Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten - Mark Roche - E-Book

Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten E-Book

Mark Roche

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Beschreibung

In diesem engagierten und kenntnisreichen Buch wendet sich der Autor gegen die falsche Übertragung isolierter Elemente der US-amerikanischen Universitätsstruktur auf das deutsche Modell und plädiert stattdessen für eine ganzheitliche Sicht der anstehenden Probleme und Aufgaben. Er macht eine Fülle von Vorschlägen, wie mit der verfahrenen Situation an den deutschen Hochschulen nach Bologna umgegangen werden sollte, und zeigt, wie die unbestreitbaren Stärken der deutschen Universität zu neuer Entfaltung gebracht werden können. Nur Wenige würden bestreiten, dass sich die deutschen Universitäten in einer Krise befinden, und zwar nicht erst seit den missglückten Bologna-Reformen. Von Jaspers' Grundsatzschrift zur »Idee der Universität« über Peter Szondis Plädoyer für eine ›freie‹, nämlich selbstbestimmte Universität bis zu Reinhard Brandts »Wozu noch Universitäten?« haben engagierte Denker ihr Unbehagen über den Zustand der deutschen Universität artikuliert. Ausdruck der gegenwärtigen Krise ist nicht zuletzt die Uneinigkeit darüber, wo die Probleme überhaupt liegen und wo Lösungen zu suchen wären. Dabei richtet sich der Blick immer öfter auf das vorgeblich überlegene »amerikanische Modell«. US-amerikanische Universitäten schneiden in internationalen Rankings im Vergleich mit den deutschen in der Tat deutlich besser ab – aber kaum ein Reformer kennt die vielfältige Hochschullandschaft der USA wirklich aus der Innensicht. Der Autor, der beide Systeme aus langjähriger Erfahrung überblickt, setzt sich in seiner spannend zu lesenden Studie zunächst mit der Idee und dem Aufstieg der deutschen Universität seit dem frühen 19. Jahrhundert auseinander, bevor er die Stärken und Schwächen des amerikanischen Hochschulsystems untersucht: Die Vielfalt privater und öffentlicher Universitäten, administrative Flexibilität, Wettbewerbsstrukturen und Leistungsanreize, vor allem jedoch die konsequente Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Studierenden kennzeichnen den amerikanischen Erfolg. In Deutschland ist das Vertrauen in die Besonderheit und Leistungsfähigkeit des deutschen Systems auf dem Tiefpunkt, und das ist schade: Jede weitere Reform sollte zum Ziel haben, die traditionellen Vorteile und Stärken der deutschen Universität zu stützen. Gleichzeitig kann Deutschland von den Erfahrungen in anderen Ländern profitieren. Bologna wird sich nicht zurückdrehen lassen, aber es gibt auch in der gegenwärtigen Situation gangbare Wege, die deutsche Universitätsidee zu erneuern und in der Praxis voranzubringen.

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Seitenzahl: 455

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Mark Roche ist Professor für deutsche Sprache und Literatur und zugleich Professor für Philosophie an der University of Notre Dame, USA. Er hat in Deutschland studiert, geforscht und gelehrt und neben zahlreichen Publikationen zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte vielbeachtete Bücher und Aufsätze zur Entwicklung von Lehre und Forschung veröffentlicht. Von 1997 bis 2008 war Roche Dean des College of Arts and Letters seiner Universität.

Mark Roche

Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christiana Goldmann

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. eISBN (PDF) 978-3-7873-2493-4 eISBN (ePub) 978-3-7873-2493-4

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2014. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH.Für Links mit Verweisen auf Webseiten Dritter übernimmt der Verlag keine inhaltliche Haftung. Zudem behält er sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings (§ 44 b UrhG) vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Inhalt

Vorwort

KAPITEL 1

Idee und Wirklichkeit der Universität

1. Die historische Größe der deutschen Universität

Von den Anfängen bis zur Versandung
Die deutsche Umgestaltung der Universität
Deutschland fällt zurück
Die anhaltende Größe der deutschen Universität

2. Die Entstehung der amerikanischen Universität

Die Amerikanisierung des deutschen Modells
Die amerikanische Transformation der Universität

3. Probleme und Herausforderungen der deutschen Universitäten

4. Probleme und Herausforderungen des amerikanischen Hochschulsystems

KAPITEL 2

Die Hauptmerkmale des amerikanischen Universitätswesens

1. Vielfalt

Amerikas College- und Universitätslandschaft
Verschiedene Formen der Vielfalt
Probleme und Herausforderungen der Vielfalt

2. Flexibilität

Das geringe Regulierungsniveau
Amerikanische Departments contra Deutsche Lehrstühle
Der akademische Unternehmer
Beispiele für Flexibilität innerhalb der Universitäten
Interne Umschichtung
Probleme und Herausforderungen der Flexibilität

3. Wettbewerb

Das Konkurrieren um Studenten
Lehrkörper und Wettbewerb
Rankings
Globaler Wettbewerb
Inneruniversitärer Wettbewerb
Finanzmittel und Wettbewerb
Probleme und Herausforderungen des Wettbewerbs

4. Anreizstrukturen

Auslese der Besten
Forschungsanreize
Anreize für die Lehre
Probleme und Herausforderungen der Anreizstrukturen

5. Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht

Bewertung und Betreuung des Lehrkörpers
Maßstäbe an eine Institution legen
Verantwortlichkeit der Verwaltung
Probleme und Herausforderungen der Verantwortlichkeit bzw. der Rechenschaftspflicht

6. Studentenzentriertheit

Weisen des Lehrens und Lernens
Die Entwicklung intellektueller Tugenden
Außercurriculare Aktivitäten
Priorität für Studenten und Lehre
Probleme und Herausforderungen der Studentenzentriertheit

7. Gemeinschaftsgeist

Gemeinschaft unter den Studenten
Gemeinschaft innerhalb des Lehrkörpers
Die Rolle von Leitung und Personal
Probleme und Herausforderungen der Gemeinschaft

KAPITEL 3

Herausforderungen und Chancen des Wandels in Deutschland

1. Zielvorstellung und Flexibilität

2. Mittel

Kosten einer guten Ausbildung
Möglichkeiten für Studiengebühren in Deutschland

3. Das Problem der Integration

Bologna

4. Hoffnung

Zitierte Literatur

Danksagungen

Vorwort

Nur wenige würden bestreiten, dass das deutsche Hochschulwesen in der Krise steckt, in einer Krise, deren Ende sich nicht absehen lässt. Von dem vielfältigen Echo auf Karl Jaspers’ Die Idee der Universität (1923, 1946 und 1961) und Helmut Schelskys Einsamkeit und Freiheit (1963), ein ebenso kenntnisreiches wie im Grunde optimistisches Buch, auf das freilich Schelskys desillusionierter Abschied von der Hochschulpolitik (1969) folgte, bis hin zu Reinhard Brandts Wozu noch Universitäten? (2011) und den hochschulpolitischen Feuilletons unserer Tage bildet das Unbehagen am Zustand des deutschen Universitätssystems ein immer wiederkehrendes Thema.

Trotz dieses allgemeinen Krisengefühls besteht allerdings keine Übereinstimmung darüber, welches denn eigentlich die Probleme sind, geschweige denn, was Lösungen sein könnten. Professoren und Politiker geben unterschiedliche Erklärungen. Ist die Finanzierung das Problem? Wenn ja, sollte sie vom Bund oder von den Ländern kommen, von den Studenten oder von Sponsoren? Sind die Universitätsverwaltungen das Problem, denen es an unternehmerischem Geist, an überzeugenden Zielvorstellungen und an hinreichendem Sinn für Wettbewerb fehlt? Oder sollten die Universitäten sich selbst überlassen werden, unbehelligt von einer erstickenden staatlichen Bürokratie, die alles reguliert und ebenso prinzipienlos wie ziellos Hochschulreform betreibt?

Die Krise des gegenwärtigen deutschen Hochschulwesens ist in vielerlei Hinsicht eine Identitätskrise. Es besteht kaum Übereinstimmung darin, was Universitäten sein sollten und sein können. Die kollektive Erinnerung an eine vergangene Größe ist weitgehend geschwunden, ohne dass sich ein neues, praxistaugliches Ideal, eine Zukunftsvision, eingestellt hätte. Sofern eine Vorstellung davon, was eine Universität sein sollte, überhaupt noch artikuliert wird, werden die meisten Beobachter auf Diskrepanzen zwischen dieser Vorstellung und der Wirklichkeit, ja auf die Widersprüchlichkeit des normativen Ideals hinweisen, etwa darauf, dass die Universi tät gleichzeitig Eliteuniversität und Massenuniversität sein soll. Das Vertrauen wird außerdem durch die Außenperspektive auf das deutsche Hochschulwesen erschüttert, durch Rankings, die nicht eben schmeichelhaft sind. In einem weltweiten Ranking der Hochschulsysteme, das Universitas21 im Jahr 2012 vorgelegt hat, rangiert Deutschland unter 48 Ländern auf Rang 17, in Europa auf Rang 11 (Williams et al.). Kein Wunder, dass zunehmend nach Alternativen zum bestehenden Zustand gesucht wird.

Welche Reformen muss Deutschland in Angriff nehmen, um sicherzustellen, dass seine Universitäten international wettbewerbsfähiger werden und seine Studenten die Bildung bekommen, die wir seit jeher mit den bedeutenden deutschen Universitäten verbinden? Was soll werden, wenn die Mittel aus der Exzellenzinitiative 2017 aufhören werden zu fließen? Sollte Deutschland seinen Blick auf die USA richten, die in einem weiten Fächerspektrum eine Führungsrolle übernommen haben und Studenten, Promovierte und Professoren von überall her auf der Welt anziehen? Sollte Deutschland nicht besser manchen Kuriositäten des amerikanischen Hochschulwesens, von denen man hört, Widerstand entgegensetzen, etwa sozial unausgewogenen Studiengebühren, einer nach Dollars jagenden Forschung und der gewaltigen Ungleichheit der Universitäten untereinander?

Während Deutschland mit Reformen ringt, werden amerikanische Universitäten immer wieder als mögliche Vorbilder empfohlen. Einige, die das tun, haben noch nie eine amerikanische Universität von innen gesehen. Andere verstehen sich nur bruchstückweise auf die eigentümlichen Schwierigkeiten des komplexen amerikanischen Hochschulwesens, nämlich auf die große Bandbreite der über Amerika verteilten Universitäten und Colleges, und auf die verschiedenen Faktoren, die seine anhaltende Weiterentwicklung praktisch bedingen.

Was sich in diesen Erörterungen allerdings sehr deutlich zeigt, ist der unzweideutig gute Ruf der besten amerikanischen Universitäten. In dem von Universitas21 für 2012 vorgelegten Ranking stehen die USA auf Rang 1, sechzehn Ränge vor Deutschland (Williams et al.). Die Mehrheit der Nobelpreisgewinner besteht Jahr für Jahr aus Wissenschaftlern, die an amerikanischen Universitäten ausgebildet wurden oder dort tätig sind, obschon viele von ihnen nicht aus den USA stammen. Von den 117 zwischen 2000 und 2010 für Forschung vergebenen Nobelpreisen gingen 78 an Wissenschaftler, die in den USA tätig sind (darunter 57 gebürtige US-Bürger), zehn an Wissenschaftler im Vereinigten Königreich und sieben an Wissenschaftler in Japan. Kein anderes Land hat es auf mehr als fünf gebracht. Dem Academic Ranking of World Universities 2013 zufolge, das von einer Forschergruppe in Schanghai stammt und sich auf die Naturwissenschaften konzentriert, sind 17 von 19 Universitäten an der Spitze amerikanische (Cambridge und Oxford sind die beiden anderen). Die darin am höchsten rangierende Universität, die TU München, liegt auf Rang 50. Keine einzige deutsche Universität gehört zur Gruppe der fünfzig Besten in den QS World University Rankings 2012/2013, und nur eine einzige deutsche Universität rangiert dort in den Times Higher Education World University Rankings 2012–2013: Die Ludwig-Maximilians-Universität in München landet auf Rang 48.1 1902, als das deutsche Universitätswesen in seiner Blüte stand, gab es an allen amerikanischen Universitäten zusammen gerade einmal 293 Promotionen (Thurgood et al. 6); heute verfügen die USA über fast ebenso viele promotionsberechtigte Forschungsuniversitäten.

Die Vereinigten Staaten haben es zu einer Stellung gebracht, welche derjenigen entspricht, derer sich die deutschen Universitäten im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfreuten. Durch die Studiengebühren, die Drittmittel und ihr Stiftungskapital gehören die amerikanischen Universitäten außerdem zu den finanziell bestausgestatteten auf der Welt. Die USA geben fast doppelt so viel Geld pro Student aus wie Deutschland (Education at a Glance 2012 Tabelle B1.1a), davon stammt ein beträchtlicher Teil aus privaten Quel len.2 Die finanzielle Ausstattung hat Einfluss auf die Studienbedingungen. In dem zuletzt von U.S. News and World Report vorgelegten Ranking der 50 besten amerikanischen Universitäten liegt das Verhältnis Studenten zu Professoren außer in vier Fällen unter 18:1, im Durchschnitt ist es 11:1, an einer Universität sogar 3:1 (70–71). Bezogen nicht nur auf Professoren, Dozenten und Assistenten, sondern auch auf Lehrkräfte für besondere Aufgaben, liegt das entsprechende Zahlenverhältnis für die deutschen Hochschulen bei 42:1 (Statistisches Jahrbuch 2012, 90; 94). In den Sprach- und Kulturwissenschaften liegt es in Deutschland bei 76:1 (Statistisches Jahrbuch 2012, 90; 94), speziell in der Germanistik sogar bei 133:1 (Statistisches Jahrbuch 2011, 149; 155).

Die US-amerikanischen Universitäten sind für die USA ein enormer Wirtschaftsfaktor. Jonathan Cole, dessen umfangreiche Untersuchung des amerikanischen Hochschulwesens sich auf die Forschungsproduktivität konzentriert, berichtete 2009, dass Professoren, Studenten und Ehemalige der Stanford University im Jahr 2008 mehr als 2.300 Unternehmen gegründet haben, von denen sechs, alle in Stanfords Nachbarschaft, nämlich im Silicon Valley, insgesamt 261,2 Milliarden Dollar verdient haben. Cole erwähnt auch, dass die 4.000 Unternehmen, die mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) zusammenhängen, 1,1 Millionen Menschen beschäftigen und jährlich Waren im Wert von 232 Milliarden Dollar exportieren. Würde man diese Unternehmen, die von ihren Verbindungen zum MIT leben, mit einem Staat vergleichen, dann befände sich dieser weltweit unter den führenden 25 (196–98).

Die USA ziehen die meisten ausländischen Studenten an. Laut Education at a Glance 2013 gehen 16,5 % aller Studenten, die im Ausland studieren, in die USA (Tabelle C4.4). Das Handelsministerium schätzt, dass durch diese Ausländer jährlich mehr als 15 Milliarden Dollar an Studiengebühren und Geldern für ihre Lebenshaltungs-kosten ins Land fließen (Approaches 9). Nicht weniger wichtig ist freilich, was die amerikanischen Universitäten für die amerikanische Außenpolitik und die internationale Verständigung tun, indem sie Menschen ausbilden, die weltweit Führungsaufgaben übernehmen.

Da viele Deutsche die USA als ein mögliches Vorbild ansehen, wird man sich hierzulande darüber klarwerden müssen, welches die bewegenden Kräfte im amerikanischen Hochschulsystem sind, worin seine Stärken und worin seine vermeidbaren Schwächen liegen und welche fortdauernden Herausforderungen es zu bewältigen hat. Das vorliegende Buch gibt Deutschen, denen an Verbesserungen ihres Hochschulwesens gelegen ist, einen Einblick in das amerikanische System.

*

Über viele Jahre habe ich Erfahrungen mit einem großen Spektrum amerikanischer Universitäten gesammelt. Mein Bakkalaureat machte ich am Williams College, einem der führenden Colleges der USA, das nicht einmal 2.000 Studenten hat. Promoviert habe ich an der Princeton University, einer erstrangigen privaten Forschungsuniversität. An der Ohio State University, einer der größten staatlichen Universitäten der USA, habe ich zwölf Jahre lang gelehrt und war überdies fünf Jahre in der dortigen Administration tätig. Heute zählt die Ohio State mehr als 55.000 Studenten. Seit siebzehn Jahren arbeite ich an der University of Notre Dame, einer Universität, die zu den besten 20 der Nation zählt und Amerikas führende katholische Universität ist. Die meiste Zeit über habe ich dort als Dean des College of Arts and Letters amtiert, als Vorgesetzter von etwa 500 Professoren und rund zwanzig Fachbereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Künste.

Mit Rücksicht auf den weit größeren Entscheidungs- und Handlungsspielraum, über den ein amerikanischer dean im Gegensatz zu einem deutschen Dekan verfügt, werde ich das englische Wort ›Dean‹ im Folgenden beibehalten. Dasselbe gilt für den in amerikanischen Universitäten sehr einflussreichen ›Provost‹, der über das akademische Profil und häufig auch den Haushalt der ganzen Universität wacht.

Das amerikanische Hochschulwesen zeichnet sich vor allem durch seine Vielfalt aus. Außer den klassischen Colleges, privaten Forschungsuniversitäten und großen staatlichen Universitäten kennt es auch zweijährige, an der Berufsausbildung bzw. Universitätsvorbereitung orientierte community colleges, zu denen der Zugang relativ leicht ist und wo die Studiengebühren bescheiden sind. Amerika profitiert entscheidend von dieser institutionellen Mannigfaltigkeit.

Reiche Erfahrungen habe ich auch an deutschen Universitäten sammeln können. Als Student verbrachte ich zunächst ein Semester im Rahmen eines amerikanischen Kooperationsprogramms an der Universität Bonn, später studierte ich zwei Jahre lang an der Universität Tübingen, wo ich auch meinen Magister machte. Einige Jahre später lehrte ich an der Universität Dresden und forschte, im Besitz eines Humboldt-Stipendiums, an der Universität Essen. 2009 war ich Christian-Wolff-Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. An diesen Universitäten habe ich die Qualität des Lehrkörpers, die den Studenten eingeräumte Selbständigkeit und die zahlreichen intellektuellen Zirkel, in denen man sich an einer deutschen Universität engagieren kann, sehr zu schätzen gelernt.

Da Vielfalt an und für sich ein Wert ist, wäre es jammerschade, wenn Deutschland seine Universitäten derart veränderte, dass der Universitätsartenreichtum dadurch global schrumpfte. Welche Reformen auch immer in Betracht gezogen werden – man sollte die Vorzüge des deutschen Systems erhalten bzw., im Fall von Stärken, die derzeit nicht mehr deutlich sichtbar sind, wiederherstellen. Nur eine schlechte Art der Internationalisierung, die in Wahrheit eine Form von Kolonisierung ist, würde solche Elemente kurzerhand abschaffen. Gleichzeitig kann Deutschland jedoch etwas von der Praxis in anderen Ländern lernen. Es kann einsehen, dass es gut ist, ein breiter gefächertes Spektrum von Universitäten zu haben, das Flexibilität und Innovation erhöht, belebende Wettbewerbsstrukturen sicherstellt und insgesamt nur zum Vorteil der Studenten ist. Als Wissenschaftler, akademischer Lehrer und Administrator, der beide Systeme gut kennt, möchte ich einen Beitrag zu dieser Debatte leisten.

*

Ein Buch über das Hochschulwesen kann sein Ziel auf mehr als eine Weise verfehlen. Manche sind sterbenslangweilig. Oft überladen mit abstoßendem Fachjargon, technischen Einzelheiten und Tabellenkram, bieten sie wenig, das von praktischem Nutzen wäre, geschweige denn Amüsantes. Solche Bücher sind wohl nur etwas für andere Akademiker, die sich auf Erziehungswissenschaft oder Hochschulverwaltung spezialisieren; selten habe ich einen hochgestellten Administrator an der Universität getroffen, der sie nützlich fände. Dann gibt es lockere Sammlungen von Gelegenheitsreden, die nicht organisch zusammenhängen und von Wiederholungen strotzen; sie sind wohl hauptsächlich für die Angehörigen einer lokalen akademischen Gemeinschaft interessant. Dann die überaus abstrakten Abhandlungen, die sich über das Hochschulwesen verbreiten, ohne irgendeine solide, konkrete Beziehung zur derzeitigen Situation und auch ohne ordentliche Verbesserungsvorschläge; was das betrifft, kann man nicht sagen, dass sie besonders anregend, informativ und horizonterweiternd wären. Und schließlich gibt es die Streitschriften, die gegen bestehende Missstände wettern, von der political correctness auf dem amerikanischen Campus bis hin zu den Bolognareformen in Europa. Sie haben über ihre kritische Diagnose hinaus selten etwas Positives oder Konkretes zu bieten. Unterhaltsam und oft instruktiv, ist ihr Nutzen gleichwohl begrenzt.

Wenn es so viele Weisen gibt, das Ziel zu verfehlen, warum sollte auch ich noch etwas zu dieser Sparte Literatur beisteuern? Das vorliegende Buch ist allerdings von anderer Art. Obwohl es Zahlen und Statistiken verarbeitet und auch von Forschungsergebnissen aus Pädagogik und Management Notiz nimmt, beruht meine Analyse der amerikanischen Situation doch hauptsächlich auf eigener Erfahrung und dem Nachdenken darüber. Es ist das Resümee aus 17 Jahren Verwaltungstätigkeit, davon sechs in der Eigenschaft als Leiter (chairperson) von Departments (an zwei verschiedenen Institutionen) und elf in der Funktion als Dean.

In dieser Zeit der Reformen und der Neubesinnung in Deutschland möchte mein Buch einen lesbaren, praktischen und konstruktiven Beitrag dazu leisten, sich in dem durch das Hochschulwesen markierten Problemfeld zu orientieren, einen Beitrag, der einschlägiges Zahlenmaterial und weitere Informationen bereitstellt, durch erfahrungsgestützte Reflexion bereichert und letztlich von der philosophischen Überzeugung getragen wird, dass die Artikulation und lebendige Verkörperung einer zielführenden Vision von ausschlaggebender Bedeutung für den Erfolg unserer Universitäten wie unseres höheren Bildungswesens insgesamt sind. Ich versuche in diesem Buch darzulegen, wie das amerikanische Hochschulwesen funktioniert, d. h. welches seine bestimmenden Prinzipien und Kategorien sind. Dazu greife ich auf persönliche Erfahrungen zurück, die die Sache anschaulich machen. Ich stelle ausdrücklich die Frage, was sich davon übernehmen lässt. Deutschland befindet sich derzeit in einer Übergangsperiode, wo vieles schon im Fluss ist, während andere Änderungen noch erwogen werden oder gar umstritten sind. Manche dieser Änderungen sind bloß kosmetischer Natur, andere bewegen sich kleinschrittig innerhalb längst eingeschlagener Bahnen, doch noch andere haben, wie wir sehen werden, tatsächlich das Zeug zu einer durchgreifenden, transformativen Strukturreform. Welche Verhältnisse und Verfahrensweisen sind denn nun eigentlich charakteristisch für die USA, was hingegen ist nur für bestimmte Typen amerikanischer Universitäten bezeichnend und was davon lässt sich überhaupt auf Deutschland übertragen? Mit Bezug auf die Beispiele für Letzteres: Wären Änderungen in dieser Richtung auch notwendig oder gar attraktiv, und wenn ja, wie ließe sich ihre praktische Umsetzung bewerkstelligen? Wenn Deutschland sich bestimmte amerikanische Grundsätze zu eigen macht, vor welchen Fallen sollte es auf der Hut sein?

Dieses Buch untersucht drei Themen, die miteinander zusammenhängen. Das erste Kapitel behandelt Idee und Geschichte der Universität, sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten. Es erörtert die historische Bedeutung des deutschen Hochschulwesens, das seinesgleichen nicht hatte, bestimmte Aspekte seiner bis heute anhaltenden Größe und seine drängendsten Probleme, sodann den noch nicht lange zurückliegenden Aufstieg des amerikanischen Hochschulwesens zu der Bedeutung, die es heute hat, sowie die darin versteckten Probleme. Das zweite Kapitel untersucht die bestimmenden Merkmale des amerikanischen Hochschulwesens der Gegenwart, einschließlich der sehr weitgehenden Vorteile und der vergleichsweise geringeren Herausforderungen und Probleme, die damit verbunden sind. Das Augenmerk gilt der Weise, wie jene Merkmale die amerikanische Universität stimulieren, und ebenso den Formen, in denen Deutschland hier abweicht. Das dritte Kapitel kehrt zur gegenwärtigen Lage in Deutschland zurück, es befasst sich mit chronischen Problemen hier und weist gangbare Auswege aus der gegenwärtigen Krise.

Gestützt auf das Manuskript dieses Buches habe ich in den vergangenen Jahren an verschiedenen deutschen Universitäten Vorträge gehalten, und die Resonanz zeigte mir, dass der Gegenstand bei Professoren, Administratoren und Studenten einen Grad des Interesses findet, der wohl größer ist als der für die spannendsten philosophischen, literarischen und historischen Themen. Ganz zu Recht ist die Sorge um den Erfolg des deutschen Hochschulwesens ein öffentliches Thema ersten Ranges. Ich darf also hoffen, dass mein Buch, durch das man auch Einblick in bestimmte Bereiche der amerikanischen Kultur überhaupt erhält, bei Politikern und einer breiteren Öffentlichkeit Aufmerksamkeit und positive Aufnahme finden wird.

I. Idee und Wirklichkeit der Universität

1. Die historische Größe der deutschen Universität

Von den Anfängen bis zur Versandung

Institutionen der höheren Bildung reichen zwar bis weit in die Antike und das frühe Mittelalter zurück – man denke an die platonische Akademie und die Klöster des Christentums –, die ersten Universitäten entstanden in Europa jedoch erst zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert. Damals wuchs die Nachfrage nach Gelehrten, welche es verstanden, die Überlieferung der heidnischen Antike, die in zunehmendem Maß durch zeitgenössische Übersetzungen der hellenistischen Philosophie und Wissenschaft Verbreitung fand, mit der christlichen Offenbarung zu verschmelzen. Ferner ergab sich eine Nachfrage nach Fachleuten mit akademischer Berufsausbildung, speziell nach Juristen. Unter den ältesten Universitäten, denen in Italien und Frankreich, spezialisierte sich Bologna auf die Rechtswissenschaft, und Paris, schnell die angesehenste Universität überhaupt, spezialisierte sich auf Theologie, zusammen mit Logik und Naturphilosophie. Ohne eigene Gebäude oder Bibliotheken (Bücher wurden von den Studenten üblicherweise gegen Geld ausgeliehen), waren die ältesten Universitäten im Wesentlichen eine aus den Studenten und ihren Lehrern zusammengesetzte Körperschaft – universitas magistrorum et scholarium –, ein Gebilde, das sich spontan entwickelte. Eine solche häufig sehr überschaubare Körperschaft war flexibel genug, auch umzuziehen. Das geschah z. B. 1409, als Professoren und Studenten Prag verließen und eine Universität in Leipzig gründeten.

Im Lauf der Zeit nahm das Wort ›Universität‹ mehr und mehr die Bedeutung an, das curriculare Ganze zu bezeichnen: universitas studiorum. Der Lehrkörper gliederte sich in die facultas artium (was wir in den USA heute arts and sciences nennen und in Deutschland noch im 19. Jahrhundert die philosophische Fakultät hieß) sowie die medizinische, die theologische und die juristische Fakultät. Unterrichtet wurde auf Lateinisch. Studiert wurden zunächst die freien Künste: Die drei Elementarkünste, das trivium, nämlich Grammatik, Rhetorik und Dialektik, konzentrierten sich auf den Erwerb sprachlicher Fertigkeiten, für die Fortgeschrittenen schloss sich das quadrivium an, nämlich Geometrie, Arithmetik, Musik und Astronomie. Nach Abschluss ihres Studiums der freien Künste konnten die Studenten mit Medizin, Jurisprudenz oder Theologie weitermachen. In der Frühzeit war Wissensvermittlung, nicht Forschung, der universitäre Hauptzweck, auch wenn die beste Universität, Paris, berühmte Gelehrte berief, etwa Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Bonaventura. Das ganze Mittelalter hindurch, bis in die frühe Neuzeit, war allen der stark konfessionelle Charakter der Universität gegenwärtig; die Theologie galt als die führende Disziplin.

Wie andere Institutionen mit solch einer langen Geschichte erlebte auch die Universität ihre Höhen und Tiefen. Das lag sowohl an wirtschaftlichen, sozialen und intellektuellen Konjunkturen als auch an nationalen und konfessionellen Faktoren und an den Konstellationen herausragender Persönlichkeiten. Humanismus und Reformation führten zur Gründung zahlreicher neuer Universitäten, Wittenberg z. B. und Königsberg, doch schwächten Reformation und Gegenreformation zugleich den Universalismus der Universitätskultur und führten an etlichen britischen und deutschen Universitäten zu konfessionellen Säuberungen.

Die ersten Universitäten im deutschsprachigen Gebiet, Prag, Wien und Heidelberg, waren Gründungen des 14. Jahrhunderts (Heidelberg ausdrücklich nach dem Pariser Vorbild). Da das Lateinische in ganz Europa die Verkehrssprache an den Universitäten war, war es jedoch nicht so wichtig wie später, als die Nationalsprachlichkeit sich durchsetzte, wo die Institutionen sich befanden, dennoch verdient es Beachtung, dass Universitäten in vielen europäischen Ländern, einschließlich Portugal, Polen und Ungarn, gegründet wurden, bevor das Deutschland in den Grenzen von heute in Heidelberg seine erste Universität erhielt. Der Unterricht auf Deutsch ist erfolgreich durch Christian Thomasius gegen Ende des 17. Jahrhunderts eingeführt worden. Um ihr jeweiliges Territorium zu fördern, ergriffen viele Fürsten und Städte die Initiative zur Gründung weiterer Universitäten. Mehr als ein halbes Dutzend, wie Würzburg, Leipzig und Tübingen, wurden im Lauf des 15. Jahrhunderts gegründet. Gegen Ende des Jahrhunderts waren Wien, Köln und Leipzig die größten Universitäten im Reichsgebiet. An diesen drei studierte mehr als die Hälfte der deutschen Studenten (Eulenburg 54–55). Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert hatten die meisten Universitäten nur ein paar hundert Studenten. Noch in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatten mehr als ein halbes Dutzend deutscher Universitäten weniger als hundert Studenten.

Im 18. Jahrhundert machten Universitäten ganz allgemein, in Deutschland und auch sonst, keinen guten Eindruck. In der Regel hielt man die Universität für unfruchtbar, ihr Wissen galt als erstarrt, und von den Professoren dachte man, sie vermittelten den Studenten nichts anderes als dieses erstarrte Wissen. Die meisten Universitäten hatten den Studenten kaum mehr als erweiterten Schulunterricht zu bieten, wobei der Schwerpunkt auf den alten Sprachen und der Interpretation klassischer Texte lag. Sich in den Klassikern auszukennen, galt als intellektueller Befähigungsnachweis, und die Werke der Klassiker galten als wissenschaftliche Quellen. Doch um scharfsinniges Denken zu prüfen, gab es andere, scheinbar praktischere Mittel. Die Fortschritte in Astronomie und Physik ließen viele klassische Texte als überholt erscheinen. Die Unzufriedenheit mit dem fehlenden Praxisbezug und der fehlenden Einbeziehung der modernen Wissenschaft führte dazu, dass, häufig durch Autodidakten, die Forschung nach außen verlagert wurde, wobei es auch zur Gründung unabhängiger Einrichtungen der beruflichen Ausbildung kam, etwa für Ingenieure. Es wurde behauptet, jenes praktische, nützliche Wissen, nach dem so große Nachfrage bestand, lasse sich anderswo besser erwerben. Es verwundert denn auch nicht, dass die meisten bedeutenden Köpfe des 17. und 18. Jahrhunderts – man denke an Bacon, Hobbes, Descartes, Spinoza, Locke, Leibniz, Voltaire und Rousseau – außerhalb der Universitäten tätig waren.

Abgesehen davon, dass sie nur wenige Studenten hatten, waren die Universitäten auch finanziell schlecht ausgestattet. Ihrer schlechten Reputation halfen die studentischen Duelle und Tumulte gewiss nicht ab. Außerdem sah man in den Universitäten die Bewahrer alter Zöpfe. So kam es, dass 1793, im Zuge der Französischen Revolution, die französischen Universitäten abgeschafft wurden. Stattdessen schuf Frankreich eigene Fachhochschulen, die für die Berufsausbildung von Ärzten, Ingenieuren, Juristen und Lehrern bestimmt waren. Erst 1896 wurde die Bezeichnung ›Universität‹ für mehrere Fakultäten unter einem Dach wieder eingeführt, und erst 1968 verschmolz Frankreich seine Fakultäten zu einer einzigen und nahm den Grundsatz der Einheit von Forschung und Lehre an (Ben-David, Centers 16 und 107). Die französischen Universitäten waren den staatlichen Behörden ganz und gar unterstellt, Prüfungen wurden von Beamten ausgerichtet und überwacht. Damals sah man in der Staatskontrolle die Befreiung von dem früheren Einfluss und der Kontrolle durch Kirche und Adel.

Trotz der Unfruchtbarkeit der Universität während des 18. Jahrhunderts kam es in manchen Gegenden Europas zu interessanten Entwicklungen. Ein Beispiel dafür war Schottland, ein wichtiges Zentrum der Aufklärungsphilosophie und -wissenschaft, dessen Wirkung auf das US-amerikanische College beträchtlich war. Die schottischen Universitäten bezogen moderne Gegenstände ein, einschließlich der Naturwissenschaft, doch aus verschiedenen Gründen erwies sich dieser Schwung als nicht nachhaltig genug (Sloan).

Die deutsche Umgestaltung der Universität

Auch Deutschland war eine Ausnahme. Deutschland entwickelte ein Modell, das nicht allein an Boden gewann, sondern die Idee der Universität revolutionierte, und zwar über Europa hinaus. In den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts erfreute sich Halle, ein Zentrum sowohl der Aufklärung als auch des Pietismus, des vermutlich besten Rufs aller deutschen Universitäten. Göttingen und Jena, mit 874 bzw. 561 Studenten, galten als groß, doch Halle war die größte deutsche Universität, mit 1.076 Studenten (Ellwein 332). Göttingen führte neue Fächer ein, z. B. Geschichte und Philologie, und verlegte sich stark sowohl auf Mathematik und Naturwissenschaft als auch auf die Rechtswissenschaft. Dafür wurde es berühmt. Göttingen stand nach 1750 an der Spitze (Turner 504). Auch Jena erlangte große Ausstrahlungskraft dank seiner Philosophie und Ästhetik, einer Kombination von Koryphäen und jüngeren Intellektuellen (Fichte, Schiller, Schelling, Hegel, den Gebrüdern Schlegel und Goethe im benachbarten Weimar).

Halle und Jena wurden während der napoleonischen Besatzungszeit geschlossen, doch ihre revolutionären Fortschritte trugen Früchte in der Gründung der Berliner Universität 1810, der es in vielen Fällen glückte, die besten Professoren zu berufen. Unter den ersten waren Fichte, Schleiermacher, Hegel und Schelling. Göttingen, Halle, Jena und Berlin waren die Geburtsstätten der modernen Universität. Die deutschen Universitäten steigerten nicht nur ihre Qualität, sie gestalteten die Idee der Universität um. Man könnte mit Emphase sagen, dass die Universität auf christlichem Boden entstand, die moderne Universität aber auf deutschem Boden.

Die quer durch Deutschland unternommenen Reformen unterschieden sich von denen in Frankreich. Statt die verschiedenen Fakultäten zum Zweck der Berufsausbildung auseinanderfallen zu lassen, war man in Berlin von Idealismus und Romantik beseelt, vom Vorrang der Wahrheit gegenüber anwendungsorientiertem Wissen, wie Kant ihn im Streit der Fakultäten verfochten hatte, und nicht zuletzt von der Suche nach Totalität. Es ging um die Einheit des Wissens über alle Disziplingrenzen hinweg und um den intrinsischen Wert der philosophischen Fakultät, die jetzt die Theologie von der Spitze verdrängte. Statt direkt staatlicher Kontrolle zu unterstehen, sicherten sich die deutschen Universitäten Autonomie. Anstatt, wie in Frankreich, die Universität und die Idee der Universität zu schwächen, stärkten auf diese Weise die deutschen Reformen die Universität in Theorie und Praxis. In Frankreich wurde das neue Curriculum von Fachhochschulen getragen. In Deutschland hingegen waren neue wissenschaftliche Ansätze und das Ideal der Forschung die Triebkräfte. Links des Rheins und rechts des Rheins spiegelte sich in der Hochschulreform die französische Abschaffung alter Privilegien. In Deutschland richtete sich das persönliche Ansehen nicht nach Herkommen und sozialem Stand, sondern bei den Professoren nach ihren wissenschaftlichen Leistungen und bei den Studenten nach ihren Prüfungsleistungen. Beide Gruppen wurden durch neue Freiheiten in ihrer Stellung gestärkt.

Sehr bald wurden die in Göttingen, Halle, Jena und Berlin zu beobachtenden Fortschritte für alle deutschsprachigen Universitäten vorbildlich. Das waren, wie gesagt, winzige Universitäten, verglichen mit dem, was wir heute kennen. 1830 hatte Bonn zum Beispiel 53 Professoren und 865 Studenten, Tübingen 37 Professoren und 823 Studenten, Kiel 27 Professoren und 311 Studenten (Ellwein 334). Doch gerade die beschränkte Größe erleichterte die Erneuerung.

An der deutschen Forschungsuniversität des 19. Jahrhunderts herrschte nicht länger der Geist der Wissensübermittlung; entscheidende Triebkraft war nun die Entdeckung neuer Wahrheiten. Die Verbindung von Forschung und Lehre, eine völlig neue Errungenschaft der deutschen Universität, wurde das Vorbild für die Universität der Zukunft. Schon 1749 schrieb die preußische Regierung vor, dass, wer Professor werden wollte, publiziert haben musste (Clark 259–260). Daraus wurde die Habilitation als die den deutschen Gelehrten ausweisende Qualifikation. In Deutschland hatte man die Vorstellung, dass die Professoren nicht das, was andere entdeckt oder gedacht hatten, lehrbuchmäßig aufbereiten, sondern selber wissenschaftlich als Vorbild wirken sollten, indem sie den Studenten zeigten, wie man das vorhandene Wissen erweitert. So sagte Schleiermacher: »Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eignes Erkennen, die That selbst, reproduciren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammlen, sondern die Thätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntniß unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden.« (62–63)

Auch wenn sie mit den deutschen Denkern darin übereinstimmten, dass Bildung und Wissen Selbstzwecke seien, hielt Kardinal Newmans berühmte Schrift Idea of a University von 1852 noch immer an der Vorstellung fest, dass die Universität vorrangig mit der Lehre befasst sein müsse. An den deutschen Universitäten hingegen vereinigten sich Lehrer und Forscher in ein und derselben Person. Es wurde für wichtig gehalten, dass Studenten mit großen Gelehrten persönlich in Berührung kommen. Das vordringliche Erziehungsziel sei, Studenten an die Forschung heranzuführen und ihnen dabei zu helfen, selbständig zu werden. Für Fichte war »die Bildung des Vermögens zum Lernen« wichtiger als die erlangte Gelehrsamkeit selbst (131). Prüfungen und Hausarbeiten, behauptete Fichte, hätten nicht den Unterricht wiederzukäuen, sondern Zeugnis von der geistigen Eigenaktivität des Studenten abzulegen, von der Fähigkeit, das Gelernte sich anzueignen und auf den verschiedensten Gebieten weiterzuentwickeln (130–34).

Obwohl sie finanziell auf den Staat angewiesen waren, behaupteten die deutschen Universitäten in der Forschung und im Curriculum ihre Autonomie. Akademische Freiheit wurde ein beherrschendes Prinzip. Das schloss auch Autonomie unter dem Aspekt ein, dass zum einen der Staat sich nicht darin einzumischen habe, wie die Universität sich intern organisiert, und zum andern die Freiheit von der Kirche. Die akademische Freiheit schloss ferner die Autonomie jedes Einzelnen als Forscher und Lehrer ein. Anstatt sich der Tradition fügen zu müssen, sei er frei, in der Wahrheitssuche alle Positionen in Betracht zu ziehen. Indem er aus seiner eigenen Forschungstätigkeit heraus lehrte, würden die Studenten sich auch mit größerer Wahrscheinlichkeit von der Lehre begeistern lassen.

Die Seminarform, durch welche die Studenten als Lernende zum Zuge kamen, ursprünglich eingeführt in der Philologie, dann in der Geschichte, wurde ein Merkmal der deutschen Universität. Von Göttingen ist sie ausgegangen, schon in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts, um dann binnen ein, zwei Generationen im deutschen Hochschulunterricht eine zentrale Stellung einzunehmen. Fichte verteidigte das Seminar aus philosophischen Gründen als eine Ergänzung zu den Vorlesungen und zum rein aufnehmenden Lernen (13–34).

Unter dem Einfluss Alexander von Humboldts, des Bruders des Berliner Universitätsgründers Wilhelm von Humboldt, kamen neue Forschungszweige hinzu. Angeregt von der idealistischen Philosophie verteidigte die Universität im philosophischen, nicht theologischen Sinn die Idee einer Einheitswissenschaft. Anreize gab es nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Lehre. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschafften größere Hörerzahlen auch ein höheres Einkommen. Während zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Geisteswissenschaften erheblich ausgebaut wurden, führte in der zweiten Jahrhunderthälfte die Errichtung moderner Forschungseinrichtungen, etwa von Laboratorien, auf breiter Basis zur Entwicklung der Naturwissenschaften. Weltberühmt war das chemische Labor von Justus Liebig in Gießen, das ab 1826 über Jahrzehnte bestand. Hier überflügelte Deutschland seine Nachbarn Frankreich und England, die immer noch im Stückwerk, in behelfsmäßigen Laboratorien und in der Tätigkeit von Amateuren, den wissenschaftlichen Fortschritt vorantrieben. Deutschland hingegen hatte großartige Laboratorien zu bieten mit Heerscharen qualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchses. Leuchten der Wissenschaft, wie Liebig und der große Mathematiker Carl Friedrich Gauss in Göttingen, förderten die Reputation der deutschen Universität. Diese Entwicklung hielt über mehrere Generationen an. Im frühen 20. Jahrhundert forschten und lehrten in Berlin zwei der größten Physiker aller Zeiten, Max Planck und Albert Einstein.

In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts war das deutsche Modell ausgereift, und es war allem überlegen. Übernommen wurde es nicht nur in den anderen deutschsprachigen Ländern, sondern auch in Teilen Nord-, Süd- und Osteuropas, so etwa von Skandinavien, Griechenland und Russland (Clark 28–29). Bis Ende des 19. Jahrhunderts war Deutschland das Modell für England und die Vereinigten Staaten geworden. Dort veranlasste es Änderungen in den überkommenen Strukturen. Schließlich geriet auch Frankreich unter deutschen Einfluss. Sogar Japan, trotz seines, wie in Frankreich, ausgeprägten Zentralismus, entschied sich für das deutsche, nicht das französische System. Aus der ganzen Welt strömten die Studenten nach Deutschland, wo neue Methoden in der Altphilologie, der vergleichenden Literaturwissenschaft, der Bibelkritik, der Geschichte und den Naturwissenschaften entwickelt wurden, um dort bei Meistern ihres Faches zu studieren. Von der ersten Blüte der deutschen Universitäten bis zum Zweiten Weltkrieg zog es etwa zehntausend amerikanische Studenten nach Deutschland (Thwing 40). Das fin de siècle bildete hier den Höhepunkt. 1895/96 waren 517 Amerikaner an deutschen Universitäten eingeschrieben (Veysey 130). »Dass Deutschland der Alleininhaber der Wissenschaft sei«, schrieb Bliss Perry, »darüber gab es für uns junge Leute der achtziger Jahre ebenso wenig einen Zweifel, wie es einen solchen für George Ticknor und Edward Everett gegeben hatte, als sie 1814 von Boston nach Göttingen aufgebrochen waren« (88–89). Der deutsche Begriff der ›Wissenschaft‹ hatte für Amerikaner jener Zeit einen nahezu magischen Zauber. James Morgan Hart erinnerte sich seiner deutschen Studienjahre: »Unter ›Wissenschaft‹ verstehen die Deutschen das Wissen im höchsten Sinn des Wortes, nämlich die leidenschaftliche, methodische, unabhängige Wahrheitssuche in jeder nur möglichen Gestalt, aber unter völliger Absehung von jeder Nutzanwendung« (250). In einer Disziplin nach der andern setzten Deutsche die Maßstäbe, in der Geschichte beispielsweise durch Leopold von Ranke und Theodor Mommsen, in der Altphilologie durch Ulrich von Wilamowitz, in der Soziologie durch Max Weber und Georg Simmel.

Fünf Prinzipien bilden die wesentlichen Merkmale der Idee der Universität. Zwei davon, die fächerübergreifende Einheit des Wissens und das Wissen als Selbstzweck, sind aus der langen Glanzzeit der deutschen Universitäten gestärkt und neu hervorgegangen. Die drei anderen, nämlich die Einheit von Forschung und Lehre, die akademische Freiheit und das Bildungsideal, sind geradezu deutsche Erfindungen.

Wie sie die mittelalterliche, theologisch bestimmte Idee der Einheit von Sein und Wissen beerbt hat und wie dies aufgenommen und weitergeführt worden ist – erstens im enzyklopädischen Ansatz des deutschen Idealismus, zweitens in der heute zunehmend anerkannten Forderung nach Interdisziplinarität –, ist die Universität durch die Integration der Disziplinen und die Suche nicht nur nach Fachwissen, sondern nach den Beziehungen zwischen den verschiedenen Wissenszweigen bestimmt. Eben das spornt zur Suche nach immer einfacheren und zugleich umfassenderen Theorien an, und das ist auch der Grund, warum die verschiedenen Fächer – Mathematik, Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Philosophie, dazu Architektur, Betriebswirtschaftslehre, Ingenieurwissenschaften, Rechtswissenschaft und Medizin – sich institutionell unter einem Dach befinden. Insofern unterscheidet sich die Universität von solchen Einrichtungen, die sich auf einzelne Fächer konzentrieren, auf die Künste etwa, Erziehungswissenschaft, Managerausbildung oder Technik, also von der während der Aufstiegsphase der deutschen Universität in Frankreich üblichen Praxis – einer Praxis, die in den Entwicklungsländern und in privatwirtschaftlich organisierten Lehrinstitutionen inzwischen zunehmend üblich ist. Die Einheit weicht hier isolierten Anwendungen. Hingegen macht die Durchlässigkeit der Fachgrenzen und die Suche nach Einheit, wie schwierig sie sich auch gestalten mag, nach wie vor die Idee und das Ideal der Universität aus.

Wie schon die Griechen und die frühen Christen die Kontemplation zum Wert erhoben haben, so anerkennt die Universität, dass das wissenschaftliche Studium intrinsischen Wert hat und Erkenntnis ihren Sinn und Zweck in sich selbst trägt. Die Universität fördert daher die Grundlagenforschung, ohne nach einer Nutzanwendung zu fragen. Allen voran förderte die deutsche Universität die reine Forschung und rückte die philosophische Fakultät systematisch ins Zentrum. Diese Umwertung kehrte die aus dem Mittelalter überkommene Rangordnung der Fakultäten um. Infolge der deutschen Revolution des höheren Bildungswesens erschien die Anwendung, verglichen mit der reinen Wahrheitssuche und der Fähigkeit der Lehrenden und Lernenden, die Wahrheit zu entdecken, zweitrangig.

Natürlich fügte die heutige Universität der Einsicht in den intrinsischen Wert des Wissens und der Forschung auch die Einsicht in ihren sozialen Nutzen hinzu. Er umfasst im Wesentlichen zwei Momente: die Ausbildung einer vielfältig einsetzbaren Bevölkerungsgruppe, die zur sozialen Mobilität und zu einer gebildeten Bürgerschaft beiträgt, und die Anwendung von Wissenschaft und Technik, um die Gesellschaft in ihren zivilisatorischen Lebensbedingungen voranzubringen. Die Studenten erfahren nicht nur den intrinsischen Wert des Studiums und die Wissenschaft als Selbstzweck, sie entwickeln auch Fertigkeiten, die es ihnen erlauben, eine Stelle zu bekommen und einen Beruf zu ergreifen. Wenn ihre Fähigkeiten vielfach auch in einem allgemeinen Bildungswissen bestehen, werden sie dadurch zu wohlunterrichteten und verantwortlichen Mitbürgern. Kant spricht vom »Besitz eines Vermögens, welches zu allen beliebigen Zwecken zureichend ist. Sie [die Geschicklichkeit] bestimmt also gar keine Zwecke, sondern überlässt das nachher den Umständen« (12.706). Außerdem bildeten ja auch dieselben deutschen Universitäten, die der philosophischen Fakultät diese zentrale Stellung einräumten, die Studenten weiterhin berufsbezogen in Medizin, Recht und Theologie aus. Heutzutage herrscht kein Mangel an vielen zusätzlichen praktischen Anwendungsfeldern, man denke nur ans Ingenieurwesen oder die Ökologie. Außer dass die Universität gebildete Bürger heranzieht und als Motor der sozialen Mobilität fungiert, dient die an ihr betriebene Forschung der Gesellschaft in verschiedener Hinsicht: indem sie Lösungen für Menschheitsprobleme entdeckt, die wirtschaftliche Entwicklung stärkt und Fortschritte in Medizin und Technik sichert, durch die ihrerseits die Lebenserwartung verlängert, der Lebensstandard erhöht wird und es zu neuen Industrien und einem entsprechend erweiterten Arbeitsplatzangebot kommt. Weder der eine noch der andere Nutzen steht zum intrinsischen Wert des Studiums und der Wissenschaft in einem Widerspruch, vielmehr resultiert er daraus.

Abgesehen davon, dass sie die Einheit der Wahrheitserkenntnis und ihren intrinsischen Wert kultivierten, revolutionierten die deutschen Universitäten den Begriff der Universität auf drei wichtigen Gebieten. Um die Universitäten untereinander wettbewerbsfähig und das Studium bei den Professoren für Studenten attraktiv zu machen, hatte der universitäre Unterricht erstens neues und interessantes Material zu verarbeiten. Die sterile Vermittlung von in der Vergangenheit aufgehäuftem Wissen und nur aus zweiter Hand geschöpften Kenntnissen ist aus den deutschen Vorlesungssälen und Seminaren des 19. Jahrhunderts so gut wie völlig verschwunden. Die Vorstellung, dass der Lehrer zugleich Forscher ist, ist seitdem ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wir eine ›Universität‹ nennen, nämlich im Unterschied zu einem Forschungsinstitut oder zu einem College, von denen jenes sich der Forschung, dieses sich der Lehre widmet, aber selten beidem zusammen. Oxford und Cambridge hingegen, genauso Harvard, Yale und Princeton wären ohne das Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre unvorstellbar. Die Hochschullehrer geben sich Mühe, den Studenten Wissen zu vermitteln, indem sie sowohl die kulturellen Zeugnisse der Vergangenheit bewahren und deuten als auch die jüngsten Fortschritte und noch ungelösten Probleme auf ihrem Forschungsgebiet begreiflich machen. Zugleich aber wollen sie durch ihr Tun, ihr Wissen und ihre Kreativität Neues entdecken. Kurz, die Universität fördert beides, sowohl die Wissensvermittlung als auch die Schaffung neuen Wissens, und ihre besten, am weitesten fortgeschrittenen Studenten motiviert sie nicht nur zur Wissensaufnahme, sondern begeistert sie auch für die Forschung. Das Forschungslabor und das Forschungsseminar sind essenzielle Teile des Lehrauftrags, den die Universität hat. Indem sie Forschung und Lehre integriert, stärkt die Universität auch die Gemeinschaft zwischen Studenten und Professoren.

Forscher als Lehrer zu haben, die einen mit dem modernsten Wissen auf ihrem Gebiet, mit den Techniken und Leidenschaften ihres Tuns vertraut machen, ist das Ideal auch für den heutigen Studenten. Nicht nur bereichert die Forschung das studentische Lernen, die Lehre hilft auch der Forschung. Indem man sich als Professor den Studenten widmet, durch Vorlesung wie Seminar, ist man gezwungen, die Grundlagen des eigenen Fachs zu reflektieren, dabei nicht vor lauter Bäumen den Wald zu übersehen und den eigenen Gedanken eine prägnante Fassung zu geben. Der Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen sagt es sehr bündig: »Wäre die Vorlesung nicht um der Studenten willen notwendig, so wäre sie es um der Docenten willen« (247). Die Lehre zwingt die Mitglieder des Lehrkörpers, sich verständlich auszudrücken. Wer zugänglich schreibt, von dem kann man durchaus sagen, dass er lehre, und die größten Lehrer sind oft die besten Stilisten. Es kommt hinzu, dass der Lehrer, der zugleich Forscher ist, den Vorteil hat, seine Ideen schon an einem größeren Publikum erprobt zu haben. Während die Ausformulierung neuen Wissens die Abschließung und Stille der Gelehrtenklause erfordern mag, fordern seine Entstehung und kritische Erprobung ganz sicher das Gespräch und die Diskussion unter gleichberechtigten Partnern.

Zweitens hat Deutschland den Gedanken der korporativen Autonomie der Universität geschärft: erstens in Gestalt der ›akademischen Selbstverwaltung‹, die sicherstellen soll, dass Entscheidungen von Personen getroffen werden, die dazu befähigt sind; sodann in Gestalt der ›Lehrfreiheit‹ der Professoren und der ›Lernfreiheit‹ für die Studenten. Deutschland hat die Lehrfreiheit erfunden. In den USA kennen wir sie als die ›academic freedom‹. Es ist das Recht des Wissenschaftlers, seinen Forschungsinteressen nachzugehen – in der Wahl des Forschungsgegenstands und darin, der Richtung zu folgen, in die ihn seine Forschungen führen –, die eigenen Ergebnisse nach Gutdünken zu verbreiten, aber auch, in seiner Eigenschaft als akademischer Lehrer, bei der Auswahl seines Lehrangebots weitgehend frei zu sein. Der Staat behielt sich die Finanzierung, die Kontrolle über einige berufsqualifizierende Abschlüsse und die letzte Entscheidung in Berufungsfragen vor. Die ›Lernfreiheit‹, eine deutsche Erfindung, legte wenig Wert auf Pflichtkurse, dafür umso mehr auf die studentische Freiheit, sich seine Kurse und Lehrer zu wählen, von einer Universität zur andern zu wechseln und selbständig, ohne Zwischenprüfungen, zu studieren. Zum Thema studentische Freiheit bemerkt Schleiermacher, »daß ein ganz neues Leben, daß ein höherer, der wahrhaft wissenschaftliche Geist, soll erregt werden«. Das könne nicht gelingen »im Zwang; sondern der Versuch kann nur angestellt werden in der Temperatur einer völligen Freiheit des Geistes« (110). An einer berühmt gewordenen Stelle äußert sich Wilhelm von Humboldt über Einsamkeit und Freiheit des deutschen Professors: »Da diese Anstalten ihren Zweck indess nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien« (4.255).

Einsamkeit und Freiheit wurden auch dem Studenten zuteil. Er sollte frei sein, bis zu den Abschlussprüfungen seinen eigenen Weg zu verfolgen: »Freiheit und Selbstthätigkeit« und damit verbunden die erwachende »Sehnsucht […] zur Wissenschaft«, wovon er während der Schulzeit nur einen blassen Schimmer gehabt hatte, sollten den Studenten auf der Universität leiten (4.261). Die ›Lernfreiheit‹ stiftete daher »das primäre, Professoren und Studenten in sozialer Gleichheit vereinende, soziale Grundgesetz der Humboldtschen Universität« (Schelsky 92). Bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab es daher außerhalb einer kleinen Anzahl von Fächern, der Medizin etwa, wenig Pflichtveranstaltungen. Die Idee dahinter war, dass die Studenten zur Selbstbestimmung zu erziehen seien. Mehr noch, die Seminarform stand unter der Leitidee, dass das Streben nach Wissen Professoren und Studenten gemeinsam beseelt und sie zu einem gemeinsamen Vorhaben vereinigt. Die Professoren, meint Humboldt, seien nicht allein dazu da, die Studenten anzuleiten, vielmehr seien die Studenten ihrerseits dazu da, den Professoren bei der Forschung zu helfen: »Es ist ferner eine Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu thun hat […] Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, beide sind für die Wissenschaft da« (4.256).

Drittens waren für das von den Vertretern des deutschen Idealismus in den Vordergrund gestellte Bildungskonzept geistige Regsamkeit, schöpferischer Geist und der Wert des Individuums absolut zentral. Kein Hochschulunterricht, der diesen Namen verdient, kann sich in ›Ausbildung‹ erschöpfen, er muss ›Bildung‹ einschließen. Bildung durch Wissenschaft war freilich auf studentische Eigeninitiative angewiesen, und diese zielte auch auf die Erziehung und Kultivierung des Selbst. Nicht bloß auf Gelehrsamkeit oder auf gute Berufsaussichten kam es der Pädagogik des deutschen Idealismus an, sondern auf die Persönlichkeitsentwicklung. In den geisteswissenschaftlichen Disziplinen etwa erwirbt der Student nicht nur Wissen über die betreffenden Gegenstände, er lernt auch von ihnen. Dass er sich kognitiv im weitesten Sinn des Wortes auf die Welt einlässt, auf die Welt, wie sie ist, und auf die Welt, wie sie sein soll, das galt als zentral für die Idee des gebildeten Menschen, wie sie von den Idealisten und den Romantikern verstanden wurde. Obgleich der Universitätsalltag die wissenschaftliche Forschung seit Langem über das Ideal der Bildung einer allseitigen Persönlichkeit gestellt hat, leuchtet die normativ gehaltvolle Absage an eine Reduktion von Bildung auf Ausbildung nach wie vor ein.

Die institutionelle und intellektuelle Überlegenheit der deutschen Universitäten im Zeitraum zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und der Weimarer Republik war allgemein anerkannt. Von 1901 bis 1932 erhielt Deutschland fünfunddreißigmal den Nobelpreis auf naturwissenschaftlichem Gebiet. Danach kamen Großbritannien mit 18 Preisträgern, Frankreich mit 13, die USA mit sieben und die Niederlande mit sechs. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es gewiss manche bedenkliche Entwicklung, etwa die ersten Anzeichen der Massenuniversität und eine Tendenz, die Forschung aus der Universität hinauszuverlegen (Ash 46), doch behaupteten die deutschen Universitäten noch immer ihre führende Stellung.

Deutschland fällt zurück

Mit der Zerstörung und Selbstzerstörung der deutschen Universitäten während der Nazizeit und mit den Erschütterungen verschiedener Art seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, darunter die Ausweitung der Studentenzahlen ohne ausgleichende Investitionen, verlor Deutschland seine Spitzenposition, die in den Augen der meisten Beobachter heute an die US-amerikanischen Universitäten übergegangen ist. Diese wurden in der Nachkriegszeit radikal modernisiert und profitierten in der Anfangsphase ihres Aufstiegs zudem von der Anwesenheit vieler Emigranten aus Deutschland.

Die Nazizeit bedeutete unter etlichen Gesichtspunkten für die deutschen Universitäten den Ruin. Geistfeindliche Schandtaten, wie die studentische Bücherverbrennung 1933, sind weltweit ein Symbol der Zerstörung des geistigen Lebens geblieben. Viele Mitglieder des Lehrkörpers, die dablieben und entweder Kompromisse eingingen oder, wenn auch nur zeitweilig, das System begeistert unterstützten, verloren ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Die Universitäten wurden nicht nur gleichgeschaltet, sie schalteten sich selbst gleich. Während der Nazizeit isolierten sich die deutschen Gelehrten zudem von der internationalen Gemeinschaft.

Wohl am folgenreichsten und nicht ohne Einfluss auf den Aufstieg der amerikanischen Universität war der Verlust so vieler bedeutender Wissenschaftler, die freiwillig oder gezwungenermaßen die deutschen Universitäten verließen. Der Verlust an jüdischen Gelehrten und Wissenschaftlern sowie an Systemgegnern war enorm. Etwa ein Viertel der Physiker von vor 1933 und zwanzig gegenwärtige oder zukünftige Nobelpreisträger, darunter elf in Physik, wurden vertrieben (Beyerchen 47). Das Verzeichnis der Geistes- und Sozialwissenschaftler, die aus Deutschland fliehen mussten oder zu verschiedenen Zeitpunkten aus ihren Universitätsämtern entlassen wurden, liest sich wie ein Who’s Who der modernen deutschen Geistesgeschichte: Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Rudolf Arnheim, Erich Auerbach, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Martin Buber, Rudolf Carnap, Ernst Cassirer, Erik Erikson, Sigmund Freud, Erich Fromm, Max Horkheimer, Karl Jaspers, Hans Jonas, Erich v. Kahler, Siegried Kracauer, Paul Oskar Kristeller, Karl Löwith, Karl Mannheim, Herbert Marcuse, Erwin Panofsky, Leo Spitzer, Leo Strauss, Paul Tillich und Alfred Weber. Und nicht nur die Gelehrten dieser Generation, auch viele Kinder der Emigranten, die sich in den USA niedergelassen hatten, machten ihrerseits wieder glänzende akademische Karrieren. Von diesen Kindern war es fünfzehnmal wahrscheinlicher, dass sie im Who’s Who stehen würden, als von einem Durchschnittsamerikaner. Mindestens vier von ihnen, Eric Kandel, Walter Kohn, Arno Penzias und Jack Steinberger, sind nobelpreisgekrönte Naturwissenschaftler (Sonnert und Holton 2–3 und 66). Manche dieser Emigrantenkinder, Henry Kissinger z. B., aber auch die bedeutenden Ideenhistoriker Peter Gay und Fritz Stern, sind der gebildeten Öffentlichkeit auf beiden Seiten des Atlantiks bekannt. In diese Gruppe gehört auch der Verfasser eines der besten Bücher über das amerikanische Hochschulwesen, Henry Rosovsky, früher Dean von Arts and Sciences an der Harvard Universität.

Als Deutschland sich nach dem Krieg an den Wiederaufbau seiner Universitäten machte, sah es sich vielen Herausforderungen gegenüber. Die schwerste war der Anstieg der Studentenzahlen seit den sechziger Jahren. 1950 studierten nur 4 % eines Jahrgangs. Bis 1960 waren es 8 %, bis 1970 15 %, bis 1980 20 %, bis 1995 27 %, bis 2005 37 %, bis 2010 45 % und bis 2011 51 % (Heinzel 26; und Bildung und Forschung 50). Das ist eine gewaltige Steigerung. Auch die Errichtung neuer Universitäten und die Schaffung neuer Stellen konnten mit dem Anstieg der Studentenzahlen nicht Schritt halten. Die Immatrikulationszahlen waren von 1840 bis etwa 1870 so ziemlich gleich geblieben. Dann erhöhten sie sich leicht bis zum Ersten Weltkrieg und danach wieder während der Zwischenkriegszeit. Doch die Expansion in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Verhältnisse grundlegend verändert. Während es 1860/61 bezogen auf 10.000 Einwohner 3,3 Studenten gab, waren es 1925/26 9,6, und bis 1980/81 stieg die Zahl auf 95,3 (Ellwein 335–36). 1875/76 kam in Tübingen ein Professor auf 14 Studenten, in Bonn sogar auf nur 9 Studenten. 1980/81 waren es in Tübingen hingegen 94 Studenten und in Bonn 117 (Ellwein 338–39).

So drastische quantitative Veränderungen können nicht ohne Folgen für die Qualität bleiben. Die traditionelle deutsche Universität war dazu bestimmt, wissenschaftliche Eliten heranzuziehen. Das inzwischen entstandene Missverhältnis zwischen der Zahl der Professoren und der der Studenten sowie das Hineinfluten leistungsschwächerer und geringer motivierter Studenten sind groteske Erscheinungen. Man könnte darüber lachen, wären die Folgen nicht so ernst. Deutsche Professoren beklagen diese Situation häufig, aber so weit von ihrem Professor entfernt, wie die Studierenden es in der Regel sind, sind sie im Durchschnitt ja genauso übel dran. Eine damit zusammenhängende Herausforderung, die sich aus der Größe, dem Verwaltungsaufwand, aufwendigeren Verfahrensvorschriften und dem erhöhten internationalen Wettbewerbsdruck ergab, war die steigende Komplexität der modernen Universität. Das erhöhte den Druck, Gelder zu beschaffen, und die Notwendigkeit, Werbung zu machen. Die relativ kleine Zahl der Professoren wurde so mit drückenden Pflichten immer mehr überhäuft. All das führte zu einer Schwächung der Forschung, zu einer Verringerung der dem einzelnen Studenten zuteilwerdenden Aufmerksamkeit und zu einer Abwanderung der Professoren ins Ausland.

Die anhaltende Größe der deutschen Universität

Manches Großartige hat sich trotzdem erhalten. Dazu gehört, dass das geistige Vermächtnis der deutschen Idealisten und Humboldts sicherstellt, dass auch das heutige Deutschland darum weiß, was eine Universität sein sollte. Gerade von Humboldts Wirkung lässt sich behaupten, dass sie im 20. Jahrhundert größer gewesen ist als zu seiner eigenen Zeit (Paletschek). So weit auf etlichen Gebieten die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch klafft, bleibt an der deutschen Universität doch vieles sehr anziehend oder ist dies zumindest bis vor Kurzem geblieben. Bevor ich mich der amerikanischen Universität und der Frage zuwende, ob sie Deutschland nicht einiges zu sagen hätte, möchte ich die anhaltende Größe und die Zukunftsfähigkeit der deutschen Universität nachdrücklich betonen.

Selbständigkeit und Flexibilität, die seit jeher Merkmale studentischer Existenz in Deutschland waren, haben infolge des Bologna-Prozesses gelitten, der auf einen Beschluss europäischer Abgeordneter im Jahr 1999 zurückgeht (Der Europäische Hochschulraum). Beide Qualitäten müssten, bis zu einem bestimmten Punkt zumindest, wiedergewonnen werden. Deutsche Studenten hatten die Freiheit, sich geistigen Fragen gleichsam organisch zu widmen, auf ganz andere Weise mithin, als dies die Schülermentalität an den meisten amerikanischen Universitäten ermöglicht, wo viele Hausaufgaben verteilt werden, die den Studenten nicht immer dabei behilflich sind, sich in ein Thema um seiner selbst willen zu vertiefen oder aus eigenem Antrieb die weiterführenden Fragen, die sich aus dem Studium ergeben, zu verfolgen. Die besten deutschen Studenten haben sich dank dieser Selbständigkeit als motiviert und eigenverantwortlich erwiesen. Selbsterziehung setzt nun einmal Freiheit voraus. Früher konnten deutsche Studenten ungehindert von einer Universität zur andern wechseln, indem sie sich dafür entschieden, ein Semester lang bei diesem oder jenem Wissenschaftler zu verbringen, bevor sie an ihre Heimatuniversität zurückkehrten oder an eine dritte Universität weiterzogen. Gewiss, ein Ziel des Bologna-Prozesses war die Erhöhung der Mobilität über Ländergrenzen hinweg (Der europäische Hochschulraum), aber wie viel davon in den kommenden Jahren sich verwirklichen wird, ist eine offene Frage. Nicht wenige Studenten klagen ja über Probleme bei der Anrechnung von Studienleistungen, wenn sie andernorts studiert haben. Während die stärkere Ausrichtung an Überblickskursen im Grundstudium eine Verbesserung darstellt, müssen doch Mittel und Wege gefunden werden, um zumindest etwas von der Selbständigkeit zu bewahren, die das frühere deutsche System beseelte. Sonst werden viele deutsche Universitäten geistig auf Fachhochschulen reduziert und um das gebracht werden, was sie gerade auszeichnet. Die Rückkehr zu diesem Erbe, einst Zeichen ihrer Größe, wird einiger Anstrengung bedürfen. In einer Umfrage unter Studenten von 2012 rangierten »Selbständigkeit in der Studiengestaltung« und »eigenes Engagement« sehr weit unten (Woisch et al. 17).

Obwohl amerikanische Studenten als undergraduates ein breiter angelegtes Grundstudium absolvieren, gilt ihr Graduiertenstudium in der Regel nur einem Fach.3 Dagegen haben deutsche Studenten auch nach dem Grundstudium traditionell ein zweites Hauptfach oder zwei Nebenfächer studiert, was entsprechend qualifizierten Akademikern einen viel breiteren geistigen Horizont gab. Sogar nach der Promotion setzte sich dies fort. Die Habilitation verlangt von jedem Professor, noch eine zweite Qualifikationsschrift auf einem von der Thematik der ersten verschiedenen Gebiet geschrieben zu haben. Als Literaturwissenschaftler z. B. muss man sich typischerweise noch mit einer anderen Epoche und einer anderen literarischen Gattung befasst haben.

Auch die wissenschaftliche Gründlichkeit des deutschen Gelehrten, mit seiner Beherrschung mehrerer Fremdsprachen, seinem intellektuellen Horizont und häufig sehr hohen Maßstäben, sollte nie verloren gehen. Nicht alle Professoren in den USA, auch nicht an den guten Universitäten, können, wie in Deutschland, mit mindestens zwei Büchern aufwarten. Noch ein Beispiel: Auf eine Theologieprofessur in Deutschland würde niemand berufen werden, der nicht des Hebräischen und des Griechischen kundig ist. In den USA kann man auch ohne das einen Lehrstuhl in Theologie erhalten, indem man sich auf Ethik oder Systematik spezialisiert. Deutschland hat schlicht und einfach den überlegenen akademischen Standard, und von seinen Professoren wird im Allgemeinen erwartet, dass sie ihr jeweiliges Fach in seiner ganzen Breite vertreten können. Das hat zum Teil auch etwas mit der Größe der Fachbereiche zu tun. In großen amerikanischen Fachbereichen findet man eine Spezialisierung, die in Deutschland einfach nicht möglich wäre.

Die große Wertschätzung, die in Deutschland selbständiger Forschung und hoher Qualität entgegengebracht wird, zeigt sich schon bei der Promotion. Die deutschen Akademiker, die Mediziner ausgenommen, bei denen die Dissertation nicht übermäßig anspruchsvoll zu sein pflegt, reden von einer »Promotionsphase« oder von der »ersten Phase der Berufstätigkeit«. Doktoranden werden schon wie jüngere Kollegen behandelt. Das stärkt und ermutigt sie in ihrer Selbständigkeit und gewissermaßen auch in der Auffassung ihrer Berufspflichten. Amerikanische Professoren dagegen sprechen von » doctoralstudents «. Damit hängt zusammen, dass das Jura- und Medizinstudium in Deutschland auf die Anfertigung einer Doktorarbeit angelegt ist, während in den USA in diesen Fächern auf der Basis von Studienleistungen und Prüfungen die Doktorwürde verliehen wird.

In Deutschland ist die Freiheit von Forschung und Lehre im Grundgesetz verankert (Art. 5 Abs. 3 GG). Das stärkt die Universität. Auch die Verbeamtung des deutschen Professors ist ein Zeichen der öffentlichen Anerkennung. In der Tat spiegelt sie das Sozialprestige des Professors und die in der deutschen Gesellschaft überhaupt größere Bedeutung des geistigen Lebens wider. Statusabhängig, aber im Durchschnitt doch besser als die ihrer amerikanischen Kollegen, ist die institutionelle Ausstattung der deutschen Professoren. Jeder Lehrstuhl hat seine Sekretärin, oder einige wenige Kollegen teilen sich eine. Erfolgreiche Professoren sind von Scharen talentierter Assistenten und Studenten umgeben. Akademische Freiheit und Unkündbarkeit spielen in den USA eine vergleichbare Rolle, aber es entspricht dem kulturellen Unterschied zwischen beiden Ländern, dass die Amerikaner beides mehr aus Gewohnheit und auf dem Weg freiwilliger Selbstregulierung hochhalten, während es in Deutschland verfassungsgesetzlich gewährleistet wird.

Ein weiterer Vorteil des deutschen Systems war, dass Seminare sich häufig äußerst speziellen Themen widmeten, die es den Studenten erlaubten, außerordentlich viel über bestimmte Forschungsgebiete zu lernen, und zwar so, dass es ihrer eigenen künftigen wissenschaftlichen Praxis zum Vorbild gereichen konnte. In den USA wäre es nichts Ungewöhnliches, im Grundstudium einen einsemestrigen Kurs in neuzeitlicher Philosophie mit den großen Werken von Bacon, Descartes, Hobbes, Spinoza, Locke, Leibniz, Berkeley, Hume und Kant zu belegen. Ich selber habe einen solchen Kurs am Williams College absolviert. Während meines ersten Semesters in Tübingen habe ich dagegen an einem Seminar teilgenommen, in dem wir weniger als 100 Seiten von Hegels Wissenschaft der Logik schafften. Nur in diesem Kurs habe ich aber einen Text wirklich zu lesen gelernt.