Warum verschwand Meghan? - Julie Miller - E-Book

Warum verschwand Meghan? E-Book

Julie Miller

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Beschreibung

Meghan hat einen gefährlichen Verehrer. Ein Unbekannter schickt der Feuerwehrfrau gelbe Rosen und Liebesbriefe - während er gleichzeitig ein Gebäude nach dem nächsten in Flamme aufgehen lässt. Denn angeblich gibt es für ihn nichts Schöneres, als Meghan bei der Arbeit zu beobachten. Die Polizei arbeitet auf Hochtouren, um den Feuerteufel aufzuspüren, und zieht einen Experten für Brandstiftung hinzu - ausgerechnet Meghans große Liebe Gideon. Bis vor zwei Jahren waren die beiden ein Paar. Vergessen konnte sie ihn bis heute nicht. Und auch er scheint noch von ihr angetan zu sein. Doch kaum kommen sie sich näher, gerät Meghan in Lebensgefahr…

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Seitenzahl: 286

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IMPRESSUM

Warum verschwand Meghan? erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2003 by Julie Miller Originaltitel: „Kansas City‘s Bravest“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA LOVE & CRIMEBand 12 - 2004 by CORA Verlag GmbH, Hamburg Übersetzung: Dr. Rainer Nolden

Umschlagsmotive: OSTILL / Olesya22 / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733753955

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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PROLOG

Zu spät. Zu spät.

Für Gideon Taylor gab es kein Entkommen aus dem flammenden Inferno dieses Albtraums.

Die Luft um ihn herum explodierte in einem gewaltigen Feuerball, dessen Druckwelle ihn zu Boden warf.

„Luke!“ Dumpf erklang Gideons verzweifelter Schrei unter der Sauerstoffmaske.

Unruhig wälzte Gideon sich im Bett herum. Der entsetzliche Traum wollte kein Ende nehmen. Er rang nach Luft, er wollte endlich aufwachen. Er schaffte es nicht.

Er brauchte sie.

Das Knirschen der alten Dachbalken vermischte sich mit dem Ächzen der tragenden Wände, die von Minute zu Minute brüchiger wurden, zu einer unheilvollen Melodie, die durch das Zischen und Fauchen der Flammen an Gideons Ohr drang.

„Luke!“ Gideon rollte sich zur Seite und kämpfte mit der Ausrüstung, die ihn in seiner Bewegungsfreiheit einschränkte – von dem erdrückenden Schuldgefühl, das ihn außerdem belastete, ganz zu schweigen.

Jetzt war es zu vollem Leben erwacht.

Funken, Möbel, Müll. Nahrung für das Feuer.

Ein ebenso simples wie tödliches Rezept für einen Brand.

Torkelnd stand Gideon auf. Rußpartikel ließen seine Augen tränen. Er schloss sie und konzentrierte sich auf ein Geräusch, das ihn zu seinem Partner führen konnte. „Sprich mit mir“, flüsterte er so eindringlich, als wollte er die Wände, die jeden Moment einzustürzen drohten, zwingen, ihm ihre Geheimnisse zu verraten.

Aus den oberen Stockwerken drang das Knirschen von Eisenträgern, die in der glühenden Hitze zu schmelzen begannen, an sein Ohr. Es kam ihm wie eine Aufforderung vor.

Heftige Luftströme, die die Flammen immer wieder anfachten und vorwärts trieben, zischten ihm entgegen und ließen ihn zurückweichen. Eindeutig eine Warnung.

Er hörte den rasselnden Atem seines besten Freundes, der inmitten dieses Flammenmeeres im Sterben lag.

Gideon lauschte angespannt auf diese letzten schwachen Lebenszeichen. Plötzlich wurde es ganz still in seinem Kopf. Sein heftiger Atem ging regelmäßiger, und sein Herz schlug ruhiger.

Mit allen Sinnen konzentrierte er sich auf Luke.

Da hinten!

Mit vorsichtigen, dabei aber trotzdem weit ausholenden Schritten drang Gideon durch die Wand aus Rauch. Er betrat den inneren Bereich des Infernos, um seinen Freund zu retten.

„Taylor! Redding!“ Er achtete nicht auf den Befehl, der durch den Lautsprecher in seinem Helm drang. „Ich sagte ‘rauskommen!“

„Luke ist ohnmächtig!“ Er verschwendete keinen weiteren Atemzug, um mit Deputy Chief Bridgerton über dessen Anweisungen zu diskutieren. Sein Boss würde ihn verstehen. Ein Feuerwehrmann ließ niemals einen Kollegen im Stich.

Er tastete sich an der Wand entlang, betrat den Kesselraum durch die Reste der zerstörten Türöffnung und fiel zu Boden. Hart schlug er mit einem Knie auf den Zement.

Mit dem zweiten stieß er auf etwas Weicheres.

Luke.

Gideon nahm die Hand des Kollegen und drückte sie fest. Es war ein stummes Versprechen, ein unausgesprochener Trost. Er legte sich neben seinen Partner, um das zwölf Zentimeter hohe Lüftungsfenster knapp oberhalb des Bodens zu untersuchen. Luke lag flach auf dem Rücken. Verkohlte Holzdielen und verdrehte Metallteile quetschten seine Schulter und seinen Brustkorb ein.

„Ich bin’s.“ Gideon verstand seine eigenen Worte kaum. „Hörst du mich?“

Lukes Helm bewegte sich hin und her, als er versuchte, den Kopf zu schütteln. „Nicht gut. Hol … Mistkerl …“

„Hey, beschimpfst du mich etwa?“ Gideon bemühte sich um ein Lächeln, als ob Luke ihn trotz seiner geschlossenen Augen und durch sein schmerzerfülltes Delirium sehen könnte.

Er schob einen Arm unter Lukes Ellbogen, den anderen unter seine Knie und zog. Er rührte sich nicht vom Fleck.

Er brauchte eine Spitzhacke. Eine Winde. Und zwei weitere Männer.

Er brauchte ein Wunder. Ob Gott ihn wohl hörte?

„Schatz?“ Gideon stöhnte laut auf. Dem Schicksal, das ihn unweigerlich in seinem Traum erwartete, wollte er unbedingt entgehen. Er sehnte sich nach dem Klang ihrer Stimme, die von einer Sekunde zur nächsten zwischen munterer Zuversicht und verletzlicher Zärtlichkeit schwanken konnte. Mit einer Hand tastete er nach ihr.

Gideon ließ das verformte Metall los. Seine Gummihandschuhe zogen Fäden, in denen sich seine Finger verhedderten.

Er fluchte. Am frustrierten Klang seiner Stimme erkannte Bridgerton die Gefahr, in der sie schwebten.

„Taylor. Ich erwarte Sie in zwei Sekunden hier draußen. Verlassen Sie das Gebäude!“

Gideon, der Luke immer noch in seinen Armen hielt, widerstand dem Impuls, den letzten Rest Sauerstoff aus seiner Flasche mit ihm zu teilen. Er brauchte die Luft, damit wenigstens einer von ihnen die Möglichkeit hatte, mit dem Leben davonzukommen.

Mit beiden Händen umklammerte er die schweren Metallgitter, die von der Hitze biegsam geworden waren, und erhob sich. Schwarzer Rauch stieg auf, als er die Teile der zerborstenen Decke mit letzter Kraft von Lukes Brust schob. Mit dem Schutt verschwand auch Gideons Handschuh in den dunklen Wolken.

Tief sog er den letzten Rest Sauerstoff in seine Lunge.

Kniend versuchte er, Luke hochzuheben. Die Schulter gegen seinen Bauch gepresst. Ein Arm unter den Knien. Er legte Lukes Arm um seinen Hals. Schwankend erhob er sich unter dem Gewicht des erwachsenen Mannes und seiner schweren Schutzkleidung.

„Boss!“

Endlich stand er aufrecht und konnte losgehen.

Torkelnd lief er durch den Gang zu dem Loch in der Wand, durch das er und Luke zu dem Flammeninferno vorgedrungen waren. Mit dem Ellbogen tastete er sich seinen Weg an der Wand entlang. Von dort, wo sie endete, verließ er sich auf seinen Instinkt, um ins Freie zu gelangen.

„Taylor!“ Gideon schnappte verzweifelt nach Luft. „Halten Sie ihn!“ Seine Knie gaben nach.

Gideon wurde schwarz vor Augen. Wie aus weiter Ferne drangen Bridgertons Anweisungen durch die Dunkelheit an sein Ohr.

Ehe er zu Boden fiel, wurde ihm das Gewicht von den Schultern genommen. Hände fingen ihn auf und befreiten ihn von Luke.

Jemand riss ihm den Helm und die Atemschutzmaske ab. Die Sauerstoffflasche wurde abgeschnallt. Gierig sog er die kalte, klare Nachtluft in seine Lungen. Wie eine kühlende Kompresse wirkte der Sauerstoff auf seine gepeinigte Kehle. Dann wurde er hochgehoben, und jemand stülpte ihm eine kleine Plastikmaske über Mund und Nase.

Weiß und orange loderten die Flammen in den mitternächtlichen Himmel. Dieses Mal hatten sie den Sieg davongetragen. Das schwarze Skelett des verlassenen Gebäudes stand noch einen Moment lang wie eine Silhouette gegen das rote Feuer. Dann erschütterte eine weitere Explosion die Umgebung, und das Gebäude fiel in einer gigantischen Wolke von Staub, Rauch und Flammen in sich zusammen.

„Alle Mann in Sicherheit!“

Es waren die letzten Worte, die Gideon hörte, ehe es um ihn herum schwarz wurde.

Als er Minuten später im schwankenden Krankenwagen aufwachte, wusste er, dass er verloren hatte. Das Schweigen der Sanitäter war vielsagend. Luke hatte es nicht geschafft.

Trotzdem tastete er mit der Hand nach der Liege neben sich, um seinen Freund zu berühren. „Tut mir leid, alter Knabe. Ich bin zu spät gekommen. Zu spät.“

„Um Himmels willen, Taylor. Ihre Hand!“

Es dauerte eine Ewigkeit, bis Gideon den Blick von Lukes wachsbleichem Gesicht zu den schwarzen Fingerspitzen seiner linken Hand wandern ließ.

Auf den Schock folgte der Schmerz, als er die versengten Hautschichten wahrnahm. „Nein …!“

„Nein!“ Kaum hatte der heisere Schrei aus seinem Albtraum ihn ins Bewusstsein zurückgerissen, spürte er bereits den stechenden Phantomschmerz in seiner linken Hand.

Er sehnte sich nach Linderung. Nach Trost. Nach Licht und Leben und Liebe.

„Meg?“

Er umklammerte ein unbenutztes Kopfkissen.

Die Realität war genauso grausam wie sein Angsttraum. Das Bett war leer.

Frustriert, niemanden im Arm halten zu können, atmete er tief ein und aus, um seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Er setzte sich aufrecht hin und schob sich mit der rechten Hand eine schweißnasse Haarsträhne aus der Stirn. Die feuchte Bettdecke war von seinem nackten Oberkörper gerutscht und lag als unförmiger Klumpen neben seinen Hüften.

Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, und der schwüle Tag in der Großstadt war einer dunklen, mondlosen Nacht gewichen. Dennoch fühlte sich sein Körper so heiß an, als hätte er Fieber.

Seit einem Monat war er nicht mehr von diesem Albtraum heimgesucht worden. Warum heute Nacht?

Er fuhr mit der Handfläche über das leere Bett. Der kleine und der Ringfinger der linken Hand konnten das Kopfkissen nicht fassen. Mit ihnen hatte er im vergangenen Jahr ohnehin nicht viel anfangen können. Seit der Nacht, in der Luke gestorben war.

Gideon zog die Hand zurück und holte tief Luft.

Meghan war fort.

Sie hatte ihm das Herz gebrochen und ihm das Liebste genommen, was seine verkrüppelten Hände hätten halten können.

„Meghan.“ Sein Flüstern klang wie ein verzweifelter Schrei. „Was habe ich nur falsch gemacht?“

Sie war nicht bei ihm gewesen in der Nacht von Lukes Tod. Zwei lange Jahre hatte sie nicht mehr in seinem Bett gelegen.

Wann würde er das endlich begreifen?

Gideon Taylor musste allein mit seinen Albträumen fertig werden.

1. KAPITEL

Rote und weiße Lichter flackerten im Inneren des vierstöckigen Lagerhauses, blitzten durch zerbrochene Fensterscheiben und zerstörten Türen, erhellten Wände aus Rauch und wurden von den Flammen verschluckt.

Sturzbäche von Wasser prasselten auf die Feuerwehrleute in dunklen Hosen und Mänteln. In dicken schwarzen Gummistiefeln liefen sie durch die Pfützen von Löschwasser, das sich um ihre Füße sammelte.

Die Sirenen waren ausgeschaltet, aber die Geräuschkulisse der in der Hitze knisternden morschen Holzdielen und das laute Rauschen des Wassers ermöglichten die Verständigung nur über die winzigen Mikrofone und Lautsprecher in ihren Schutzhelmen. Dennoch drang ein schwaches Geräusch an Meghan Wrights Ohr – ein sehr hoher Laut, der das allgemeine Chaos übertönte und sehr verzweifelt klang.

Sie drückte dem groß gewachsenen Mann hinter ihr den Schlauch in die Hand und eilte in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

„Wir haben noch keinen Befehl zum Betreten des Gebäudes bekommen. Also bleib gefälligst hier.“

Meghan ignorierte die Warnung ihres Kollegen und drang in den dichten schwarzen Rauch ein. „Ich habe etwas gehört, John. Ich muss nachsehen, was es ist.“

Das metallische Klappern der Ausrüstung auf ihrem Rücken, ein vertrautes Geräusch bei jedem Schritt, übertönte den schwachen, immer wiederkehrenden Laut, den sie vernommen hatte. Der Schutzanzug, über vierzig Kilo schwer, schränkte sie schon lange nicht mehr in ihrer Bewegungsfreiheit ein. Obwohl der Rauch bereits in sämtliche Räume des Gebäudes gedrungen war, hatte das Feuer die oberen Stockwerke noch nicht erreicht. Sie tastete sich an der kalten Wand den Gang entlang bis zu den Büros am südlichen Ende des Lagerhauses.

Ein Schwall von Flüchen drang an ihr Ohr. Aber sie hörte auch den resignierten Seufzer von John Murdocks sonorem Bass und wusste, dass sie sich seiner Unterstützung bei ihrer Suchaktion sicher sein konnte. „Melde dich alle zwanzig Schritte.“

„Roger.“ Sie presste sich an eine Wand und versuchte, sich zu orientieren, ehe sie sich für einen Korridor entschied. „Ich gehe nach links, also in östlicher Richtung. Auf eine der Außenwände zu.“

„Verstanden. Sei vorsichtig.“

„Du auch.“ Als sich die schwarz-graue Wand aus Rauch zu einem halb durchsichtigen Nebel verdünnte, sah sie, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte. „Kluges Mädchen.“ Siegessicher rieb sie sich die behandschuhten Hände und ging weiter. Jetzt verließ sie sich ganz auf ihren Instinkt.

Das war nicht immer so gewesen.

Vor vier Jahren, als sie zweiundzwanzig war, hatte sie zu wenig Geld gehabt, um das College zu beenden. Sie suchte einen Job, für den sie nur körperlich fit zu sein brauchte; deshalb entschied sie sich für eine Ausbildung bei der Feuerwehr. Aber die Arbeit erwies sich als hart, und die Herausforderungen waren gewaltig. Wegen der spöttischen Bemerkungen von einigen anderen Auszubildenden war sie oft in Tränen ausgebrochen oder fast zur Weißglut getrieben worden. Es sah ganz so aus, als ob sie es nicht schaffen würde.

Genauso wie sie all die anderen großen Herausforderungen in ihrem Leben nicht geschafft hatte.

Dann war Gideon Taylor in ihr Leben gestolpert – in des Wortes wahrster Bedeutung: Er war auf einem Schlauch ausgeglitten, den sie weder aufrollen noch allein tragen konnte. Kurz entschlossen hatte er sie unter seine Fittiche genommen und ihr Selbstvertrauen und Geduld vermittelt. Er hatte ihr Tricks gezeigt, wie sie ihre mangelnde körperliche Kraft kompensieren konnte. Er hatte sie gelehrt, ihre Arbeit zu lieben.

Und er hatte ihr die Liebe beigebracht.

Flammen schossen durch die Dielenböden vor Meghans Füßen hoch und rissen sie aus ihren Gedanken. Das Feuer, das im Erdgeschoss des Lagerhauses begonnen hatte, fraß sich allmählich seinen Weg zu den Dachbalken. Gideon würde sie jetzt ermahnen, Ruhe zu bewahren und sich nur auf das Feuer zu konzentrieren.

Lass das Feuer zu dir sprechen, würde er sagen. Es sagt dir, was du tun sollst.

Meghan versuchte, etwas zu hören. Das klopfende Geräusch war verstummt. Sie lauschte angestrengter. Sie versuchte, sich an Gideons Lektionen zu erinnern.

Gideon.

Sie lehnte sich an eine Wand und griff sich an den Bauch. Der Schmerz, den die Flut der Erinnerungen in ihr auslöste, war fast körperlich spürbar.

Dieser Herausforderung war sie jedenfalls nicht gewachsen gewesen.

„Meghan?“ Johns warnende Stimme erinnerte sie daran, dass die Zeit knapp wurde.

Sie riss sich zusammen und löste sich von der Wand. „Ich bin okay.“ Sie sah sich um und beschrieb ihre Position.

„Hast du das Opfer entdeckt?“

„Noch nicht.“ Eine Art schriller Schrei aus dem oberen Stockwerk ließ sie aufmerken. „Warte. Da ist was.“

Es war der Laut eines verzweifelten, aussichtslosen Kampfes. Meghan war diese Art von Kampf nur allzu vertraut. Am Leben zu bleiben war eines der wenigen Dinge, die sie tatsächlich geschafft hatte.

„Ich gehe jetzt in den ersten Stock“, informierte sie John über ihren nächsten Schritt.

Der Doppelstrahl der Lampe auf ihrem Helm flimmerte in der aufgeheizten Luft, die sich in dem alten Gebäude ausbreitete. Der Lastenaufzug kam als Transportmittel in die oberen Etagen ebenso wenig in Frage wie die kreuz und quer verlaufenden Treppen und Rampen, die von Rauch eingenebelt waren.

Blieb also nur die schmiedeeiserne Treppe an der Ziegelsteinfassade. Mit aller Kraft zog sie an der untersten Sprosse. Nachdem eine Lawine aus Staub und Mörtel auf ihren Helm geregnet war, hievte sie sich nach oben. Die Ankerbolzen in der Wand gaben nach. Sie zog den Kopf ein und hielt den Atem an. Aber die Leiter rastete in die locker gewordenen Halterungen ein und trug ihr Gewicht. Gut, dass sie so schlank war. „Ich klettere hoch.“

Sprosse für Sprosse erklomm sie die Leiter. Meghan war nur ein Meter fünfundsechzig groß und trainierte intensiv, um in Bestform zu bleiben. Was ihr an Stärke fehlte, machte sie mit Schnelligkeit und Wendigkeit wett. Wenn das Feuer nicht nach oben übergriff, würde es ihr nicht schwer fallen, das Opfer zu finden und das Gebäude schnell zu verlassen.

Meghan erreichte den ersten Stock und schwang sich auf die Galerie, die an der dem Hafen zugewandten Seite des Hauses entlanglief. Vor Jahren war es als Lager- und Versandhaus für Baumwollballen benutzt worden, die von hier aus auf den Wasserweg gebracht wurden. Ein riesiger Eisenhaken mit Seilen und einem Stützbalken war noch immer neben einer mit Brettern vernagelten Ladeluke befestigt.

In letzter Zeit war das Lagerhaus aber nur noch als Zufluchtsort von Jugendlichen genutzt worden, die zu viel Zeit und zu wenige Perspektiven in ihrem Leben hatten. Oder es diente Obdachlosen, die keinen Platz mehr in den Unterkünften der Heilsarmee gefunden hatten, als Schutz vor der mörderischen Augusthitze.

Als Teenager hatte Meghan auch Zeiten erlebt, da sie bis zum Hals in Schwierigkeiten steckte und von zu Hause ausgerissen war. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass wer immer sich hier versteckt hatte, um den Flammen zu entkommen, vor allem Angst hatte. „Ich will Ihnen helfen“, rief sie. Der Korridor im unteren Stockwerk füllte sich allmählich mit Rauch. „Wo sind Sie?“

Ein kläglicher Schrei war die Antwort. Sie bewegte sich in die Richtung, aus der er ertönt war.

Am Ende der Galerie befand sich ein mit Brettern abgeteiltes Büro. Die Tür war geschlossen und ebenso wie das Fenster daneben über Kreuz mit Holzlatten vernagelt. Wie konnte dort jemand hineingelangt sein?

Sie ahnte bereits etwas, als sie klopfte.

Ein scharfes, wütendes Bellen war die Antwort.

„Oh nein!“

Die Feuerwehr von Kansas City tat alles, um Haustiere und Viehbestände aus den Flammen zu retten. Aber außergewöhnliche Rettungsmanöver wie dieses waren ausschließlich Menschen vorbehalten und nicht herumstreunenden Hunden.

„John? Es ist ein Hund.“ Sie gab ihre Position durch. „Wo ich schon mal hier bin, kann ich ihn auch herausholen.“

Ihrem Kollegen würde es nicht gefallen, wenn sie wegen eines herrenlosen Tieres ihr Leben riskierte. Doch der Hund war ein unschuldiges Opfer des Feuers, und sie wollte ihn nicht im Stich lassen.

„Beeile dich, Meghan. Das Feuer greift auf die anderen Stockwerke über. Wir löschen auf deiner Seite, um dir den Weg freizuhalten.“ Er diskutierte nicht mit ihr; dafür war es ohnehin zu spät. „Ich verständige das Tierheim.“

„Da hast du aber noch mal Glück gehabt, du Schlingel.“ Sie redete mit dem Tier durch die verschlossene Tür, um es zu beruhigen. „Die Kavallerie ist da.“

Mit einem Blick vergewisserte Meghan sich ihrer Fluchtmöglichkeiten. John hatte recht gehabt. Die Dielen unter der Leiter standen bereits in Flammen. Ziegel konnten zwar nicht brennen, aber sehr heiß werden. Eisen wurde in der Gluthitze weich – und die Leiter damit unbrauchbar.

„Wie bist du denn da reingekommen, Kleiner?“ Das jämmerliche Jaulen von der anderen Seite traf Meghan ins Herz.

Sie hockte sich hin und streckte eine Hand durch den unteren Spalt der geschlossenen Tür. „Hast du etwa selbst zugesperrt, nachdem du hineingekrochen bist?“ Der Hund bellte erneut. „Ich hole dich raus. Hab keine Angst.“

Meghan griff zur Axt an ihrer Schulter. Sie schlug den Keil zwischen Holzbohlen und Türrahmen und lehnte sich mit ihrem Körpergewicht gegen den Stiel, um den Balken zu lösen. Das Holz splitterte, und sie drückte die Latten zur Seite.

Sie zog ihren Schutzhandschuh aus und hielt ihn an den Knauf, um zu prüfen, ob er heiß geworden war. Dann öffnete sie die Tür.

Ein schwarz-braunes Bündel schoss zwischen ihren Beinen hindurch. „Wow!“

Meghan trat zur Seite, als das Tier, das wie eine Mini-Ausgabe eines Schäferhundes aussah, zu der Rampe lief, über die er zweifellos auch heraufgekommen war. „He, komm zurück, mein Junge.“ Der Hund achtete nicht auf ihr Pfeifen. Meghan schüttelte den Kopf. „Das nenne ich Dankbarkeit!“

Es wurde höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Sie zog den Handschuh wieder an und meldete sich. „Der Köter ist abgehauen, John. Sag mir Bescheid, wenn du ihn draußen siehst. Ich möchte nicht, dass er unters Auto kommt – nach allem, was ich für ihn getan habe.“

„Ich passe auf.“

„Ich komme jetzt runter.“

„Warte.“ Sie befolgte Johns Anweisung und trat nicht auf die Leiter. Als sie daran rüttelte, um ihre Stabilität zu prüfen, lösten sich Mörtelklumpen aus den Verankerungen und fielen in die Rauchwolken im Korridor, die das Löschwasser vor sich hertrieb. „Sichtweite null von unserer Position aus. Ich weiß nicht, ob der Fußboden hält.“

Während dichter Rauch ihr den Fluchtweg versperrte, nahm sie eine Bewegung im Korridor wahr.

„Dieser verdammte Hund.“

Hatte sie sich umsonst in Gefahr begeben?

Meghan blinzelte durch den Nebel. Etwas Dunkles, dunkler als der Rauch, eilte zur Tür. „Hast du das gesehen …?“

Jetzt war es verschwunden.

Sie hatte das Bild mehr geahnt als gesehen. Hatte es der Hund so schnell die Treppe hinunter geschafft? Obwohl dieses Etwas massiger gewesen war als das Tier, war es doch nicht so groß wie ein Feuerwehrmann in voller Montur. Und es hatte sich sehr rasch bewegt.

Die erhitzte Luft konnte Phantombilder vorgaukeln. Vielleicht war es doch ein Kollege gewesen.

Sie sprach in ihr Mikrofon. „Ist noch jemand im Korridor?“

„Nein“, antwortete John. „Gibt’s ein Problem?“

„Ich dachte, ich hätte jemanden da unten gesehen.“ Es musste doch der Hund gewesen sein. Hoffentlich war er unverletzt ins Freie gelangt. „Ist egal. Jetzt ist es verschwunden.“

„Das solltest du besser auch tun.“

Die Erinnerung an die Flammen, die durch den Fußboden schossen, trieb sie zur Rampe zurück. Wenn der Hund über diesen Weg hinunter gekommen war, konnte sie es auch. Vielleicht würde sie ihn da unten finden und doch noch retten können. „Es gibt einen zweiten Fluchtweg.“

Sie nahm ihre Axt und näherte sich den Rauchwolken am anderen Ende der Galerie. Ehe sie in die Nebelwand eintauchte, überprüfte sie die Anzeige ihrer Sauerstoffflasche und holte tief Luft.

Ohne Sicht zu gehen war riskant. Obwohl sie sich an der Wand entlangtastete, konnte jeder Schritt sie über die Galerie ins Bodenlose oder durch ein Loch stürzen lassen oder …

Plötzlich schoss der Hund aus dem Rauch hervor und stieß gegen ihr Schienbein. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. „Junge, wie hast du denn das gemacht?“

Ein lauter Knall dröhnte in ihren Ohren, und der Boden unter ihren Füßen neigte sich zur Seite.

„Meghan!“

Sie achtete nicht auf Johns Ruf, sondern presste sich mit dem Rücken gegen die Wand, um den gleichen Weg zurückzugehen, wobei sie auf das Jaulen des Hundes lauschte.

Was zum Teufel ging hier vor?

„Der zweite Fluchtweg ist auch versperrt.“ Keuchend stieß sie die Worte ins Mikrofon. Dann begann sie zu beten.

Wieder lief der Hund gegen ihre Beine und umkreiste ihre Füße. Bellend lief er in die Richtung, in der seine Nase frische Luft witterte. Meghan folgte dem Geräusch wie einer ausgestreckten Hand.

Nach drei weiteren Schritten hatte sie wieder klare Sicht. „Guter Junge. Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, aber du hast uns beide gerettet.“ Sie streichelte den Hund, um ihn und sich selbst zu beruhigen. Dabei bemerkte sie, dass sie nicht das einzige weibliche Wesen war, das in diesem Gebäude um sein Leben kämpfte. „Tut mir leid, altes Mädchen. Lass uns von hier verschwinden. John?“

„Es hat keinen Zweck.“ Sie spürte, wie sehr ihr Kollege bemüht war, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. „Der Boden bricht weg. Wir können keine Leiter für dich aufstellen.“

Keine Leiter. Keine Rampe. Keine Rettung.

Die Galerie neigte sich um weitere fünf Grad, und Meghan versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Wenn die Galerie zusammenbrach, würden sie durch das Erdgeschoss in den Keller stürzen. Und wenn sie nicht durch den Sturz ums Leben kamen, würden sie in den Flammen umkommen.

So durfte es nicht enden.

Wenn die Welt ihr keine Möglichkeiten bot, suchte sie sich eben ihre eigenen.

Sie war mit dem Tod ihrer Mutter fertig geworden und mit der Tatsache, dass ihr Vater sie verlassen hatte.

Sie hatte bei Onkeln und Tanten gelebt. Manche hatten sich rührend um sie gekümmert, anderen war sie vollkommen gleichgültig gewesen.

Sie war dem Tod bei einem Autounfall in einer schicksalhaften Nacht von der Schippe gesprungen.

Und sie hatte es überlebt, den besten Mann in der ganzen Welt verlassen zu haben.

Das Bild von Gideon Taylors dunklem Haar und freundlichem Lächeln blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Sie hatte ihm wehgetan.

„Verdammt!“, schrie sie so laut, dass der Hund erschrocken bellte. Das konnte doch nicht ihr ganzes Leben gewesen sein, das da im Zeitraffer an ihr vorbeirauschte. „Wir geben nicht freiwillig auf!“

Mit neu erwachtem Kampfgeist fegte sie die Gedanken beiseite. Jetzt ging es nur noch darum, einen Ausweg zu finden.

Die Fenster, die mit Brettern vernagelt waren!

„Meghan, rede mit mir!“

Sie ließ den Hund los und nahm ihre Axt. Ehe sie antwortete, schlug sie einmal kräftig zu. „Ich nehme das hintere Fenster, John.“

„Die Rückseite des Gebäudes grenzt an den Fluss. Es sind drei Etagen. Da kriegen wir keinen Leiterwagen hin.“

Wieder schlug sie zu. „Ich kann schwimmen.“

Der erste Balken zersplitterte in zwei Teile. Schwer atmend hieb sie die Spitze der Axt in das nächste Brett und zerrte an den Nägeln. Unter der engen Maske traten ihr Schweißtropfen auf die Stirn und liefen ihr in die Augen und übers Gesicht. Sie blinzelte, um klar sehen zu können, und nahm sich ein weiteres Brett vor. Die Galerie ächzte und geriet noch mehr in Schieflage, so dass das untere Ende bereits in den Flammen hing und es ihr noch schwerer fiel, gezielt zuzuschlagen.

Der Hund bellte. „Ich weiß, ich weiß.“ Sie scheuchte das Tier zurück und zertrümmerte das Fenster. Der einströmende Sauerstoff veränderte den Luftdruck schlagartig und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, kletterte sie über die Schräge zum Fenster hoch.

Meghan schlug die scharfen Glassplitter am Rahmen ab, nahm das Seil von ihrem Rücken und band ein Ende um den Stützbalken des Lastkrans.

Der Boden unter ihren Füßen gab nach. Der Rauch kroch in die erste Etage und kam unaufhaltsam näher. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, während sie sich das andere Ende des Seils um die Hüften schlang und den Rest der Leine aus dem Fenster warf, um sich daran abzuseilen. „Ich muss zu meinen Jungs. Sie sind alles, was ich habe.“ Sie nahm den Hund vom Boden und steckte ihn unter ihren Mantel. „Sie werden dir auch gefallen.“

Sie nahm den Helm vom Kopf, streifte die Maske ab und schob ihre Ausrüstung von den Schultern, um jedes überflüssige Gramm an Gewicht loszuwerden. Dann setzte sie den Helm wieder auf und zog sich zum Fenster hoch. Die Galerie senkte sich, bis sie in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur Wand hing. Mit einem gewaltigen Krachen stürzte sie in diesem Moment ins Bodenlose.

„Los jetzt.“

Wolken von Ruß und Rauch wirbelten um ihren Kopf herum.

Meghan hielt den Atem an und sprang.

Feuerwehr-Captain Gideon Taylor ging um den Menschenauflauf herum, der sich am Schauplatz versammelt hatte – ein unscheinbarer Statist im Heer der uniformierten Fachleute, die ihr Bestes taten, um den Brandort abzusichern und die Neugier der Reporter und Sensationslüsternen zu befriedigen, die sich dieses Schauspiel an diesem langen, wolkenlosen Nachmittag nicht entgehen lassen wollten. Es erstaunte ihn immer wieder, wie fasziniert die Menschen von einem Akt der Zerstörung waren. Einige kamen, um zu helfen, andere nur, um zu gaffen, und wieder andere gaben lediglich ihrer Erleichterung Ausdruck, dass nicht ihnen dieses Unglück widerfahren war.

Normalerweise benutzte kaum jemand die Ausfahrt, die von dem viel befahrenen Highway zum Industriegebiet am Nordufer des Missouri Rivers führte. Diesmal jedoch waren viele Autofahrer abgebogen und hatten sich vor dem gelben Absperrband versammelt, um einen Blick auf die Ruinen des ehemaligen Textillagerhauses zu werfen.

Er ging zu dem rot-weißen Geländewagen, in dem der Einsatzleiter der Flotte der gelben Feuerwehrfahrzeuge saß, die vor den Überresten der ehemaligen Meyerschen Textilfabrik geparkt hatten. Zuerst wollte er sich dessen Bericht anhören, ehe er im Gebäude nach der Brandursache forschte.

Gideon schob die schwarze Feuerwehrkappe mit den Initialen K.C.F.D. in den Nacken und ließ den Blick über das Skelett des 1920 errichteten Ziegelbaus schweifen. Obwohl das Feuer gelöscht war, stiegen aus seiner Mitte noch Dampf- und Rauchschwaden empor.

Mit genügend Geld und entsprechender Sorgfalt hätte dieses Lagerhaus in seiner alten Pracht wiedererstehen und als Bürohaus genutzt werden können oder – die schlechtere Alternative – als Casino wie jene Fabrik eine halbe Meile stromaufwärts, die zur Touristenfalle umfunktioniert worden war. Dieses Gebäude jedoch war dem Abriss geweiht. Die Ziegel würden für Kamine und Landschaftsgestaltung genutzt und das Grundstück zu einem öden Parkplatz umfunktioniert werden.

Es war seine dritte Untersuchung innerhalb von drei Wochen.

Ein Unfall? Natürliche Ursache? Brandstiftung?

Sein Job war es, die Ursache für den Brand herauszufinden. Nachdem die Hydranten abgestellt waren und die Sanitäter das Gelände verlassen hatten, musste er die verkohlten und durchnässten Überreste nach etwaigen Spuren durchsuchen.

Seine Arbeit als Ermittler von Brandursachen, mit der er nach seinem Aufenthalt in der Reha-Klinik begonnen hatte, war weniger gefährlich als der Job in vorderster Linie. Bessere Bezahlung. Höherer Rang. Jetzt trug er seine Dienstmarke in der Brieftasche und konnte die Übeltäter festnehmen – genau wie seine Brüder, die Polizisten waren.

Er hatte nicht lange überlegen müssen, als man ihm diese Position anbot. Hauptsache, er konnte mit seinen alten Kollegen weiterarbeiten.

„Taylor?“

Durch dunkle Gläser musterte Gideon den kleinen, muskulösen Mann, der auf ihn zukam. „Boss?“

„Nennen Sie mich Tom.“ Deputy Chief Bridgerton verschränkte die Arme auf der zusammengerollten Schutzweste vor seinem Bauch und lächelte verdrießlich, wie man es von ihm kannte.

„Alte Gewohnheit.“ Gideon nahm die Sonnenbrille ab und reichte seinem ehemaligen Chef die Hand. „Schön, Sie wiederzusehen. Was haben Sie denn für mich?“

Tom Bridgerton wusste, dass die Zeit gegen sie arbeitete. Brandspuren konnten unter Schutt und Asche vergraben oder vom Wind weggeweht werden. Je früher die Untersuchung begonnen wurde, umso besser standen die Chancen für Gideon, den Grund für das Feuer herauszufinden.

Der Chef drehte sich um und deutete mit dem Kopf auf verschiedene Teile des Gebäudes. „Das Feuer begann im Keller. Ich weiß nicht, wie lange es schon gebrannt hat, als uns die Leute aus Westins Casino weiter oben auf der Straße heute Morgen alarmierten. Ein paar von den Mitarbeitern, die den Rauch bemerkt hatten, waren hingefahren, weil sie wussten, dass das Gebäude leer stand. Sie waren auch die Einzigen am Schauplatz, als wir ankamen. Einer der Polizisten hat ihre Aussagen zu Protokoll genommen.“

„Wissen Sie, ob die Besitzer etwas im Keller aufbewahrten?“

„Sie meinen Stoffe oder so was?“ Stirnrunzelnd kratzte Bridgerton sich das silbergraue Haar an der Schläfe. „Seitdem die Meyers in den frühen Achtzigern ausgezogen sind, wurde dieses Gebäude nicht mehr als Lagerhaus benutzt. Es hat ein paar Mal den Besitzer gewechselt. Jetzt gehört es einem gewissen Daniel Kelleher. Er ist Immobilienmakler.“

„Hat man ihn schon benachrichtigt?“

Bridgerton nickte. „Er ist auf dem Weg hierher.“

Gideon nahm sich vor, mit Kelleher zu sprechen. Inzwischen wollte er sich ein wenig umsehen. „Im Rathaus haben sie gesagt, dass das Haus zwar nicht mehr genutzt wird, aber nicht zum Abriss vorgesehen war. Haben Sie schon was festgestellt?“

„Der Heizkessel war außer Betrieb und das Gas abgeschaltet.“ Der Chef zuckte mit den Achseln. „Vielleicht wollte sich einer der Obdachlosen, die hier campieren, aufwärmen und hat die Kontrolle über das Feuer verloren.“

„Bei dieser Hitze?“ Die trockene Sommerluft war voll von Staub, der von den unter Wassermangel leidenden Farmen aus der Nachbarschaft herübergeweht wurde. Seit über einer Woche betrug die Temperatur konstant vierzig Grad. „Es gab keine Verletzten?“

„Nur eine.“ Der Chef grinste. „Sie wurde wegen Verbrennungen ersten Grades auf Pfoten und Schwanz behandelt und danach wieder entlassen.“

„Eine Hündin?“

„Wenn sie etwas gesehen haben sollte, behält sie’s für sich.“

Applaus und Jubelrufe brandeten in der Menge auf und lenkten Gideon ab. Er drehte sich um und sah das Blitzlichtgewitter der Kameras, die auf die Lücke innerhalb der Gruppe der Schaulustigen gerichtet waren. Reporter mit Mikrofonen und Fotoapparaten versperrten ihm die Sicht.

Er sah den Einsatzleiter an. „Warum reden die nicht mit Ihnen? Ich sehe mindestens drei Ü-Wagen.“

Bridgerton lachte. „Ich habe meine Aussage schon gemacht. Aber ich glaube, heute ist eine echte Berühmtheit vom Sender Station 16 dabei. Es gab eine spektakuläre Rettungsaktion. Channel Ten und die anderen wollten mit ihr anstatt mit mir reden.“

Mit ihr? Die Reporter interviewten eine Hündin statt eines gestandenen Feuerwehrmanns?

Der Chef klopfte ihm auf die Schulter und ließ ihn stehen. „Ich schau mal besser nach der Aufräumtruppe. War schön, Sie zu sehen, Gid.“

„Ganz meinerseits, Bo…“ Er legte zwei Finger an die Stirn und korrigierte sich. „Tom.“

„Kommen Sie doch mal vorbei. Die Jungs vom Dreiundzwanzigsten würden sich über Ihren Besuch freuen.“

„Gern.“ Der Chef packte einen jungen Mann am Arm und zog ihn mit sich, um ihm einen neuen Auftrag zu erteilen.

Unter normalen Umständen hätte Gideon mit fünfunddreißig durchaus noch Anweisungen Folge leisten müssen. Doch nun hatte er einen Sonderstatus. Und der junge Kerl, der jetzt losrannte, um Bridgertons Befehl auszuführen, hielt sich wahrscheinlich für unbesiegbar.

Gideon wusste es besser. Für einen wie diesen Frischling war Luke Redding nur ein Name auf einer Erinnerungstafel. Und Gideon war der alte Knacker, der mal Brände bekämpft hatte. Der, der es inzwischen nicht mehr brachte. Der seinen Partner nicht hatte retten können.

Er stand jetzt ganz oben in der Hierarchie. Ein Schreibtischtäter. Gideon betrachtete die nahezu gefühllosen Finger seiner rechten Hand. Die jungen Rekruten konnten wirklich eine Menge von einem alten Schlachtross wie ihm lernen. Er steckte die Hand in die Tasche seiner schwarzen Baumwollhose und vertrieb den Gedanken, von dem er nicht wusste, ob es Sarkasmus oder Wunschdenken war.

Gideon setzte die Sonnenbrille wieder auf und atmete tief durch, um seiner Gefühle Herr zu werden. Langsam ging er zu dem Gebäude und zog Notizblock und Bleistift hervor. Er machte sich ein paar Notizen von dem Gespräch mit Deputy Chief Bridgerton und umrundete einmal die gesamte abgesperrte Fläche, ehe er das Haus, beziehungsweise die Reste, davon betrat.

Gelächter aus der Menschenmenge erregte seine Aufmerksamkeit. Er steckte das Notizbuch weg. Zuerst einmal wollte er einen Blick auf das Tier werfen, das einen solchen Medienrummel verursachte. Mit seinen stattlichen ein Meter neunzig war er groß genug, um auch aus der letzten Reihe über alle Köpfe hinwegsehen zu können.

Eine klobige Fernsehkamera versperrte ihm die Sicht auf den Hund, aber er erkannte die hochgewachsene dunkelblonde Frau mit dem Mikrofon in der Hand, die in die Kamera schaute. „Saundra Ames für Channel Ten. Ich bin am Schauplatz eines Großfeuers in Kansas City, bei dem ein Lagerhaus zwischen Missouri River und Levee Road bis auf die Grundmauern niederbrannte.“

Während sie die wichtigsten Einzelheiten zusammenfasste, ließ sie ununterbrochen ihre schneeweißen Zähne blitzen. Anerkennend stellte er fest, dass die Frau trotz des heißen Tages und der gleißenden Scheinwerfer wie aus dem Ei gepellt aussah. Ein absoluter Profi.

„Jetzt möchte ich Ihnen eine der mutigsten Feuerwehrfrauen von Kansas City vorstellen – die Frau, die den kleinen Hund gerettet hat, den Sie bereits kennen.“ Sie hielt ihrer Interviewpartnerin das Mikrofon unter die Nase. Der Kameramann machte einen Schwenk auf sie.

Gideons Herz setzte einen Schlag lang aus.

Meghan.

Den Schutzanzug hatte sie abgelegt. In ihrem dunkelblauen T-Shirt mit dem K.C.F.D.-Aufdruck und der schwarzen Uniformhose trat sie vor die Kamera.