Was fehlt, wenn ich verschwunden bin - Lilly Lindner - E-Book
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Was fehlt, wenn ich verschwunden bin E-Book

Lilly Lindner

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Beschreibung

DAS ERSTE JUGENDBUCH VON BESTSELLERAUTORIN Lilly Lindner Lilly Lindner ist ein Phänomen. Sie ist ein außergewöhnliches Schreibtalent. Nun hat sie ihr erstes Jugendbuch geschrieben und trifft mit ihrer glasklaren und poetischen Sprache jeden Leser direkt ins Herz. April ist fort. Seit Wochen kämpft sie in einer Klinik gegen ihre Magersucht an. Und seit Wochen antwortet sie nicht auf die Briefe, die ihre Schwester Phoebe ihr schreibt. Wann wird April endlich wieder nach Hause kommen? Warum antwortet sie ihr nicht? Phoebe hat tausend Fragen. Doch ihre Eltern schweigen hilflos und geben Phoebe keine Möglichkeit, zu begreifen, was ihrer Schwester fehlt. Aber sie versteht, wie unendlich traurig April ist. Und so schreibt sie ihr Briefe. Wort für Wort in die Stille hinein, die April hinterlassen hat.

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Seitenzahl: 374

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Lilly Lindner

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Harry Olechnowitz, Fänger [...]Winter without AprilWinterbones in AprilDanksagung

Für Harry Olechnowitz, Fänger in meinem Wortschatz

Winter without April

Liebe April,

 

du bist jetzt schon fast eine Woche weg, und ohne dich ist es schrecklich langweilig hier. Mama weint ständig, und Papa arbeitet jetzt immer ganz lange, und wenn er nach Hause kommt, dann guckt er traurig. Beim Abendessen sitzen die beiden nur schweigend am Tisch und erzählen sich gar nicht mehr, was sie für einen Tag hatten.

Papa macht keine Witze mehr über Tante Magda.

Und Mama regt sich nicht mehr auf, weil Papa ständig Witze über Tante Magda macht.

Stattdessen sitzen sie nur auf ihren Stühlen und warten stumm, bis ich aufgegessen habe. Und ich esse mit Absicht sehr, sehr langsam. So, wie du es früher getan hast. Ich will nämlich, dass die Zeit länger bleibt, damit wir so viele Minuten wie möglich gemeinsam am Esstisch verbringen – als wären wir eine ganz normale Familie. Dabei sind wir doch nur eine halbe Familie ohne dich. Und normal sind wir auch nicht. Denn wenn das Abendessen vorbei ist, schließt Mama sich im Bad ein und weint, und Papa schließt sich im Büro ein und schiebt Ordner und Kugelschreiber auf seinem Schreibtisch hin und her.

Ich würde so gerne meine Sachen packen und abhauen.

Aber wenn ich gehe, sind Mama und Papa ganz alleine. Und das wäre bestimmt keine gute Ausgangssituation für ein gutes Ende.

 

Die Stimmung hier ist wie in einer Regenwolke. Es ist grau und kalt, und jeden Moment kann es losgehen: Das unruhige Donnergrollen. Der erste Blitz. Und schließlich das gewaltige Gewitter.

Sogar Fork hat keine Lust mehr zu bellen. Er trottet nur noch um die Kastanie im Garten herum, als wäre er der Sekundenzeiger einer Sonnenuhr. Vielleicht jagt er ja seinem Schatten hinterher. Aber irgendwann muss er doch begreifen, dass er ihn niemals einholen kann.

 

Heute habe ich Mama gefragt, ob ich dich bald besuchen darf.

Aber Mama hat den Kopf geschüttelt. Dreimal hintereinander. Vielleicht sogar viermal oder fünfmal – so genau habe ich nicht gezählt. Einmal hätte mir vollkommen gereicht.

Und dann hat Mama gesagt, dass du sehr krank bist und dass du viel Ruhe brauchst, und dass ich dich erst besuchen kann, wenn du wieder etwas gesünder bist.

Das finde ich schade, denn ich wäre so gerne zu dir gekommen. Sobald ich darf, mache ich das auch, April. Ich freue mich schon ganz riesig darauf, dich wiederzusehen!

Außerdem wird man viel schneller gesund, wenn man seine Familie um sich hat und Blumen und Schokolade und Geschenke bekommt. So ist das jedenfalls bei mir.

Aber ich bin ja eh meistens gesund.

 

Vermisst du mich auch ein bisschen?

Und denkst du auch so viel an mich wie ich an dich?

Wenn du magst, kann ich dir ein Foto schicken, auf dem wir beide zusammen drauf sind. Dann hast du eine Erinnerung bei dir. Aber ich glaube, du hast sowieso genug Bilder von uns beiden in deinem Kopf, dafür brauchst du gar kein Foto.

 

Hoffentlich schreibst du mir einen Antwortbrief.

Doch wenn nicht, dann ist das auch nicht schlimm – ich werde dir trotzdem weiter schreiben, versprochen! Ich verstehe es, wenn du keine Lust hast, Briefe zu beantworten, solange es dir so schlecht geht.

Als ich nämlich einmal krank war, da wollte ich meiner Freundin Paula auch keine Briefe zurückschreiben, da wollte ich lieber schlafen.

 

Ich hab dich schrecklich lieb!

 

Bis bald,

deine Phoebe

 

 

 

Liebe April,

 

ich bin gerade aus der Schule gekommen und habe ganz viele Hausaufgaben auf, aber ich habe jetzt keine Lust, sie zu machen. Ich will dir lieber schreiben, das ist viel schöner.

Es ist jetzt schon fünf Tage her, seit ich den ersten Brief abgeschickt habe, und du hast noch nicht geantwortet. Das finde ich ein bisschen traurig, aber nicht wirklich schlimm. Ich habe dir ja schon geschrieben, dass ich das verstehe. Es geht auch so. Und du freust dich bestimmt trotzdem über meine Briefe, oder?

Fork sitzt bei mir auf dem Bett. Wenn Mama das sieht, schimpft sie bestimmt wieder. Aber er möchte so gerne dabei sein, wenn ich dir schreibe; ich glaube, er fühlt, dass der Brief für dich ist, auch wenn er nur ein Hund ist. Er guckt nämlich ganz gespannt auf das Papier und wedelt dabei mit dem Schwanz. Hoffentlich darf ich Fork mitbringen, wenn ich zu dir komme.

Wie geht es dir denn jetzt?

Bist du schon etwas gesünder?

Das wünsche ich mir ganz doll. Auch wenn ich gar nicht so richtig verstehe, was du eigentlich hast. Mama sagt, du hast Magersucht, und dass du deswegen nicht richtig essen kannst, und dass das sehr gefährlich ist. Ich habe Mama gefragt, ob Magersucht ansteckend ist, und sie hat gesagt, dass es eine sehr komplizierte Krankheit ist, die durchaus ansteckend sein kann, aber nicht so wie Schnupfen oder Windpocken, sondern ganz anders.

Das habe ich nicht verstanden. Und dass du nicht richtig essen kannst, habe ich auch nicht verstanden. Vielleicht ist dir ja so schlecht, dass es nicht geht, oder du hast ständig Bauchschmerzen. So wie damals, als wir am Meer waren und die komischen Muscheln gegessen haben und alle ganz grün im Gesicht geworden sind.

Ich hoffe auf jeden Fall, dass es bald vorbei geht, dein Bauchweh. Dann können wir zusammen ein Eis essen gehen oder so. Aber nur, wenn du willst – vielleicht findest du Eisessen ja langweilig, dann können wir auch etwas anderes machen. Zum Beispiel schwimmen gehen oder ins Kino.

 

Mama hat gesagt, ich soll dich nicht nerven, wegen deiner Krankheit. Sie sagt ständig, dass ich vorsichtig sein muss, damit ich dich nicht verletze, weil das alles sehr schwer für dich ist.

Sie sagt das so, dass ich jetzt schrecklich Angst habe, irgendetwas falsch zu machen und dass es dir dann meinetwegen noch viel schlechter geht. Das will ich auf gar keinen Fall. Ich bin doch traurig, wenn es dir schlecht geht. Du bist nämlich der liebste Mensch in meinem Leben, und ich will, dass du den ganzen Tag lang lachst.

Das hättest du wirklich verdient.

Ich habe meine Freundin Paula gefragt, und sie hat auch gesagt, dass sie dich super lieb findet. Und Paula sagt immer die Wahrheit, weil ihre Mama nämlich Schauspielerin ist, und die merkt es sofort, wenn Paula einen unechten Gesichtsausdruck hat oder wenn ihre Stimme anders klingt als sonst.

Früher haben Paula und ich manchmal Lügen vor dem Spiegel geübt. Dann sind wir zu Paulas Mama gegangen und haben drei wahre Sätze und drei gelogene Sätze gesagt – Paulas Mama wusste immer sofort, welche die richtigen und welche die falschen Sätze waren. Da haben wir aufgegeben und uns für die Wahrheit entschieden. Die ist sowieso meistens am besten.

 

Himmel! Jetzt tut meine Hand weh, weil ich so viel geschrieben habe, aber es hat trotzdem Spaß gemacht. Und ich schreibe dir bald wieder. Versprochen!

 

Ich drück dich ganz fest,

deine Phoebe

 

 

 

Liebe April,

 

ich liege schon im Bett, weil ich ziemlich müde bin. Mama und Papa sitzen noch auf dem Balkon und trinken Rotwein. Ich finde, der schmeckt eklig. Das habe ich ihnen auch gesagt. Da hat Mama gelacht, obwohl das gar nicht lustig ist.

Sie lacht zurzeit übrigens sehr selten oder im falschen Moment. Vielleicht male ich ihr morgen ein Bild, dann freut sie sich ein bisschen. Was meinst du?

Aber immerhin lacht Mama überhaupt.

Papa lacht nämlich nur noch, wenn ich ihn darum bitte. Und dann sieht man sofort, dass es ein gefälschtes Lachen ist – dafür braucht man nicht einmal Paulas Mama zu sein.

Aber um ein Lachen sollte man normalerweise auch nicht bitten müssen. Ein Lachen sollte man geschenkt bekommen.

So wie Liebe.

Und Ostereier.

 

Heute war Mamas Geburtstag. Wir sind alle zusammen im Tierpark spazieren gegangen, und ich habe eine kleine weiße Ziege gestreichelt. Die sah so süß aus!

Wir waren ziemlich lange im Park und danach noch in Mamas Lieblingspizzeria. Ich habe eine Salami-Pizza bestellt mit Oliven drauf. Und weißt du was? Der Koch hat mir die Oliven in Herzform auf die Pizza gelegt, das war, als wären wir italienische Freunde.

Papa hat ein Foto davon gemacht, mit seinem Handy. Er hat es auf dem Computer gespeichert, damit ich es dir zeigen kann, wenn du wieder bei uns bist.

Schade, dass du nicht dabei warst.

Mama und Papa haben dich auch vermisst. Weißt du, sie sagen es nicht so oft wie ich, aber ich merke es trotzdem.

 

Oh, was den Computer betrifft: Ich kann jetzt schon ganz alleine Dokumente öffnen und Computerspiele starten und Musik in einen anderen Ordner machen. Und der Computer stürzt dabei nicht mehr ständig ab, weil ich aus Versehen auf den falschen Knopf drücke. Vielleicht werde ich mal Programmiererin. Dann könnte ich tolle Sachen erfinden, die man dann auf die Festplatte machen und öffnen kann.

Vielleicht werde ich aber auch Chef, so wie Papa. Dann sind alle Menschen höflich zu mir, weil sie Angst haben, dass ich sie sonst kündige. Aber eigentlich ist das doof, oder? Ich meine, wenn alle nur nett sind, weil sie etwas von dir wollen, oder weil sie Geld von dir bekommen. Ich muss Papa mal fragen, ob er trotzdem glücklich ist, und ob es auch Menschen gibt, die freundlich zu ihm sind, weil sie ihn mögen.

Ich denke schon.

Denn Papa ist ja ziemlich lieb.

 

Fork darf heute ausnahmsweise in meinem Zimmer schlafen, weil ich so lange gebettelt habe, dass Mama und Papa irgendwann nachgegeben haben. Papa hat Forks Korb in mein Zimmer getragen und die Kuscheldecke auch. Aber nachdem Papa und Mama mir Gute Nacht gesagt haben und wieder auf den Balkon gegangen sind, um weiter den ekligen Wein zu trinken, ist Fork zu mir ins Bett gekrochen. Jetzt liegt er zusammengekuschelt unter der Decke und wärmt meine Füße. Das fühlt sich schön an.

Früher hat Fork manchmal heimlich bei dir geschlafen. Ich habe ihn immer durch den Flur bis hin zu deinem Zimmer tappen gehört, und da wusste ich, dass er wieder zu dir ins Bett schleicht. Aber ich hätte euch beide nie verraten. Selbst dann nicht, wenn wir gerade zerstritten waren. Schwestern müssen schließlich zusammenhalten, weil man zusammen viel mehr halten kann als alleine. Gerade, wenn man so viel zu tragen hat wie du, ist das wichtig.

 

Ich hoffe, du bist nicht zu schlimm traurig, weil du im Krankenhaus wohnen musst. An deiner Stelle wäre ich bestimmt lieber woanders. Damals, als ich mir den Finger gebrochen hatte, war ich froh, dass ich nur kurz bleiben musste, ohne Übernachten und so.

Ist es denn wenigstens schön in deinem Krankenhaus? Und sind alle Menschen nett zu dir? Hast du eigentlich ein Einzelzimmer? Und was machst du, wenn dir langweilig wird? Hast du schon viele neue Freunde gefunden? Sind da viele Mädchen in deinem Alter?

Wenn es nur alte Menschen gäbe, wäre das ja ziemlich blöd für dich, weil du dann niemanden zum Spielen hättest.

 

Ich habe Mama und Papa gefragt, ob wir dich bald besuchen können, aber Mama hat gesagt, ich muss mich noch ein bisschen gedulden. Das finde ich anstrengend. Geduldig sein, meine ich. Aber damit du in Ruhe gesund werden kannst, bin ich gerne ein bisschen geduldig. Und wenn du wieder zu Hause bist, können wir ja zusammen in den Tierpark gehen, dann zeige ich dir die kleine Ziege. Weißt du, die ist noch richtig winzig, und sie hat einen schwarzen Fleck auf der Nase, das sieht lustig aus.

 

Vielleicht träume ich heute Nacht von dir, das sind immer meine Lieblingsträume. Und morgen früh bringe ich gleich den Brief zum Briefkasten, dann ist er schon ganz bald bei dir!

Träumst du eigentlich auch manchmal von mir? Das wäre schön. Und vielleicht träumen wir ja hin und wieder gleichzeitig voneinander, das wäre etwas ganz Besonderes.

 

Schlaf gut, April,

deine Phoebe

 

P.S.: Hast du schon gesehen, dass ich dir ein Himbeerbonbon mit in den Brief getan habe? Das sind jetzt meine Lieblingsbonbons, immer nur Zitrone ist mir zu langweilig geworden. Ich weiß ja, dass du noch krank bist, und deshalb kannst du das Bonbon wahrscheinlich gar nicht essen, aber ich wollte dir gerne eins abgeben. Vielleicht freust du dich ja darüber. Du kannst es auch einfach aufheben, wenn du das lieber willst – es hält sich ganz lange.

 

 

 

Liebe April,

 

der Sommer ist ganz schön heiß, obwohl eigentlich schon fast Herbst ist. Aber das brauche ich dir wahrscheinlich nicht zu schreiben, denn du hast ja schließlich die gleiche Luft um dich herum. Und weil wir Schwestern sind, fühlen wir ähnlich, auch wenn es um die Temperatur geht.

Ich hatte heute nach der dritten Stunde hitzefrei. Der Rektor hatte keine Lust mehr auf Schule und wollte lieber etwas anderes machen, am liebsten mit meiner Biolehrerin. In die ist er nämlich verliebt, und zwar schon ganz lange. Das weiß ich, weil er sie immer so anguckt. Und alle anderen in der Schule wissen das auch. Nur er weiß nicht, dass es alle wissen. Sonst würde er bestimmt sehr rot im Gesicht werden.

Jedenfalls hat er uns hitzefrei gegeben, damit er zum See gehen kann. Da ist meine Biolehrerin oft, wenn es so heiß ist. Und der Rektor natürlich auch! Er legt sein Handtuch immer ganz nah an ihres.

 

Ich war heute nicht am See, stattdessen bin ich mit Paula Inlineskates gefahren. Wir sind beide dreimal hingefallen. Ich bin etwas schlimmer gestürzt als sie, und jetzt ist mein Arm am Ellenbogen aufgeschürft. Das sieht cool aus.

Wenn ich die Verletzung morgen in der Schule zeige, ist Devon garantiert beeindruckt. Er hat nämlich auch immer Kratzer, weil er ständig irgendwo dagegenrennt oder von irgendetwas herunterfällt.

Einmal ist er sogar aus dem Klassenzimmerfenster gefallen! Zum Glück ist das im Erdgeschoss. Aber Frau Neumann, unsere Klassenlehrerin, war trotzdem schrecklich aufgeregt. Also, zuerst war sie aufgeregt. Dann war sie erleichtert. Und ganz zum Schluss war sie wütend und hat gesagt, wir sollten vielleicht ab und zu mal nachdenken, bevor wir einfach irgendetwas tun.

Und weißt du, was Devon da geantwortet hat? Sein Vater hätte gesagt, dass es schon ziemlich beeindruckend ist, dass Menschen in der heutigen Zeit überhaupt noch denken, ob sie das nun vorher machen oder nachher, wäre da ja wohl nicht so relevant.

Frau Neumann hat daraufhin gesagt, dass Devons Vater vielleicht zu klug für diese Welt ist.

Das fand Devon gut.

Und dann hat Jenny sich gemeldet und wollte wissen, was relevant eigentlich bedeutet. Da hat Frau Neumann sich an die Tafel gestellt und es uns bis zum Ende der Stunde in mehreren Beispielsätzen erklärt.

Jetzt benutzen alle aus meiner Klasse das Wort so oft, dass Frau Neumann uns gar nicht mehr unterrichten will. Aber sie muss ja, weil sie unsere Klassenlehrerin ist. Und ich glaube, sie hat das auch nur zum Spaß gesagt, denn eigentlich mag sie uns alle sehr gerne. Das sieht man in ihren Augen, wenn wir mal einen Tag lang nicht so anstrengend sind, gut mitarbeiten und kluge Sachen sagen, dann lächelt sie nämlich und freut sich, weil sie uns etwas mitgeben kann, auf den Weg zum Großwerden.

Guck mal, jetzt habe ich fast eine Seite über die Schule geschrieben! Wenn das die Neumann wüsste, dann würde ich bestimmt eine Eins auf dem Zeugnis bekommen. Vielleicht erzähle ich es ihr morgen. Aber im nächsten Brief schreibe ich dir etwas Spannenderes, versprochen! Ich weiß noch nicht was, aber ich überlege mir etwas Gutes. Und du liest ja gerne, also kann ich auch ganz viel schreiben, ohne dass du dich langweilst.

 

Darf ich eigentlich in dein Zimmer gehen und mir Bücher von dir ausleihen? Mama hat gesagt, ich darf, aber es ist ja schließlich dein Zimmer, also wollte ich dich auch fragen, bevor ich mir einfach eines nehme. Die meisten deiner Bücher verstehe ich sowieso noch nicht richtig, und eigentlich möchte ich auch nur irgendein Buch von dir in meinem Bett haben, damit ich nicht so alleine bin.

 

Werde schnell wieder gesund, okay, April? Denn wir vermissen dich alle sehr. Nicht nur Mama, Papa, Paula und ich, sondern auch deine Klasse und sogar die Lehrer. Sie haben alle zusammen eine ganz große Karte für dich gemacht und dann in unterschiedlichen Farben unterschrieben.

Mama hat die Karte in einen DIN-A4-Umschlag gesteckt, und da kommt jetzt auch mein Brief mit rein, damit er nicht alleine auf die Reise zu dir gehen muss.

 

Bis bald, meine liebe Schwester,

ich umarme dich so fest ich kann!

 

Deine Phoebe

 

 

 

Liebe April,

 

es ist schwer, einen Anfang für diesen Brief zu finden, weil ich ja versprochen habe, dass ich dir diesmal etwas Spannendes schreibe … und jetzt fällt mir einfach nichts ein.

Außerdem findest du vielleicht sowieso alle meine Briefe doof? Ich meine, weil du nie antwortest. Wie soll ich denn da wissen, ob du dich über meine Worte freust? Manchmal habe ich Angst, dass ich dich ganz furchtbar nerve. Aber du musst die Briefe ja nicht aufmachen, wenn du sie nicht magst. Oder du kannst sie an ein anderes Mädchen weitergeben, das keine kleine Schwester hat. Die würde sich vielleicht darüber freuen.

Aber na ja. Es kann ja auch sein, dass ich mir die ganze Zeit unnötig Gedanken mache und du dich riesig über meine Worte freust. Wir sind schließlich ein bisschen Freundinnen, nicht wahr? Also nicht so wie Paula und ich Freundinnen sind, oder wie du und River. Aber halt Schwesternfreundinnen. Und das ist ganz viel wert.

Brüder sind nicht so. Devon und seine Brüder hauen sich ständig und sagen schlimme Sachen zueinander. So etwas würden wir nie machen, oder?

Paula hat einmal zu mir gesagt, dass sie auch gerne so eine große Schwester wie dich hätte. Das kann ich gut verstehen.

Ach ja, und Papa hat heute gesagt, er hätte gerne einen kleinen Sohn, der mit ihm Fußball spielen würde. Da habe ich Papa an die Hand genommen und den Ball von unseren Nachbarn aus dem Garten geklaut (nicht richtig geklaut – denn ich habe ihn später ja wieder zurückgebracht). Anschließend bin ich mit Papa in den Park gegangen, und wir haben so lange hin und her geschossen, bis es dunkel geworden ist und ich über den Ball gestolpert bin, weil ich ihn kaum noch sehen konnte.

»Danke, Phoebe«, hat Papa gesagt. »Ich glaube, ich brauche doch keinen Sohn.«

Dann hat er mich auf seine starken Arme gehoben und den Ball auch und hat uns beide nach Hause getragen, die ganze lange Strecke, obwohl das bestimmt nicht leicht für ihn war.

 

Erinnerst du dich noch, früher, da waren wir auch manchmal zusammen im Park. Ich meine nicht den Park mit dem komischen Brunnen, sondern den mit dem Abenteuerspielplatz, wo auch die Indianerholzpfähle stehen.

Als ich ganz klein war, da sind wir immer um die Indianerpfähle herumgerannt, bis uns schwindlig war und ich Seitenstechen bekommen habe. Mittlerweile weiß ich, dass du das nur für mich gemacht hast, denn du warst eigentlich schon viel zu groß dafür.

Heute ging es mir wie dir damals, weil ich nur für Papa Fußball gespielt habe, obwohl ich das gar nicht so toll finde. Aber das machen schließlich alle Menschen für diejenigen, die sie lieb haben, oder?

Mama tut das ja auch: Sie spielt manchmal Karten mit mir, obwohl sie Mau-Mau überhaupt nicht mag, und obwohl sie jedes Mal verliert; außerdem kauft sie für Tante Magda Lebensmittel ein, obwohl sie nicht gerne in den Supermarkt geht.

Und Paula holt mich jedes Mal von der Klavierstunde ab, obwohl sie Angst vor der Straße hat, weil da Greg wohnt. Weißt du, Greg ist der blöde Junge aus unserer Klasse, von dem ich dir erzählt habe. Und während Paula vor der Klavierschule auf mich wartet, kommt Greg manchmal vorbei und sagt gemeine Sachen zu ihr. Paula hält sich dann die Ohren zu, und einmal hat sie sogar geweint, als ich mit der Notenmappe aus dem Gebäude gekommen bin.

Aber trotzdem ist Paula jeden Mittwoch und Freitag ganz pünktlich da und wartet auf mich, auch wenn es regnet und schneit – sogar wenn ihr Cousin aus Frankreich zu Besuch ist, und der hat blonde Locken!

Paula ist immer da.

Weil wir beste Freundinnen sind.

 

Deine beste Freundin River ist übrigens manchmal bei uns. Sie kommt her, obwohl du gar nicht hier bist, weil sie dich so furchtbar vermisst. Und sie will dich auch sofort besuchen, sobald das geht. River erzählt immer von der Schule. Mama hört zu und guckt ganz unglücklich, wahrscheinlich weil sie nicht will, dass du so viel verpasst.

Also nicht wegen dem Lernstoff. Denn du bist ja schlau und sowieso immer die Beste, da kannst du ruhig eine Klasse überspringen, das hat sogar dein Klassenlehrer gesagt, er war extra hier deswegen und hat Formulare mitgebracht und Übungen für dich. Nein, es sind nicht die Schulsachen – Mama ist traurig, weil sie Angst hat, dass du die anderen Sachen verpasst: das Glück und die Sonne und deine Freunde und den Wandertag und hitzefrei und vielleicht auch die blöden Kontrolltermine beim Zahnarzt.

Na ja. Dafür haben wir beide wenigstens keine Löcher in den Zähnen.

Paula hat drei!

Wenn River hier ist, kocht Mama immer Kakao und holt die blaue Keksdose aus dem Schrank. Wir sitzen dann zu dritt im Wohnzimmer, und River ist sehr nett zu mir, obwohl ich euch früher manchmal genervt habe, wenn ich ohne anzuklopfen in dein Zimmer gestürmt bin.

 

O je, sieh nur, April, jetzt habe ich schon wieder nichts Spannendes geschrieben! Aber egal, ich bin ja keine Schriftstellerin, und ich will auch nie eine werden. Das ist mir zu blöd, immer nur nachzudenken über Wörter. Weißt du, ich rede lieber den ganzen Tag.

Papa hat heute vorgeschlagen, dass ich doch einmal ausprobieren soll, jeden Tag fünf Minuten lang den Mund zu halten, nur um zu hören, was andere so zu sagen haben. Da habe ich zu Papa gesagt, dass er seine Worte etwas sorgfältiger wählen muss, weil ich eine Tochter bin und kein Sohn, obwohl wir mittlerweile manchmal in den Park gehen zum Fußballspielen, und dass Töchter nun mal sensibler sind als Söhne. Denen kann man vielleicht sagen, dass sie den Mund halten sollen, ohne dass sie das stört, aber ich fühle mich zum Weinen, wenn er sagt, dass ich still sein soll, obwohl ich doch so viel zu sagen habe, und keine Schwester mehr da ist, der ich alles, alles erzählen kann.

Papa hat sich entschuldigt. Er hat mich sogar einmal durch die Luft gewirbelt und ist dabei fast über Fork gestolpert. Und dann meinte er, dass ich eigentlich recht habe, und dass ich ruhig weiterhin ohne Unterlass reden soll, denn wenn ich plötzlich damit aufhören würde, müsste er sich schreckliche Sorgen machen. Weil er dann gleich zwei Töchter hätte, die nicht mehr mit ihm reden.

Aber keine Angst, April, Papa ist nicht dumm. Er ist sogar ziemlich klug, sonst hätte er ja nicht den Chefjob. Und deshalb weiß Papa auch, dass du es nicht böse meinst, wenn du nicht mehr mit ihm und Mama redest. Dafür hast du ja manchmal etwas zu mir gesagt. In letzter Zeit zwar immer weniger, aber wir haben uns auch ohne Worte verstanden.

 

Ach, April. Ich vermisse dich so sehr. Und bis du wieder gesund bist, nehme ich alle deine Worte und sage sie für dich. Nur wenn du magst natürlich. Jedenfalls sind sie bei mir gut aufgehoben.

 

Bis bald,

deine Phoebe

 

 

 

Liebe April,

 

plötzlich ging es ganz schnell, und auf einen Schlag war der Sommer vorbei. Es ist nicht einmal zwei Wochen her, da war ich noch mit Paula und Fork am Wannsee und wir haben alle zusammen gebadet. Anschließend haben wir ein Picknick gemacht, mit Würstchen und Ketchup und Kartoffelsalat und Süßigkeiten und Gurken und Paprika und Brötchen und Limonade. Bevor wir losgegangen sind, hatte Mama noch gesagt, dass wir nicht alles durcheinanderessen sollten. Aber das haben wir leider vergessen, und es ist uns erst hinterher wieder eingefallen. Da war es schon zu spät, weil nur ein paar Gurkenscheiben übrig geblieben sind. An diesem Tag war es übrigens so warm, dass auch die Limonade warm geworden ist, das war ziemlich scheußlich!

Aber heute ist schon Herbst. Die Blätter verfärben sich so schnell, dass man unter dem Baum stehen und zugucken kann. Das hat Papa jedenfalls gesagt.

Ich bin raus in den Garten gegangen und habe es ausprobiert, aber bei mir hat es nicht funktioniert. Vielleicht hat Papa bessere Augen als ich, oder mit meinen stimmt etwas nicht. Oder er hat einfach nur übertrieben. Erwachsene übertreiben ja ständig. Und sie sagen Sätze, die keiner hören will. Vor allem Politiker und Menschen von der Stromgesellschaft und die mit den Versicherungen.

 

Ich will später einmal ein guter Erwachsener sein, weißt du. Und wenn ich irgendwo auf der Straße ein Kind sehe, das verloren herumsteht, dann werde ich nicht einfach vorbeigehen und so tun, als würde ich es nicht sehen. Das ist nämlich Hazel einmal passiert. Sie hat es in der Schule erzählt. Und das war ganz schön gruselig.

Soll ich es dir weitererzählen? Ja?

Also: Hazel war in den Sommerferien in England. Direkt um die Ecke von ihrem Hotel gab es einen Spielplatz, dort ist Hazel immer mit ihrer Mama hingegangen. Aber einmal hatte ihre Mama keine Lust mehr auf Spielplatz und ging schon einmal vor in Richtung Hotel. Sie sagte, dass Hazel in einer Stunde nachkommen soll. Aber während der Stunde hatte Hazel auf einmal vergessen, in welcher Straße das Hotel war. Blöderweise konnte sie kaum Englisch, und alle Erwachsenen, die sie fragte, schüttelten nur den Kopf und waren viel zu gestresst vom Leben, um Hazel zu helfen. Und weißt du, was sie dann gemacht hat? Sie hat sich mitten auf den Platz gestellt und angefangen zu weinen.

Aber es sind trotzdem einfach alle weiter vorbeigelaufen. Und Hazel dachte schon, sie würde ihre Mama und ihren Papa nie wiedersehen und müsste Engländerin werden.

Dann ist zum Glück ein junges Mädchen vorbeigekommen, das war noch gar nicht erwachsen, sondern so alt wie du – sechzehn. Und das Mädchen hat sich zu Hazel auf den Boden gekniet und sie gefragt, ob sie Hilfe braucht. Da hat Hazel genickt und den Namen von dem Hotel gesagt, und das Mädchen hat gelächelt und sie an die Hand genommen und Hazel bis zu ihrer Mama gebracht.

Das Ganze hat fünf Minuten gedauert! Wenn es nur fünf Minuten dauert, um einem Kind zu helfen, damit es nicht für immer in England verlorengeht, dann sollte doch jeder Mensch fünf Minuten von seiner Zeit übrig haben, um ein bisschen Achtsamkeit zu verschenken.

Dazu haben wir doch Augen, oder? Um hinzugucken, wenn da etwas ist, das gesehen werden muss.

Und Kinder darf man nicht einfach übersehen.

Sonst werden sie nicht groß.

Oder sie werden groß und unglücklich, und dann müssen sie zum Psychologen. So wie Tante Magda. Die nimmt sogar Tabletten gegen das Unglück in ihrem Kopf, hast du das gewusst? Der Arzt hat sie ihr verschrieben. Ich glaube aber nicht, dass es funktioniert. Denn Tante Magda ist noch gar nicht glücklicher geworden, obwohl sie die ganzen Pillen schluckt. Und sie häkelt immer noch diese hässlichen Topflappen, dabei hat sie schon ein ganzes Zimmer voll davon.

 

Du hättest Hazel bestimmt auch geholfen. Du hättest das englische Mädchen sein können. Denn du bist kein Mensch, der einfach weitergeht.

Das weiß ich ganz genau, weil wir schon immer Schwestern sind. Seit ich lebe.

 

Komm gut durch die Zeit.

Auch wenn sie weh tut.

Deine Phoebe

 

 

 

Liebe April,

 

heute schreibe ich mit dem Computer. Weil ich gelernt habe, wie man den Drucker benutzt. Es ist ganz einfach, man muss nur auf das Zeichen oben auf der Leiste drücken und dann noch bestätigen, auf so einem Feld, das plötzlich aufgeht, und schon kann man losdrucken.

Ach ja, vorher muss man natürlich noch den Drucker anschalten. Papa hat gesagt, Mama würde das immer vergessen, und dann würde sie ihn im Büro anrufen und fragen, warum der Drucker kaputt ist.

Da hat er recht, das habe ich auch schon mitbekommen. Sie wird ganz hektisch, wenn das mit dem Ausdrucken nicht funktioniert, und schnauzt Papa gleich zur Begrüßung an, wenn er den Hörer abnimmt.

Papa sagt dann immer ganz ruhig: »Schatz, wenn du den Stecker in die Steckdose steckst und auf den Startknopf drückst, dann wird der Drucker bestimmt ganz hervorragend seine Bestimmung erfüllen und dir jede Seite ausdrucken, die du möchtest.«

Und Mama schnaubt dann ins Telefon: »Schatz, wenn du nicht ständig den Stecker aus der Steckdose ziehen würdest, dann würde ich nicht vergebens auf dem Startknopf herumdrücken und müsste jetzt nicht unter dem Schreibtisch in einem Wirrwarr von Kabeln herumkriechen!«

Die beiden sind manchmal komisch. Wie Eltern halt so sind.

Vor allem in letzter Zeit, da schweigen sie sich manchmal an oder streiten wegen Sachen, die gar nicht wichtig sind.

Mama weint auch viel. Neulich kam sie von der Arbeit nach Hause und hat erzählt, dass eines der Pflegekinder, auf das sie aufpasst, gelernt hat, wie man teilt.

Ich habe das zuerst nicht kapiert. Denn Teilen ist ja nicht schwer und außerdem macht es Spaß, weil man viel mehr von etwas hat, wenn man jemand anderem etwas davon abgeben kann. Der andere freut sich dann nämlich auch, und wenn man sich zu zweit freut, ist die Zeit immer schöner als alleine.

Aber dann hat Mama mir erklärt, dass Karin erst sechs Jahre alt war, als ihre Mama gestorben ist, und dass Karin nie einen Papa hatte und von ihrer Mama auch nie gut behandelt worden ist, weil die Drogen genommen hat. Und wenn man Drogen nimmt, dann kann man keine so gute Mutter sein, auch wenn man es versucht. Weil die Drogen irgendwann mehr Aufmerksamkeit brauchen als ein Kind, und dann muss man sich entscheiden. Und viele von den Drogen-Mamas entscheiden sich falsch. So wie Karins Mama.

Jedenfalls ist Karin dann in eine Pflegefamilie gekommen, und da ist sie nun seit vier Jahren. Vor einem halben Jahr hat sie noch einen Pflegebruder bekommen, der hat auch so eine unglückliche Geschichte wie Karin. Am Anfang haben die beiden sich nur gestritten, weil sie Angst hatten, dass auf der Welt nicht genug Platz für sie beide ist.

Dabei ist die Welt doch so groß.

Da können wir alle einen Platz finden.

Und Karin wollte Gevin nie etwas abgeben, weil sie doch so wenig hatte im Leben. Sie hat immer geschrien, wenn er sich etwas ausleihen wollte. Und dann ist Gevin weggerannt, weil er Angst bekommt, wenn Menschen schreien. Sein Papa und seine Mama haben nämlich ganz fürchterlich geschrien, bei dem Autounfall, bei dem sie ums Leben gekommen sind. Nur Gevin hat damals nicht geschrien. Der war unter Schock und hat zugeguckt, wie sie in dem Auto verbrannt sind. Bis ein Feuerwehrmann ihn hochgehoben und weggetragen hat.

Das ist so traurig, oder? Ich muss weinen, während ich das schreibe. Ich fürchte, Gevin wird für immer ganz schreckliche Angst vor Autos und schreienden Menschen haben. Und zu einem Lagerfeuer wird er auch nie gehen können.

Aber Karin kann jetzt immerhin ein bisschen teilen.

Mama arbeitet mittlerweile seit über einem Jahr mit ihr. Und letzte Woche, da hat Karin Gevin ihren Federballschläger ausgeliehen, damit Gevin mit seinem Freund spielen kann. Zuerst wollte sie nicht, aber Gevin hat ganz lieb gefragt und gesagt: »Bitte, Karin, bitte! Wir spielen auch hier direkt bei dir, wo du uns sehen kannst. Und wir machen ihn nicht kaputt. Bitte, Karin. Wir sind doch jetzt Geschwister, und wir werden zusammen aufwachsen, oder? Ich spiele so gerne Federball. Weißt du, mein Papa hat immer mit mir gespielt. Damals. Ach, bitte, Karin, bitte!«

Da hat Karin Mama angeguckt, und Mama hat Karin angeguckt und das hat ziemlich lange gedauert. Und dann hat Karin ganz leise »okay« gesagt. Und so konnte Gevin mit seinem Freund Federball spielen, während Karin mit Mama auf der Decke gesessen und zugesehen hat.

Mama hat ihren Arm um Karin gelegt und sie an sich gedrückt, weil Mama weiß, dass Kinder so etwas brauchen. Und auf einmal hat Karin gesagt: »Das ist so schön! Guck mal, ich habe gerade meinen Federballschläger verliehen! Dabei kann ich doch sonst nicht einmal ein Gummibärchen abgeben! Hast du das gesehen?«

Da hat Mama Karin noch fester umarmt, und Gevin hat gelacht und Karin zugewunken, als wären sie eine richtige Familie.

Und als Mama davon erzählt hat, da hat sie plötzlich geblinzelt, und dann ist eine Träne über ihre Wange gekugelt, und dann noch eine, und noch eine. Bis ihre ganze Bluse nass war.

Ich bin aufgestanden und habe ihr ein Taschentuch geholt. Das hat allerdings nicht gereicht. Also habe ich gleich die ganze Packung geholt.

 

So ist Mama, seit du nicht mehr hier bist. Manchmal steht sie in der Küche und fängt an zu kochen, und auf einmal macht sie die Herdplatte aus, hört auf, das Gemüse zu zerschneiden, legt das Messer beiseite und zieht die rote Schürze aus.

Dann setzt sie sich einfach an den Küchentisch und guckt aus dem Fenster. Ganz lange. Auch wenn es draußen nichts zu sehen gibt, außer vielleicht Fork, der den Garten verwüstet, wie immer.

Einmal habe ich mich zu ihr gesetzt, weil ich dachte, dann würde es ihr vielleicht bessergehen.

»Mama«, habe ich gesagt.

Aber sie hat mich gar nicht gehört. Sie hat nur weiter aus dem Fenster geguckt, bis es dunkel geworden ist und Papa nach Hause gekommen ist. Der hatte Hunger. Und da musste Mama weiterkochen, weil sie Papa lieb hat und nicht wollte, dass er hungrig ins Bett gehen muss.

Papa kann ja nicht selbst kochen. Außer Tütensuppe und Tiefkühlpizza. Und manchmal brennt ihm sogar die Pizza an, obwohl da eine Anleitung auf der Packung steht. Dann schmeißt er sie weg und ruft den Lieferservice an und bestellt sich eine neue.

 

Wir brauchen dich hier, April, ohne dich ist es nicht wie früher. Und auch wenn es nie wieder so werden kann, wie es einmal war, auch wenn sich alles für immer verändert – du musst doch hier sein.

Hier bei uns.

Wo du hingehörst.

 

Deine Phoebe

 

 

 

Liebe April,

 

jetzt bin ich ganz traurig, weil du schon fünf Wochen lang weg bist. Das ist mehr als ein Monat. Und ich darf dich immer noch nicht besuchen.

Gestern habe ich ein bisschen geweint deswegen, aber das hat auch nicht geholfen; anschließend ging es mir nur noch schlechter, weil Mama dann auch traurig war.

Ich verstehe das alles nicht.

Warum dauert es nur so lange?

 

Manchmal habe ich Angst, dass du gar nicht mehr wiederkommst, dabei weiß ich doch, dass du erst richtig gesund werden musst, bevor du wieder bei uns sein darfst.

Aber weißt du was? Ich habe gar keine Lust mehr, geduldig zu sein. Das ist so anstrengend. Mama sagt immer, dass ich ein großes, starkes Mädchen sein muss, aber das ist auch anstrengend. Außerdem bin ich nicht groß. Und ich vermisse dich so sehr.

Bitte, werde bald gesund, April!

Ich halte es nicht mehr aus ohne dich.

Und wenn du wieder da bist, dann brauchen wir auch nie wieder zu streiten, und ich ziehe nie mehr deine Sachen an, ohne vorher zu fragen, versprochen! Ich nehme dir nie wieder deinen Radiergummi weg und lasse ihn irgendwo liegen, wo ihn keiner mehr findet. Und am Wochenende komme ich auch nie mehr vor zehn Uhr in dein Zimmer! Ich wecke dich nicht einmal, wenn ich Bauchschmerzen habe. Oder verliebt bin. Oder Verstecken spielen will! Und ich renne auch nicht mehr so laut durch den Flur, dass die Wände wackeln.

Du kannst sogar Fork zurückhaben, wenn du nur wieder kommst! Er ist ja eigentlich dein Hund, und ich weiß, dass du manchmal sauer warst, weil ich immer mit ihm gespielt habe und weil Mama zu dir gesagt hat, dass du Rücksicht auf mich nehmen sollst, weil ich doch viel kleiner bin als du. Liebe April, das war alles gar nicht böse gemeint, bitte glaube mir. Und ab jetzt musst du auch nicht mehr auf mich zurück sichten. Sagt man das so? Rücksicht nehmen ist eine schöne Wortzusammensetzung. Weil es klingt, als würde man sich umdrehen, jemanden sichten und dann zurückgehen, um für ihn da zu sein.

Ich werde immer für dich zurückgucken. Und auch nach vorne und zur Seite. Überallhin wo du gerade bist! Und ich werde dich immer sichten, selbst wenn Tausende von Menschen um dich herumstehen und einige davon dir ganz ähnlich sehen. Ja. Sogar wenn du dich verkleidet hast. So wie letztes Jahr an Halloween, da habe ich auch gleich gewusst, welche von den Hexen du bist.

 

Meine liebe, liebe April – wenn du nur bald gesund wirst und endlich wieder bei uns bist. Ohne dich sind wir nämlich nicht ganz.

Wir sind ein halber Fork.

Eine halbe Mama.

Ein halber Papa.

Und nur noch ein ganz kleines Stück ich.

Ohne dich bin ich nämlich nicht einmal halb.

 

Du bist mehr, als ich schreiben könnte, denn in Deutsch habe ich nur eine Drei. Vielleicht könnte Paula mir helfen, die hat in Deutsch eine Eins und macht nie Fehler beim Kommasetzen. Ich glaube, Paula könnte auch mit geschlossenen Augen Kommas über einem Blatt Papier verteilen, und sie wären trotzdem alle an der richtigen Stelle.

Ich mache die Kommas immer da, wo ich Atempausen mache. Das fühlt sich literarisch an. Papa hat mir erklärt, was literarisch beutet: Das ist das Gefühl im Kopf, wenn man einen guten Satz liest und sich anschließend klüger fühlt als vorher, obwohl man das Gelesene eigentlich schon wusste. Aber Frau Neumann streicht immer mit einem roten Stift in meinen Sätzen herum, macht Fragezeichen und kritzelt Worte wie: Textzusammenhang?? Bezug!? an den Rand. Manchmal frage ich mich wirklich, wie sie Deutschlehrerin werden konnte, wenn sie nicht einmal meine Worte versteht. Die sind doch ganz einfach! Ich bin ja nicht Goethe.

Wenn Frau Neumann mir meine Aufsätze zurückgibt, dann sehen die überhaupt nicht mehr literarisch aus, und Mama fragt solche Sachen wie: »Phoebe!? Warum machst du denn an dieser Stelle ein Komma? Das ist doch total unlogisch!«

»Mama«, sage ich dann immer. »Sei froh, dass ich atme! Und solange ich atme, werden da irgendwo Kommas in meinen Sätzen stehen. Siehst du, sie sind sogar gleichmäßig verteilt!«

Aber das versteht Mama nicht.

Sie schreibt ja auch keine Aufsätze mehr, und sie muss auch nicht mehr zur Schule gehen.

Papa schreibt viel. Doch nur am Computer. Wenn ich in sein Zimmer komme und er gerade am Tippen ist, dann kann ich alles sagen, was ich will – er hört mir eh nicht zu. Sogar ungezogene Wörter kann ich sagen. Und fluchen.

Papa brummt dann nur: »Hm. Ja. Phoebe. Hm. Ja. Ja. Hm. Phoebe. Ja.«

Er hatte in Deutsch bestimmt auch nur eine Drei.

 

Machst du eigentlich Schulsachen in der Klinik? Oder ist das eher wie Urlaub? Gibt es einen Spielplatz und eine Sauna und einen Tennisplatz und sogar ein Schwimmbad? Sind da auch kleinere Kinder? Und Mädchen wie ich? Hast du vielleicht eine Ersatzschwester auf Zeit? Das fände ich gar nicht schlimm, obwohl ich, um ehrlich zu sein, schon etwas eifersüchtig wäre.

Aber ich habe ja auch River. Die kommt immer noch ab und zu vorbei, und ich glaube, vor allem für Mama ist das gut. Denn Mama ist es ja gewohnt, dass River ständig zu Besuch bei dir ist. Und was noch viel trauriger ist: Mama ist es auch gewohnt, zwei Töchter im Haus zu haben. Jetzt hat sie aber nur noch eine, und das bin ich, und ich bin nicht wie du, sondern viel lauter und viel anstrengender.

Und meine Freundin Paula ist ein Wirbelsturm.

Kein Frühlingswind.

Wie du.

 

Gestern hat River sogar eine Schachtel Pralinen für Mama mitgebracht. Ich durfte auch welche abhaben, aber nur die ohne Alkohol, damit mir nicht schlecht wird oder schwindlig. Vielleicht hätte ich ja auch angefangen zu grölen und merkwürdige Lieder zu singen. So wie Onkel Frank.

Warst du eigentlich schon einmal betrunken? So richtig?

Ich hoffe nicht. Weil das ja ziemlich gefährlich sein kann. Wenn man die Kontrolle verliert und umkippt. Dann fährt vielleicht ein Auto über einen drüber. Oder man muss kotzen. Und dann geht es einem ganz fürchterlich.

Devons Papa war früher Alkoholiker. Aber jetzt ist er in einem Programm, da haben sich alle lieb und hören sich zu und geben sich gute Ratschläge, wie man um die Bierflaschen herumkommt.

Devon hat gesagt, dass sein Papa sich endlich wieder rasieren würde, und einen neuen Job hat er auch! Beim letzten Klassenfest habe ich sogar gehört, wie Devons Vater Komplimente an Devons Mama gemacht hat. Ganz schüchtern hat er die Komplimente geflüstert, in einem Moment, in dem er dachte, dass ihn keiner außer Devons Mama hören kann – aber ich saß gerade unter dem Tisch, weil wir Verstecken gespielt haben, und deshalb habe ich jeden Satz gehört.

Es waren Worte, die man sich am Anfang sagt, wenn man noch ganz frisch verliebt ist, und wenn es darum geht, ein Herz warm zu machen, so dass es aufgeht. Damit man einen Platz dort drinnen bekommt, für später, wenn man zusammen in einem Haus lebt.

Vielleicht so wie bei unserer Familie.

Mit einem Hund.

Und mit zwei Kindern.

 

Jetzt werde ich schon wieder traurig.

Verstehst du: Zwei! Eine Familie mit zwei Kindern.

Ich bin kein Einzelkind. Ich bin eine Tochter von zwei Töchtern.

Und deshalb kann ich nicht ohne dich hier aufwachsen, das fühlt sich falsch an. Und Mama und Papa, die brauchen auch zwei Kinder im Haus. Weil Mama immer zu viel kocht und Papa immer zwei Geschenke mit nach Hause bringt, wenn er irgendwo etwas sieht, das uns gefallen könnte.

 

Ach, April. Diese Zeit ist ein Rasensprenger im Schnee. Es ist erst Herbst, ich weiß, und bis zum Winter bist du bestimmt wieder hier. Aber ich fühle mich, als würde der Regen um mich herum erfrieren und auf mich herabhageln, bis wir beide für immer verschwinden.

So wird es nicht sein, denn es gibt Regenschirme.

Aber Angst habe ich doch, wegen all der Löcher auf dieser Welt.

Und es gibt so viele Dinge, die ich dich fragen möchte, einfach nur, weil ich deine Stimme vermisse und deinen schönen Verstand.

Ist dein Herz eigentlich schon erobert?

Von einem Jungen, meine ich?

Das hat Paula mich gefragt, weil sie gerne solche Fragen stellt. Sie redet viel von Liebe und von Küssen und manchmal sogar von Lippenstift, dabei sind wir doch noch viel zu klein für solches Zeug! Aber das kommt alles von ihrer Mama. Die spielt nämlich manchmal komische Rollen im Fernsehen, und Paula guckt sich das heimlich an, weil sie gerne ihre Mama im Fernsehen sieht. Und dann benutzt Paula den Schminkkoffer von ihrer Mama und malt sich an wie ein buntes Gespenst!

Ich will noch warten, bevor ich mich verliebe. Ich will es so machen wie Mama: Ich warte, bis ein kluger Mann vorbeikommt, am besten so einer wie Papa, der immer schöne Krawatten trägt und viele Dinge kann. Es wäre auch gut, wenn er braune Haare hätte, weil ich braune Haare mag. Und er sollte Sachen sagen, über die ich lachen kann, bis mein Bauch sich wie Zuckerwatte anfühlt. Vielleicht hätte er ja sogar einen Hund, und wenn ich selbst auch einen Hund hätte, dann hätten wir zusammen zwei.

Wie auch immer.

Ich will auf jeden Fall warten, bis ich sicher bin.

Dann bin ich genau richtig alt zum Heiraten.

Weißt du, ich will es nämlich nicht so machen wie Tante Magda. Die hat nur geheiratet wegen dem Geld. Und jetzt ist sie unglücklich. Sagt Mama jedenfalls. Doch ich glaube, sie war auch vorher schon unglücklich.

Papa hat sogar gesagt: »Tante Magda wird immer unglücklich sein!«

Das wollte Mama aber nicht hören. Also hat er es nie wieder gesagt. Daran merkt man, dass unsere Eltern sehr rücksichtig zueinander sind. Und Mama und Papa werden auch immer in Sichtweite voneinander bleiben und sich nicht den Rücken zukehren.

Weil sie so sind wie wir.

Mit viel Rücksicht im Herzen.

 

Siehst du April, wir haben Glück zu Hause. Hier ist ein Ort, an dem es schön ist, groß zu werden. Paula findet das auch, sie ist ganz oft hier. Fast jeden Tag. Und River würde auch nicht ständig zu Besuch kommen, wenn es doof bei uns wäre.

 

Komm bald zurück, okay?

 

Alles Liebe,

deine Phoebe

 

 

 

Liebe April,

 

das mit dem letzten Brief tut mir leid, ganz ehrlich, ich habe ein paar blöde Sachen geschrieben, obwohl ich doch weiß, dass du krank bist. Ich wollte dich nicht drängen, mir zu antworten, und ich wollte dich auch nicht drängen, wieder zurück nach Hause zu kommen!

Entschuldigung, April. Du kannst dir natürlich so viel Zeit zum Gesundwerden nehmen, wie du brauchst. Auch wenn es viele Wochen dauert. Ehrlich. Ich werde hier warten. Und wenn du zurückkommst, dann bin ich für dich da.