Splitterfasernackt - Lilly Lindner - E-Book

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Lilly Lindner

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Beschreibung

Lilly Lindner ist sechs, als der Nachbar beginnt, sie regelmäßig zu vergewaltigen. Er droht ihr mit dem Schlimmsten, falls sie etwas ihren Eltern erzählen sollte. Und so schweigt das kleine Mädchen. Schließlich zieht der Mann weg – doch Lillys Leben ist längst aus dem Lot. Mit 13 Jahren fängt sie an zu hungern – damit von ihrem geschundenen Körper möglichst wenig übrig bleibt. Doch die Schande macht sie damit nicht ungeschehen. Und so beschließt Lilly als junge Frau, ihren Körper, der ihr schon lange nicht mehr gehört, in einem Edel-Bordell zu verkaufen. Und ausgerechnet hier beginnt sie, ihre ungeheuerliche Geschichte aufzuschreiben – und verfasst ein beeindruckendes, provozierendes Buch von großer Sprachgewalt.

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Seitenzahl: 501

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Lilly Lindner

Splitterfasernackt

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Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Für jedes Wort [...]Davonkommen ist ein hässlich [...]PrologVORSPIEL1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelZWISCHENSPIEL1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. KapitelNACHSPIEL1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelEndspiel1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelHauptspielChase me home. [...]DanksagungNotiz
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Für jedes Wort

im letzten Winter

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Davonkommen ist ein hässlich verpacktes Geschenk.

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Prolog

Vielleicht arbeite ich ja nur deshalb in einem Bordell, weil Männer an einem Ort wie diesem für ihre Triebe bezahlen müssen und weil sie auf diesem Weg nicht einmal annähernd zu meinem Herzen durchdringen können. Sie sind nur ein flüchtiger Schwarm zirpender Wanderheuschrecken. Ein Rudel schwanzwedelnder Hunde.

Es gibt Männer, die stellen ihre Frau vor dem Baumarkt ab und sagen: »Schatzi-Mausi, ich gehe nur schnell ein paar Dübel kaufen … wartest du bitte kurz hier auf mich – im Baumarkt langweilst du dich ja sowieso bloß …« Und dann verlassen diese Männer den Baumarkt durch den Zugang um die Ecke und gehen auf einen Zehn-Minuten-Fick in ein Bordell. Für solche Notfälle haben Männer sogar immer eine ungeöffnete Packung Dübel oder Schrauben als Alibi in der Tasche.

Das ist die Welt, in der ich meine zu kurzen Röcke und mein gefälschtes Lächeln trage.

Warum sollte ich je wieder Sex haben, ohne dafür bezahlt zu werden? Aus Liebe? Nein danke. Nicht einmal mit Rückgaberecht. Das ist viel zu kompliziert. Und die Miete lässt sich davon auch nicht bezahlen.

Das habe ich nur so dahingeschrieben.

Eigentlich meine ich das Gegenteil.

Was kann schöner sein als der erste Kuss oder ein ehrlich gemeintes Lächeln. Was ist wertvoller als geschenkte Zeit und eine liebevolle Berührung.

Es gibt Augenblicke, in denen ich mich frage: »Wie konnte ich es nur wagen, meinen Körper gegen die Sucht, in fremde Arme zu fallen, einzutauschen? Und mit welchen Worten kann ich ihn wieder in Empfang nehmen, falls ich ihn eines Tages zurückbekommen sollte?«

Es ist ein Alptraum, dieses Spiel mit einem geschändeten Körper zu treiben.

Wenn ich Sex auf dem goldenen Himmelbett in Zimmer vier habe, starre ich verloren den orangegelben Leuchtschlauch an. Ich sehe Licht, denke ich mit meinen ausgebrannten Gehirnzellen und verharre regungslos im Nichts. Ich fühle einen Körper auf mir – gut, wenn er nicht verschwitzt und klebrig ist. Schlecht, wenn er es doch ist. Ich schlinge meine verzweifelten Arme um einen Kunden, wenn ich ihn mag. Ich lasse meine Arme schlaff auf dem Bettlaken verweilen, wenn ich ihn nicht mag. Ein unbedeutendes Stöhnen an meinem Ohr, eine Wange ganz dicht an meiner. Wenn ich meinen Gast nett finde, ist es okay, wenn nicht, bin ich woanders.

Den schlimmsten Sex im Leben kann man nur einmal haben.

Und ich habe ihn längst hinter mir. Damals …

Mit jedem Tag bin ich weiter weg davon.

Es sind meine Masken, die einen Teil von dem aufgewühlten Sturm in mir verraten: An leuchtenden Tagen bin ich die beste Liebhaberin, die man sich zu gönnen wagt; an dunklen Tagen bin ich die geilste Nutte, die man kaufen kann.

 

Meine Sätze sind unruhig. Zwischen den Zeilen wandern ungreifbare Gedanken hin und her. Ich versuche, ein paar Kommas zu verschieben, die hässlichen Wörter gegen schönere auszutauschen.

Aber ich bin zu müde. Ich kann nicht mehr.

Ich reiße Männer auf. Und Kondomverpackungen.

Ich reiße und reiße, und alles zerbricht.

Vielleicht sollte ich davonrennen und mich in einem nachtschwarzen Wald vor mir selbst verstecken. Dort könnte ich tagelang keinen Sex haben – ich würde vergessen, wie ein Schwanz schmeckt, ich würde aufhören, den kleinsten gemeinsamen Nenner von mir und mir und mir zu suchen. Es würde anfangen zu regnen. Und ich würde dort an einem wunderschönen verlassenen See sitzen, und der Regen würde leise flüsternd die Schande von meinem Körper tragen.

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VORSPIEL

1

Der erste Mann, mit dem ich Sex habe, riecht nach Alkohol und kaltem Zigarettenrauch. Seine Hände sind rauh und klebrig, seine Haare ungepflegt, und von seinem Atem wird mir zuerst schlecht, dann schwindlig.

Er wirft mich auf ein Sofa mit altmodischem Blumenmuster und hält mich mit seiner einen Hand fest, während die andere an seinem Gürtel herumfummelt. Ich weine. Ich sage irgendwelche bittenden Worte, ich stammle zusammenhanglose Sätze, ich flehe ihn an, ich flüstere nein, nein. Nein.

Meine Stimme fühlt sich fremd an, sie stolpert über meine viel zu trockenen Lippen. Ich versuche sie zu halten, denn wenn ich sie verliere, dann verliere ich auch mich.

Aber der Mann schlägt mir ins Gesicht, und ich sehe zu, wie mein rechter Schneidezahn durch die Luft fliegt und unter dem Couchtisch verschwindet.

Es ist ein Milchzahn. Alles ist okay. Ich werde einen neuen bekommen. Wie weich meine Gedanken sich anfühlen, wie sanft. Obwohl ich schreie.

»Hör auf zu heulen!«, schnauzt der Mann mich an und presst seine Hand auf meinen blutenden Mund. »Wenn du noch einmal schreist, dann schlitze ich dich auf!«

Also schreie ich nicht mehr. Ich bin ganz still.

Aber er schlitzt mich trotzdem auf.

Er bohrt sich in mich, er liegt schwer und keuchend auf mir. Seine linke Hand schließt sich wie ein Schraubstock um meinen Hals, die rechte reißt grob an meinen Haaren.

»Schlampe«, raunt er mir ins Ohr, »du kleine dreckige Schlampe!«

Ich starre die gelbweiße Zimmerdecke an. Sie kommt mir blendend grell vor. Meine Arme liegen schlaff neben mir, ich will sie bewegen, aber sie gehorchen mir nicht mehr. Mein Kopf ist leer und voll von Rauschen. Ich erzähle mir eine Geschichte, die ein schönes Ende hat, aber ich höre kaum zu.

»Komm«, wispert mir da eine leise Stimme ins Ohr; die Stimme gehört mir, aber ich erkenne sie nicht.

»Komm«, flüstert sie, »ich bringe dich weg von hier, vertrau mir.«

Vertrauen. Ein Fehler, den ich nicht wieder begehe.

Vertrauen ist russisches Roulette ohne Gewinner.

Vertrauen ist ein mit Leichen bedecktes Kinderkarussell.

Aber in einem Moment wie diesem, wenn die Entscheidungen, die man trifft, nichts mehr verändern, ist es okay, nach Strohhalmen zu greifen.

Also vertraue ich der Stimme doch.

Schweigend nehme ich ihre Hand an und lasse mich fortführen. Weg von dem Sofa, weg von dem Mann, weg von meinem Körper. In der hintersten Zimmerecke bleibt das kleine Mädchen schließlich stehen, seine kalte Berührung umschließt mein wimmerndes Herz.

»Weiter weg können wir nicht gehen«, flüstert es kaum hörbar.

Ich drehe mich um und blicke auf meine hilflose Hülle. Ich sehe in meine leeren Augen, betrachte die bleichen dünnen Beine, die merkwürdig verkrümmt zur Seite ragen. Ich nehme Abschied von dem geschädigten Körper. Er gehört nicht mehr mir. Die Trennung ist leicht, alles andere wäre schwerer.

»Mach die Augen zu«, flüstert da die Stimme. »Mach sie erst wieder auf, wenn ich es dir erlaube.«

Ich gehorche ihr. Keine Sekunde wage ich zu zögern. Ich blende ihn aus, meinen Körper, das tote Stück Fleisch; ich lasse ihn allein, ich lasse ihn zurück. Ich gebe ihn auf.

 

Der Mann lässt uns gehen. Mich und den Körper. Wir stehen vor seiner Wohnungstür, er drückt uns eine Tafel Schokolade in die Hand und sagt: »Das ist unser kleines Geheimnis. Du wirst es niemals jemandem erzählen. Hörst du? Niemals! Wenn dir dein Leben lieb ist …«

Mein Leben ist mir nicht mehr lieb. Ich weiß gar nicht so genau, was Leben eigentlich noch bedeutet. Ich habe es vergessen. Aber der Mann schließt seine Tür und wartet keine Antwort ab.

Da stehen wir dann, der Körper und ich. Schweigend, stumm. Jetzt ist es zu spät, um wegzulaufen. Wir verharren. Wir warten ab. Wir lauschen angespannt in den dumpfen Nachhall. Aber nichts passiert. Nichts wird leichter. Der Schmerz fühlt sich taub an. Fremd. Unbekannt. Ist das überhaupt mein Schmerz? Vielleicht gehört er ja jemand anderem.

Wie überschaubar wäre das.

Ich beschließe, kein Wort zu verlieren über meine Schande, die ich hinter dieser Tür besiegelt habe. Dazu sind Türen da, um sie geschlossen zu halten, wenn man weiß, dass dahinter ein Mann mit einem gewetzten Messer lauert.

Also gehe ich einen Schritt zurück. Weg von der Tür. Geheimnisse müssen bewahrt werden, Dunkelheit sollte man nicht ans Tageslicht ziehen. Der Schmutz, der an mir klebt, darf niemals zu sehen sein. Es ist ein Spiel. Verstecken.

Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Keiner.

Und wenn er kommt? Dann kommt er halt.

Und wenn er da war, was dann?

Wenn er drinnen war, was dann?

Dem Körper ist das alles egal, er steht nur nutzlos herum. Ich verachte ihn für seine Schwäche. Wie könnte er zu mir gehören? Das bin ich nicht. Lautlos trete ich einen weiteren Schritt von der Tür zurück. Der Körper bewegt seine müden Beine und folgt mir.

»Bleib stehen«, sage ich.

Aber er kommt näher.

Da drehe ich mich um und renne fort.

 

Ich bin sechs Jahre alt, bald komme ich in die Schule. Glücklich sein ist wichtiger als Schmerzen empfinden, das habe ich schon im Kindergarten gelernt. Denn Eltern mögen glückliche Kinder. Eltern mögen lachende Kinder. Wenn man lächelt, mit Grübchen in den Wangen und mit leuchtenden Augen, wenn man lange, vom Wind zerzauste Haare und ein süßes Puppengesicht hat, dann wird man leichter geliebt als andere. Perfektion ist Sicherheit, Perfektion ist Macht. Meine Eltern brauchen ein perfektes Kind; ich muss funktionieren, ich darf auf keinen Fall ein Fehler sein. Also schrubbe ich stundenlang in der Badewanne zwischen meinen Beinen hin und her, bis die Haut rot und geschwollen ist. Mit gleichgültigen Augen betrachte ich dabei das blutige Wasser, es wird verschwinden, sobald ich die Wanne leerlaufen lasse, so weit, so gut.

Nichts bleibt zurück.

Nach dem Baden wickele ich mich in das größte Handtuch, das ich finden kann, und bin verzweifelt, weil es nicht weiß ist, denn weiß ist beruhigend, weiß ist sauber, weiß ist rein.

Meine Beine sind wacklig, sie fühlen sich fiebrig an, heiß und kalt zugleich, bei jeder Bewegung schwankend. Aber ich darf nicht fallen, nicht heute, die neunzehn Schritte bis in mein Zimmer muss ich schaffen.

Ich zähle sie, jeden einzelnen.

Und ich schaffe sie, alle.

In meinem Zimmer vergrabe ich mein Gesicht in dem nach Waschmittel duftenden Handtuch. Ich verschwinde darin und frage mich, ob ich mich unsichtbar machen kann, wenn ich nur fest genug daran glaube. Ich glaube, so sehr ich kann.

Aber nichts passiert.

Also nehme ich die Schokolade, die ich achtlos zusammen mit meinem Kleid auf den Fußboden geworfen habe, und esse sie hastig auf. Dann gehe ich wie in Trance zurück ins Badezimmer, die schwachen Beine taumelnd wie die einer Marionette; dort beuge ich mich über die Toilette und würge so lange, bis auch der letzte Krümel wieder aus dem elenden Körper heraus ist. Anschließend wasche ich mir meine Hände und das Gesicht mit eiskaltem Wasser und sehe dabei zu, wie sie erst blau und dann violett-lila anlaufen. Der Schmerz beruhigt mich, ich fühle, wie meine Fingerspitzen langsam taub werden, wie sie zittern und beben. Es ist nichts passiert.

Es ist doch nichts passiert.

Mit verkrampften Händen drehe ich den Wasserhahn wieder zu und blicke auf. Mein Spiegelbild weicht einen Schritt zurück von mir. Und dann noch einen. Und noch einen.

Da weiß ich genau: Es gibt mich nicht mehr.

 

Die Tatsache, dass ein gewöhnlicher Tag in meinem Leben nicht damit beginnt, dass jemand die Bettdecke von meinem Körper reißt, zu mir aufs Bett gesprungen kommt und in mein Ohr brüllt: »Hey, aufwachen! Erzähl die Geschichte! Wie war das, als du vergewaltigt worden bist?!« – diese Tatsache kommt meinem Geisteszustand sehr gelegen.

Noch heute fällt es mir schwer, »Vergewaltigung« zu sagen, ohne dabei mit fahrigen Händen durch meine Haare zu streichen, auf meiner Lippe herumzukauen oder zu Boden zu blicken. Ich habe niemals einem Menschen in die Augen gesehen, während ich davon erzählt habe. Und man kann mir noch so oft sagen, dass ich mich für nichts schämen muss, dass ich unschuldig bin. Ich glaube kein Wort, bis ich unwiderlegbare Beweise dafür habe. Und wer soll mir die liefern?

»Vergewaltigung« in den Laptop zu tippen ist leichter, als es auszusprechen. Aber die nackten Buchstaben anschließend auf dem Bildschirm lesen zu müssen ist ein unerbittliches Aufbegehren gegen mich selbst.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal darüber geschrieben habe, vielleicht, als ich vierzehn Jahre alt war, vielleicht auch erst mit fünfzehn. Solange ich es nicht aufgeschrieben hatte, war es weniger wirklich, weiter weg von mir. Aber man kann sich nicht ewig belügen; irgendwann fängt man doch an, sich hübsche Muster in die Arme zu schlitzen. Und wenn nichts mehr von dem ersten Arm übrig ist, geht man entweder erbarmungslos zu dem zweiten Arm über, oder man beginnt sich allmählich ein paar Gedanken zu machen.

Mein Gehirn macht sich sehr gerne Gedanken. Und es ist zu dem Schluss gekommen, dass ich all die Erinnerungen, die nach und nach in mir aufkommen, zu Papier bringen sollte, um sie zu ordnen und um später sagen zu können: »Okay, das kenne ich schon! Ich weiß, dass er das mit mir gemacht hat, ich habe es sogar aufgeschrieben. Es ist vorbei. Einmal durchdrehen reicht vollkommen aus.«

Aber es hat natürlich nicht gereicht.

Und es wird niemals reichen.

 

Ich hätte meine Geschichte auch anders beginnen können. Mit dem Gefühl zum Beispiel, das einen überkommt, wenn man es zum ersten Mal alleine schafft, seine Schuhe fest genug zu binden, so dass die Schleife den ganzen Weg bis zum Spielplatz und sogar noch die Leiter hinauf bis hoch zur Rutsche hält. Aber was würde das über mich aussagen? Dass ich eine Schleife knüpfen kann. Und dass ich schon einmal eine Rutsche hinuntergerutscht bin. Ich nehme an, das schaffen alle anderen Menschen auch.

Vielleicht wäre es trotzdem ein besserer Anfang gewesen. Ein schönerer. Ein leichterer.

Aber dennoch erzähle ich zuallererst von dem Tag, an dem so vieles für mich aufgehört hat. Von meinem größten Geheimnis, das ich niemals verraten wollte, von dem ich in all den Jahren nicht einmal meinen Eltern erzählt habe. Und wenn es einen Gott gibt, dann verbietet er ihnen hoffentlich, dass sie meine Tür eintreten und sich gemeinsam mit mir hinsetzen und ein Gespräch führen wollen. So etwas haben wir früher schon versucht. Das hat dann entweder damit geendet, dass ich mir eine Rasierklinge in die Pulsader gerammt habe, dass meine Mutter kurzzeitig ausgezogen ist, dass ich in eine Psychoklinik gewandert bin, dass meine Mutter mit Stühlen geworfen hat, dass ich ins Kinderheim geflüchtet bin, dass meine Mutter ins Kloster wollte, dass ich eine Packung Antidepressiva mit einem Happs verspeist habe, dass meine Mutter kein Wort mehr gesprochen hat oder dass ich angefangen habe, mich mit Wänden anzufreunden. Mein Vater war währenddessen genauso, wie er immer ist: ruhig und ausgeglichen. Eine Bombe könnte direkt neben ihm in die Luft gehen, er würde einfach ganz gelassen bleiben und in aller Seelenruhe seinen schwarzen Tee mit Kardamom austrinken, um dann eine Runde mit seinem Fahrrad zu drehen. Mein Vater hat sich nie mitreißen lassen, er hat nie getobt. Wenn meine Mutter gesagt hat, sie würde mich hassen, wenn meine Mutter geschrien hat, sie wolle mich nie, nie wieder sehen, dann hat er, ohne von dem Buch aufzublicken, in dem er gerade las, zu mir gesagt: »Sie meint das nicht so.«

Als wäre es vollkommen egal. Als wäre ich vollkommen egal.

Wenn ich ihn gefragt habe, ob er mich eigentlich lieben würde, dann hat er »jaja« geantwortet, als wäre es genauso egal. Ich habe als Kind immer gedacht, mein Vater hätte keine Gefühle. Ich dachte, er könnte es, ohne mit der Wimper zu zucken, hinnehmen, wenn meine Mutter und ich auf einen Schlag einfach verschwunden wären. Mit siebzehn Jahren habe ich zum ersten Mal Emotionen in seinen Augen gesehen; ich war gerade knapp am Tod vorbeigerauscht und saß high und zugedoped von all den Überresten der Tabletten, die noch in meinem Blut umherirrten, am Küchentisch und löffelte einen Magermilchjoghurt. Etwas anderes konnte ich nicht essen, weil ich mir meinen Hals durch das Auskotzen der hundert Tabletten leicht zerfetzt hatte. Jedenfalls erzählte mein Vater mir, dass er soeben bei meinem Schulleiter gewesen sei, um ihm mitzuteilen, dass ich für das nächste halbe Jahr nicht zur Schule kommen würde.

»Danke«, habe ich gesagt, weil mir nichts Besseres eingefallen ist. Außerdem hatte ich Halsschmerzen und konnte sowieso nur heiser krächzen.

»Weißt du, wie schwer es für mich war, ihm zu erklären, dass meine Tochter versucht hat, sich umzubringen?«, hat mein Vater daraufhin gesagt.

Und in seinen graublauen Augen lag in diesem Moment etwas, das ich noch nie darin gesehen hatte: Zärtlichkeit. Verzweiflung. Und ich musste heulen, so sehr hat mich das bewegt. Natürlich bin ich vorher schnell ins Bad geflüchtet. Ich habe die Tür hinter mir abgeschlossen, zweimal geprüft, ob sie auch wirklich fest verschlossen ist, und dann habe ich das Wasser ganz stark aufgedreht, um möglichst viel Krach zu machen. Anschließend habe ich mein Gesicht mit literweise kaltem Wasser gewaschen, damit ja keine roten Flecken mehr zu sehen sind. Denn wie könnte ich je zugeben, wie sehr meine Eltern mich berühren, mit jedem noch so winzigen Atemzug.

Danach war mein Vater wieder so, wie ich ihn kannte. Er schrieb einen Bericht über das Geschehene, als wäre unsere Familie, allen voran natürlich ich, einfach nur irgendein Projekt, dessen Entwicklung so sachlich und knapp wie möglich dokumentiert werden müsste. Manchmal, wenn ich alleine war, habe ich mir seinen Lilly-Ordner geschnappt und gelesen, was da über mich drinstand. Ich habe herausgefunden, dass ich »unfähig«, »eigensinnig« und »nicht imstande für ein vernünftiges Zusammenleben mit meiner Mutter« bin. Ich habe gelesen, dass ich versucht habe, mich umzubringen, mit genauer Zeit- und Ortsangabe und so kalt dahingeschrieben, als wäre ich tatsächlich erfolgreich gewesen.

Eine meiner Therapeutinnen hat meinen Vater schließlich darauf hingewiesen, dass es nicht sehr taktvoll sei, ständig mit einer Akte über mich bei ihr aufzukreuzen und während der Gespräche Notizen zu machen, um anschließend Kopien des Protokolls an irgendwelche Ärzte und Psychologen zu verteilen. Ich weiß nicht, ob er das je verstanden hat. Aber egal – ich würde ihm trotzdem jedes Jahr einen Geburtstagskuchen backen, wenn ich nur wüsste, dass er sich darüber freuen könnte.

 

Zurück zu meiner Geschichte, denn die geht da weiter, als das kleine Mädchen beschließt, den widerlichen Körper so bald wie möglich los zu sein und anschließend schnellstens erwachsen zu werden, damit es ausziehen kann, in ein sicheres Haus, in ein neues Leben, Hauptsache weg – weit, weit weg.

Das Mädchen spricht nicht mehr viel, und wenn es redet, dann zu laut, zu aufgedreht, zu übermütig. Es streitet mit den anderen Kindern, es will alleine sein, es sitzt in der hintersten Ecke vom Sandkasten und buddelt ein Loch, in dem man sich verstecken kann. Es kneift mit boshaften Fingern in seinen Körper, es streckt seinem Spiegelbild die Zunge raus, es weint nachts, es badet in eiskaltem Wasser, bis seine Lippen violett angelaufen sind und es sich kaum noch bewegen kann, es will immer in der Nähe seiner Mutter sein, aber die versteht das intensive kleine Mädchen nicht – es ist seiner Mutter lästig, weil es viel zu viel Raum für sich beansprucht.

Da verändert sich das kleine Mädchen, es beginnt die Gedanken in seinem Kopf zu verdrehen, es erfindet neue Freunde, unsichtbare flüsternde Gestalten, mit denen es reden kann und die immer da sind. Es gibt eine Geheimsprache, geheime Spiele, geheime Regeln. Dort, in dieser unwirklichen Welt, fühlt sich das Mädchen sicher, und es zieht sich dahin zurück, sooft es möglich ist.

Das Mädchen verdrängt, es vergisst – es lässt den schmutzigen Teil von sich ganz tief in seinem Innersten verschwinden.

Die Zeit vergeht.

Das Mädchen ist dankbar. Denn ein kleines Kind zu sein ist schlecht, da ist es sich sicher. Und es zerkratzt sich seine Arme, um einen anderen Schmerz zu spüren, einen greifbaren, der abklingt und verheilt; es boxt sich in den Bauch, liegt nackt und zitternd bei weit geöffnetem Fenster auf dem Fußboden und friert, weil es nichts Besseres verdient hat, weil sein Körper leiden muss.

Schließlich wird das Mädchen älter, es kommt mir näher und näher; und ich kann nicht mehr »es« und »das Mädchen« schreiben.

Denn das kleine Kind geht so nahtlos in mich über, dass keine Lüge der Welt das vertuschen kann.

2

An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal gestorben bin, habe ich mit meinen drei Lieblingskuscheltieren »Sturmflut« gespielt. Der Ikea-Delphin, die ausgewaschene Flugente und der lilafarbene Littlefoot-Dinosaurier waren die Auserwählten, die auf dem Bettlakenschiff aus den aufbrausenden Wellen gerettet wurden. Im Nachhinein kommt mir das ziemlich dumm vor. Delphine und Enten können schwimmen. Ich hätte stattdessen meinen Affen und eins von den Kaninchen mit an Bord nehmen sollen. Was für eine Verschwendung von wertvollem Platz.

Aber es ist kein wichtiger Ausschnitt meines Lebens, denn ein paar Stunden später habe ich sowieso alle Tiere in meine Spielzeugkiste gestopft und den Deckel geschlossen, weil ich wusste, dass diese Zeit vorbei ist. Kinderspiele vertragen sich nicht mit den Regeln der Erwachsenenwelt. Und wer hätte das Bettlakenschiff auch steuern sollen, während ich gerade Sex hatte.

Sexgewalt. Verübt an meinem fremden Körper.

Ich erinnere mich so genau an all die hässlichen kleinen Details, an den Klang seiner Stimme, die Möbel in seiner Wohnung, den abgestandenen Geruch, als wäre ich eben noch dort gewesen. Die Angst in mir ist nicht blasser geworden, und jedes Mal, wenn ich an ihn denke, gerate ich ins Straucheln. Der Halt, an den ich mich klammere, er verhält sich berechenbar: Er hält inne und lässt mich angewidert los.

Es ist merkwürdig zu sterben, ohne danach tot zu sein. Man fühlt sich leer und verloren, man weiß nicht so richtig, wohin man gehört. Alles ist auf einmal weit entfernt, wie in einem schlechten Traum; nichts ist von Bedeutung, nichts ergibt einen vernünftigen Sinn.

Ich weiß nicht mehr, wie es in der Zeit davor war. Ich weiß nicht mehr, wer ich einmal war. Ich habe keine Ahnung davon, wie das ist, nie vergewaltigt worden zu sein. Es ist, als hätte ich alle Erinnerungen an die Jahre davor verloren, als stünde eine Mauer zwischen den weißen und den schwarzen Tagen. Manchmal versuche ich krampfhaft mich zu erinnern, manchmal bin ich so besessen von einem ungefickten Rückblick, als hätte ich die Chance, noch alles zu verändern.

Aber die Zeit geht weiter. Vorwärts.

Das ist die einzige Richtung, die sie kennt.

Und wir alle müssen ihr folgen.

 

Mit elf Jahren fange ich an, die Tage zu zählen, bis ich endlich achtzehn werde, die Schule hinter mir habe und ausziehen kann. Ich habe Brüste, große weiche Brüste, die hin und her wackeln und beim Sport wild durch die Gegend hüpfen. Kein anderes Mädchen hat schon so früh solche Brüste. Die Jungen gucken mich an, und alles ist noch schrecklicher als vorher. Ich bin das erste Mädchen in meiner Klasse, das ihre Periode bekommt. Die Jungen streifen mich im Vorbeigehen mit ihren Armen und reißen Witze. Die Mädchen tuscheln und wollen wissen, wie es sich anfühlt, ein Tampon zu benutzen.

Wenn man bedenkt, dass ich etwa die Hälfte des Tages damit beschäftigt bin, den Stimmen in meinem Kopf zu sagen, dass sie ihre Klappe halten sollen, weil ich daran glauben muss, dass alles wieder gut werden wird – wenn man das berücksichtigt, dann halte ich mich eigentlich ganz gut. Niemand bemerkt den Kampf, der in mir tobt, und niemand weiß, was für eine schreckliche Angst ich davor habe, eines Tages einfach spurlos verschwunden zu sein, weil er immer noch bei mir im Haus wohnt. Und ganz egal, wie leise, ganz egal, wie schnell ich durch das Treppenhaus husche, manchmal erwischt er mich doch.

»Ich will nicht irgendwo im Wald verscharrt enden und erst Jahre später entdeckt werden, von spielenden Kindern, die nur noch ein paar Knochen und Zähne von mir vorfinden«, flüstere ich jeden Abend vor dem Einschlafen in die Dunkelheit, in der mich keiner hören kann.

Ich setze Tag für Tag eine neue Maske auf, bete, dass ich nicht schwanger werde, und ritze mir weiterhin Striche in die Haut, damit ich nie vergesse.

Dann ist er plötzlich weg.

Er verschwindet aus meinem Leben, als hätte es ihn nie gegeben. Er zieht weg, und ich stehe vor seiner leeren Wohnung und warte darauf, dass mein Körper herauskommt, damit wir wieder zusammen sein können. Ich warte und warte.

Zwei Stunden lang. Jeden Tag. Einen ganzen Monat lang. Und an den Wochenenden sogar vier Stunden täglich. Meine Eltern denken, ich sei draußen im Park, um zu spielen. Aber ich hasse Klettergerüste und Basketballplätze. Ich habe längst aufgehört, Fangen zu spielen, ich wurde schon viel zu oft geschnappt. Stattdessen stehe ich lieber da und warte. Und warte.

Und warte.

Wenn jemand kommt, verstecke ich mich schnell im Hof oder im Keller. Ich lausche auf die verklingenden Schritte, die zufallenden Türen, auf das Ticken meiner Armbanduhr. Ich presse mein Ohr ganz eng an die verbotene Wohnungstür, um etwas zu hören.

»Ich gehe nicht ohne dich«, flüstere ich so leise wie möglich durch das Schlüsselloch zu dem Körper. Ich versuche meiner Stimme Nachdruck zu verleihen, denn ich muss mir unbedingt glauben: »Ich warte auf dich! Ich warte, bis du wieder rauskommst. Versprochen!«

Aber natürlich warte ich vergebens.

Dann wird die Wohnung neu vermietet. Eine Frau mit einer Violine zieht dort ein. Sie sieht nett aus und trägt immer einen selbstgestrickten Pullover.

»Hat hier früher einmal ein Freund oder eine Freundin von dir gewohnt?«, fragt die Violinenfrau mich eines Tages. Sie hält in der einen Hand ein Buch mit einem grünen Einband und in der anderen eine Einkaufstasche, aus der ein paar Bananen herausgucken, und erwischt mich dabei, wie ich in Gedanken versunken auf den Treppenstufen sitze und ihre Wohnungstür anstarre.

Ich schüttele den Kopf.

»Geht es dir nicht gut?«, fragt die Violinenfrau freundlich und blickt mich etwas besorgt an.

Ich schüttele erneut den Kopf.

Die Violinenfrau stellt ihre Einkaufstasche ab, um die Wohnungstür aufzuschließen.

»Wie heißt du denn?«, fragt sie mich währenddessen.

Ich antworte ihr nicht, blicke nur stumm auf den Türspalt, der sich gerade geöffnet hat, hinein in seine Wohnung; die Wohnung, die jetzt der Violinenfrau gehört. Die Wände sind neu gestrichen, apricotfarben mit hellen Tupfern, der Fußboden im Flur ist mit weißen Fliesen ausgelegt, und ein leichter Vanillekerzenduft steigt mir in die Nase.

»Ich heiße Clara«, sagt da die Frau, nimmt eine Banane aus ihrer Tasche und hält sie mir hin. »Magst du auch so gerne Bananen? Ich kann einfach nicht genug davon bekommen, besonders im Spätsommer. Die sind ganz frisch aus dem Bioladen um die Ecke. Nimm nur.«

Ich nehme die Banane entgegen. »Danke«, sage ich.

»Ist wirklich alles okay mit dir?«, fragt Clara mit ihrer hellen Stimme, die ein bisschen wie Musik klingt.

Ich nicke schnell. Und dann laufe ich weg.

Während ich die Treppen hochflitze, höre ich, wie Clara ihre Tür ins Schloss zieht. Das Geräusch ist genauso, wie es bei ihm war, vielleicht etwas leiser. Aber er ist nicht mehr da. Und ich bin es auch nicht. Ich kann nicht mehr vor der Tür stehen und warten, dass mein Körper herauskommt. Kein Mensch kann für immer warten.

Clara mit ihrer Violine ist jetzt in dieser Wohnung. Sie wird in dem Wohnzimmer, in dem ich vergewaltigt worden bin, das grüne Buch lesen und dabei ihre Bananen essen. Ich sehe das Bild ganz deutlich vor mir: Clara lacht. Weil das Buch lustig ist. Der Teppichboden ist weich und sauber. Da ist kein Blut von mir. Die Violine liegt in einem Kasten auf dem Wohnzimmertisch. Die Vorhänge sind nicht zugezogen, Sonne scheint durch die offenen Fenster. Es gibt nichts zu verbergen.

Da beschließe ich zu vergessen. Mein Kopf wird von einem höllischen Schmerz durchbohrt, als ich ihn so fest, wie ich kann, gegen den Türrahmen von meinem Zimmer schlage und anschließend benebelt auf den Boden sinke. Die Gehirnerschütterung ist nicht schlimm. Der Arzt sagt: »Das wird schon wieder.« Und während mein dröhnender Kopf noch ganz schwindlig ist vor lauter Schmerzen, nehme ich schnell ein riesengroßes, schweres Vorhängeschloss und hänge es sorgfältig vor alle Erinnerungen an den bösen Mann.

»Jetzt darfst du wieder lächeln«, sage ich zu mir.

»Na, los. Das kann doch nicht so schwer sein!«, füge ich ungeduldig hinzu.

Also lächle ich, weil ich nicht mit mir streiten möchte.

Aber die Schande auf meinem Körper ist trotzdem noch da, und meine Brüste sind noch immer zu groß. Außerdem muss ich weiterhin in einen Schwimmverein gehen, weil mein Vater mich sonst vielleicht gegen ein anderes Kind eintauscht, und im Schwimmbad muss ich einen Badeanzug tragen, in dem viel zu viel von meinem missbrauchten Körper zu sehen ist.

Nein, halt.

Da ist doch jetzt das Vorhängeschloss, ich muss mich nicht mehr daran erinnern. Ich kann einen Badeanzug tragen, ohne daran zu scheitern.

Es ist ganz einfach.

Unsicher und schwankend stehe ich auf dem Sprungbrett, vielleicht verschließt sich die Wasseroberfläche über mir, sobald ich gesprungen und untergetaucht bin.

Vielleicht versinke ich, und alles ist vorbei.

Vielleicht. Vielleicht.

 

Ich male dreizehn Blutstropfen an die Wand hinter meinem Schrank, für jedes meiner zwölf Lebensjahre einen, und einen Tropfen mehr, falls ich das nächste Jahr erreichen sollte. In meinen Stundenplan trage ich ein paar zusätzliche Stunden ein, ich hänge hier und da noch eine Deutsch- und Mathematikstunde dran, damit sich meine Eltern nicht wundern, wenn ich etwas später von der Schule komme. Aber das tun sie ja sowieso nicht. Die freien Stunden verbringe ich dann im Park. Dort setze ich mich auf eine schiefe Holzbank und warte auf mein Ende.

Es lässt sich nicht blicken.

Also muss ich nach Hause gehen.

Meine Noten sind mittelmäßig bis gut, ich habe meistens Zweien und Dreien, aber meine Eltern schimpfen trotzdem. Meine Mutter findet es schrecklich, dass ich in Deutsch nur eine Drei habe, sie meint, ich müsste ja wohl wenigstens meine eigene Sprache vernünftig beherrschen. Doch obwohl ich viel lese und auch gerne schreibe, bekomme ich in Diktaten immer nur eine Drei. Mir ist das egal, ich glaube nicht, dass Zahlen von eins bis sechs den Wert eines Menschen darstellen können, aber meine Mutter ist nach jedem Diktat, das ich zum Unterschreiben nach Hause bringe, schrecklich sauer auf mich, und ich fühle mich wie ein Versager.

Doch irgendwann geht die Grundschulzeit vorbei.

Und irgendwann bekommen auch die anderen Mädchen Brüste.

 

Während der Sommerferien, vor dem ersten Jahr auf dem Gymnasium, schicke ich Tausende von Stoßgebeten in den Himmel, dass doch bitte, bitte, endlich alles ein bisschen einfacher werden wird. Aber Gott hat viel zu tun, und so stehe ich alleine da.

In der Klasse. Auf dem Schulhof.

Im ersten Jahr. Im zweiten Jahr. In jedem Jahr.

Ganz egal, wer sich zu mir gesellt, wie auch immer meine Freunde heißen: Auf Abstand bleiben – das ist der Grundstein meines Daseins.

Aber glücklicherweise haben sogar Mädchen wie ich eine beste Freundin. Es ändert zwar nichts an der Tatsache, dass ich abseits stehe, doch zu zweit auf dem Schulhof herumzulungern ist immer noch unauffälliger, als alleine neben einem Baum zu sitzen. Und wer unauffällig ist, wird weniger schnell entführt und vergewaltigt.

Das hoffe ich jedenfalls.

Seit ich die Grundschule hinter mir gelassen habe, bekomme ich nur noch Einsen und Zweien in allen Fächern. Ohne groß dafür lernen zu müssen, schreibe ich die klassenbesten Arbeiten und liefere fehlerfreie Aufsätze ab.

So, überlege ich mir, jetzt können meine Eltern mich endlich lieben.

Aber meinen Eltern ist das egal. Vielleicht meckern sie etwas weniger als zuvor, vielleicht sind die Blicke, die sie mir zuwerfen, um ein paar Zehntel freundlicher, aber das wahrscheinlich auch nur, weil sie zu wenig Zeit oder Lust haben, sich mit mir zu beschäftigen. Ich denke lange darüber nach, ob ich weinen soll. Oder ob es sinnvoll wäre, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, auf der Suche nach anderen Eltern. Aber dann schlitze ich mir einfach ein bisschen die Arme auf, und in der Stille, die mich umgibt, während mein Blut auf die Fliesen im Badezimmer tropft, lese ich immer wieder das erste Kapitel von irgendeinem Buch, bis ich jedes einzelne Wort auswendig kenne.

Anschließend wische ich den Boden, pflastere meinen Arm zusammen und starre in mein zurückglotzendes Spiegelbild.

So einfach überwindet man Schmerzen.

 

Ich gehe in die Schule, ich gehe nach Hause, ich gehe schwimmen, ich gehe nach Hause, ich gehe an meinen Eltern vorbei, ich gehe um meine Eltern herum, ich bleibe vor der einen Tür stehen, ich stürme an der gleichen Tür vorbei.

Ich funktioniere hervorragend.

Denn wir alle müssen den Tag bestehen.

Wenn wir einen nächsten haben wollen.

Aber ich hasse mein Leben so sehr, dass ich die Minuten zähle, bis endlich wieder der Abend kommt und ich schlafen gehen kann.

Wenn man ohne Unterlass mit seinen Wahnvorstellungen um jeden Teilabschnitt des unbekannten Ganzen pokert, dann braucht man viel Ruhe. Also ziehe ich mich immer weiter zurück. Ich habe keine Lust auf Partys, ich will nicht mit meinen Freundinnen shoppen oder ins Kino gehen. Ich will am liebsten gar keine Menschen mehr in meiner Nähe haben, und als festen Freund könnte ich mir höchstens jemanden vorstellen, der mich verschleppt, in seinem Keller einsperrt und nie wieder hinauslässt – anders kann ich mir eine Beziehung mit einem Mann nicht vorstellen.

 

An einem windigen Herbsttag stehe ich am Lietzensee und halte einen schwarzen Stein in der Hand. Mit meinen Fingerspitzen streiche ich sanft über die glatte Oberfläche. Der Stein ist kalt und beständig. Es würde ihn nicht im Geringsten stören, wenn ich auf ihm herumtrampelte oder wenn ich ihn benutzen würde, um jemandem den Kopf einzuschlagen.

So will ich sein, denke ich, kalt und hart.

Ich will nie wieder etwas empfinden müssen, ich will, dass mir alles uneingeschränkt egal ist. Und ich werde niemandem mehr das Recht geben, mich zu verletzen; ich werde nie wieder jemanden nah genug an mich heranlassen, um berührt zu werden.

Der Stein blickt mich so kalt an, als würde er daran zweifeln.

»Du kannst mich mal«, sage ich zu ihm und werfe ihn im hohen Bogen auf den See hinaus.

Er lacht. Denn er wird nicht ertrinken. Er kann so lange die Luft anhalten, wie er will.

 

Den größten Teil meiner Freizeit verbringe ich auf meinem Bett, umgeben von einem Stapel von Büchern. So flüchte ich in die Welt der Geschichten und lebe mehr dort als irgendwo sonst. Wenn ich ein Buch zu Ende gelesen habe, es schließlich zuklappe und zurückkehren muss in die schreckliche Wirklichkeit, in der ich viel zu viel vergewaltigt und viel zu unperfekt bin, dann möchte ich mich am liebsten selbst für den Rest meines Lebens in Ketten legen, damit ich nicht noch mehr Katastrophen anrichten kann.

Ich versuche alles leichter zu machen, indem ich alles unpersönlicher mache. Ich reiße die Bilder von meinen Wänden und werfe sie weg. Ich beziehe mein Bett mit weißer Bettwäsche, ich verhänge meine Regale mit weißen Laken und lasse nur meinen Nachttisch frei, auf dem ich die paar Sachen aufbewahre, die ich mir als spärlichen Besitz gönne: drei Bücher, ein Kartenspiel, eine Zahnbürste, Zahnpasta, Shampoo, einen Block und vier Stifte.

Aber irgendwie geht es mir trotzdem nicht besser, ich habe nach wie vor Gefühle – ich bin nicht annähernd wie ein Stein. Stattdessen liege ich jeden Abend im Bett und weine, da mein Vater wieder den ganzen Tag herumgemault hat, weil ich irgendetwas falsch gemacht habe. Weil ich meine Jacke nicht ordentlich aufgehängt habe, weil ich irgendeinen Schwamm nicht fest genug ausgewrungen habe, weil ich meine Zimmertür zugemacht habe und mich von der Familie (sein Lieblingswitz) entfernen würde, weil ich weniger ich sein soll und was weiß ich noch alles.

Meine Mutter schafft es währenddessen, mich mit ihren Stimmungsschwankungen in den Wahnsinn zu treiben. Sie hasst mich, weil ich keine Querflöte spielen kann, sie liebt mich – einfach so. Sie hasst mich, weil ich zu laut bin, sie liebt mich – aus Pflichtgefühl. Sie hasst mich, weil ich da bin. Sie liebt mich – weil ich mein Bett so ordentlich gemacht habe. Sie hasst mich, sie hasst mich, sie hasst mich.

Ich stehe vor dem Spiegel und hasse mich auch. Ich bin vierzehn Jahre alt, 1,64 groß, wiege 56 Kilo und fühle mich wie ein überdimensionaler Hefeklops.

Den restlichen Teil meiner Freizeit verbringe ich damit, über die schnellste und schmerzloseste Möglichkeit, Suizid zu begehen, nachzudenken. Leider bin ich ein Weichei und kriege es einfach nicht hin, mir die Pulsadern vernünftig aufzuschlitzen; das Ergebnis ist jedes Mal eine blutige Sauerei, Kopfschmerzen, Armschmerzen, ein verschmiertes Skalpell – und ich bin noch genauso am Leben wie vorher. Schließlich versuche ich es mit Luftanhalten, denn ich bin der Meinung, wenn man es nur fest genug will, dann kann man einfach sterben, weil die Seele aufgibt. Abend für Abend liege ich in meinem Bett und halte die Luft an, bis mir schwindlig wird und sich alles dreht. Am Ende habe ich dann jedes Mal Halluzinationen, Herzrumpeln und keine Lust mehr. Aber tot bin ich nie.

Ich frage meine Eltern, ob wir eventuell umziehen könnten. Vielleicht nach Irland, da würde ich ein Schaf haben und auf einer Wiese neben dem Schaf sitzen und das Gras anstarren. Von mir aus aber auch einfach nur in einen anderen Bezirk oder wenigstens eine Straße weiter. Meine Eltern schütteln den Kopf über mich. Das kann ich gut verstehen. Aber ich kann ihnen leider nicht erklären, dass ich ein Problem damit habe, Tag für Tag an der Tür vorbeizugehen, hinter der er einmal gewohnt hat und hinter der immer noch ein Teil von mir liegt und schreit und wimmert.

Trotz wirrer Stimmen im Kopf bin ich noch klar genug bei Verstand, um den Mund zu halten, denn wer würde mir schon glauben? Meine Mutter fand ihn nett, weil er ihr manchmal die Einkaufstüten hochgetragen hat, und einmal hat sie zu mir gesagt, ich könnte mir ruhig mal ein Beispiel an ihm nehmen. Aber ich nehme mir lieber eine Rasierklinge von meinem Vater und zeichne Bilder auf meinen Unterarm.

Meinen Körper misshandeln. Darin werde ich mit der Zeit richtig gut. Ich kratze mir meine Arme blutig, ich renne mit Absicht gegen Schränke und Türen, ich halte mir glühende Metallstäbchen auf die Haut und beiße mich, bis ich Blut schmecke. Meine Eltern merken nie etwas, und die Kratzer auf meinen Armen halten sie für Ausschlag.

An einem Ostermontag verbietet mein Vater mir, meine Zimmertür zu schließen.

»Du sollst dich nicht von der Familie abkapseln!«, brüllt er, und die Schokohasen auf dem Tisch wackeln genervt. »Wie oft habe ich dir das schon gesagt? Du weißt doch, dass ich nicht ständig an deiner geschlossenen Tür vorbeilaufen will!«

»Was du sagst, und was ich weiß, sind zwei grundverschiedene Dinge«, antworte ich.

Lautlos versteht sich.

Dann nicke ich brav. Als wäre ich eine Jungfrau. Unangetastet und lieblich.

Von nun an gehe ich ins Bad, drehe den Wasserhahn auf und tue so, als würde ich baden – aber stattdessen sitze ich auf den kalten Fliesen, wo ich meine Ruhe habe und so lange vor mich hin träumen kann, wie ich will, ohne dass jemand kommt, der mir sagt, wie falsch doch alles an mir ist.

Während dieser Stunden neben der Badewanne habe ich auf einmal einen Geistesblitz: Je mehr von mir auf dieser Welt ist, desto schlimmer. Wenn ich verschwinden könnte, wäre alles besser. Gedacht, getan. Ich höre auf zu essen.

Ich will zwanzig Kilo wiegen, von mir aus auch nur zehn, denn dann bin ich so wenig da, dass es gar nicht mehr richtig zählt, und dann ist es vielleicht okay, dass ich da bin. Also ernähre ich mich nur noch von Gurken und Äpfeln. Eigentlich will ich überhaupt nichts mehr essen, aber dann fühle ich mich ständig so schlapp, dass ich den Weg zur Schule nicht schaffe oder anfange zu zittern, wenn ich meine Schuhe anziehen will.

Ich nehme ab. Über zehn Kilo, innerhalb von kürzester Zeit. Aber ich bin immer noch zu viel – genau wie vorher. Außerdem kann ich auf einmal an nichts anderes mehr denken als an Essen. In den Nächten schrecke ich schweißgebadet aus meinen Träumen, weil ich mich umgeben von knusprigen Käsetoasts, zuckersüßen Sahnetorten und Zimtschnecken fühle.

Meine Stimmung wird immer düsterer und schlechter. In meinem Kopf herrscht ein bedrohliches Dauerbrummen, und irgendwann verlerne ich die Kunst des Einschlafens. Meine Noten werden dagegen immer besser und besser, ich schreibe eine Eins nach der nächsten; eine Zwei zu bekommen fühlt sich schon schlecht an, aber trotzdem bin ich mir sicher, nicht gut genug zu sein. Von Tag zu Tag hasse ich die Schule mehr, sie langweilt mich, meine Klassenkameraden sind mir fremd, der Stoff zu unbedeutend. Ich lerne kaum, eigentlich nur während der Schulstunden – in den Pausen mache ich meine Hausaufgaben, damit ich sie nicht zu Hause machen muss, und frühestens zwei Tage vor einer Klausur fange ich an zu lernen, manchmal auch gar nicht. Aber der Druck in mir lässt nicht nach. Meine Eltern lieben mich immer noch nicht. Dabei bin ich so gut in der Schule, dass sie doch wenigstens ein bisschen stolz auf mich sein könnten. Ich habe panische Angst davor, was passiert, wenn ich plötzlich wieder nur Zweien oder Dreien bekomme, bestimmt verachten sie mich dann endgültig. Ich denke darüber nach, vielleicht doch etwas mehr für die Schule zu machen, den ganzen Tag zu lernen und meine Schulbücher alle auswendig zu lernen. Aber das schaffe ich einfach nicht. Allein der Gedanke an die Schule verursacht in mir schon Übelkeit, keine Sekunde länger als nötig will ich dort verbringen. Aus einem unerklärlichen Grund habe ich schreckliche Angst davor, nicht genug Zeit zu haben. Zeit für mich. Zeit, in der ich nichts tun muss. Ich fiebere den Wochenenden entgegen, warte auf die Schulferien und versuche jede Sekunde auszukosten, in denen meine Eltern nicht zu Hause sind und ich atmen kann.

Mit fünfzehn Jahren bin ich schließlich bereit, alles zu tun, um nicht mehr in die Schule gehen zu müssen und so weit wie möglich von meinen Eltern wegzukommen. Ich sehe vier Optionen: erstens Selbstmord, zweitens Straßenstrich, drittens Kinderheim, viertens Abdrehen und Klapse.

Vor Nummer eins habe ich zu viel Angst. Für Nummer zwei fehlt mir die Connection. Bei Nummer drei weiß ich nicht, wie ich einen Platz bekommen soll. Also bleibt nur die vierte Möglichkeit.

Ich gehe zu einem Psychologen und sage ihm, dass ich sterbe. Ich erzähle von meinen Essstörungen, gucke verdammt leidend, rede davon, aus dem nahegelegensten Fenster zu springen, und stelle einen Haufen Anträge bei meiner Krankenkasse. Meine Mutter rastet total aus und kreischt mich an, dass ich ein verlogenes Biest sei und mir meine Probleme nur einbilden würde.

Mein Vater hingegen bleibt ziemlich ruhig. Natürlich. Er bleibt ja immer ruhig. Er kann sich in aller Ruhe sein Honigbrötchen schmieren, während ich danebensitze und zwei Packungen Aspirin am Stück einwerfe.

»Wenn ich keinen Platz in der Klinik bekomme, breche ich in eine Apotheke ein, klaue zehn Tüten voll Schlaftabletten, schlucke sie alle auf einmal und sterbe«, das verspreche ich mir, um mein hechelnd klopfendes Herz zu beruhigen.

Dann kommt endlich der Brief. Ich reiße ihn auf.

»Klinikaufenthalt genehmigt«, steht da.

Und mein Leben geht weiter.

 

Im Sommer, nachdem ich wochenlang kaum zur Schule gegangen bin, weil ich ständig krank war oder lieber auf einer Parkbank herumgelungert bin, als mich fortzubilden, setze ich mich neben meinen Koffer ins Auto meiner Eltern und verabschiede mich von meinem beschissenen Leben. Hinter dicken Klinikmauern, mit weißen Wänden und weißen Bettbezügen, mit festen Regeln, festen Mahlzeiten, nur drei Stunden Schule und umgeben von lauter anderen Bekloppten müsste ich mich doch eigentlich geborgen fühlen.

Meine Mutter spricht während der ganzen Fahrt kein einziges Wort mit mir, dafür wirft sie mir in regelmäßigen Abständen vorwurfsvolle Blicke über den Rückspiegel zu. Ich gucke aus dem Fenster und tue so, als würde es mich nicht interessieren, als wüsste ich nicht einmal, wie man »verletzt sein« überhaupt buchstabiert.

Mein Vater fährt. Das kann er gut.

 

In der Klinik riecht es nach sterilem Kindergarten, aber es toben keine fröhlichen Kinder herum.

Nach dem Einführungsgespräch mit dem zuständigen Psychologen verabschieden sich meine Eltern von mir. Das heißt, meine Mutter rauscht wortlos an mir vorbei aus dem Zimmer, natürlich nicht, ohne mir einen letzten wütenden Blick zuzuwerfen, und mein Vater räuspert sich ein paarmal, bevor er mich eine halbe Sekunde lang umarmt.

Ich könnte jetzt ein ganzes Buch füllen mit den Geschichten von diesem Klinikaufenthalt. Ich könnte loslegen und den ganzen Block C von Zimmer 35 bis 50 einzig und allein durch meine Worte freilegen. Aber ich würde abschweifen und niemals vorwärtskommen mit dem, was ich eigentlich erzählen möchte. Denn in dieser Zeit war ich zum ersten Mal kein Außenseiter, kein seltsames Objekt, das man anstarrt und über das man hinter vorgehaltenen Händen flüstert. Es gab dort sogar Mädchen, die noch weniger aßen als ich. Das war gar nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass ich mich damals auf einen halben Apfel, zwei Pflaumen und eine Tomate pro Tag spezialisiert habe, während ich alle anderen Lebensmittel irgendwie verschwinden ließ – bis ich dann schließlich zum Essen gezwungen wurde.

Was für ein Drama.

Ich würde niemals sagen, die Zeit in der Klinik war schlimm. Selbst wenn sie es doch war. Denn ich war eingeschlossen genug, um freier als je zuvor zu sein. Und außerdem war ich weg von meinen Eltern, weg von der Schule. Ich konnte atmen. Ich wusste, was der nächste Tag bringen würde. Ich hatte einen Plan mit geregelten Zeitabschnitten, und weiße Wände zum Anstarren hatte ich auch.

Ich hatte sogar Freunde. Ich wusste, dass diese Freundschaften in der wahren Welt nicht fortbestehen würden, aber ich habe sie genossen. Für den Augenblick mehr als alles andere.

Ich erinnere mich an Phillip. Er war der Grund, aus dem wir Volleyball immer ohne Netz spielen mussten. Denn Phillip hatte es geklaut, um sich damit aufzuhängen, und selbst nach einer stundenlangen Suche konnte es keiner vom Klinikpersonal finden. Das mit dem Aufhängen hat sich Phillip dann noch einmal überlegt. Zum Glück. Ich habe ihn gemocht, und ich habe nie wieder einen Jungen getroffen, der so von Emotionen hin und her gerissen durch sein Leben getaumelt ist wie er. So beängstigend, so gewaltig, so sanft, so brutal, so schön, so laut und trotzdem auf ganz leisen Füßen.

Am letzten Abend, nach zwei Monaten im Exil, habe ich mir eine Packung Taschentücher geholt und geweint und geweint, bis ich nicht mehr konnte. Weil ich schreckliche Angst vor meiner Zukunft hatte und weil ich nicht bereit war zurückzukehren; weil ich wusste, dass ich noch immer ein einziger Fehler war.

3

Zu Hause. Freiheit. Das normale Leben.

Die ersten Wochen stehe ich unter Schock. Es ist alles viel zu viel. Viel. Zu. Viel. Die Worte, die ich benutze, klingen fremd aus meinem Mund, als würde mich ein unpassender Sprecher synchronisieren. Die Welt ist so laut. Ich bin vollkommen fehl am Platz. In der Schule starren mich alle an. Ich bin ein Freak. Ich bin die Einzige in meiner Klasse, die dermaßen irre ist, dass sie sich selbst einweisen lässt.

Und was soll ich jetzt mit all der freien Zeit anfangen? Ich darf rausgehen. Einfach so. Ohne Ausgangspass. Ohne Formulare auszufüllen. Ich muss mich nicht pünktlich um 7 Uhr, um 10 Uhr, um 12 Uhr, um 16 Uhr und um 18 Uhr im Speisesaal einfinden. Ich muss nicht um 21 Uhr im Bett liegen und das Licht ausschalten. Was soll ich nur machen? Wo soll ich hingehen? Wie funktioniert das alles?

Einkaufen.

Freunde treffen.

Kino.

Schule.

Park.

Und dann?

Ich bemühe mich. Allen anderen Menschen gelingt es schließlich, morgens aufzustehen und zur Schule oder zur Arbeit zu gehen, ohne dabei den Verstand zu verlieren, also muss ich das doch auch schaffen! Wozu habe ich leben gelernt?

Dann fängt es an zu schneien. Im Herbst, als wäre es längst Winter. Und da gewöhne ich mich langsam wieder an all das; was bleibt mir auch anderes übrig – die Zeit wartet auf niemanden, besonders nicht auf Mädchen wie mich.

Ich bin sechzehn Jahre alt, mein Leben ist das Letzte, was ich gebrauchen kann, und ich würde mir lieber ein Küchenmesser in den Arm stechen, als in die Schule zu gehen. Aber ich muss dorthin, also sitze ich stumm auf meinem Platz und versuche so bescheiden wie möglich zu atmen. Denn ich habe panische Angst davor, dass mich alle neugierig anglotzen und mir unangenehme Fragen stellen. Überhaupt sage ich fast gar nichts mehr und verziehe mich in den Pausen lieber auf irgendeine ruhige Bank und tue so, als würde ich ein Buch lesen. In Wahrheit aber zähle ich die Sekunden, bis die Pause vorbei ist, oder ich überlege mir einen neuen Notfallplan.

Meine Zeugnisse hingegen bewerten meine Zukunft mit sehr gut. Ich stopfe sie in die Lilly-Akte meines Vaters. Da sind sie am besten aufgehoben, denn sie sagen absolut nichts über mich aus. Aber das mit dem Aussagen ist sowieso eine Sache für sich.

Meine Mutter perfektioniert währenddessen ihren Lieblingssatz: »Ich hasse dich.« Sie kennt ungefähr zweihundert Varianten der satzgewandten Betonung.

Mein Vater ist nie da. Und wenn er doch da ist, dann ist er immer noch zu weit entfernt, um mich wahrzunehmen.

Meine Klassenkameraden wissen mittlerweile rein gar nichts mehr mit mir anzufangen. Außerdem könnte Geisteskrankheit ja auch ansteckend sein; also lieber einen Schritt weiter weggehen, als zu nah herankommen – man weiß ja nie. Hinzu kommt selbstverständlich noch die allgemein bekannte Tatsache, dass es absolut uncool ist, mit einem gestörten, von blauen Flecken übersäten Alien befreundet zu sein. Ich stehe also im Glaskasten auf dem Schulhof und setze mein gefälschtes Lächeln auf. Es tut mir leid, so zu sein, wie ich bin. Aber ich fühle mich wie eine Giraffe am Südpol, die mit einem Haufen Pinguinen in einem edlen Clubhaus mit riesigem Kronleuchter sitzt und mit dem Kopf ständig gegen die Decke stößt. Eine Giraffe, die den Hals verrenken muss, um von Angesicht zu Angesicht mit den schwarz-weißen, fremdartigen Kreaturen zu sprechen, die nie ausrutschen auf dem eisigen Boden und die nie frieren und immer in anständigen Grüppchen zusammen durch die weiße Schneewelt wuseln, als gäbe es keine Killerwale, die ab und zu durch die Eisdecke brechen und einen von ihnen verspachteln.

 

Ich fange wieder an zu hungern. Denn der nagende Schmerz ist anmutiger als jeder andere. Und wozu bin ich schließlich ein Profi darin, mich in riesigen Pullovern und unter vier Schichten von T-Shirts zu verstecken.

In meinen Träumen werde ich vergewaltigt. Aber ich schlafe nicht, ich bin wach. Ich sehe die Bilder, ich sehe mich, ich schließe die Augen vor mir. Dann flüstere ich mir Geschichten zu. Geheimnisse. Geschehnisse. Ich entschuldige mich.

Aber ich verzeihe mir nicht. Dafür fehlt mir die Gabe.

Und das Rechtsempfinden.

 

Wenige Wochen später gebe ich schließlich auf. Während ich auf dem Fahrrad sitze und mit schlaffen Beinen in die Schule strampele, denke ich darüber nach, einfach in den nächsten Busch zu rasen und dort liegen zu bleiben, bis alles vorbei ist.

Aber meine Gedankenströme sind zu sachlich: Im Busch liegen und warten ist keine sinnvolle Option. Und weil ich nicht alleine weiterkomme, beschließe ich ein letztes Mal, jemand anderen um Hilfe zu bitten.

Also gehe ich zu einer Psychologin und sage: »Ich möchte sterben. Aber ich bin zu jung, um tot zu sein. Ich möchte leben. Aber ich bin zu alt für diesen Körper. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Flucht zu ergreifen und trotzdem hier zu bleiben. Wissen Sie, ich konnte noch nie sonderlich schnell rennen. Ich bin zwar in der Schulstaffel, aber das liegt nur daran, dass andere noch weniger schnell rennen können als ich. Für einen Pokal wird es ganz bestimmt nicht reichen.«

Die Psychologin starrt mich an, kaut auf ihrem Kugelschreiber herum, rückt ihre Brille auf der Nase hin und her, guckt in ihren Terminplaner, schiebt mir eine Schale mit Bonbons hin, räuspert sich und verschreibt mir dann eine große Packung Antidepressiva.

»Damit geht es dir besser«, sagt sie und glotzt mich an wie ein erschossenes Reh.

»Danke«, sage ich, schlurfe in die nächste Apotheke und gebe das Rezept ab.

Die Apothekerin mustert mich und das Rezept eine Weile lang sehr kritisch, als würde sie darüber nachdenken, ob ich es vielleicht gefälscht habe, weil ich ein Junkie bin, aber dann drückt sie mir doch mit gerunzelter Stirn eine riesige Packung in die Hand und schenkt mir dazu sogar noch eine Packung Taschentücher mit Eukalyptusgeruch, von dem mir schlecht wird.

Zu Hause angekommen, werfe ich die Taschentücher in den Mülleimer, stelle die Pillenpackung auf meine Kommode und finde es mit einem Mal ziemlich dämlich, das missbrauchte kleine Mädchen in meinem Hirn mit Tabletten vollzustopfen, damit es seine Klappe hält. Irgendwann wird es sowieso wieder anfangen zu schreien. Und wie kann ich mir selbst noch in die Augen sehen, wenn ich meine Seele betäube und meine Augen verschließe vor dem, was ich bin?

Am Abend kommen meine Eltern nach Hause, mein Vater schnauzt mich an, und ich tue so, als würde ich ihm voller Hingabe lauschen, aber in Wirklichkeit zähle ich Mädchen in roten Frühlingskleidern, die über Zäune hüpfen und auf der anderen Seite direkt vor dem Maul des bösen Wolfs landen. Jedes dritte wird zerfetzt und gefressen.

Meine Mutter hat auch schlechte Laune. Wie berechenbar sie aussieht, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt und sich ihren Lippenstift mitsamt dem Lächeln aus ihrem Gesicht wischt.

Es gibt Reis mit Gemüse und Soße. Ich mag eigentlich keinen Reis, aber mir ist so schwindlig vom ewigen Hungern, dass ich nicht einmal mehr richtig gucken kann, ohne dass alles um mich herum ständig verschwimmt oder die Plätze vertauscht. Also esse ich.

»Iss nicht so viel!«, sagt mein Vater.

Und da stehe ich auf, stelle den Teller in die Spüle, gehe ins Bad, tue so, als würde ich duschen, und erbreche stattdessen lautlos in die Toilette. Dann gehe ich in mein Zimmer, öffne das Fenster, so weit es geht, lege mich nackt auf mein Bett und decke mich nicht zu. Die Zimmerdecke verschiebt sich und dreht sich viermal um sich selbst, dann rast sie auf mich zu und explodiert. Ich kneife meine Augen zusammen und versuche die Störung wegzublinzeln, aber Gott hat die Welt auch nicht an einem Tag erschaffen.

Meine Hände werden eiskalt, meine Haut ist längst rauh und taub. Ich warte auf eine Lungenentzündung oder auf den Tod durch Erfrieren. Es ist sinnlos, denn der Tod kommt selten wie gerufen, er ist lieber zu früh oder zu spät, zu überraschend oder zu grausam.

Also bleibe ich wach.

 

Der nächste Tag ist wärmer, aber davon merke ich nichts. In der Schule stehen meine Klassenkameraden in Gruppen zusammen und unterhalten sich über die coolsten Partys, die angesagtesten Läden, den geilsten Alkohol und die Charts. Ich bin neidisch. Ich würde das auch so gerne können. Aber ich stehe stumm daneben und versuche, nicht ohnmächtig zu werden, weil mir plötzlich, wie aus dem Nichts, der Geruch des einen Mannes in die Nase fährt: Alkohol und ein Gestank, der mich benebelt. Schwer und erdrückend liegt er auf mir. Die widerlichen Tage sind nicht gezählt. Wenn es hart auf hart kommt, muss man ziemlich lange ficken.

»Was ist los mit dir?«, fragt meine Klassenkameradin Miriam und rammt mir einen Ellbogen in die Seite.

»Nichts«, antworte ich.

»Du siehst aber ganz schön blass aus«, erwidert sie.

»Es geht mir gut!«, beteuere ich.

Dann flüchte ich auf die Toilette, huste Blut und probe vor dem Spiegel ein unbeschwertes Grinsen, bevor ich wieder zurück zu meinen Mitschülern gehe.

»Ist wirklich alles okay?«, fragt Miriam. »Jetzt siehst du nämlich noch blasser aus. Und das passt nicht so gut zu deinem ohnehin schon hellen Outfit.«

Alle starren mich an. Wahrscheinlich denken sie, dass gleich die Männer in Weiß aus dem Gebüsch hervorspringen und mich zurück in die Klinik schleifen. Von mir aus könnten die sogar kommen, aber das Einzige, was im Gebüsch raschelt, ist ein Spatz auf der Suche nach weggeworfenen Pausenbroten.

Ich halte den Blicken stand. Fünf Minuten lang. Dann gehe ich ins Sekretariat, melde mich krank und fahre nach Hause.

Nach Hause.

Das ist ein guter Running Gag.

Die Wohnung ist leer. Ich bin dankbar dafür und gehe in mein Zimmer. Dort lege ich mich auf mein Bett und starre die Kommode an. Darauf steht immer noch die Packung mit meinen Psychotabletten.

Eine Stimme in meinem Kopf sagt: »Schluck sie alle auf einmal runter!«

Eine andere Stimme sagt: »Au ja, und dann noch eine Schachtel Aspirin als Nachspeise!«

Eine dritte Stimme sagt leise und verführerisch: »Eine Tablette für den Anfang kann auf gar keinen Fall schaden …«

Also stehe ich auf, falle in Ohnmacht, stehe wieder auf und gehe in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Kurz darauf sitze ich erneut auf meinem Bett, öffne die Tablettenschachtel und überfliege schnell noch den Beipackzettel – zwei Seiten voll mit möglichen Nebenwirkungen. Ich zerreiße ihn achtlos, denke: »Jaja, ist mir doch egal …«, dann drücke ich eine Tablette aus der Folie, lege sie mir auf die Zunge, kippe Wasser hinterher und schlucke.

Zwanzig Minuten später treten sämtliche der möglichen Nebenwirkungen gleichzeitig auf. Mein Herz beginnt zu rasen und so heftig zu pochen, dass ich vor Angst kaum noch atmen kann. Mir wird übel, alles dreht sich, ich schwitze und friere, ich kann nicht mehr geradeaus laufen, meine Pupillen werden größer und größer, ich habe das Gefühl, dass meine Augen platzen, dann fangen meine Hände an zu zittern, mein Atem wird so hastig, dass ich kurz davor bin, an Luft zu ersticken. Ich taumele in Richtung Telefon, kippe auf dem Weg dahin mindestens zweimal um und laufe schließlich aus Versehen daran vorbei. Irgendwann habe ich dann doch noch den Hörer in der Hand, sitze auf dem Fußboden, stiere eine Steckdose an, weil ich es nicht schaffe, den Blick davon zu wenden, und überlege, wie man telefoniert. Aber da ich auch nicht mehr weiß, wen ich eigentlich anrufen wollte, lege ich wieder auf.

»So«, sagt ein klar denkender Teil in mir zynisch und von oben herab, »jetzt weißt du also, wie es ist, normal und antidepressiv zu sein. Zufrieden?«

Ich rolle mich mit dem Telefon in meinem Arm auf dem Boden zusammen und schlafe ein.

 

»Hör auf, in deinem Essen herumzustochern«, sagt mein Vater am nächsten Tag.

»Iss deine Nudeln«, schimpft meine Mutter.

Ich glotze mit riesigen Pupillen auf meinen Teller, verharre mitten in meiner Spaghetti-Revolution und versuche normal zu wirken. Langsam schiebe ich mir einen Bissen in den Mund, kaue sehr überzeugend darauf herum und spucke anschließend alles unauffällig in eine Serviette. Daraus mache ich dann eine Endlosschlaufe, bis mein Teller leer und die Serviette voll ist.

Gute Mädchen schlucken. Ich weiß.

Aber ich bin böse.