste sie den ganzen Weg nach Bloomsbury zu Fuß machen, weil sie die vier Pennies für die Untergrundbahn nicht hatte.

Es war ein kalter, sonniger Tag, und sie versuchte zunächst, alles als ein Abenteuer zu betrachten.

»Ich mache mir wirklich gern Bewegung«, sagte sie, und stellte sich dabei vor, sie spräche zu Miss Metcalfe, »nur nicht beim Lacrosse*.« Aber da sie wie gewöhnlich keine befriedigende Antwort bekam, gab sie die Unterhaltung bald auf.

Da es Sonntag war, lagen manche Leute noch im Bett; hinter den Fenstern über den geschlossenen Geschäften waren die Verdunkelungsrollos noch heruntergelassen. Nur der Zeitungsladen am Notting Hill Gate hatte geöffnet. Die Sonntagszeitungen staken in den Ständern vor der Tür, und Plakate verkündeten »Neueste Kriegsberichte«, aber wie gewöhnlich gab es nichts Neues. Der Pfandleiher neben der Untergrundbahnstation hatte immer noch das Plakat im Fenster, das Anna so verwirrt hatte, als sie eben nach London gekommen war und noch nicht richtig Englisch konnte. Es war dort zu lesen »Bargeld für Ihr altes Gold«, aber von dem G in Gold war ein Stückchen abgefallen, sodass es wie Cold aussah, und das hieß auf Englisch »Erkältung«. Anna erinnerte sich, dass sie täglich hier vorbeigekommen war, wenn sie zu Judy und Jinny ging, um an ihrem Unterricht teilzunehmen, und dass sie sich immer gefragt hatte, was das wohl heißen sollte, und ob man ihr, wenn sie in den Laden ging und nieste, Geld dafür geben würde.

Wenn heutzutage jemand mit Anna redete, hätte er nicht vermutet, dass Englisch nicht ihre Muttersprache war. Sie hatte auch den amerikanischen Akzent verloren, den sie sich anfangs bei den Bartholomews angewöhnt hatte. Sie war nicht nur zu den Bartholomews gegangen, um von ihnen Englisch zu lernen – sie hatten auch von ihr ein wenig von ihrer deutschen Muttersprache lernen sollen und Französisch, das sie sich in Paris angeeignet hatte, nachdem sie mit ihren Eltern vor Hitler dahin geflohen war. Aber daraus war nicht viel geworden. Anna und Judy und Jinny hatten sich angefreundet und englisch miteinander gesprochen, und Mrs Bartholomew hatte es hingenommen.

Ein scharfer Wind blies durch die Kensington Gardens. Es klapperten die Schilder, die auf die noch von niemandem benützten Luftschutzunterstände hinwiesen. Die wenigen Krokusse, die noch zwischen den frisch ausgehobenen Schutzgräben standen, sahen aus, als frören sie. Anna schob die Hände tief in die Taschen ihres alten grauen Mantels. Es ist doch lächerlich, dachte sie, dass ich zu Fuß laufe. Sie fror, und sie würde zu spät kommen, und Mama würde sich Sorgen machen, wo sie so lange blieb. Einfach lächerlich, so wenig Geld zu haben, dass der Verlust von vier Pennies einen in eine solche Situation brachte. Und wie konnte man nur so blödsinnig schüchtern sein, dass man es nicht wagte, sich vier Pennies zu borgen, wenn man sie brauchte. Wie hatte sie es geschafft, das Geld zu verlieren – sie war sicher, dass sie es am Tag zuvor noch gehabt hatte, ein silbernes Dreipennystück und zwei halbe Pennies. Sie sah die Münzen noch genau vor sich. Es ist zum Kotzen, dachte sie, es ist zum Kotzen, so untüchtig zu sein – und Miss Metcalfes lange Gestalt erhob sich ungebeten vor ihr, und mit sarkastisch hochgezogener Augenbraue sagte sie: »Arme Anna!«

Die Oxford Street lag verlassen, die Schaufenster der großen Kaufhäuser waren kreuz und quer mit braunen Papierstreifen beklebt, damit sie im Fall eines Luftangriffs nicht zersplitterten, aber das Restaurant von Lyons an der Ecke war geöffnet und voller Soldaten, die um eine Tasse Tee Schlange standen. Am Oxford Circus kam die Sonne zum Vorschein, und Anna fühlte sich ein wenig getröstet. Schließlich war ihre Schüchternheit nicht der einzige Grund für ihre Lage. Papa würde verstehen, dass sie kein Geld von Mrs Bartholomew borgen konnte, nicht einmal eine so kleine Summe. Die Füße taten ihr weh, aber sie hatte jetzt zwei Drittel des Heimwegs zurückgelegt, und vielleicht hatte ihr Verhalten sogar etwas Großartiges.

»Einmal«, sagte eine erwachsene Anna zu einer uralten Miss Metcalfe, »einmal bin ich lieber den ganzen Weg nach Bloomsbury zu Fuß gegangen, statt mir vier Pennies zu borgen.« Und die uralte Miss Metcalfe zeigte sich darüber sehr beeindruckt. In der Tottenham Court Road hatte ein Zeitungsverkäufer eine Auswahl von Sonntagszeitungen nebeneinander auf dem Bürgersteig ausgelegt. Sie las die Schlagzeilen (»Wird Tee rationiert?«, »Holt die Evakuierten zurück!« und »Englische Hundeliebhaber bloßgestellt«). Dann prägte sich ihr das Datum ein.

Es war der 4. März 1940. Genau sieben Jahre war es her, seit sie Berlin verlassen hatte und zum Flüchtling geworden war. Irgendwie kam ihr das bedeutungsvoll vor. Hier stand sie, am Jahrestag ihrer Flucht, ohne einen Pfennig, aber über alle Widerstände triumphierend. Vielleicht war sie eines Tages reich und berühmt, und alle würden sich erinnern …

»Natürlich erinnere ich mich an Anna«, sagte die uralte Miss Metcalfe zu einem Mann, der sie für die Wochenschau interviewte, »sie war so mutig und so einfallsreich – wir alle haben sie zutiefst bewundert.«

Sie trottete High Holborn hinauf. Als sie in die Southampton Row einbog – es war jetzt nicht mehr weit bis zum Hotel – bemerkte sie ein leises Klirren im Saum ihres Mantels. Das konnte doch nicht wahr sein …! Misstrauisch ließ sie die Hand durch das Innere der Tasche gleiten. Ja, da war ein Loch. In plötzlicher Ernüchterung schob sie zwei Finger in das Loch, hob mit der anderen Hand den Saum ihres Mantels und konnte tatsächlich die beiden Halfpennystücke und die Dreipennymünze herausangeln, die in einem Häufchen unten im Futter gelegen hatten.

Sie blieb einen Augenblick lang ganz still stehen und betrachtete das Geld. Dann dachte sie: Typisch Anna! Sie musste das Wort so heftig gedacht haben, dass es ihr laut herausrutschte, denn ein vorübergehendes Paar schaute sich erstaunt nach ihr um. Aber das war doch wirklich wieder einmal typisch für sie. Diese ganze Verlegenheit Mrs Bartholomew gegenüber, diese quälenden Überlegungen, ob sie sich richtig verhalten hatte, dieses Herumlaufen mit schmerzenden Füßen. Und am Ende war alles nur eine groteske Zeitverschwendung gewesen. Kein Mensch außer ihr hätte sich so benommen. Sie hatte es satt. Sie musste anders werden. Alles musste anders werden.

Das Geld fest in der Hand, ging sie zur anderen Straßenseite hinüber, wo vor einer Teestube eine Frau Osterglocken verkaufte.

»Wie viel?«, fragte sie.

Ein Sträußchen kostete drei Pennies. »Geben Sie mir eins«, sagte sie.

Welch eine blödsinnige Verschwendung, dachte sie, und die Osterglocken sind das Geld nicht einmal wert. Sie ließen jetzt schon die Köpfe hängen. Aber es war wenigstens etwas, das sie Papa und Mama mitbringen konnte. Sie würde sagen: »Heute sind es sieben Jahre, seit wir Deutschland verlassen haben – und ich hab euch hier ein paar Blumen mitgebracht.«

Und vielleicht brachten diese Blumen ihnen Glück, vielleicht bekam Papa den Auftrag, irgendetwas zu schreiben, oder irgendeiner schickte ihnen Geld. Vielleicht wurde jetzt alles ganz anders, und das nur, weil sie ihr Fahrgeld gespart und die Blumen dafür gekauft hatte. Und auch wenn nichts geschah, Mama und Papa würden sich freuen, und es würde sie ein wenig aufheitern.

Als sie die Tür des Hotels Continental aufstieß, begrüßte der alte Portier, der hinter seiner Theke gedöst hatte, sie auf Deutsch. »Ihre Mutter hat sich ganz schön aufgeregt«, sagte er. »Sie hat sich Sorgen gemacht, wo Sie bleiben.«

Anna blickte sich in der Halle um. Auf den schäbigen Kunstledersesseln um die Tische herum saßen wie gewöhnlich die deutschen, tschechischen und polnischen Flüchtlinge, die sich in dem Hotel niedergelassen hatten und dort auf eine bessere Zukunft warteten – aber Mama war nicht unter ihnen.

»Ich gehe zu ihr hinauf«, sagte sie, aber noch bevor sie den ersten Schritt getan hatte, hörte sie einen Schrei: »Anna!« Mama kam aus der Richtung der Telefonzelle herbeigestürzt. Ihr Gesicht war gerötet, und die blauen Augen blitzten. »Wo bist du gewesen?«, rief sie auf Deutsch. »Ich habe eben mit Mrs Bartholomew gesprochen. Wir fürchteten schon, es wäre dir etwas zugestoßen! Und Max ist doch gekommen – er kann nur ganz kurz bleiben und wollte dich unbedingt sehen.«

»Max?«, sagte Anna. »Ich wusste nicht, dass er in London ist.«

»Einer seiner Freunde aus Cambridge hat ihn im Auto mitgenommen.« Mamas Gesicht hellte sich wie immer auf, wenn sie von ihrem bemerkenswerten Sohn sprach. »Er ist zuerst hierher gekommen, nachher trifft er sich mit seinen Freunden, und dann fahren sie alle zusammen zurück. Natürlich sind das englische Freunde«, fügte sie zu ihrer eigenen Genugtuung hinzu und auch um Eindruck auf die Deutschen, Tschechen oder Polen zu machen, die vielleicht zuhörten.

Während sie die Treppe hinaufeilten, bemerkte Mama die Osterglocken in Annas Hand. »Wo hast du denn die her?«, fragte sie.

»Ich habe sie gekauft«, sagte Anna.

»Gekauft?«, rief Mama außer sich. Aber als sie weitersprechen wollte, wurde sie von einem Polen in mittleren Jahren unterbrochen, der aus einer Tür mit der Aufschrift WC auftauchte. »Die Verirrte ist zurückgekehrt«, sagte der Pole voller Genugtuung, als er Anna bemerkte. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, Madame, dass sie sich wahrscheinlich nur verspätet hat?« Damit verschwand er in seinem Zimmer auf der anderen Flurseite.

Anna wurde rot. »So sehr habe ich mich doch gar nicht verspätet«, sagte sie, aber Mama schob sie weiter.

Papas Zimmer lag im obersten Stockwerk, und als sie eintraten, wäre Anna beinahe über Max gestolpert, der gleich hinter der Tür auf dem Fußende des Bettes saß. Er sagte: »He, Schwester!« Er sagte es auf Englisch, wie jemand in einem Film, und gab ihr einen brüderlichen Kuss. Dann fügte er auf Deutsch hinzu: »Ich wollte gerade gehen. Ich bin froh, dass ich dich noch sehe.«

Anna sagte: »Ich habe schrecklich lange gebraucht, um herzukommen.« Sie zwängte sich an dem Tisch vorbei, auf dem Papas Schreibmaschine stand, und gab Papa einen Kuss. »Bonjour Papa«, sagte sie, denn Papa sprach so gern Französisch. Er sah müde aus, aber der Ausdruck seiner Augen, klug und ironisch, war wie immer. Papa sah aus, fand Anna, als interessiere ihn alles, was geschah, auch wenn er heutzutage kaum erwartete, dass es etwas Gutes sein könnte.

Sie hielt ihm die Osterglocken hin. »Die habe ich euch mitgebracht«, sagte sie, »weil es heute sieben Jahre sind, seit wir Deutschland verlassen haben, und ich dachte, sie brächten uns vielleicht Glück.«

Die Blumen waren schon ganz welk, aber Papa nahm sie ihr aus der Hand und sagte: »Sie riechen nach Frühling.«

Er füllte sein Zahnputzglas mit Wasser, und Anna half ihm, die Blumen hineinzustellen. Die Blüten fielen sogleich über den Rand des Glases bis auf den Tisch.

»Ich fürchte, sie haben sich schon überanstrengt«, sagte Papa, und alle lachten. Nun, zum Mindesten hatte sie ihn heiter gestimmt. »Was auch immer sein mag«, sagte Papa, »wir vier sind beisammen. Mehr darf man nach sieben Jahren Emigration wahrscheinlich nicht erwarten.«

»Oh doch«, sagte Mama.

Max grinste. »Sieben Jahre sind wirklich genug.« Er wandte sich Papa zu. »Was meinst du, wie wird es mit dem Krieg weitergehen? Glaubst du, dass überhaupt irgendetwas passieren wird?«

»Wenn Hitler so weit ist«, sagte Papa. »Die Frage ist nur, ob die Engländer dann auch so weit sind.«

Es war die übliche Unterhaltung und wie gewöhnlich schweiften Annas Gedanken ab. Sie saß auf dem Bett neben Max und ruhte sich aus. Sie war gern in Papas Zimmer. Ganz gleich, wo sie gelebt hatten, in der Schweiz, in Paris oder London, Papas Zimmer hatten immer gleich ausgesehen. Auf dem Tisch stand immer die inzwischen ziemlich klapprige Schreibmaschine, immer lagen seine Bücher dort. Immer hatte es eine Wand gegeben, an die er Fotografien heftete, Postkarten, alles, was ihn interessierte. Das hing dicht beieinander, sodass selbst die bunteste Tapete nicht dagegen ankam.

Die Bilder von Papas Eltern, vor einer Kulisse aus der Kaiserzeit aufgenommen, blickten wie aus weiter Entfernung herüber, daneben hing eine Meerschaumpfeife, die Papa nie geraucht hatte, deren Form ihm aber gefiel, und ein paar selbst verfertigte Gegenstände, von denen er fest glaubte, sie seien praktisch. Im Augenblick hatte er eine Vorliebe für Pappschachteln.

Er hatte eine Mausefalle konstruiert, die aus einem umgestülpten Karton bestand, dessen eine Seite hochgeklappt und mit einem Bleistift abgestützt wurde. Am unteren Ende des Bleistifts war ein Stückchen Käse befestigt. Wenn nun die Maus den Käse fraß, musste der Karton über ihr zuklappen. Papa würde die Maus dann irgendwie herausziehen und sie auf dem Russell Square wieder freilassen. Bis jetzt hatte er wenig Erfolg gehabt.

»Wie geht es deiner Maus?«, fragte Anna.

»Sie ist immer noch in Freiheit«, sagte Papa. »Gestern Abend habe ich sie gesehen. Sie machte ein sehr englisches Gesicht.«

Max rutschte unruhig neben Anna auf dem Bett herum.

»In Cambridge macht sich niemand groß Gedanken über den Krieg«, sagte er gerade zu Mama. »Ich bin neulich beim Rekrutierungsbüro gewesen. Sie haben mir entschieden geraten, mich nicht freiwillig zu melden, sondern zuerst mein Examen zu machen.«

»Wegen deines Stipendiums«, rief Mama stolz.

»Nein, Mama«, sagte Max. »Es ist bei all meinen Freunden das Gleiche. Man hat allen gesagt, sie sollten warten, bis sie mit der Universität fertig sind. Vielleicht hat Papa bis dahin die Staatsbürgerschaft.« Nach vier Jahren Internat und fast zwei Semestern Cambridge wirkte Max wie ein Engländer; er sprach und fühlte wie ein Engländer. Es machte ihn rasend, dass er nicht auch vor dem Gesetz ein Engländer war.

»Wenn sie bei ihm eine Ausnahme machen«, sagte Mama.

Anna betrachtete Papa und versuchte, sich ihn als Engländer vorzustellen. Es war sehr schwer. Trotzdem rief sie: »Das sollten sie wirklich! Er ist ja nicht irgendjemand – er ist ein berühmter Schriftsteller!«

Papa ließ seinen Blick durch das schäbige Zimmer wandern. »Nicht sehr berühmt in England«, sagte er.

Eine Pause trat ein, und Max stand auf, um zu gehen. Er umarmte Papa und Mama und schnitt Anna eine Grimasse.

»Bring mich an die Untergrundbahn«, sagte er, »ich habe dich ja kaum gesehen.«

Sie stiegen schweigend die vielen Stufen hinunter, und als sie durch die Halle gingen, folgten Max wie gewöhnlich die bewundernden Blicke der Gäste, die dort saßen. Er war immer ein hübscher Kerl gewesen mit seinem blonden Haar und seinen blauen Augen – anders als ich, dachte Anna. Es war schön, mit ihm zusammen zu sein, nur hätte sie sich gern noch ein bisschen länger ausgeruht.

Sobald sie aus dem Hotel heraus waren, sagte Max auf Englisch: »Na, wie geht es denn so?«

»Ganz gut«, sagte Anna. Max ging schnell, und die Füße taten ihr weh. »Papa ist niedergeschlagen, weil er der BBC angeboten hat, Propagandasendungen für Deutschland zu machen, aber sie wollen ihn nicht nehmen.«

»Aber warum in aller Welt nicht?«

»Offenbar ist er zu berühmt. Die Deutschen wissen alle, dass er ein leidenschaftlicher Nazigegner ist, und würden nicht auf das hören, was er sagt. Wenigstens glauben sie das bei der BBC.«

Max schüttelte den Kopf. »Ich fand, er sieht alt und müde aus.« Max wartete, bis Anna ihn eingeholt hatte, dann fragte er: »Und wie ist es mit dir?«

»Mit mir? Ich weiß nicht.« Plötzlich kam es Anna so vor, als könnte sie an nichts anderes denken als an ihre Füße. »Ach, ich denke, ganz gut«, sagte sie vage.

Max machte ein bekümmertes Gesicht. »Aber dein Zeichenkursus gefällt dir doch?«, fragte er. »Da gehst du doch gern hin?« Es gelang Anna, ihre Füße zu vergessen.

»Ja«, sagte sie. »Aber es ist alles so hoffnungslos, wenn man kein Geld hat, findest du nicht auch? Ich meine, man liest von Künstlern, die ihre Familie verlassen und in einer Mansarde leben. Aber wenn die Familie nun schon in einer Mansarde lebt …! Ich habe mir überlegt, ob ich nicht vielleicht eine Stelle annehmen sollte.«

»Du bist noch keine sechzehn«, sagte Max und fügte ärgerlich hinzu: »Wenn einer Glück hat, dann immer ich.«

»Sei doch nicht blöd«, sagte Anna. »Ein Vollstipendium für Cambridge, das hat nichts mit Glück zu tun.«

Sie waren am Untergrundbahnhof Russell Square angekommen, und vor einem der Aufzüge schlossen sich eben die Tore. Er würde gleich hinunterfahren.

»Also …«, sagte Anna, aber Max zögerte.

»Hör mal«, meinte er, »komm doch mal zum Wochenende nach Cambridge.« Und als Anna ein bedenkliches Gesicht machte, sagte er: »Das Fahrgeld für dich werde ich schon aufbringen. Du könntest ein paar meiner Freunde kennenlernen, und ich könnte dir allerhand zeigen – das wäre doch schön.« Die Gitter des Aufzuges knirschten, und er hastete los. »Ich schreibe dir noch Genaueres«, rief er, dann versank seine Gestalt mit dem Lift.

Anna ging langsam zum Hotel zurück. Mama und Papa erwarteten sie an einem der Tische in der Halle, wo sich eine verblühte deutsche Dame zu ihnen gesellt hatte.

»… die Berliner Oper«, sagte die Dame gerade zu Papa. »Sie saßen im Parkett in der dritten Reihe. Ich weiß noch, wie mein Mann mich auf Sie aufmerksam machte. Ich war ganz begeistert, und Sie schrieben am nächsten Tag einen wundervollen Artikel über das Stück in der Zeitung.«

Papa lächelte höflich.

»Ich glaube, es war Lohengrin«, sagte die Dame. »Vielleicht war es aber auch die Zauberflöte oder Aida. Jedenfalls war es herrlich. Alles war damals herrlich.«

Da entdeckte Papa Anna. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er. Er verbeugte sich vor der deutschen Dame, und er und Mama und Anna gingen in den Speisesaal, um Mittag zu essen.

»Wer war das?«, fragte Anna.

»Die Frau eines deutschen Verlegers«, sagte Papa. »Sie hat fliehen können, aber ihren Mann haben die Nazis umgebracht.«

Mama sagte: »Weiß der Himmel, wovon sie lebt.«

Es war das übliche Sonntagsessen. Es wurde von einem Schweizer Mädchen serviert, das Englisch lernen wollte. In diesem Haus, dachte Anna, wird sie eher Polnisch lernen. Zum Nachtisch gab es Backpflaumen, und hinterher kam es zu einer Auseinandersetzung über die Bezahlung von Annas Mahlzeit. Die Schweizer Kellnerin sagte, sie werde den Betrag auf die Rechnung setzen, aber Mama sagte Nein, das sei ungerecht, da sie selbst am vergangenen Dienstag, als ihr nicht wohl war, kein Abendbrot gegessen habe. Die Kellnerin sagte, sie wisse nicht, ob Mahlzeiten auf eine andere Person übertragbar seien. Mama regte sich auf, und Papa sah unglücklich aus und sagte: »Bitte mach doch keine Szene.« Schließlich musste die Geschäftsführerin zurate gezogen werden.

Sie entschied, dass es für dies eine Mal hingehen solle, man es aber nicht als Präzedenzfall ansehen dürfe.

Danach war ihnen allen die Laune verdorben.

Als sie wieder in die Halle kamen, sagte Mama: »Sollen wir uns hier hinsetzen oder nach oben gehen?« Die deutsche Dame lauerte schon, und Anna hatte keine Lust, über die Berliner Oper zu sprechen, so gingen sie also nach oben. Papa hockte sich auf seinen Stuhl, und Mama und Anna setzten sich aufs Bett.

»Ich darf nicht vergessen, dir dein Fahrgeld für nächste Woche zu geben«, sagte Mama und öffnete ihre Handtasche. Anna sah sie an. »Mama«, sagte sie, »ich finde, ich sollte mir eine Stelle suchen.«

2

Anna und Mama saßen im Warteraum der Hilfsorganisation für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland.

»Wenn sie uns nur die Kosten für diesen Sekretärinnenkursus bewilligen«, sagte Mama jetzt schon mindestens zum sechsten Mal, »dann kannst du immer für deinen Lebensunterhalt aufkommen.«

Anna nickte.

An den Wänden des Zimmers entlang saßen andere deutsche Flüchtlinge auf Holzstühlen und warteten genau wie Mama und sie darauf, an die Reihe zu kommen. Einige sprachen mit nervösen, schrillen Stimmen. Andere lasen Zeitung – Anna zählte eine englische, eine französische, zwei Schweizer und eine jiddische Zeitung. Ein ältliches Paar aß Hefegebäck aus einer Tüte, und ein dünner Mensch saß ganz allein in einer Ecke und starrte ins Leere. Immer wieder kam die Empfangsdame, rief einen Namen, und der Aufgerufene folgte ihr ins Büro.

»Du hättest etwas, worauf du aufbauen kannst«, sagte Mama. »Das habe ich nie gehabt. Du wärst für immer unabhängig.« Sie war zuerst schockiert gewesen, als Anna davon sprach, sich eine Stelle zu suchen, aber dann hatte sie sich voller Tatkraft daran gemacht, nach einer geeigneten Ausbildungsmöglichkeit Ausschau zu halten. Sie hatte eisern darauf bestanden, dass Anna irgendeine Berufsausbildung haben müsse, nur welche – das schien schwer zu entscheiden. Eine kaufmännische Ausbildung schien das Nächstliegende, aber Anna war schon in Miss Metcalfes Schule völlig unfähig gewesen, Stenografie zu lernen. »Nicht, dass es so schwer wäre, aber es ist so langweilig«, hatte sie gerufen, und Miss Metcalfe hatte immer wieder nur mitleidig gelächelt und erklärt, Hochmut habe noch nie jemandem geholfen.

Mama hatte das mit der Stenografie gut verstehen können, sie hatte überall herumgefragt, und schließlich eine Handelsschule entdeckt, die nach einem anderen System unterrichtete. Diese Kurzschrift wurde nicht mit der Hand geschrieben, sondern auf einer Art kleiner Schreibmaschine getippt. Die Methode hatte den Vorteil, dass sie sich besonders schnell erlernen ließ und leicht auf andere Sprachen übertragen werden konnte. Das Problem war nur: Für einen Kursus bezahlte man fünfundzwanzig Pfund.

»Mr und Mrs Zuckermann!« Die Empfangsdame war wieder hereingekommen und hatte das ältliche Paar bei seiner Kuchenmahlzeit überrascht. Sie stopften hastig die halb verzehrten Gebäckstücke in die Tüte zurück und folgten ihr.

»Ich glaube, wir werden bestimmt etwas bekommen«, sagte Mama. »Wir haben doch schließlich noch nie um etwas gebeten.«

Sie hatte auch diesmal die Flüchtlingsorganisation nicht um Hilfe bitten wollen. Nur die Angst, Anna werde sich ohne die nötige Vorbildung eine Arbeit suchen müssen, hatte sie dazu bestimmt. Mama verbrachte selbst fünf ganze und einen halben Tag in der Woche in einem Büro, das in einem Souterrain lag. Sie tippte und heftete Briefe ab. Sie hasste diese Arbeit.

»Mr Rubinstein! Mr und Mrs Berg!«

Die Frau, die Mama gegenübersaß, rückte unruhig hin und her. »Die haben aber die Ruhe weg!«, rief sie. »Lange halte ich das hier nicht mehr aus, bestimmt nicht!«

Ihr Mann runzelte die Stirn. »Aber Bertha«, sagte er. »Es ist doch immer noch besser, hier zu sitzen, als an der Grenze Schlange zu stehen.« Er wandte sich an Anna und Mama.

»Meine Frau ist etwas nervös. Wir haben eine schwere Zeit in Deutschland hinter uns. Es ist uns eben noch gelungen herauszukommen, bevor der Krieg ausbrach.«

»Oh, es war schrecklich«, jammerte die Frau. »Die Nazis haben uns die ganze Zeit angebrüllt und bedroht. Da war ein armer alter Mann, der dachte, seine Papiere wären alle in Ordnung, aber sie stießen und traten ihn und wollten ihn nicht gehen lassen. Und dann schrien sie uns an: ›Ihr könnt jetzt gehen, aber am Ende kriegen wir euch doch!‹«

»Bertha, bitte«, sagte ihr Mann.

»Genau das aber haben sie gesagt«, rief die Frau. »Sie haben gesagt: ›Wir werden euch kriegen, wo immer ihr auch hingeht, denn wir werden die ganze Welt erobern!‹«

Der Mann tätschelte ihr den Arm und lächelte Mama verlegen an.

»Wann haben Sie denn Deutschland verlassen?«, fragte er.

»Im März 1933«, sagte Mama. Unter Flüchtlingen galt man umso mehr, je früher man das Land verlassen hatte. War man schon 1933 emigriert, so war das, als wäre man mit der Mayflower in Amerika gelandet, und Mama verzichtete nie darauf, auch noch den Monat genau anzugeben.

»Ach«, sagte der Mann, aber seine Frau war unbeeindruckt. Sie sah Anna angstvoll an.

»Dann haben Sie keine Ahnung, wie es jetzt in Deutschland zugeht«, sagte sie.

Anna versuchte, die Vorstellung von sich zu schieben. Sie dachte nie darüber nach, wie es jetzt in Deutschland zuging.

»Miss Goldstein.«

Die nächste Person, die aufgerufen wurde, war eine Frau in einem abgetragenen Pelzmantel, die eine Aktentasche fest an sich drückte. Dann kam ein Mann mit einer Brille, den Mama als einen zweitrangigen Geiger wiedererkannte, und dann waren plötzlich Anna und Mama an der Reihe.

Die Empfangsdame sagte: »Sie müssen zur Abteilung für Ausbildungshilfen.« Sie führte sie in ein Zimmer, wo eine grauhaarige Frau hinter einem Schreibtisch wartete. Sie las sich den Antrag durch, den Anna zuvor ausgefüllt hatte. Sie sah wie eine Schulleiterin aus, aber netter als Miss Metcalfe.

»Guten Tag«, sagte sie und wies mit der Hand auf zwei Stühle. Dann wandte sie sich Anna zu und sagte: »Sie möchten also Sekretärin werden.«

»Ja«, sagte Anna.

Die grauhaarige Frau überflog das Formular. »Sie haben bei der Prüfung zur mittleren Reife außerordentlich gut abgeschnitten«, sagte sie. »Wollten Sie nicht weiter zur Schule gehen?«

»Nein«, sagte Anna.

»Und warum nicht?«

»Es hat mir nicht gefallen«, sagte Anna. »Die meisten anderen haben auch aufgehört.« Sie zögerte. »Wir haben dort nicht sehr viel gelernt.«

Die Frau wandte sich wieder dem Formular zu. »Lilian-Metcalfe-Schule für Mädchen«, sagte sie. »Die kenne ich. Nur vornehmes Getue und nichts dabei gelernt. Schade.«

Damit war die Sache erledigt, und sie wandte sich den Fragen zu, die Annas kaufmännische Ausbildung betrafen. Hatte Anna es schon einmal damit versucht? Wie lange würde die Ausbildung dauern? Und was für eine Art von Arbeit hatte Anna sich vorgestellt? Ermutigt durch das vernichtende Urteil über Miss Metcalfe gab Anna ausführliche Antworten, war weniger schüchtern als sonst, und nach überraschend kurzer Zeit sagte die Frau: »Nun, das klingt alles sehr zufriedenstellend.«

Einen Augenblick lang dachte Anna, es sei alles vorüber, aber die Frau sagte ein wenig zögernd zu Mama: »Entschuldigen Sie, aber es gibt so viele Menschen, die Hilfe brauchen, dass ich auch Ihnen ein paar Fragen stellen muss. Wie lange sind Sie schon in England?«

»Seit 1935«, sagte Mama, »aber wir haben Deutschland schon im März 1933 …«

Anna hatte das alles schon so oft gehört, dass sie es beinahe auswendig wusste. Sechs Monate in der Schweiz … zwei Jahre in Frankreich … die wirtschaftlichen Schwierigkeiten dort … das Drehbuch, das der Anlass für ihre Übersiedlung nach England gewesen war … nein, der Film war dann nie gedreht worden … nein, damals schien es nicht so wichtig, dass Papa nicht Englisch sprach, denn das Drehbuch war übersetzt worden, jetzt freilich … ein Schriftsteller ohne Sprache.

»Verzeihen Sie«, sagte die Frau wieder, »ich weiß natürlich, dass Ihr Gatte ein bedeutender Schriftsteller ist, aber könnte er, solange Sie in dieser schwierigen Lage sind, nicht irgendetwas tun, was Geld einbringt, wenigstens vorübergehend?«

Papa, dachte Anna, der keinen Nagel gerade in die Wand schlagen, der kein Ei kochen, der nichts anderes kann, als Worte so aneinanderzureihen, dass sie schön klingen.

»Mein Mann«, sagte Mama, »ist kein sehr praktisch veranlagter Mensch. Er ist auch viel älter als ich.«

Sie war ein wenig errötet, und die Dame sagte hastig: »Natürlich, natürlich, entschuldigen Sie bitte.«

Es kam Anna seltsam vor, dass die Frau offenbar weit mehr von Papas Alter beeindruckt war, das sonst keinem sofort ins Auge fiel, wenn er ihn sah, sie aber der Hinweis auf seine Unbeholfenheit, die jeder sofort an ihm wahrnahm, kaum berührte. In Paris hatte Papa einmal beinahe ihr ganzes Geld für eine Nähmaschine ausgegeben, die nicht funktionierte. Anna erinnerte sich noch, wie sie mit ihm zu dem Altwarenhändler gegangen war, der sie ihm angedreht hatte, und wie sie ihn beredet hatten, die Maschine zurückzunehmen. Auch in Paris hatten sie kein Geld gehabt, aber irgendwie war es dort nicht so schlimm gewesen. Sie hatte sich dort zu Hause gefühlt, hatte nicht empfunden, dass sie ein Flüchtling war.

Mama erzählte der Frau von der Tätigkeit, die sie ausübte. »Eine Zeit lang habe ich als Privatsekretärin für Lady Parker gearbeitet – vielleicht haben Sie von ihr gehört. Aber dann starb ihr Mann und sie zog aufs Land. Jetzt helfe ich dabei, seinen Nachlass zu ordnen.«

Die Dame machte ein verlegenes Gesicht. »Und – hm – wie viel …?«

Mama sagte ihr, wie viel sie verdiente.

»Wissen Sie, ich habe eben keine berufliche Ausbildung«, erklärte sie. »Als Mädchen habe ich Musik studiert. Was ich bei Lady Parker verdiene, reicht gerade hin, um die Rechnungen im Hotel Continental zu bezahlen.«

Anna dachte: Vielleicht war es in Paris anders, weil Mama nicht zu arbeiten brauchte, oder weil sie, statt in einem Hotel, in einer Wohnung gelebt hatten – oder vielleicht passte sie auch einfach nicht nach England.

Natürlich hatte sie nicht viele Engländer kennengelernt, nur die in Miss Metcalfes Schule. Aber ganz bestimmt war vieles seit ihrer Ankunft in England bei ihr schiefgegangen. Zum Beispiel war sie viel dicker geworden, hatte an unmöglichen Stellen Rundungen angesetzt, sodass plötzlich alle ihre Kleider scheußlich an ihr aussahen. Mama hatte gesagt, es sei Babyspeck und würde sich wieder verlieren, und tatsächlich war es zum Teil schon wieder weggeschmolzen, aber Anna hatte immer noch den Verdacht, dass England irgendwie daran schuld war. Sie war doch früher nie dick gewesen.

Die anderen Mädchen im Internat waren auch dick. Anna erinnerte sich an pralle rote Schenkel im Umkleideraum, an schwerfällige Gestalten, die über das bereifte Gras des Lacrossefeldes trapsten. Aber die waren wenigstens nicht schüchtern gewesen. Ihre Schüchternheit war das Schlimmste. Anna quälte sich damit herum, seit sie in England war.

Es war ganz unerwartet kurz nach dem Babyspeck über sie gekommen, unerwartet, denn sie hatte zuvor im Umgang mit Menschen nie Hemmungen gehabt. Diese Schüchternheit hatte sie gelähmt, und wenn die englischen Mädchen sie verspotteten, weil sie nicht gut Lacrosse spielte und mit einem komischen Akzent sprach, hatte sie keine Antwort geben können. Ganz anders mit Judy und Jinny, die Amerikanerinnen waren …

»Nun, Anna«, sagte die grauhaarige Frau, als könne sie Annas Gedanken lesen, »ich hoffe, dass der kaufmännische Kursus Ihnen mehr Spaß machen wird als Ihre Schulzeit bei Miss Metcalfe.«

Anna riss sich von ihren Grübeleien los. War damit alles geregelt?

»Ich werde morgen mit dem Komitee sprechen«, sagte die Frau, »aber ich bin ganz sicher, dass sie keine Schwierigkeiten machen werden.« Und als Anna ihren Dank stammelte, sagte sie: »Unsinn! Ich bin überzeugt davon, dass das Geld bei Ihnen gut investiert ist.«

Als Anna und Mama zum Hotel zurückliefen, war die Sonne zum Vorschein gekommen, und die Luft war ganz mild.

»Was meinst du, wie viel ich verdienen werde?«, fragte Anna.

»Ich weiß nicht«, sagte Mama, »aber bei deinen Sprachkenntnissen müsstest du mindestens drei Pfund bekommen.«

»Jede Woche!«, rief Anna. Drei Pfund schienen ihr eine enorme Summe.

Papa war ein bisschen traurig, als er ihr gratulierte. »Ich muss sagen, dass ich dich nie als Sekretärin gesehen habe«, sagte er, und Anna schob schnell den Gedanken beiseite, dass auch sie sich anderes erträumt hatte.

»Papa«, rief sie, »sie sagen, dass das Geld in mich gut investiert ist.«

»Da bin ich ganz ihrer Meinung«, sagte Papa. Er war bereit zum Ausgehen und trug seinen besten Anzug oder jedenfalls den, der ihm im Augenblick am wenigsten abgetragen vorkam.

»Eine Zusammenkunft des Internationalen Schriftsteller-Clubs«, erklärte er. »Hättest du Lust mitzukommen? Keine große Sache, aber es gibt einen Tee.«

»Gern«, sagte Anna. Der Schriftsteller-Club reizte sie eigentlich nicht besonders, aber nun, da ihre Zukunft entschieden war, fühlte sie sich ruhelos.

Sie eilte mit Papa zur Bushaltestelle und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie bald ihre Tage mit Kurzschrift zubringen würde statt mit Zeichnen.

»Es ist eine Versammlung der Deutschen Sektion«, sagte Papa, der der Präsident dieser Sektion war. »Aber der Tee« – er musste selbst darüber lächeln, dass er dies ausdrücklich erwähnte – »der Tee wird echt englisch sein.«

Als sie im Clubhaus in der Nähe von Hyde Park Corner ankamen, waren die meisten anderen Schriftsteller schon eingetroffen – die üblichen intelligenten Emigrantengesichter, die üblichen ausgefransten Hemdkragen, die üblichen durchgescheuerten Jackenärmel. Einige der Männer kamen an die Tür, um Papa zu begrüßen, wurden Anna vorgestellt und sagten, wie sehr sie ihm gliche. Dies geschah häufig und hob immer ihre Stimmung. Kein Mensch, dachte sie, der Papa so gleicht, kann hoffnungslos dumm sein.

»Wird sie in Ihre Fußstapfen treten?«, fragte ein kleiner Mann mit dicken Brillengläsern.

»Ich hatte es einmal angenommen«, sagte Papa, »aber ich glaube, neuerdings interessiert sie sich mehr für Zeichnen. Und im Augenblick«, er hob bedauernd die Hand, »im Augenblick hat sie den Plan, Sekretärin zu werden.«

Der Mann mit den dicken Brillengläsern wiederholte mit beiden Händen die bedauernde Geste. »Was will man machen?«, sagte er. »Man muss leben.«

Er bestieg mit Papa eine kleine Tribüne, während Anna sich auf einen Stuhl zwischen die anderen Schriftsteller setzte. Das Thema der Versammlung hieß: Deutschland. Mehrere Schriftsteller erhoben sich und sprachen. Wie viele es doch sind, dachte Anna. Kein Wunder, dass es nicht für alle Arbeit gibt.

Zuerst sprach jemand über den Aufstieg der Nazis, und wie er hätte verhindert werden können. Alle außer Anna waren an diesem Thema sehr interessiert. Es folgten eine ganze Reihe kürzerer Ansprachen und Diskussionsbeiträge. »Wenn nur …«, riefen die Schriftsteller, »wenn nur die Weimarer Republik … die Sozialdemokraten … die Franzosen im Rheinland …«

Schließlich endete diese Diskussion, und ein trauriger Mann in einem Pullover stand auf und las Auszüge aus einem Tagebuch, das ein jüdischer Schriftsteller verfasst hatte, der sich in Deutschland immer noch in Freiheit befand. Es war über die Schweiz ins Ausland geschmuggelt worden. Anna wusste natürlich, wie solche Menschen lebten, aber es war immer wieder erschreckend, die Einzelheiten zu hören – die Geldknappheit, die kleinen Schikanen, die ständige Drohung des Konzentrationslagers.

Als die Lesung zu Ende war, saßen die anderen Schriftsteller ganz still da und starrten dankbar an die gewölbte Decke oder durch die großen Fenster, die auf den Hyde Park hinausgingen. Sie priesen sich glücklich, rechtzeitig entkommen zu sein.

Dann las jemand eine langweilige Abhandlung über die regionalen Unterschiede zwischen Frankfurt und München vor, und danach stand Papa auf.

»Berlin«, sagte er und begann zu lesen.

Als es Anna im Alter von acht oder neun Jahren zum ersten Mal zum Bewusstsein kam, dass Papa ein berühmter Schriftsteller war, hatte sie ihn gebeten, sie doch etwas lesen zu lassen, was er geschrieben hatte. Er hatte ihr schließlich ein kurzes Stück Prosa gegeben, von dem er annahm, dass sie es verstehen würde. Sie erinnerte sich immer noch an die Verlegenheit, die sie befiel, nachdem sie es gelesen hatte. Sie hatte sich geschämt und gedacht: Warum kann Papa nicht schreiben wie alle anderen Leute? Sie bemühte sich damals in der Schule, lange, komplizierte Sätze mit großartig klingenden Ausdrücken zu schreiben. Sie hatte erwartet, Papa werde ähnlich schreiben, nur noch großartiger. Stattdessen waren Papas Sätze ganz kurz. Er benutzte Worte, die jeder kannte, aber er stellte sie auf eine so ungewöhnliche Weise zusammen, dass man überrascht war. Wenn man die Überraschung erst überwunden hatte, verstand man genau, was er meinte, aber trotzdem … Warum, hatte Anna gedacht, warum schreibt er bloß nicht so wie andere Leute? »Ich glaube, es war ein bisschen verfrüht«, hatte Papa hinterher gesagt, und sie hatte sich jahrelang gescheut, es noch einmal zu versuchen.

Jetzt las Papa etwas vor, das er kürzlich auf seiner klapprigen Schreibmaschine in seinem Zimmerchen geschrieben haben musste. Es handelte von Berlin. Sie erkannte die Straßen, die nahen Wälder, es gab sogar einen Abschnitt über ihr eigenes Haus. Genau so ist es gewesen, dachte Anna, als sie zuhörte. Papa hatte auch über die Menschen geschrieben – Nachbarn, Geschäftsleute, über den Mann, der den Garten in Ordnung hielt (Anna hatte ihn beinahe vergessen), über die eulenäugige Sekretärin, die Papas Arbeiten tippte. Dieser Abschnitt war wirklich komisch, und die Schriftsteller, die zuhörten, mussten alle lachen. Aber wo waren diese Menschen jetzt, fragte Papa. Hob die eulenäugige Sekretärin die Hand zum Hitlergruß? War der Lebensmittelhändler der SA beigetreten – oder hatte man ihn in ein Konzentrationslager verschleppt? Was war aus ihnen geworden, nachdem die Nazis ihr Land gestohlen hatten? (Hier benutzte Papa ein sehr unanständiges Wort, die Schriftsteller hielten zuerst den Atem an und kicherten dann erleichtert.) Wir wissen es nicht, sagte Papa. Hitler hatte sie verschlungen. Und doch, wenn man jetzt hingehe, würde vielleicht alles genauso aussehen wie früher. Die Straßen, die nahen Wälder, das Haus … Er schloss mit den Worten, mit denen er angefangen hatte: »Ich habe früher in Berlin gelebt.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann erhoben sich die Schriftsteller wie ein Mann und klatschten und klatschten. Als Papa von der Tribüne herunterkam, drängten sich die Leute heran, um ihn zu beglückwünschen und ihm die Hand zu schütteln. Anna hielt sich zurück, aber er holte sie an der Tür ein und fragte: »Hat es dir gefallen?« Aber bevor sie etwas sagen konnte, wurden sie in den Nebenraum gedrängt, wo die Teetische gedeckt waren. Das Angebot an Broten und Gebäck war üppig, und während einige Schriftsteller sich bemühten, nicht allzu gierig zu erscheinen, konnten andere nicht widerstehen und stürzten sich auf die Tische.

Der Tee wurde von der englischen Sektion des Clubs gestiftet, und einige englische Schriftsteller tauchten jetzt erst auf.

Während Anna ein vorzügliches Eclair verspeiste und Papa zu erklären versuchte, wie sehr ihr der Text über Berlin gefallen hatte, kam einer der Engländer auf sie zu.

»Ich habe den Applaus gehört«, sagte er zu Papa. »Worüber haben Sie gesprochen?«

Papa hatte wie gewöhnlich nicht verstanden und Anna musste übersetzen.

»Ach so!«, sagte Papa und brachte sein Gesicht in Stellung, um Englisch zu sprechen. »I talk-ed«, sagte er, wobei er wie gewöhnlich das stumme e aussprach, »about Germany.«

Der Engländer war über diesen Shakespeare’schen Akzent sichtlich verblüfft, fasste sich aber schnell.

»Es muss sehr eindrucksvoll gewesen sein«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte es verstehen können.«

Als Anna spät am Abend zu den Bartholomews zurückkam, fand sie einen Brief von Max vor, der sie zum Wochenende nach Cambridge einlud. Alles passiert auf einmal, dachte sie. Und als sie Mrs Bartholomew von der Einladung, von Papas Lesung im Club und von ihrer neuen beruflichen Laufbahn erzählte, hatte sie ihre Schüchternheit ganz vergessen.

»Und wenn ich den Kursus hinter mir habe«, sagte sie triumphierend, »kann ich drei Pfund in der Woche verdienen!«

Genau wie Papa machte Mrs Bartholomew ein etwas enttäuschtes Gesicht.

»Das sind ja sehr gute Neuigkeiten«, sagte sie schließlich, »aber du weißt doch, nicht wahr, dass du in diesem Hause bleiben kannst, solange du magst. Wenn du es dir also noch anders überlegst …«

Dann ging sie und suchte einen Mantel von Jinny heraus, den Anna zu ihrem Besuch bei Max anziehen sollte.

3

Während der ganzen Bahnfahrt war Anna darauf gespannt, wie es wohl in Cambridge sein würde. Was würden sie unternehmen? Wie waren Maxens Freunde? Erwarteten sie, dass sie mit ihnen plauderte, und über was in aller Welt sollte sie dann mit ihnen sprechen? Es war wieder kalt geworden, und kurz nachdem der Zug London verließ, fing es an zu nieseln. Anna starrte auf die nassen Wiesen, wo das Vieh unter triefenden Bäumen Schutz suchte. Sie wäre jetzt fast lieber zu Hause geblieben. Wenn nun die jungen Leute dort sie nicht mochten? Und warum sollten sie sie auch mögen? Wer mag mich schon besonders gern leiden, dachte sie niedergeschlagen – jedenfalls wüsste ich niemanden in meinem Alter. Die Mädchen in Miss Metcalfes Schule hatten nicht viel von ihr gehalten. Sie war nie zur Präfektin gewählt worden oder zur Schlafsaalsprecherin; nicht einmal bis zur Ordnerin einer Tischgemeinschaft hatte sie es gebracht. Es war einmal kurz davon die Rede gewesen, ihr die Versorgung der Meerschweinchen anzuvertrauen, aber auch daraus war nichts geworden. Und Maxens Freunde waren Jungen. Wie redete man mit Jungen?

»Nicht gerade schönes Wetter«, sagte eine Dame im Tweedkostüm, die ihr gegenübersaß. Anna stimmte ihr zu, und die Dame lächelte. Sie trug einen Hut und teure Sportschuhe, wie jene Mütter, die an den Elternsprechtagen in Miss Metcalfes Schule auftauchten.

»Sie fahren wohl zum Wochenende nach Cambridge?«, fragte die Dame. »Ja«, antwortete Anna, und die Dame ließ sich sofort des Längeren über jene Freuden der Geselligkeit aus, denen man sich an der »Uni«, wie sie es nannte, hingeben konnte. Ihre drei Brüder waren vor vielen Jahren in Cambridge gewesen, auch zwei ihrer Vettern hatten diese Universität besucht, und von allen war sie zu Wochenendbesuchen eingeladen worden. Oh, man konnte dort als Mädchen schon seinen Spaß haben. Theaterbesuche zu mehreren Paaren, schwärmte die Frau im Tweedkostüm, Maibälle, Ausflüge nach Grantchester, und überall, wohin man kam, so viele, viele reizende junge Männer!

Nach diesem Bericht kamen Anna noch mehr Zweifel, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass im März gewiss keine Maibälle stattfanden und dass Max ihr bestimmt Bescheid gegeben hätte, falls etwas Besonderes geplant war.

»Und woher kommen Sie, liebes Kind?«, fragte die Dame in Tweed, nachdem sie lange genug in Erinnerungen geschwelgt hatte.

Wenn sonst Leute fragten, woher sie komme, sagte Anna immer »aus London«, aber nun sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung »aus Berlin«. Gleich darauf bereute sie es.

Die Dame stutzte.

»Berlin?«, rief sie. »Aber Sie sind doch Engländerin!«

»Nein«, sagte Anna und kam sich vor wie Mama vor der Kommission der jüdischen Flüchtlingshilfe. »Mein Vater ist Schriftsteller, er war gegen die Nazis. Wir haben Deutschland 1933 verlassen.«

Die Dame in Tweed versuchte, sich Gewissheit zu verschaffen. »Gegen die Nazis«, sagte sie. »Das bedeutet, dass Sie gegen Hitler sind?«

Anna nickte. »Das hätte ich nie gedacht«, sagte die Dame in Tweed. »Nicht eine Spur von Akzent. Ich hätte geschworen, Sie wären nur ein nettes, normales englisches Mädchen.«

Das sollte ein Kompliment sein und Anna lächelte pflichtschuldig, aber der Dame fiel sofort wieder etwas ein.

»Es ist aber doch Krieg«, rief sie. »Sie sind in Feindesland.«

Verdammt, dachte Anna, warum habe ich nur damit angefangen? Sie nahm all ihre Geduld zusammen und setzte noch einmal zu einer Erklärung an. »Wir sind gegen Deutschland«, sagte sie. »Wir wollen, dass die Engländer gewinnen.«

»Was … gegen Ihr eigenes Land sind Sie?«, sagte die Dame.