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Von den Älteren lernen wir über Widerstandsfähigkeit, die subtilen Freuden des Lebens und die Bedeutung von Geduld und Verständnis. In ihren Geschichten und Erfahrungen sehen wir ein Spiegelbild des Lebens selbst, mit all seinen Höhen und Tiefen. Marcel Mayr begann mit gerade einmal 16 Jahren die Ausbildung zum Altenpfleger. Er erlernte dabei nicht nur einen Beruf, sondern gewann durch den Umgang mit älteren Menschen auch an Lebenserfahrung. In dem Buch spricht Marcel ehrlich und offen über die Herausforderungen in der Pflege, zeigt aber auch, welche schönen und unbezahlbaren Momente er als Altenpfleger erfahren durfte. Dabei lässt er uns teilhaben an den Lebensweisheiten und Ratschlägen, die ihm mit auf den Weg gegeben wurden.
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Seitenzahl: 285
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© eBook: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Projektleitung: Franziska Daub
Lektorat: Ulrike Geist
Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Katja Wohnrath
eBook-Herstellung: Chiara Knell
ISBN 978-3-8338-9340-7
1. Auflage 2024
Bildnachweis
Coverabbildung: GU/Adrian Schätz Photography
Fotos: GU/Adrian Schätz Photography
Syndication: Bildagentur Image Professionals GmbH, Tumblingerstr. 32, 80337 München www.imageprofessionals.com
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Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung des Verfassers dar. Sie wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autor noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.
Als ich mich umdrehe, steht bereits die nächste Patientin vor mir, Frau K. Ich erinnere mich daran, dass ich ihr mehr Kartoffelpüree geben wollte. Doch ich sehe sofort, dass etwas nicht stimmt. Hektisch schaut sie sich um und kramt in ihren Jackentaschen. Während ich ihren Teller fülle, füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Ich hab keine Lebensmittelmarken mehr«, sagt sie leise, fast ängstlich, als ich ihr den Teller hinhalte.
Ich lächle sie beschwichtigend an. »Sie brauchen keine Lebensmittelmarken. Es ist reichlich Essen da.« Na gut, »reichlich« war übertrieben, aber ich wusste, dass das ein Signalwort war; ich hatte es bewusst gewählt.
Frau K. schluckt schwer. »Wie? Sie wollen mir das schenken? Warum schenken Sie mir jetzt was zu essen? Ich hab doch keine Lebensmittelmarken mehr. Ist das Essen schlecht? Ist da irgendwas drin?« Ihre Mimik verändert sich. Sie kneift die Augen zusammen und sieht mich lauernd an.
Das Misstrauen kenne ich bereits. Sie hat Angst, das Essen anzunehmen, da ihr in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, den sie in ihrer Demenz gerade erneut durchlebt, niemand etwas geschenkt hat. »Nein«, antworte ich. »Das Essen schmeckt gut. Der Krieg ist vorbei. Sie brauchen keine Lebensmittelmarken. Sie haben bereits für das Essen bezahlt. Es ist alles gut.«
Für Martina und Andreas Raaf, die beste Schulleitung, die man sich wünschen kann. Ihr wart immer für mich da und habt mich maximal supportet. Danke!
Anmerkungen des Autors
Dieses Buch erzählt Geschichten aus meinem Leben, von Menschen, die mir begegnet sind und die mich auf vielfältige Weise geprägt haben. Um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich Namen, Orte und Ereignisse verändert, miteinander verschmolzen oder mit literarischer Freiheit neu interpretiert. Die Situationen und Ereignisse sind zudem meine persönlichen Erinnerungen und spiegeln meine subjektive Sicht auf die Welt wider. Sie sind keinesfalls als genaue biografische Aufzeichnung zu verstehen.
Mein Ziel ist es, mit diesem Buch meine eigene Reise im Haifischbecken Pflege zu teilen und zugleich ein Bewusstsein für das Leben der älteren Generation zu schaffen. Möge es dazu beitragen, dass wir einander fortan besser zuhören.
Ich sitze vor meinem Laptop und starre ins Leere. Was wollte ich eigentlich machen? Der Wasserkocher piepst, ich stehe auf, schleppe mich in die Küche und gieße das heiße Wasser in meine Tasse. Ganz schön hell, der Tee, denke ich, dann fällt mir auf, dass ich vergessen habe, einen Teebeutel reinzuhängen. Egal, heißes Wasser schmeckt auch pur. Vielleicht sollte ich mich dran gewöhnen, denn wahrscheinlich werde ich mir meinen Lieblingstee als arbeitslos gewordener Student ohnehin bald nicht mehr leisten können. Ich schlurfe zurück zu meinem Laptop, stelle meine Tasse neben mich und gebe in die Suchmaschine ein: »plötzlich arbeitslos, was jetzt«.
Meine kreative Suchanfrage spuckt verschiedene Arbeitsagentur- und Karriereseiten aus, die mich mit Infos versorgen wollen. Ich lerne, dass ich mein Schicksal mit fast sechs Prozent der erwerbsfähigen Deutschen teile1. In Zeitungsbeiträgen lese ich, dass Arbeitslosigkeit kein Grund sei, sich zu schämen …
Resigniert klappe ich den Laptop zu und nippe an meinem heißen Wasser. Das Internet kann mir nicht helfen, denn was ich zu tun habe, weiß ich selbst. Auch hilft es mir nicht, zu wissen, dass ich einer von sechs Prozent bin. Ich wäre lieber einer von 94 Prozent. Dann müsste ich nicht hier sitzen und heißes Wasser trinken, sondern könnte das machen, was ich liebe und worin ich gut bin: alte Menschen pflegen. Klar habe ich noch mein Studium, doch ich bin mir nicht sicher, wie lange ich das noch durchziehen werde, denn tatsächlich mache ich nur das Nötigste und selbst das lediglich halbherzig.
Wieder und wieder kreisen meine Gedanken um dieselbe Frage: War ich zu voreilig? Habe ich übertrieben? Hatten sie nicht vielleicht doch recht, so vehement das Geld zurückzufordern? Mein Handy klingelt, mein Blick gleitet sofort zum Display. Eine willkommene Ablenkung, die mich aus meinen selbstsabotierenden Gedanken reißt. Es ist Evi, meine Lieblingskollegin. Ex-Lieblingskollegin.
»Hi, Marcel, ich wollte mal hören, wie es dir geht«, sagt sie und ihre Stimme klingt mitfühlend.
»Ging schon mal besser«, antworte ich wahrheitsgemäß. Dann stelle ich die Frage, die ich mir selbst nicht beantworten kann: »Evi, habe ich überreagiert?«
Evi schnaubt in den Hörer. »Marcel, das, was die mit dir gemacht haben, war unter aller Sau. Du warst einer von den Guten, hast dir den Arsch für die aufgerissen und wie danken sie es dir? Indem sie dir ihren Anwalt auf den Hals hetzen!«
Es tut gut zu hören, wie sauer Evi ist. Sie ist auf meiner Seite. Hält mich nicht für ein arrogantes oder – noch schlimmer – betrügerisches Arschloch. »Na ja, sie hatten ja recht. Sie haben mir zu viel Gehalt überwiesen und ich habe es nicht fristgerecht zurücküberwiesen«, wende ich ein. Wir haben das Gespräch schon so oft geführt. Ich weiß, was Evi sagen wird. Und doch ist es gerade Balsam für meine Seele, die Argumente, die ich mir selbst nicht glauben will, von jemand anderem zu hören.
»Die Frist war lächerlich. Du warst im Urlaub und hast das denen auch so gesagt.«
»Ich wollte halt prüfen, ob es stimmt, ehe ich wild etwas zurücküberweise.«
»Eben, und das ist auch dein gutes Recht.«
Evi ist aufgebracht. Dann atmet sie kurz durch. »Du wirst etwas Neues finden, Marcel. Und deine neuen Kollegen beneide ich schon jetzt. Ohne dich ist es hier nur noch halb so lustig. Ach, was sage ich, es ist überhaupt nicht mehr lustig.«
»Ich denke darüber nach, mich bei TikTok anzumelden«, vertraue ich ihr an. »Vielleicht lade ich ja sogar mal was hoch.«
»Na endlich! Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der nicht in den sozialen Medien unterwegs ist. Mach das, es lenkt dich bestimmt ab«, antwortet Evi und klingt aufrichtig begeistert. Dann räuspert sie sich. »Marcel, ich rufe noch wegen etwas anderem an. Die Patienten fragen nach dir. Du hast dich nicht von ihnen verabschiedet. Ruf sie doch mal an und hol das nach.«
Ich nicke. Das hatte ich ohnehin vor. Allerdings habe ich es bisher noch nicht übers Herz gebracht. Wobei ich unsicher bin, ob ich mit meiner Zurückhaltung die Alten oder doch eher mich selbst schützen wollte. »Mach ich. Danke, Evi.«
»Jederzeit. Halt die Ohren steif.«
Wir verabschieden uns. Ich nippe noch einmal an meinem mittlerweile kalten heißen Wasser und kippe den Rest in die Topfpflanze, die neben meinem Schreibtisch steht. Vielleicht war es doch der richtige Schritt, dem System Pflege vorerst den Rücken zu kehren. Und wenn nicht, hatte Evi recht. Pflegekräfte werden händeringend gesucht; ich würde etwas anderes finden. Fast schon euphorisch suche ich die Liste mit den Patientinnen und Patienten, die ich in der letzten Zeit ambulant betreut habe. Auch damit hat Evi recht, sie haben eine angemessene Verabschiedung verdient. Und je länger ich das hinauszögere, desto schwerer wird es mir am Ende fallen.
Also koche ich mir einen weiteren Tee – diesmal mit Geschmack –, schnappe mir mein Handy und rufe den ersten meiner insgesamt dreißig Patienten an. Ex-Patienten. Jedes dieser Gespräche läuft gleich ab. Ohne zu viel von den Umständen zu erzählen, sage ich den alten Leuten, dass ich nicht mehr kommen kann, weil ich nicht mehr in der ambulanten Pflege arbeite. Natürlich fragen sie nach, doch ich will nicht gegen den Pflegedienst hetzen, also schiebe ich mein Studium vor. Das ist ja auch nur halb gelogen. Ausnahmslos jeder reagiert bestürzt und es bricht mir das Herz.
»Ich will Sie nicht verlieren, Herr Mayr. Sie sind so ein wundervoller junger Mann. Können Sie nicht wenigstens ab und zu mal vorbeikommen und mir zur Hand gehen?«, fragen mich viele. Und natürlich sage ich Ja. Die Alten können schließlich nichts dafür, dass das Pflegesystem so verlogen ist, wie es ist. Ich bringe es nicht übers Herz, sie einfach hängen zu lassen. Am Ende des Tages habe ich allen Patienten zugesagt, mich noch weiter um sie kümmern, zumindest für eine Weile.
Und so kommt es, dass ich die folgenden Tage und Wochen damit verbringe, für die Alten einkaufen zu gehen, ihnen Lebensmittel zu bringen, kleinere handwerkliche Tätigkeiten für sie zu übernehmen oder auch mal zur Apotheke zu fahren, weil von der offiziellen Pflegekraft ein Rezept vergessen wurde.
Eines Nachts werde ich von meinem klingelnden Telefon aus dem Schlaf gerissen. Es ist einer meiner Patienten. »Herr Mayr, ich habe keinen Strom mehr. Kein Licht, gar nichts. Was mach ich denn jetzt?« Der alte Mann klingt ehrlich besorgt.
Sofort geht mein Kopfkino los: Was, wenn er aufs Klo muss, nichts sieht, weil er kein Licht anmachen kann, stürzt und sich ernsthaft verletzt? Ich verspreche ihm, mich darum zu kümmern. Mitten in der Nacht setze ich mich also in mein Auto und fahre zu ihm. Der Mann wohnt schon seit den Fünfzigerjahren in seiner Wohnung, entsprechend alt ist sein Sicherungskasten. Nacheinander drehe ich die alten Sicherungen raus, bis ich den Übeltäter gefunden habe. »Hier«, ich halte dem Patienten die kaputte Sicherung vor die Nase und leuchte mit der Taschenlampe darauf. »Die ist komplett durch. Haben Sie irgendwo noch eine Sicherung rumliegen?«
»So was habe ich nicht. Das macht sonst immer der Hausmeister, aber der ist um diese Uhrzeit nicht erreichbar«, erklärt er und seine Stirn liegt in noch tieferen Falten als sonst.
Na toll, denke ich mir. In meiner Not rufe ich die örtliche Feuerwehr an. Tatsächlich habe ich Glück. Sie haben solche alten Sicherungen da und ich darf sofort vorbeikommen, um eine abzuholen. Ich setze mich also erneut in mein Auto, rase zur Feuerwehr, hole die Sicherung, bedanke mich überschwänglich, fahre zurück zu meinem Patienten und – erhelle seine Wohnung mit der neuen Sicherung. Er ist glücklich. Ich bin erleichtert – und müde.
Ich verdiene kein Geld mit solchen Aktionen, darum geht es mir auch gar nicht. Obwohl mir die Angehörigen der Patienten regelmäßig sagen: »Herr Mayr, wollen Sie nicht doch Ihren eigenen Pflegedienst aufmachen? Wir würden sofort zu Ihnen wechseln.« Diese offene und ehrliche Wertschätzung freut mich zutiefst. Und doch steht für mich fest, dass ich keinen eigenen Pflegedienst aufmachen werde. Ich will das System nicht weiter füttern. Mit jedem Tag, der vergeht, spüre ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Endlich kann ich wieder atmen, endlich habe ich keine Magenschmerzen und keine Kopfschmerzen mehr, weil ich es womöglich wieder nicht geschafft habe, während meiner Schicht ordentlich zu essen und zu trinken. Das alles gehört nun der Vergangenheit an. Ich kümmere mich so um die alten Leute, wie es ihnen und mir guttut, und widme mich nebenbei meinem Studium.
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahne, ist, dass ich mich schon sehr bald tatsächlich bei TikTok anmelden werde und welche Welle dies in meinem Leben lostreten wird. Doch beginnen wir am Anfang …
Hi, ich bin Marcel. Etwa ein Drittel meines Lebens habe ich in Pflegeheimen mit alten Menschen verbracht. Selbst als ich mein Abitur nachholte und anfing, Pflegepädagogik zu studieren, habe ich weiterhin in einem Altenpflegeheim gearbeitet – und beim Radio, aber das ist eine andere Geschichte. Doch obwohl ich meine Arbeit mit den alten Menschen von ganzem Herzen liebte, habe ich damit aufgehört. Dennoch möchte ich keinen dieser Momente missen, denn am Ende haben sie mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.
Alles begann an meinem 16. Geburtstag, meinem allerersten Arbeitstag in einem Pflegeheim. Der erste Tag meines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ), das ich gewählt hatte, weil ich nicht so recht wusste, wo es für mich hingehen sollte, und weil der Pflegeberuf für mich unglaublich spannend klang. Mein erster Tag, der mich direkt ins kalte Wasser warf und der so sinnbildlich für die kommenden neun Jahre stehen sollte, wie ich es in dem Moment noch kaum ahnte.
Ich muss gestehen, irgendwie hatte ich mir das Ganze kuscheliger vorgestellt. Als mich meine Mutter vor diesem riesigen neunstöckigen Gebäude absetzte, war ich alles andere als selbstsicher. Ich war eingeschüchtert, hatte einen ziemlichen Bammel vor dem, was kommen würde, und wollte am liebsten überhaupt nicht aus dem Auto steigen. Damals war mir das furchtbar unangenehm, heute weiß ich, dass ich einfach noch fast ein Kind war, das von heute auf morgen aus seinem behüteten Familie-Schule-Freunde-Alltag ausbrach und sich dem Haifischbecken Pflegesystem stellte. Nun denn, ich ließ mir nichts anmerken, verabschiedete mich von meiner Mutter, schnappte mir meinen großen Rucksack und verschwand in dem riesigen, grau verputzten Gebäude. Ehrfürchtig blieb ich stehen und schaute mich um, sog alles auf: die grauen Bodenfliesen, die gemütlichen Sitzgruppen aus braunen Korbsesseln, das große Mosaikwandbild, die einladend wirkende Cafeteria. Es gab sogar ein Aquarium.
Wer jetzt jedoch denkt, dass ich nun erst einmal herumgeführt und allen Kollegen und Kolleginnen vorgestellt wurde, den muss ich enttäuschen. In der Pflege geht alles auf Zeit und das merkte ich gleich in der ersten Minute. Geschäftig wuselte es um mich herum, Menschen stiegen hektisch in die Fahrstühle oder eilten durchs Foyer, selbst die Fische im Aquarium schienen schneller zu schwimmen als anderswo. Das Telefon am Empfangstresen klingelte quasi ununterbrochen, und während mir die Dame dahinter hastig eine Zimmernummer auf einen Zettel schrieb und noch mit dem Kugelschreiber in der Hand freundlich in eine Richtung gestikulierte, nahm sie mit der anderen bereits erneut den Hörer ab.
Unwillkürlich passte ich mich dem Tempo an und ging schnellen Schrittes den langen Gang hinunter, auf der Suche nach der Zimmernummer auf meinem Zettel. Meinen schweren Rucksack auf dem Rücken balancierend wurde ich schließlich fündig. »Personal – Umkleidekabine Herren« ließ mich das Schild an der Tür wissen. Ich trat ein. »Hi, ich bin Marcel Mayr, ich habe heute meinen ersten Tag als FSJler«, erklärte ich dem erstbesten Menschen, der mich beachtete. Er begrüßte mich nickend, sagte »Frau Schmitz sitzt ein Zimmer weiter« und verschwand aus der Tür. Frau Schmitz kannte ich bereits von meinem Bewerbungsgespräch. Sie war zuständig für Praktikanten und Auszubildende. Ich stellte meinen Rucksack ab und versuchte mein Glück also ein Zimmer weiter.
Frau Schmitz erklärte mir kurz, was mich in den nächsten Tagen erwarten würde, und drückte mir dann meine Dienstkleidung in die Hand. Damit hieß es: Mach mal! Einarbeitung? Fehlanzeige. Hier wurde jede zupackende Hand gebraucht, alles musste ruckzuck gehen. Also machte ich.
Ich sei für die Essensverteilung eingeteilt, sagte man mir. Mit einer vagen Armbewegung wurde mir noch gezeigt, wo ich mein Arbeitsgerät – den Essenswagen – bekommen würde, und von da an war ich mehr oder weniger auf mich allein gestellt. Ich schnappte mir also den ersten voll beladenen Essenswagen und machte mich auf den Weg von Zimmer zu Zimmer, um das Frühstück zu verteilen. Diesen Luxus gibt es nicht in jedem Pflegeheim, oft müssen die Bewohnerinnen und Bewohner – ob sie nun wollen oder nicht – ihre Mahlzeiten in einem großen Essensraum einnehmen. Doch hier wurde niemand gezwungen. Es hat alles seine Vor- und Nachteile. Ich rechnete kurz durch: Bei sechs Essenswagen dieser Größe und etwa 400 Bewohnerinnen und Bewohnern hatte ich nicht einmal eine Minute Zeit pro Essen. Könnte knapp werden.
Was ich bei meiner Berechnung zudem nicht einkalkuliert hatte, war die Redefreudigkeit einiger Bewohner und Bewohnerinnen. Sie merkten offenbar sofort, dass Frischfleisch da war, und so verstrickte ich mich deutlich mehr als einmal in ein Gespräch. Klar, viele Menschen in Pflegeheimen sind einsam und freuen sich über jede noch so kleine Geste der Zuwendung. Und ich freute mich, sie ihnen geben zu können. Ich war auch ehrlich neugierig, ich wollte die alten Menschen ja wirklich kennenlernen.
Nach mehreren Stunden fröhlichen Essensausteilens kam ich endlich in der obersten Etage an. »Hallo, ich bin Pfleger Marcel Mayr, ich bringe Ihnen Ihr Frühstück«, spulte ich meinen Text zum gefühlt tausendsten Mal runter. Die alte Frau antwortete nicht, sondern schaute nur auf das Tablett, das ich in der Hand hielt. Sie hatte Tränen in den Augen und schniefte in ein Taschentuch. Ich bekam Panik, da ich überhaupt nicht wusste, wie ich mit so etwas umgehen sollte. Ungelenk stellte ich das Tablett auf den Tisch und nickte ihr schüchtern zu. Dann drehte ich mich um und ging zurück zur Tür. »Mein Kompott fehlt!«, schrie mir die Frau in dem Moment hinterher. Ich schaute auf dem Wagen nach, doch der war so gut wie leer. »Ich habe keins mehr«, entgegnete ich ihr schulterzuckend.
»Dann holen Sie mir eins«, war ihre barsche Antwort.
Überfordert stürmte ich in Richtung Küche, um der Dame ihren Wunsch, der mehr einem Befehl glich, zu erfüllen. Da die Küche allerdings am anderen Ende des Gebäudes lag, brauchte ich locker zehn Minuten, bis ich endlich da war. »Das ist mir egal«, rief der Kollege, nachdem ich ihm völlig außer Atem erklärt hatte, dass die Dame im obersten Stockwerk ein Kompott haben möchte. »Jetzt gibt es kein Kompott mehr! Mach lieber hinne und bring das Geschirr zurück. Wir müssen das Mittagessen vorbereiten«, sagte er hektisch, während er im Rekordtempo Backbleche mit Lasagneformen bestückte. Verdattert stiefelte ich zurück, um der Dame die Kunde zu überbringen. Kurz überlegte ich, ob ich ihr nicht einfach ein Stück Kuchen im Café kaufen sollte. Doch da ich erst mein Geld aus der Umkleide hätte holen müssen, hätte mich das locker eine weitere halbe Stunde gekostet. Und die hatte ich nicht, wie ich nun bereits wusste.
Als ich erneut im Zimmer im neunten Stock ankam, konnte ich die alte Frau nirgends entdecken. Die Balkontür stand offen, die Sonne hinterließ ein paar helle Streifen auf dem Parkett und eine warme Brise brachte die weißen Vorhänge zum Tanzen. Sie sitzt bestimmt draußen in ihrem Liegestuhl und macht ein Nickerchen, freute ich mich, erwartend, dass ich mich dem Problem nicht weiter stellen müsste, und dachte mir nichts weiter dabei. Hätte ich in dem Moment nur geahnt, was wirklich vorgefallen war.
Etwa eine halbe Stunde später kam mir aufgeregt Frau Schmitz entgegen. »Marcel, hast du mal kurz ein paar Minuten Zeit? Die Kriminalpolizei möchte mit dir sprechen.« Um Gottes willen! Mir schoss das Blut in die Ohren und mir wurde heiß. In dem Moment sah ich auch schon zwei Beamte, die hinter Frau Schmitz traten. Sie nahmen mich mit in einen Raum und fragten mich, wann ich Frau H. das letzte Mal gesehen habe und was geschehen sei. Frau H. war die Kompott-Dame. Während ich schnurstracks zur Küche marschiert war, war sie wirklich auf den Balkon hinausgetreten – so weit hatte ich richtig vermutet. Allerdings hatte sie das nicht getan, um sich zu sonnen. Offenbar war sie so traurig gewesen, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen wollte. Sie war vom Balkon des neunten Stockwerks gesprungen.
Man muss mir angesehen haben, wie schwer mich das traf. Machte ich mir Vorwürfe? Ja, natürlich – ich habe diesen Tag wieder und wieder in meinem Kopf abgespielt, habe mich tausendmal gefragt, ob ich etwas hätte anders machen können. Und ich bin immer zu der gleichen Antwort gekommen. Rückblickend ist man immer schlauer. Doch in dem Moment, als ich ohne Kompott vor Frau H. stand, habe ich das gemacht, was ich mit dem Wissen, das ich als sechzehnjähriger Grünschnabel hatte, machen konnte: Ich habe versucht, ihr ihren Wunsch nach einem Kompott zu erfüllen.
Natürlich muss man in einem Pflegeheim damit rechnen, dass Bewohnerinnen und Bewohner sterben. Doch das hier war etwas vollkommen anderes. Frau Schmitz und die Beamten merkten, wie sehr ich durch den Wind war. »Mach Feierabend für heute, Marcel«, riet mir Frau Schmitz. »Zieh dich zurück, atme durch und komm erst mal an. Es wird alles gut.« Mir traten Tränen in die Augen, also wendete ich mich schnell ab, holte meinen Rucksack aus der Umkleide und ging in mein Zimmer, das weiter hinten im Mitarbeitertrakt des Pflegeheims lag. Ich bezog mein Bett, packte meine Sachen aus und rief meine Mutter an. Ich musste einfach mit jemandem über diesen Vorfall sprechen. Am liebsten hätte ich sofort alles hingeschmissen und wäre zurück nach Hause gefahren. Doch Mama wusste genau, was sie sagen musste, um mich zu beruhigen. Und so blieb ich. Und stand am nächsten Tag pünktlich um 7:00 Uhr erneut in der Küche, um den Essenswagen abzuholen und Frühstück zu verteilen.
»Guten Tag, ich hoffe, Sie sind heute in der Stimmung für ein kulinarisches Abenteuer. Es gibt Gemüseschnitzel mit Kartoffeln und einer Geheimsoße. Die ist so geheim, dass nicht einmal unser Koch weiß, was drin ist.« Dödööö!
Das Gute an der Essensverteilung war, dass ich sämtliche alten Menschen im Pflegeheim traf und kennenlernte. Und was klingt wie der schlechte Witz eines Büttenredners, war schlichtweg meine Art, etwas frischen Wind in die doch oft trist wirkenden Zimmer der Alten zu bringen. Nach zwei Wochen wusste ich genau, bei wem ich einen heiteren Spruch zur Begrüßung dalassen konnte und wer es lieber mochte, wenn ich das Essen einfach still auf den Tisch stellte und mich wieder verzog.
Doch noch besser war, dass die alten Menschen mich kennenlernten. Das Essen von jemand Fremdem serviert zu bekommen, stört fast niemanden, da es kaum in die Privatsphäre eingreift. Doch sich von jemand Fremdem pflegen, waschen oder einfach empathisch betreuen zu lassen, ist schon eine andere Nummer. Viele schämen sich dabei. Dann hilft es, wenn man denjenigen kennt. Und nach zwei Wochen kannte mich im Pflegeheim jeder. Die meisten freuten sich, mich zu sehen, und hielten gern ein kurzes Pläuschchen mit mir – sehr zum Ärgernis der Küchenleitung, die mich mehr als einmal zu mehr Tempo antrieb.
»Marcel, wenn du dir von jedem die Lebensgeschichte erzählen lässt, bringst du uns alle in die Bredouille«, musste ich mir in meinen ersten zwei Wochen mehr als einmal anhören. »Dafür ist einfach keine Zeit. Stell denen das Essen hin und gut ist. Wir brauchen das Geschirr pünktlich zurück, sonst gerät der komplette Zeitplan aus dem Ruder.«
Ich erkannte recht schnell, dass ich eigentlich durchrasen und kurz angebunden sein musste. Sich in einem Pflegeheim ums Essen zu kümmern, egal an welcher Stelle, war Akkordarbeit. Und mir war natürlich bewusst, dass am Ende niemand etwas davon hatte, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand – die alten Menschen am wenigsten, legten sie doch viel Wert auf ihre tägliche Routine. Die gab ihnen Sicherheit. Und ich war der Letzte, der ihnen diese Sicherheit nehmen wollte.
Nach zwei Wochen Essensdienst wurde ich in den hauswirtschaftlichen Bereich eingearbeitet, der gekoppelt war mit pflegerischen Aufgaben. Im Prinzip waren das leichte Tätigkeiten: Manche Patienten bekamen einmal täglich die Beine eingecremt, anderen musste ich eine Schmerzsalbe auf den Rücken auftragen, wieder anderen beim Waschen helfen. Hier hat sich bezahlt gemacht, dass mich bereits alle kannten. So war die Hemmschwelle auf beiden Seiten niedriger. Und endlich hatte ich auch ganz offiziell etwas mehr Zeit, um mit den Patienten und Patientinnen zu reden.
»Früher haben mein Mann und ich uns immer gegenseitig den Rücken eingecremt«, vertraute mir einmal eine Patientin lachend an. »Wenn der wüsste, dass mich heute so ein junger hübscher Mann wie Sie eincremt, der würde sich vor Eifersucht im Grabe umdrehen.« Ich lachte mit ihr. Ich freute mich, dass die Patientin mir vertraute und sich nicht vor mir schämte. Humor ist heilend.
»Wie haben Sie ihn denn kennengelernt, Ihren Mann?«, nahm ich den Faden bereitwillig auf und hörte mir die Geschichte der alten Dame an. Ich erfuhr, dass sie sich in den Sechzigerjahren bei der Arbeit in einem großen Hotel getroffen hatten. »Wir haben vierzig Jahre lang zusammengearbeitet und -gelebt. Und wir sind so gern verreist, am liebsten nach England. Ich denke jeden Morgen an ihn, wenn ich meinen schwarzen Tee trinke. Und wenn es draußen regnet, fühlt es sich manchmal so an, als säßen wir gemeinsam am Fenster, schauten den Regentropfen zu und freuten uns, dass wir im Warmen sitzen dürfen.«
Diese Geschichte rührte mich sehr. Ich konnte nur erahnen, wie sehr es sie noch heute schmerzen musste, dass sie nun allein war. Vierzig Jahre mit einem Menschen zu verbringen, der dann plötzlich verstirbt, das überwindet man nicht mal eben so. Doch die Dame vor mir war eine starke, würdevolle Frau. Ich bewunderte sie dafür.
Das gilt übrigens für viele Menschen in Pflegeheimen. Sie haben oft Unvorstellbares erlebt: Krieg, Tod, Krankheit, Ungerechtigkeiten. Doch kaum einen von ihnen hat das Leben in die Knie gezwungen. Die meisten haben stets den Blick auf das Gute gerichtet, auf das Gute in der Welt und auf das Gute in anderen Menschen. Sie nahmen mich allzu oft mit in eine Welt, die ich noch nicht kannte. Und ich ließ es dankbar zu.
Alles in allem war mein Freiwilliges Soziales Jahr eine super Vorbereitung auf meine Ausbildung zum Altenpfleger, von der ich zu Anfang noch nicht wusste, ob ich sie überhaupt machen wollte. Doch während dieses ersten Jahres lernte ich, worauf es bei der Arbeit mit alten Menschen ankommt, lernte alle Stationen in einem Pflegeheim kennen und durfte auch schon erstes medizinisches Fachwissen sammeln, indem ich den Schwestern und Pflegern zuschaute, wie eine Wunde versorgt oder ein Verband gewechselt wurde. Ich genoss die Arbeit, die Alten machten mich glücklich, ich lernte von ihnen. Und ich genoss es, ihnen zu helfen, sowohl körperlich als auch seelisch, für sie da zu sein, sie zu begleiten, ihnen beim Genesen zuzuschauen oder sie auf ihren letzten Schritten würdevoll zu begleiten.
War ich trotzdem gestresst? Ja, der Zeitdruck in der Pflege macht auch vor FSJlern nicht halt. Man wird voll eingespannt, hat eine lange Liste mit Patienten und Tätigkeiten, die noch länger wird, wenn Kollegen ausfallen. So war ich bereits in meinem ersten Jahr in der Pflege für etwa fünfzehn Patienten täglich zuständig – und da waren auch Schwerstfälle dabei, also Menschen mit Pflegegrad 4, die komplett bettlägerig waren. Das geht dann halt nicht schnell, erst recht nicht, wenn man gerade erst in dem Beruf anfängt.
Allerdings hegte ich damals die naive Hoffnung, dass ich das mit ein bisschen mehr Routine schon irgendwann hinkriegen würde. Schließlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, das hatte mir meine Oma schon immer gepredigt. Und so fiel mir die Entscheidung nach meinem ersten Jahr in der Pflege dann doch recht leicht: Ja, ich wollte Altenpfleger werden!
So wurden aus einem Jahr als FSJler weitere drei Jahre Altenpflegeausbildung. Das Pflegeheim war glücklich, mich behalten zu können. Immerhin kannte ich bereits die Abläufe und die Patienten. Und ich war glücklich, endlich alles lernen zu dürfen, was dazugehört. Ich war wissbegierig, ich saugte alles auf, was mir geboten wurde, sei es in der Berufsschule oder wenn mich Kolleginnen oder Kollegen über die Schulter schauen ließen.
Ab meinem 18. Geburtstag durfte ich dann auch endlich für Nachtschichten eingesetzt werden, etwas, das ich lange herbeigesehnt hatte, denn ich wollte die Pflege und die alten Menschen mit all ihren Facetten kennenlernen. Während meine Freunde also feiern gingen und sich amüsierten, arbeitete ich im Schichtdienst – teilweise zehn oder elf Tage am Stück. Ich dachte mir damals: Okay, das muss wohl so. Und während meine gesamte Berufsgruppe nicht selten als »Arschabwischer« belächelt wurde, merkte ich, dass ich mehr als das war. Viel mehr. Ich war Freund, Familienmitglied, Pfleger, Seelsorger, Entertainer – und manchmal auch Schüler des Lebens.
Wenn ich nicht gerade im Blockunterricht saß, medizinische Grundlagen und rechtliche Vorgaben paukte oder lernte, welche Therapiemaßnahmen es gibt und wie man mit dementen oder anderweitig pflegebedürftigen Menschen umgeht, war ich bei meinen Patienten und Patientinnen im Pflegeheim. Ich wusch sie, cremte sie ein, versorgte ihre Wunden, gab ihnen zu essen und protokollierte nebenbei alles, was mir auffiel. Ich telefonierte mit Apotheken, bestellte Medikamente, überprüfte Rezepte, sprach mit Ärzten, leistete Erste Hilfe, sorgte für medizinische Betreuung, legte Katheter, bettete Patienten um, führte Trauergespräche und beschäftigte mich mit Biografiearbeit. Während es in einem Krankenhaus für jeden Bereich Zuständige gibt, sind wir in der Altenpflege für alles selbst zuständig. Wir sind immer auf uns gestellt, auch in Notfällen. Wir können keinen Arzt aus dem Ärmel schütteln, wir müssen auf alles vorbereitet sein.
Die Ausbildung war genauso hart, wie es der Beruf an sich ist, da brauche ich, glaube ich, nichts zu beschönigen. Irgendwann lernte ich übrigens auch, dass es eben nicht okay ist, zehn oder elf Tage am Stück zu arbeiten. Denn unter anderem wird in der Berufsschule auch Arbeitsrecht unterrichtet. Als ich eines Tages meiner Lehrerin, einer Anwältin, meinen Dienstplan zeigte, fiel die aus allen Wolken.
»Herr Mayr, wenn Sie das einem Arbeitsrechtler zeigen, kann es richtig Ärger geben. Das, was die da mit Ihnen machen, ist verboten.«
Das war mein Stichwort. Als Erstes redete ich mit meinem Pflegedienstleiter. Der wiegelte jedoch ab: »Das sind ganz normale zumutbare Überstunden. Wenn Ihnen das nicht gefällt, können Sie ja gehen.« Ich fand es dennoch komisch, dass immer ich oder andere Auszubildende diese »zumutbaren Überstunden« schieben mussten. Ich war oftmals einfach fix und fertig – kein Wunder nach fast zwei Wochen Dienst ohne einen einzigen freien Tag. Da mein Pflegedienstleiter also nichts unternahm, rief ich bei der offiziellen Stelle für Auszubildende in meinem Pflegeheim an und schilderte ihnen mein Zeitenproblem. Die Dame am Telefon zeigte sich verständnisvoll und sicherte mir zu, zu schauen, was sie für mich tun könne.
Nun denn, als ich das nächste Mal zur Arbeit erschien, wurde ich ins Vorstandsbüro gebeten, wo man mir einen Aufhebungsvertrag vor die Nase legte und mich freundlich, aber bestimmt bat, diesen sofort zu unterschreiben, da es sonst wirklich unangenehm für mich werden könne. Was soll ich sagen? Ich war jung, naiv und eingeschüchtert – und unterschrieb. Ich hatte gemeckert, also musste ich wohl mit den Konsequenzen leben.
Long story short: Ich fand eine neue Einrichtung, in der ich meine Ausbildung beenden konnte. Wurde es dort besser? Nicht wirklich. Schob ich auch da »zumutbare Überstunden«? Jap. Und hatte ich auch dort Schwerstfälle zu betreuen und viel zu wenig Zeit dafür? Natürlich. Doch trotz all der Hürden, trotz all der Schikanen von oben, trotz all der verpassten Wochenenden und einsam-stressigen Nachtschichten habe ich meine Arbeit geliebt. Und der Moment, in dem ich endlich mein Staatsexamen in den Händen hielt, ist bis heute einer der schönsten meines Lebens. Ich wäre vor Stolz fast geplatzt (meine Mutter übrigens auch), und ich bin mir sicher, dass ich die eine oder andere Freudenträne vergossen habe.
In meiner theoretischen Prüfung glänzte ich bei Weitem nicht so wie in meiner praktischen. Doch ich halte es hier ein wenig wie bei der Führerscheinprüfung – wer kann schon heute noch den Bremsweg eines Kombis mit Anhänger und fünf Insassen auf einer vereisten Landstraße berechnen? Fachlich wusste ich immer ganz genau, was ich tat. Doch es ist eben etwas anderes, es anzuwenden oder theoretisch wiederzugeben. In meiner praktischen Prüfung – und ja, ich riskiere es jetzt mal, hier als Streber verlacht zu werden – erhielt ich eine 1+ mit Stern. Meine Lehrerin sagte damals zu mir: »Herr Mayr, ich hab selten jemanden gesehen, der so einfühlsam mit den Patienten umgeht, der immer auf die Mimik schaut, stets den Körperkontakt hält und den Patienten einfach das Gefühl vermittelt: Ich bin da. Ihnen kann nichts passieren. Bei mir sind Sie sicher. Man konnte förmlich sehen, wie sich die Anspannung der alten Menschen unter Ihrer Obhut löste. Sie können stolz auf sich sein. Sie werden ganz bestimmt ein großartiger Altenpfleger.«
Ihre kleine Ansprache rührte mich. Vor allem, weil es für mich so selbstverständlich schien, was sie da als besonders herausstellte. Genau das war es ja, was ich wollte. Ich wollte den alten Menschen Sicherheit geben. Ich wollte ihnen zeigen: Hier können Sie sich entspannen, ich gebe gut auf Sie acht. Ich musste mich dafür nicht anstrengen, weil ich dieses Ziel einfach in mir trug. Und ich freute mich darauf, dies nun jeden Tag tun zu dürfen, ohne von Blockunterricht oder Prüfungen unterbrochen zu werden.
»Eins noch«, rief mir meine Lehrerin zu, bevor sie ging. »Was halten Sie davon, wenn Sie nächste Woche auf dem Abschlussball eine Rede halten?« Na, da musste sie mich nicht zweimal fragen, ich war sofort Feuer und Flamme.