Warum wir Günter umbringen wollten - Hermann Schulz - E-Book

Warum wir Günter umbringen wollten E-Book

Hermann Schulz

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Beschreibung

März 1947. Eine Zeit zwischen Krieg und Frieden. Für Freddy und seine Freunde hat die Schule wieder begonnen. An den Nachmittagen stromern sie durch die Wiesen, rüber zum Moor. Auch der Flüchtlingsjunge Günter schließt sich ihnen an. Er klebt geradezu an ihnen. "Der tickt doch nicht richtig", sagen die Jungs über ihn. Denn Günter ist anders. Freddy und die anderen Jungs machen sich über ihn lustig, sie qualen und demütigen ihn, wo sie nur können. Doch dann bekommen sie Angst, dass Günter sie bei den Erwachsenen verraten könnte - und fassen einen ungeheuren Plan.

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.www.aladin-verlag.de Copyright © by Aladin Verlag GmbH, 22765 Hamburg Umschlagillustration von Maria Luisa Witte Mit Bildern von Maria Luisa Witte Herstellung: Karin Kröll Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-8489-6007-1

Für Anneliese, Friedrich-Wilhelm und AdolfMein Buch ist ein Roman. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, mit Orten oder tatsächlichen Begebenheiten wären rein zufällig.H. Sch.

In der Geschichte benutzt der Autor Worte wie »Neger« und »Zigeuner« im Sprachgebrauch des Jahres 1947. Auch gibt er Vorurteile seiner jungen Protagonisten wieder.

1

Als es passierte, lebte ich schon seit vier Jahren bei verwandten Bauern südlich von Lüneburg. Obwohl ich weder ein Waisenkind war wie Luise noch ein Findling mit geheimnisvoller Herkunft.

Zwischen meinen Eltern und mir hatte es nur noch Zankerei und gegenseitiges Belauern gegeben. Wie feindliche Soldaten im Schützengraben, hat mein Vater es einmal ausgedrückt. Der Alte redete gern in Vergleichen aus dem Krieg, wo sie ihm beim ersten Kampfeinsatz in Polen ein Bein weggeschossen haben. Danach hatte er mehr Zeit, sich um mich zu kümmern. Manchmal benutzte er dazu seine Krücken.

Irgendwann hatten meine Eltern meine Verstocktheit satt, wie sie es nannten, und schickten mich weg.

Mein Vater hatte mir angedroht, mich in das Internat einer Missionsgesellschaft zu stecken. Er war als Kind ein paar Jahre selbst dort gewesen und es hätte ihm nicht geschadet. Ob er das wirklich glaubte, weiß ich nicht.

Falls du dir darunter nichts vorstellen kannst: Es ist ein Gefängnis für Kinder, wo sie täglich prügeln und alles kontrollieren, vom Rotzabwischen bis zum Beten. Ohne Frömmigkeit zu heucheln überlebst du nicht. Ich hatte in dieser Haftanstalt einmal einen Freund aus meiner früheren Klasse besucht. Ich wurde nur vorgelassen, weil seine Mutter mich mitgenommen hatte. Er sah schon nach wenigen Monaten aus wie andere nach drei Jahren Straflager in Sibirien. Ein Wunder, dass er mich noch erkannte.

Onkel und Tante retteten mich vor der frommen Hölle. Sie hörten von meinen Schwierigkeiten zu Hause und holten mich ab. Diese Bauersleute gaben mir keinen Anlass, das böse Kind zu spielen oder ekelhaft zu sein. Außerdem war hier viel mehr los, täglich Leute um mich herum, spannende Klatschgeschichten aus der Nachbarschaft und jede Menge Tiere. Ich hätte es nicht besser treffen können! Dass ich mehr als zu Hause arbeiten musste, fand ich völlig in Ordnung. Hier arbeiteten ja alle und ich war mittendrin.

Man könnte denken, ich wollte meine Eltern als Monster darstellen. Das ist nicht meine Absicht. Ich muss zugeben, dass ich auch viel Mist gebaut hatte. Frag mich nicht, welcher Teufel mich geritten hat. Ich weiß es nämlich selber nicht.

Auf dem Bauernhof ging es mir gut. Nur meine ältere Schwester vermisste ich. Wir schrieben uns Briefe. Ich überlegte mir gut, was ich schrieb, denn ich war sicher, meine Eltern würden meine Briefe aufmachen und lesen. In besonderen Fällen benutzte ich die Adresse ihrer Freundin. Dann konnte ich ihr auch Sachen schreiben, die unsere Eltern nicht unbedingt mitkriegen sollten. Davon gab es einige. Ist ja wohl auch normal.

Meine Schwester konnte mir schreiben, was sie wollte. Wo ich jetzt lebte, machte niemand fremde Briefe auf. Und niemand ohrfeigte mich bei jeder Gelegenheit. Hier wurde überhaupt nicht geprügelt!

Nach viereinhalb Jahren war das schöne Leben vorbei. Meine Eltern wollten mich auf eine höhere Schule schicken. Was danach kam, war nicht so toll, gehört aber nicht hierher.

Hier geht es um eine andere Geschichte.

2

Günter sah ich zum ersten Mal zwei Monate vor Ende des Krieges, Mitte Februar 1945. Da ahnte ich noch nicht, dass ich mal mit ihm zu tun haben würde.

An einem Nachmittag rückte auf der Landstraße von Brassau her der Zug der Flüchtlingswagen näher. Es war zwar Februar, aber schon ziemlich warm für die Jahreszeit. Die Planwagen rumpelten über das Kopfsteinpflaster, schwankten hin und her, streiften mit ihren Dächern die blattlosen Zweige der Apfelbäume. Die ersten hielten unter den kahlen Linden vor der Gaststätte Bartelmes. Einige Wagen rückten auf und blieben stehen, andere fuhren weiter. Frauen mit Kopftüchern und ernsten Gesichtern oder ältere Männer hielten die Zügel. Alle waren eingepackt, als kämen sie aus eisiger Kälte. Die Fremden wechselten ein paar Worte mit den Einheimischen. Was sie redeten, verstand ich nicht. Mich interessierten mehr ihre Pferde. Einige waren heruntergekommene Ackergäule, andere noch richtig gut in Schuss. Unter einem Wagen hatte jemand einen sandfarbenen großen Hund angebunden, der verhungert aussah und verzweifelte Blicke um sich warf. Je ein Strick rechts und links sorgten dafür, dass er nicht unter die Räder kam. Wer weiß, wie lange er schon in seiner Zwangsjacke steckte.

Dieser Günter saß neben einer Frau auf dem Kutschbock; vermutlich war das seine Mutter. Ihr Wagen war kleiner als die anderen, aber auch eleganter. Gezogen wurde er von einem dunkelbraunen Warmblutpferd mit Brandzeichen, dem nicht wie bei den anderen Gäulen die Knochen herausstanden. Vielleicht hatten sie genug Pferdefutter mit auf die Flucht genommen. Soweit ich das sehen konnte, waren sie allein unterwegs, keine Kinderschar oder alten Leute dabei.

Männer aus der Nachbarschaft, die nicht in den Krieg mussten, standen herum, und noch mehr Frauen. Sie guckten abweisend, die Frauen mit verschränkten Armen. Alle warteten auf den Bürgermeister, blickten in Richtung Dorfplatz, wo er denn bliebe. Endlich kam er und zog geschäftig eine Liste aus der Tasche.

Jeder Hof musste eine Familie aufnehmen. Der Bürgermeister bestimmte: der erste Wagen zu dem Hof, der nächste dorthin und so weiter. Bis neun Wagen mit neun Familien und ihren mitgebrachten Klamotten in den Toreinfahrten verschwunden waren. Ich dachte damals, jeder Hof hätte eine freie Wohnung, aber das war ein Irrtum. Ich schnüffelte in den nächsten Tagen überall herum. Die Schule hatte für unbestimmte Zeit dichtgemacht. Zuerst schliefen die meisten Fremden auf dem Heuboden, einige auf Kornspeichern. Oder in irgendwelchen Ecken im Kuhstall. Dann hämmerte oder mauerte man auf den Dachböden herum und richtete Wohnungen ein. Einmal sah ich, dass Leute über Leitern zum Schlafen in die Luken der Scheunen und Ställe krochen. Besonders für die Alten war das sicher kein Vergnügen. Ich kriegte auch mit, dass einige Bauern neuerdings Schlösser an ihren Hühnerställen anbrachten.

»Die aus dem Osten bleiben lange hier, vielleicht für immer«, sagte mein Onkel. Er war einige Tage vorher vom Volkssturm* zurückgekommen, einfach abgehauen. Wir saßen gerade beim Abendessen. Meine Tante war ganz aus dem Häuschen vor Freude! Er stellte seinen Karabiner an die Wand, zog seine dicke Jacke aus und setzte sich zu uns an den Tisch. Alles, was er tat, machte er ganz ruhig.

»Es ist sinnlos, jetzt noch gegen Russen oder Amerikaner zu kämpfen«, hatte er gesagt und keine Angst oder Sorge gezeigt. Obwohl es gefährlich war, ohne Erlaubnis einfach nach Hause zu gehen.

Seinen Karabiner brachte er am nächsten Morgen in die Scheune und schob das Ding unter einen Strohballen. Das habe ich zufällig mitbekommen. Später kamen englische Soldaten und suchten überall im Dorf nach Waffen, bei uns fanden sie nichts.

Ich verstand nicht, was mein Onkel meinte. Was hatten die fremden Planwagen mit dem Kriegsende zu tun? Da war ich auch noch zwei Jahre jünger, muss ich zu meiner Entschuldigung sagen.

Mich interessierten mehr die Pferde der Fremden und ob sie jetzt verkauft oder geschlachtet würden. Und ob es unter den Kindern der Flüchtlinge welche in meinem Alter gab und ob sie in Ordnung waren. Gleichaltrige Bauernsöhne waren hier selten. Nur mit Dietrich und Manni konnte ich etwas anfangen. Es dauerte nicht lang, bis ich mich mit Erwin und seinem Bruder Walter aus Westpreußen anfreundete. Dann mit Leonhard aus Schlesien, der schöne ältere Schwestern hatte. Familie Amselbach aus Ostpreußen hatte zwei Töchter, aber keinen Sohn. Frau Rasinski aus Pommern hatte einen älteren Sohn Paul und einen ganz kleinen, der Egon hieß. Beide zählten nicht: Zu groß der eine, zu klein der andere, um mit ihnen etwas anfangen zu können.

Der Wagen, auf dem Günter mit seiner Mutter saß, sollte damals eigentlich auch hier im Dorf bleiben. Er musste aber weiterfahren nach Klausen, weil kein Platz mehr war. Jemand hatte sich verrechnet, vermutete ich. Ich sah Günter nach ein paar Wochen in der Schule wieder. Da mussten wir schon nicht mehr mit Heil Hitler! grüßen.

Auf den ersten Blick schien er ganz normal zu sein. Aber er sprach undeutlich und hatte oft eine Rotznase. Er sagte wenig im Unterricht, und wenn, dann meistens stockend. Wenn die Lehrerin, Frau Goldner, ihn etwas fragte, reagierte er manchmal nicht, und alle lachten. Frau Goldner blieb trotzdem freundlich. Günter ging immer alleine nach Hause, trottete hinter den anderen Kindern aus Klausen und Roseneck her. Man kann nicht sagen, dass er beliebt gewesen wäre. Eher im Gegenteil. Er stand nur immer blöd herum und man konnte nichts mit ihm anfangen.

3

Es war mein letzter Sommer bei meinen Bauersleuten. Der Tag begann damit, dass ich morgens aufwachte, mich anzog und barfuß die steile Treppe hinunterstieg. Die Stufen knarrten. Das war jeden Morgen dasselbe, aber dieses Mal und die folgenden Tage habe ich nie vergessen können. Ich hätte es manchmal gern gekonnt. Und dann auch wieder nicht. Du wirst später wissen weshalb.

In der Küche saß mein Onkel Rudolf noch allein am Frühstückstisch. Er war ein langer hagerer Kerl mit Oberlippenbart, immer mit Maurerweste, braunen Manchesterhosen und schweren Schuhen bekleidet. Er schnitt auf einem Holzbrettchen mit seinem Taschenmesser gerade geräucherten Speck in mundgroße Stücke. Er steckte sie gemächlich, zusammen mit Brot, zwischen seine Zähne. Die waren vom Priem ziemlich braun.

Falls du Priem nicht kennst: Das Zeugs besteht aus Tabak, der so lange in eine scharfe Soße gelegt wird, bis braune Klumpen entstehen. Die werden zu Stangen gerollt und in kleine runde Stücke geschnitten; genau weiß ich es nicht. Man kaufte Priem in kleinen Döschen, darauf stand damals meistens Hannewacker. Mein Onkel ging nie vor die Türe, ohne Priem zwischen den Zähnen oder in der Tasche zu haben. Er spuckte oft braune Soße aus, natürlich nur draußen. Ich fand Priem scheußlich, meinen Onkel nicht.

Er war mit Speckschneiden und Essen schon fertig und leerte seine Kaffeetasse. Er steckte gerade sein Taschenmesser ein, als er unvermutet sagte:

»Junge. Draußen steht dein Pferd.«

Dass er mich meinte, merkte ich daran, dass er Hochdeutsch sprach; mit anderen sprach er Plattdeutsch. Wie alle diese gemütlichen Bauersleute.

Täglich gab es hier Überraschungen. Mein Onkel machte gern Scherze, aber ich merkte es meistens sofort. Was er gerade gesagt hatte, meinte er ernst. Weil das mit dem Pferd eine ziemlich aufregende Nachricht war, ging ich zuerst einmal vor die Tür.

Da stand tatsächlich ein fremdes Pferd angebunden. Durchhängender Rücken, dunkelbraunes Fell, das lange nicht gestriegelt worden war. Der Kopf hing fast bis auf den Boden, die Lippen schlackerten und es lief Sabber herunter. Als es einen Huf versetzte, gab es ein stumpfes Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster.

Was mir sofort auffiel, waren seine großen flachen Hufe. Wie tiefe Teller, wenn man sie falsch herum hält. Kein einziges Eisen war daruntergenagelt, blankes Horn und an den Rändern ausgefranst. Das müsste man sofort ändern, dachte ich. Wenn der Gaul auf diesen Hornpantoffeln weitertrabt, kriegt er bald Probleme.

Mein Onkel redete mit meiner Tante noch ein paar Worte am Schweinestall, dann stieg er auf sein Fahrrad. Er fuhr wie immer ohne Hast, ganz gemächlich. Er würde irgendwo als Maurermeister Wände hochziehen oder einen Stall ausbessern. Solche Arbeiten sah man seinen großen Händen an.

Bald war er am Dorfeingang verschwunden. Später sah ich ihn zufällig über die Brücke am Bach radeln, Richtung Marlin, Weidendorf oder Salderatzen.

Während ich meine Planungen mit dem Pferd durchdachte, ging mein Großvater an mir vorbei und sagte nichts. Er sagte selten etwas zu mir. Er hielt sich an seinem Krückstock fest, humpelte durch die Gegend und guckte, ob sich jemand im Garten rumtrieb, der da nichts zu suchen hatte. Abends saß er oft in seinem Zimmer und sang laut am offenen Fenster Volkslieder oder Frommes. Das ganze Dorf hörte es, die Leute lächelten. Aber er konnte auch giftig werden! Alle haben mitgekriegt, als er besoffene englische Soldaten verprügeln wollte. Sie schossen von ihrem offenen Auto aus wie bekloppt auf die Porzellantöpfe der Stromleitungen. Ein paar Männer hielten Opa mit Mühe zurück, sonst hätten sie ihn sicher erschossen.

»Zur Arbeit taugt er nicht mehr«, meinte meine Tante manchmal. Aber sie meinte es nicht böse. Wenn sie mich sah, sagte sie etwas Freundliches.

»Geh frühstücken, min Jung!«, sagte sie jetzt zu mir. Und verschwand im Stall, um Schweinekartoffeln zu kochen. Sie war, im Gegensatz zu ihrem Mann, klein und dick.

Sie wollte ja mal fertig werden mit dem Frühstückstisch. Speck kam für mich nicht in Frage. Ich mochte ihn nicht. Dafür selbstgemachte Leberwurst. Ich beeilte mich, denn zur Schule musste ich auch noch. Die Tage waren hier immer vollgepackt.

»Bleib hier stehen«, sagte ich zum Pferd. Es rührte sich nicht, guckte aber einmal kurz zu mir hoch. Das war der Moment, als ich begann, es gern zu haben.

Um mir einen Namen für das Pferd zu überlegen, guckte ich unter seinen Bauch, ob es ein Hengst, ein Klopphengst, ein Wallach oder eine Stute war. Es war eine Stute. Klopphengste sieht man hier ganz selten.

»Am Nachmittag wollen wir zum Schmied«, sagte mein älterer Vetter Fritz. »Lotte beschlagen lassen. Das Pferd soll Lotte heißen!« Wenn er wir sagte, meinte er uns beide.

»Hieß sie immer schon Lotte?«