Warum hat Hitler die Schweiz nicht angegriffen? - Rainer Krottenthaler - E-Book

Warum hat Hitler die Schweiz nicht angegriffen? E-Book

Rainer Krottenthaler

0,0
36,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Masterarbeit aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Geschichte Europas - Zeitalter Weltkriege, Note: 1, Johannes Kepler Universität Linz (Neuere Geschichte und Zeitgeschichte), Sprache: Deutsch, Abstract: „Wir befinden uns im Jahr 1940 n. Chr. Ganz Europa ist von der Wehrmacht besetzt… ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen Eidgenossen bevölkertes Land hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.“ Viele, vor allem die Schweizer selbst, vergleichen ihr Land während des Zweiten Weltkriegs gerne mit einem Igel, der dem Angreifer mutig seine Stacheln entgegenhält und deshalb nicht gefressen wird. Die Tendenz, positive Ergebnisse der eigenen Leistung, negative Ergebnisse hingegen dem Schicksal oder einer höheren Macht zuzuschreiben, ist falsch aber verständlich. So sucht auch die Schweiz die Gründe ihrer Verschonung vom Krieg lieber beim Widerstandswillen der Bevölkerung und der Stärke ihrer Armee als im Kriegsverlauf oder gar in der Anbiederung der eidgenössischen Wirtschaft ans NS-Regime. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, warum die Schweiz von den Wirren des Zweiten Weltkriegs verschont blieb und deshalb auf mittlerweile mehr als 150 Jahre Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückblicken kann. Basierend auf der Hypothese, dass ein vermiedener Krieg besser ist als ein erfolgreich geführter, sollte den Ländern, denen es gelang, nicht in den Sog des Zweiten Weltkriegs zu geraten, mindestens soviel Aufmerksamkeit geschenkt werden wie den Hauptakteuren des Krieges. Während Portugal, Spanien, Irland, Schweden und die Türkei nicht zuletzt auch aufgrund ihrer dezentralen Lage verschont blieben, trifft dies auf die Schweiz nicht zu. Im Auge des Hurrikans gelegen, befand sie sich in unmittelbarer Griffweite Hitlers und bewahrte dennoch ihre Unabhängigkeit. Dies macht sie zu einem interessanten Untersuchungsobjekt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum:

Copyright (c) 2015 GRIN Verlag / Open Publishing GmbH, alle Inhalte urheberrechtlich geschützt. Kopieren und verbreiten nur mit Genehmigung des Verlags.

Bei GRIN macht sich Ihr Wissen bezahlt! Wir veröffentlichen kostenlos Ihre Haus-, Bachelor- und Masterarbeiten.

Jetzt beiwww.grin.com

Inhaltsverzeichnis

 

Thema

Ziel der Arbeit

Annahmen

Abschnitt 1: Gründe für einen Angriff

Germanische Weltherrschaft

Unternehmen Tannenbaum

Militärische Überlegenheit

Luftkrieg

Neutralitätsverletzungen

Rüstungsproduktion für die Alliierten

Spionagezentrum

Schweiz als Fluchthelfer

Geistiger Widerstand

Medialer Widerstand

Politischer Widerstand

Immunität gegen NS-Ideologie

Abschnitt 2: Gründe gegen einen Angriff

Kreditgeber

Wechselstube

Waffenlieferant

Transit

Gute Dienste

Alpenfestung

Militärischer Wehrwille

Frage der Aufteilung

Erweiterte Strategie

Frontenbewegung

Neutralität

Alternativen

Abschnitt 3: Erkenntnisse

Warum hat Hitler die Schweiz nicht angegriffen?

Worin ist die Schweiz anders?

Hat die Schweiz vom Krieg profitiert?

Hat sich die Schweiz schuldig gemacht?

Wie weit darf Neutralität gehen?

Hat die Schweiz den Krieg verlängert?

Persönliche Anmerkungen

Anhang

Neutralitätserklärung der Schweiz vom 31. August 1939

Rede von Pilet-Golaz vom 25. Juni 1940

Gelöbnis der Offiziersverschwörung vom 21. Juli 1940

Rütlirapport von Gerneral Guisan am 25. Juli 1940

Eingabe der Zweihundert vom 15. November 1940 an den Bundesrat

Literaturverzeichnis

 

Thema

 

„Wir befinden uns im Jahr 1940 n. Chr. Ganz Europa ist von der Wehrmacht besetzt… ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen Eidgenossen bevölkertes Land hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.“[1]

 

Viele, vor allem die Schweizer selbst, vergleichen ihr Land während des Zweiten Weltkriegs gerne mit einem Igel, der dem Angreifer mutig seine Stacheln entgegenhält und deshalb nicht gefressen wird. Die Tendenz, positive Ergebnisse der eigenen Leistung, negative Ergebnisse hingegen dem Schicksal oder einer höheren Macht zuzuschreiben, hat aus Österreich das erste Opfer von Hitlers Expansionspolitik gemacht. Auch die Schweiz sucht die Gründe für die Verschonung vom Krieg verständlicherweise lieber beim Widerstandswillen der Bevölkerung und der Stärke ihrer Armee als im Kriegsverlauf oder gar in der Anbiederung der eidgenössischen Wirtschaft ans NS-Regime. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, warum die Schweiz von den Wirren des Zweiten Weltkriegs verschont blieb und deshalb auf mittlerweile mehr als 150 Jahre Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückblicken kann.

 

Mein persönliches Interesse an einer historischen Betrachtung der Schweiz ist ein Zweifaches. Zum einen stellt die Schweiz eine Art Gegenmodell zu meiner Heimat Österreich dar. Trotz zahlreicher Parallelen (Lage, Größe, Topografie, Sprache, Neutralität, etc.) hat sich die Schweiz für einen anderen Weg entschieden und zeigt somit auf, welche Optionen sich auch für Österreich geboten hätten. Zum anderen stellt die Schweiz ein Lehrbeispiel dar, wie man Krieg vermeidet. Basierend auf der Hypothese, dass ein vermiedener Krieg besser ist als ein erfolgreich geführter, sollte den Ländern, denen es gelang, nicht in den Sog des Zweiten Weltkriegs zu geraten, mindestens soviel Aufmerksamkeit geschenkt werden wie den Hauptakteuren des Krieges. Während Portugal, Spanien, Irland, Schweden und die Türkei nicht zuletzt auch aufgrund ihrer dezentralen Lage verschont blieben, trifft dies auf die Schweiz nicht zu. Im Auge des Hurrikans gelegen, befand sie sich in unmittelbarer Griffweite Hitlers und bewahrte dennoch ihre Unabhängigkeit. Dies macht sie zu einem interessanten Untersuchungsobjekt.

 

Ziel der Arbeit

Wer eine Entscheidung zu treffen hat, stellt dazu Pro- und Contra-Argumente einander gegenüber. Soll dieser Prozess nicht ausschließlich dazu dienen, eine bereits im Hinterkopf gefällte Entscheidung vor sich selbst oder anderen zu rechtfertigen, sondern sachlich fundiert sein, so muss beiden Seiten gleiches Gewicht geschenkt werden. Wer Jahre später versucht, eine in der Vergangenheit gefällte Entscheidung plausibel nachzuvollziehen, muss diesen Prozess wiederholen. Erneut müssen die Argumente gleich gewichtet einander gegenüber gestellt werden. Die Rolle des Historikers ist demnach vergleichbar mit der eines Profilers, der sich in die Gedankenwelt eines Verbrechers hineindenken muss. Er darf dabei nicht den Fehler begehen, mit der Weisheit des Rückblicks den Fokus ausschließlich auf die Argumente zu legen, die den tatsächlichen geschichtlichen Verlauf begünstigen. Dennoch ist die Geschichtswissenschaft nahezu vollständig von dieser Form der Betrachtung geprägt. Dazu ein Beispiel: Weil wir wissen, dass das neutrale Norwegen Hitlers Expansionspolitik zum Opfer fiel, werden die der nationalsozialistischen Logik entnommenen Gründe für einen Angriff (z.B. Schlüssel zur Ostsee) intensiv beleuchtet, Gegenargumente hingegen übergangen. Im Falle der Schweiz verhält es sich genau umgekehrt. Im Wissen, dass sie verschont blieb, liegt der Fokus der Betrachtung auf den diesen Ausgang begünstigenden Gründen. Wie würden wohl heutige Abhandlungen über die Schweiz aussehen, wenn Hitler den Angriff im Affekt doch befohlen hätte? Rechtfertigt es eine einzige emotionale Entscheidung des „Führers“, den Scheinwerfer der geschichtlichen Betrachtung um 180 Grad zu drehen?

Aus wissenschaftlichen, dramaturgischen sowie didaktischen Gründen sage ich nein. Wissenschaftlich halte ich es für unsauber, wichtige Aspekte auszublenden, die Einfluss auf die Entscheidung hatten, weil dadurch zwar das WAS beantwortet werden kann, nicht aber das WARUM. Aus dramaturgischer Sicht halte ich es für unklug, das Ende vorauszusetzen, weil dies (wie in einem Kriminalroman) die Spannung zerstört. Aus Sicht der politischen Bildung halte ich es schließlich für irreführend, da so der Eindruck vermittelt wird, Geschichte wäre eine logische Abfolge von Ereignissen. Tatsächlich ist sie jedoch widersprüchlich, weshalb das Wort „zwangsläufig“ im Vokabular des Historikers keinen Platz hat. Wer sich Geschichte als einen überdimensionalen Entscheidungsbaum mit zahlreichen Verästelungen vorstellt, muss ihre Analyse chronologisch (vom Stamm zum Ast) vornehmen, da die entgegengesetzte Betrachtungsweise alternativlos verläuft. Eingetretenes darf nicht posthum als gegeben vorausgesetzt werden, weil es mögliche Alternativ-Verästelungen ausschließt. Der Entscheidungsbaum hätte dann nur einen einzigen Ast und alles andere als der konkrete Ausgang wäre undenkbar. Geschichte mag nur den Indikativ kennen, Geschichtswissenschaft sollte meiner Meinung nach auch den Konjunktiv zulassen.

Annahmen

 

Die Forschungsfrage, die ich zum Titel der vorliegenden Arbeit gemacht habe, mag den Anschein erwecken, Hitler wäre alleine für alles verantwortlich gewesen. Dies ist freilich unrichtig. Zahlreiche Vertreter aus Großindustrie und Hochfinanz sowie eine überwältigende Volksmehrheit haben seinen Erfolg erst ermöglicht. Dennoch ist der geschichtliche Verlauf ohne die Person Hitler undenkbar. Hitler war kein primus inter pares, seine Ansichten waren Staatsdoktrin, sein Wort war Gesetz. Um es mit den Worten von Adalbert Volck zu sagen: Die nationalsozialistische Bewegung bestand nur aus zwei Worten: Adolf Hitler.[2] Hätte der Führer den Angriff auf die Schweiz befohlen, so hätte sich ihm niemand in den Weg gestellt. Insofern halte ich es für legitim, die Forschungsfrage auf die Person Hitler zu verdichten. Dabei muss ihm ein gewisses Maß an „Rationalität“ bei der Entscheidungsfindung unterstellt werden. Den Ausgang der Geschichte ausschließlich der Gemütsverfassung eines „Verrückten“ zuzuschreiben, würde jegliche historische Betrachtung erübrigen. Die vorliegende Arbeit geht demnach davon aus, dass Hitler sich von „sachlichen“ Argumenten (sofern man in diesem Zusammenhang von solchen überhaupt sprechen kann) leiten ließ.

Aus heutiger Sicht wissen wir, dass die Schweiz verschont wurde. Es liegt somit die Vermutung nahe, dass ein Angriff aus Sicht des Dritten Reiches mehr Nach- als Vorteile gebracht hätte. Welche dies sind, soll in der Arbeit näher untersucht werden, wobei ich eine dialektische Dreiteilung vorgenommen habe. Im ersten Kapitel werde ich alle Aspekte beleuchten, die aus nationalsozialistischer Sicht für einen Angriff gesprochen hätten. Im zweiten Kapitel möchte ich als Antithese dazu, die Aspekte betrachten, die einem Angriff entgegenstehen. Im dritten Kapitel werde ich durch Gegenüberstellung erörtern, welche Erkenntnisse gezogen werden können. Dabei werde ich auf eine Gewichtung verzichten, welcher Aspekt in welchem Ausmaß entscheidend war, da aufgrund wechselseitiger Abhängigkeiten die einzelnen Faktoren nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Zuletzt sei erwähnt, dass auch der sorgfältigste Versuch einer Beantwortung der Forschungsfrage immer eine gewisse Restmenge an Zweifel zurücklassen wird. Sie kann niemals „mathematisch logisch“ sondern im besten Fall „plausibel“ beantwortet werden. Geschichtliche Analyse ist und bleibt ein Indizienprozess.

 

Abschnitt 1: Gründe für einen Angriff

 

Germanische Weltherrschaft

 

„Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt. Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.“ Dieser Refrain stammt aus dem Lied „Es zittern die morschen Knochen“ des Nazi-Dichters Hans Baumann. Auch wenn der Text nach der Niederlage von Stalingrad von „gehört uns Deutschland“ auf „hört uns Deutschland“ abgeändert[3] wird, so belegen zahlreiche Aussagen Hitlers, dass alles andere als die Weltherrschaft für ihn immer nur Etappenziele auf dem Weg zum Endsieg sind.[4]

 

Zunächst strebt Hitler die Vorherrschaft am europäischen Kontinent[5] an und möchte ein einheitliches Europa[6] ohne Kleinstaaten schaffen: „Österreich, die Schweiz, Belgien, Jugoslawien und die Tschechoslowakei müssen als Staatsgebilde verschwinden.“[7] Schon 1933 erklärt der Führer: „Die Zeit der kleinen Staaten ist vorbei. Es wird künftig keine Neutralität mehr geben. Die Neutralen werden in die Kraftfelder der Großen geraten. Sie werden aufgesaugt werden.“[8] Hitler sieht sich dabei in der Tradition Karls des Großen. Goebbels notiert in sein Tagebuch: „(…) dass das Kleinstaatengerümpel, das heute noch in Europa vorhanden ist, so schnell wie möglich liquidiert werden muss. Es muss das Ziel unseres Kampfes bleiben, ein einheitliches Europa zu schaffen. (…) Es ist gänzlich falsch, ihn (Karl den Großen, Anm.) als Sachsenschlächter anzugreifen. Wer gibt dem Führer die Garantie, das er später nicht einmal als Schweizerschlächter angeprangert wird?“[9] Die Auffassung, dass nach dem Fall Frankreichs auch die Schweiz von der Landkarte verschwinden müsste, ist auch in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet, wie ein SD-Bericht vom 24. Juni 1940 zeigt: „Es herrsche beim einfachen Mann wie auch in Intelligenzkreisen der Eindruck, dass am Ende der jetzigen kriegerischen Auseinandersetzung die gesamten kleinen Staaten Europas verschwinden würden.“[10] Hitler lehnt die Idee eines Staatenbundes ab, denn „bei der nächsten Gelegenheit würde dieses ganze Gebilde wieder auseinanderfallen. Unbedingt sei also feste Zusammenfügung notwendig.“[11]

 

Dass die Einigung Europas für Hitler jedoch nur ein mittelfristiges Ziel auf dem Weg zur Erlangung einer weltweiten Vormachtstellung sein kann, geht aus mehreren Aussagen hervor. „Wo auch immer unser Erfolg endet, er wird stets nur der Ausgangspunkt eines neuen Kampfes sein.“[12] Gegenüber der Waffen-SS betont Hitler „(…) haben wir dann Europa fest in der Hand, dann schaffen wir uns unseren afrikanischen Kontinent, und eines Tages, wer weiß, werden wir vielleicht auch anderes finden.“[13] Hitler bezeichnet die Erde als „Wanderpokal“[14] und macht deutlich, Deutschland werde „entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein.“[15] Auch die Tagebucheinträge von Joseph Goebbels weisen darauf hin, dass Hitler sich niemals mit einer Vormachtstellung nur auf dem europäischen Kontinent zufrieden geben würde.[16] Dass in den Reden und Aufzeichnungen des Führers die Schweiz kaum Erwähnung findet, kann keinesfalls als Indiz dafür interpretiert werden, dass er ausgerechnet einen neutralen Kleinstaat zu schonen gedenkt, der „vor seiner Haustüre“ liegt und in so ziemlich jeder Hinsicht den nationalsozialistischen Idealen widerspricht. Das oft kolportierte Gerücht, Hitler hätte gar seine „schützende Hand“ über die Schweiz gehalten ist unrichtig. Die Schweiz ist für Hitler, der für seine globalen Überlegungen einen Zeithorizont von tausend Jahren[17] anlegt, schlicht zu klein und unbedeutend, um darin extra Erwähnung zu finden.

 

Zahlreiche Quellen belegen, dass Hitler die Schweiz vermutlich deshalb kaum in seinen Reden oder Schriften[18] erwähnt, weil er die (deutschsprachigen) Schweizer immer als Teil des germanischen Volkskörpers versteht. So bezeichnet er die Schweizer als „Deutsche in der Schweiz“ [19], als „abtrünnige Deutsche“ [20] und als „missratenen Zweig unseres Volkes“[21]. Die Schweizer hätten geglaubt „ihren Weg besser gehen zu können, (…) wenn sie die gemeinsame Bestimmung des deutschen Volkes verlassen“, müssten nun aber „im Lichte der jüngsten Ereignisse“ erkennen, dass „ihre Rechnung sich als falsch erwiesen hat.“[22] Hitler weist der Schweiz damit die Rolle einer „verlorenen Sohnes“ zu, der auf die schiefe Bahn geraten ist und deshalb, weil noch immer Teil der Familie, zu seinem eigenen Wohle notfalls mit Gewalt auf den „rechten“ Weg zurückgeführt werden muss.

 

Dem nationalsozialistischen Geschichtsverständnis nach erfolgte die „unbeabsichtigte Ablösung“ der Schweiz von der deutschen Familie mit dem Westfälischen Frieden im Jahr 1648. Dieser „Moment der Schwäche“[23] aufgrund „habsburgischen Unvermögens“[24] wäre das „traurigste Jahr der deutschen Geschichte“.[25] Die „alemannischen“[26] Schweizer hätten sich seither innerlich vom Germanentum entfernt und müssten durch einen Umdenkprozess wieder mit dem Reich vereint werden.[27] Schon 1920 wird im 25-Punkte-Programm der NSDAP unter Pkt. 1 der „Zusammenschluss aller Deutschen zu einem Groß-Deutschland“ gefordert. Auch in „Mein Kampf“ werden die „Vereinigung aller Deutschstämmigen“[28] sowie die „Pflege der rassischen Elemente“[29] gefordert. „Was ein Talent ist, kann sich in einem Land wie Österreich oder Sachsen, Dänemark oder der Schweiz nicht entfalten. Die Basis ist zu klein. Deshalb bin ich froh, dass die germanischen Völker jetzt die Möglichkeit wiedergewinnen, welche mit der Weite des Raums gegeben sind.“[30] Selbst als sich die Wehrmacht bereits überall auf dem Rückzug befindet und ihre „Siege“ immer näher der Heimat errungen werden, betont Hitler die Wichtigkeit der Zusammenfassung aller von Deutschen jemals bewohnten Länder zu einem Großreich.[31]

 

Aufgrund ihrer „blutmäßigen“ Zugehörigkeit, die wichtiger wäre als formale Staatsangehörigkeit, müssten sich die Deutschschweizer, die von der NS-Propaganda als „Volksdeutsche“ bzw. „Auslandsdeutsche“ gesehen werden, früher oder später Deutschland anschließen.[32] Für Himmler, in dessen SS auch Schweizer dienen[33], ist die Schweiz nur ein „Ableger des Germanischen Baumes“. Hitler weist ihr im „Neuen Europa“ die Rolle eines „Gliedes“ bzw. Teiles des kommenden „Großgermanischen Reiches“ zu.[34] Teilweise wird die Heimholung[35] der Schweiz, dieses „unerlösten deutschen Landes“ sogar vorweggenommen. So wird sie auf Landkarten als „deutscher Volksboden“ bzw. als „deutsches Siedlungsgebiet“[36] bezeichnet oder ist bereits als Gau von Großdeutschland eingezeichnet. Zürich, Basel und Bern werden als deutsche Städte[37] und das Finsteraarhorn als höchster Berg Deutschlands ausgewiesen.[38] Zu den 90 Mio. Einwohnern[39] Deutschlands werden auch die drei Mio. Schweizer als „Heimatlose“ gezählt. Die Schweizer Fußballmannschaft wird als „Deutsche aus der Schweiz“ begrüßt, Schweizer Ärzte in Prospekten als „Landsleute“[40]angesprochen. Eine Daseinsberechtigung als souveräner Staat wird der Schweiz jedenfalls langfristig abgesprochen.[41] Durch die rassische Nähe würde es nach dem Endsieg zu einer organischen und harmonischen Verschmelzung mit dem Reich kommen.[42]

 

Unternehmen Tannenbaum

 

Neutralität bietet einem Land nur so lange Schutz, so lange diese von den anderen respektiert wird. Dass Hitler nicht beabsichtigt, neben seinem Großgermanien neutrale Staaten zu dulden, belegen die Angriffspläne der Wehrmacht gegen diese: „Silberfuchs“ für Nordskandinavien, „Gisela“ für Portugal und Spanien, „Grün“ für Irland, „Felix“ für Gibraltar. Im Falle der Schweiz lautet der Deckname „Tannenbaum“.

 

Zunächst plant Hitler jedoch nicht die Eroberung der Schweiz sondern nur ihre Umschließung, um sie so erpressen zu können.[43] Der am 18. Juni 1940 mit Mussolini vereinbarte Plan scheitert jedoch, weil der italienische Vorstoß in Savoyen misslingt.[44] Die Schweiz behält somit eine gemeinsame Grenze[45] inkl. Eisenbahnverbindung[46] mit dem unbesetzten Vichy-Regime.[47] Die Schweiz ist somit nicht nach Belieben erpressbar weshalb Hitler eine militärische Lösung planen lässt.[48] Am 22. Juni 1940, dem Tag des Waffenstillstands mit Frankreich, gibt Hitler den Befehl, mit den Planungen gegen die Schweiz zu beginnen. Im Fokus steht dabei die Rolle der Schweiz als Transitland.[49] An den Planungen sind der Generalstabschef des Heeres sowie zwei Generalfeldmarschälle beteiligt.[50]

 

Als die Schweiz nach dem Fall Frankreichs die Armee von 450.000 auf 150.000 Mann demobilisiert, macht Deutschland auf der anderen Seite das genaue Gegenteil: Auf die topografischen Verhältnisse der Schweiz abgestimmte Kampfverbände[51] werden an der Schweizer Grenze zusammengezogen um einen Angriffs vorzubereiten.[52] Die Behauptung, Hitler habe nie einen Angriff der Schweiz in Betracht gezogen, ist damit widerlegt. Dass es dennoch zu keinem Angriff kommt, hat nichts mit Hitlers „schützender Hand“ zu tun.

 

Am 25. Juni 1940 wird der erste Entwurf aus der Tannenbaum-Serie fertig. Man geht davon aus, die Schweiz könne in drei bis fünf Tagen besetzt werden. Wichtig wäre, die Schweizer Armee am Rückzug in die Alpenstellungen zu hintern, da ansonsten ein Partisanenkampf in den Bergen drohe.[53] Ferner sollen Industrieanlagen, Straßenknotenpunkte und Brücken möglichst unversehrt bleiben, um die Schweiz als Durchgangsgebiet Richtung Frankreich nutzen zu können. Im Laufe der weiteren Monate wird dieser Erstentwurf immer wieder den veränderten Anforderungen bzw. verfügbaren Truppenstärken angepasst. So plant die deutsche Heeresleitung im Herbst 1940, als die Schweiz aufgrund von militärischen Umgruppierungen besonders verwundbar ist, einen gleichzeitigen Vorstoß deutscher Truppen aus Deutschland und Frankreich sowie italienischer Truppen von Süden.[54]

 

Neben der Operation Tannenbaum sind noch weitere Operationsentwürfe für einen militärischen Überfall auf die Schweiz bekannt. Einer stammt von Generaloberst Alfred Jodl,[55] ein anderer von Oberst Horst Böhme. Das Projekt bleibt ebenso wie die Tannenbaum-Pläne in der Schublade.[56] Alles in allem dauern die Planungen für einen Angriff auf die Schweiz so lange wie der Krieg selbst.[57]

 

Wie sind die Angriffspläne gegen die Schweiz einzuschätzen? Der deutsche Offizier von Lossberg bezeichnet sie als „Schubladenentwürfe“ und „Studien für untätige Stäbe“. Generalstabschef Franz Halder behauptet nach dem Krieg sogar, er habe die Studien nur veranlasst, um Hitler den hohen Preis eines Angriffs aufzuzeigen und ihn so von einem Überfall auf die Schweiz abbringen zu können.[58] Andererseits belegen die Planungen, dass sich die OHL mit dem Thema Schweiz auseinandersetzt, währende beispielsweise gegen Schweden keine analogen Angriffspläne existieren.[59] Joseph Goebbels notiert am 18.12.1941 über die neutralen Staaten in sein Tagebuch: „Es wäre geradezu eine Beleidigung Gottes, wenn sie nicht nur diesen Krieg ungeschoren überstehen würden, für den die Großmächte so schwere Opfer bringen, sondern daran auch noch ein Geschäft machten. Wir werden schon dafür sorgen, dass das nicht der Fall sein wird.“[60] Noch im Juli 1940 meldet der Schweizer Nachrichtendienst („Büro Ha“), die Einverleibung der Schweiz sei für die NS-Führung beschlossene Sache, nur hinsichtlich des Zeitpunkts sei man sich uneinig. Der Termin des Angriffs wird im Laufe dies Krieges immer weiter nach hinten verschoben: Nach der Kapitulation Englands, nach dem Sieg über Russland, nach dem Endsieg. Zu einem Angriff gegen die Schweiz wird es nie kommen. Stattdessen erhält die Schweiz die Bezeichnung „Wartegau“.[61]

 

Militärische Überlegenheit

 

„Die Schweiz das kleine Stachelschein, die nehmen wir am Rückweg ein“[62] heißt es unter deutschen Soldaten und macht deutlich, wie hoch man die militärische Stärke der Schweiz einschätzt. Ein anderer Spruch lautet „Die Schweiz in Ihrer Blütenpracht, die nehmen wir in einer Nacht.“[63] Auch aus dem Führerhauptquartier sind ähnliche Zitate überliefert. So soll Hitler über die Eroberung der Schweiz gesagt haben: „Das macht mir dann der Dietrich mit meiner Leibstandarte.“[64] und „Wegen der Viertelstunde fangen wir gleich gar nicht an“.[65] Tatsächlich rechnet die OHL mit einem Sieg über die Schweizer Armee in weniger als einer Woche, was in etwa der Dauer des Feldzugs gegen Belgien entspricht.[66] Über den militärischen Geist der Schweizer Armee sagt Hitler, der „alte Herr Tell“ allein könne diesen natürlich auch nicht hochhalten. Die Folge davon sei, dass man heute in der Schweiz „soldatisch so stark abgewirtschaftet habe, dass der Schweizer Offizier, der diesen Krieg richtig darstelle, seines militärischen Ranges entkleidet werde.“[67] Über die Bedeutung des Krieges sagt Hitler: „Eine Wehrmacht, deren einziges Ziel es ist, den Frieden zu erhalten, führt zu einem Soldatspielen – man betrachte nur Schweden oder die Schweiz.“[68] Tatsächlich findet die letzte militärische Auseinandersetzung in der Schweiz im Jahr 1847 mit dem „Sonderbundskrieg“ statt. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs herrscht somit seit fast einem Jahrhundert Frieden.