Was heißt hier Deutsch? - Wolfgang Krischke - E-Book

Was heißt hier Deutsch? E-Book

Wolfgang Krischke

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  • Herausgeber: C. H. Beck
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Unsere Sprache gerät heutzutage immer wieder in Turbulenzen: beim Gendern, durch die Leichte Sprache, bei der Kommunikation im Netz. Während die Debatten darüber sich oft in Polemik aufreiben, verhilft der Blick zurück zu mehr Sachlichkeit, Klarheit und echten Argumenten. Wolfgang Krischke erzählt die spannende Geschichte der deutschen Sprache auf unterhaltsame und aufschlussreiche Weise. Wenn wir sprechen, liegt uns die Vergangenheit auf der Zunge. Nicht nur jedes Wort hat seine Geschichte – historisch gewachsen sind auch die grammatischen Formen, die Schreibweisen, die Ausspracheregeln und nicht zuletzt unsere Urteile und Vorurteile über gutes und schlechtes Deutsch. Wolfgang Krischke erklärt, welche Kräfte den Sprachwandel vorantreiben. Er berichtet von den Menschen, die das Deutsche geprägt haben, und beantwortet Fragen wie: Warum ist Hochdeutsch «hoch»? Wie kam das reinste Deutsch nach Hannover? Stirbt der Genitiv wirklich? Und gehört die Zukunft dem Denglisch?

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Wenn wir sprechen, liegt uns die Vergangenheit auf der Zunge. Nicht nur jedes Wort hat seine Geschichte – historisch gewachsen sind auch die grammatischen Formen, die Schreibweisen und Ausspracheregeln und nicht zuletzt unsere Urteile und Vorurteile über gutes und schlechtes Deutsch.

Sprachwissenschaftler haben eine Fülle von hochinteressanten Details zur Geschichte der deutschen Sprache zusammengetragen. Aber der Großteil dieses Wissensschatzes liegt verborgen – um nicht zu sagen begraben – in schwer zugänglichen Fachpublikationen, verfasst von und für Experten. Etwas davon ans Licht einer größeren sprachinteressierten Öffentlichkeit zu bringen, ist Ziel dieses Buches.

Die vielen «Originaltöne» aus den verschiedenen Jahrhunderten sollen dem Leser einen lebendigen Eindruck vom Sprechen und Schreiben der Menschen vermitteln. Die dialektalen Färbungen und ungeregelten Schreibweisen dieser Stimmen spiegeln die Entwicklung einer Sprache, deren Vereinheitlichung und Standardisierung noch nicht sehr lange zurückliegt.

Wolfgang Krischke ist promovierter Sprachwissenschaftler, freier Journalist und Autor und hat an den Universitäten Hamburg, Bremen und Tübingen gelehrt.

Wolfgang Krischke

Was heißt hier Deutsch?

Kleine Geschichte der deutschen Sprache

C.H.Beck

Inhalt

1. Was heißt hier «Deutsch»?

Prolog im schweigenden Wald

Die altdeutsche Sprachwelt

Germanische Wurzeln

Gud-Run raunt

Forsaichistu diobolae? Gebete und Beschwörungen

Schneisen ins Dickicht: Die ersten deutschen Wörter werden geschrieben

Das Wort «deutsch» und seine Wurzeln

Die Namen der anderen: Deutsch, dutch und allemand

Die eingepflanzte Deutschlichkeit

Hochdeutsch und andere Dialekte

2. Unterwegs zur Hochsprache

Exklusiv: Die Sprache der Ritterlichkeit

Bürgerlich: Die Sprache des Kontors

Der Sog der Schriftlichkeit

Standardisierung – Die Evolution in der Schreibstube

Der niederdeutsche Weg zur Hochsprache

Der hochdeutsche Weg zur Hochsprache

Martin Luther: Klar vnd gewaltiglich verteutschen

Der Buchdruck – Die Heilige Schrift als Medienereignis

Die katholische Gaiß – Sprachstreit der Konfessionen

Das Niederdeutsche sinkt ab zum Dialekt

Richtig schön falsch – Hochdeutsch wird «korrekt»

Skandal im Hörsaal – Deutsch contra Latein

Salon-Französisch und Gassen-Deutsch

Die Grammatiker bringen Deutsch zur Sprache

«Dem Johann sein Weib ihr Großvater» – Das richtige und das wirkliche Deutsch

Bebe-, Blas- und Mampflaute – Die hochdeutsche Aussprache entsteht

Hannovers raanes Deutsch

Vom Dialekt zum Regiolekt

Vom Welt-deütsh zur Leichten Sprache

Erbleichende Wörter – Warum Bedeutungen sich ändern

3. Buchstabenkämpfe – Der Streit um die rechte Schreibung

Gegen die Gemechlichen und Endrungsscheüen

Mönchsorthographie? Die Emanzipation des Schreibens vom Sprechen

Jacob Grimm und die Leffel-Partei

Konfusion in der Schule

Der radikale Duden

Die gescheiterte Revolution

Raumers Prinzipien setzen sich durch

Die Ottographie

Zweiter Versuch

Die Sucht nach Genauigkeit

Keine Ruhe

Rechtschreibreform im Nationalsozialismus

«Stunde Null»

Orthographie im Kalten Krieg

nieder mit der reaktionären großschreibung

Sand im Getriebe

Auf den Barrikaden

Die Reform der Reform

Nach der Reform ist vor der Reform

Warum schreibt man …? Besonderheiten der deutschen Orthographie

Im Spinnwebwald – Fraktur und Sütterlin

Schreibsprech digital

4. Frengleutsch – Was die fremden Sprachen bringen

Wie viele Lehnwörter gibt es im Deutschen?

Indogermanische Entlehnungen

Latein: Sprachliche Entwicklungshilfe für Germanien

Die Welt der Ritter – Modesprache Französisch

Imponieren auf Flämisch

Barockzeit – Der alamodische Cavalier

Die verfrömdete Sprache

Grammatik im Herrenclub – Die Sprachgesellschaften

Potschamperl – Die Dominanz des Französischen

Schweißloch mit Feingefühl – Campes Kreationen

Wilhelminische Fremdwortjäger: Der Allgemeine Deutsche Sprachverein

Deutsch wird upgedatet

Die Dequalifizierung des Deutschen

5. Deutsch im Formtief? Grammatisches End(ungs)spiel

Einst boll der Hund

Der gefühlte Verfall

Hinab in die Vergangenheit

Indogermanische Anfänge

Neue Akzente, bröckelnde Endungen

Ablaut im Umbau – Die Erfindung der schwachen Verben

Dank der Grammatikalisierung

Zukunftsaussichten – Die Schriftbremse

Durchgewunken – Ein Lob der Unregelmäßigkeit

6. Genus, Sexus, Gender: Die Vergeschlechterung der Grammatik

Genus und Geschlecht

Handlungsfähig: Die indogermanischen Ur-Genera

Die Geburt des Femininums

Das Maskulinum als Serienprodukt

Bestirnte Sprache – Der Streit ums Gendern

Marsch in die Institutionen

Die Grammatik der Weltverbesserung

Ein Stern geht auf

Sehr geehrte Persönlichkeiten!

Der Rat für Rechtschreibung und das Gendern

Die gewandelte Sprache

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Register

1. Was heißt hier «Deutsch»?

Prolog im schweigenden Wald

Der Mund öffnet sich. Die Worte, die zwischen Zahnstümpfen hervorkommen, klingen vertraut und zugleich fremd, wie ein abgelegener Dialekt: Uuanan quemet ir, bruoder?

Eine abgehärmte Gestalt ist es, die uns «Bruder» nennt und wissen möchte, woher wir kommen. Der verschlissene Umhang aus Wolle hat die Farbe des schlammigen Waldwegs, auf dem wir uns gegenüberstehen.

Was antwortet man so jemandem? Dass man ihn nur mit Mühe versteht, weil man aus einer Zeit kommt, die mehr als tausend Jahre in der Zukunft liegt? In der die Wörter seiner Sprache nur noch als ferne Echos existieren?

Unser Wanderer runzelt die Stirn, er macht einen Schritt zurück. Wie soll er unser Schweigen deuten, mitten im schweigenden Wald? Wollen wir ihn berauben? Sind wir ein böser Geist? Misstrauen, Furcht und eine Spur von Zorn malen sich auf seinem Gesicht ab. Gepresst fragt er noch einmal – und jetzt duzt er uns – nach dem Wer und Woher: Uuer pistu? Uuana kimmst du?

Wir gehen einen Schritt auf ihn zu, sagen Bruoder zu ihm, strecken den Arm aus zu einem Handschlag, der die Kluft zwischen unseren Zeiten überbrücken soll. Doch die Anbiederei stimmt ihn nicht freundlicher. Er weicht zurück, greift unter den Mantel und zischt: Hundes ars in dine naso.

Ein Hundearsch wird in unsere Nase gewünscht – da erlauben wir uns, die Nase voll zu haben. Wir drücken die mentale Stopp-Taste, lassen die Szene einfrieren auf dem Monitor unserer Imagination. Unser altdeutscher Mitbürger mit dem schlechten Gebiss verharrt, vom Zauberspruch gebannt, mit der Hand unter dem Umhang. Was immer er dort hervorziehen wollte – Messer oder Knüttel vielleicht – bleibt verborgen. Unser erster Kontakt mit der altdeutschen Sprachwelt ist beendet.

Die altdeutsche Sprachwelt

Rau ist die Zeit, in die wir uns hier versetzen, die Jahrhunderte zwischen 500 und 1000, als sich aus dem Germanischen die Dialekte herausschälten, die Sprachwissenschaftler erst später unter den Sammelbegriff «deutsch» fassen werden. Urwälder, Sümpfe, feuchte Flussniederungen überzogen Mitteleuropa. Die Dörfer und Felder lagen als winzige Inseln in einem dichten Meer aus Grün. Mit Spaten, Axt und Pflug rangen die Bauern der Wildnis urbares Land ab. Plackerei bestimmte ihr Leben vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne. Man hauste in zugigen, verqualmten Hütten. Nach Sonnenuntergang regierte die Dunkelheit, kaum jemand konnte sich Talg- oder Wachslichter leisten. Schmutz, Gestank und Parasiten gehörten zum Alltag. Immer drohten Missernten, Krankheiten und früher Tod.

Der Lebenskreis war auf den Wohnort und die nähere Umgebung beschränkt. Jenseits davon begann das Ausland – dort zu sein, hieß elilenti zu sein. Unser Elend stammt von dem althochdeutschen Wort ab. Auf Reisen ging nur, wer es unbedingt musste. Die wenigen Fernwege waren schlecht. Der Wald erschien als eine feindliche grüne Welt. Man kommunizierte fast nur mündlich, von Angesicht zu Angesicht. Briefe und Bücher waren die Medien einer winzigen Minderheit, auch sie wurden laut vorgelesen, denn die Schrift galt nur als vorübergehender Speicher des Klangs. Eine massenmediale Sprachwelt wie die unsere, die von frei flottierenden Wörtern überquillt, wäre jenen Zeitgenossen fremd und unheimlich erschienen.

Die Stimmen der einfachen, ungebildeten Menschen, der großen Mehrheit also, dringen aus jener Zeit nur sehr gefiltert zu uns. In den Pergamenten fanden sie nur selten Niederschlag. Die einzigen, die lesen und schreiben konnten, waren Geistliche. Ihre Hauptsprache war Latein, in ihr sind die meisten Texte geschrieben, die Volkssprache führte nur ein Schattendasein. Aus der Zeit zwischen 700 und 900 sind etwa 1200 Handschriften überliefert, die ganz oder teilweise auf Althochdeutsch geschrieben sind, die Zahl der lateinischen beträgt mehr als das Siebenfache.

Auch die deutsch geschriebenen Texte sind von der christlichlateinischen Gelehrsamkeit der Mönche durchtränkt. Gebete, Segenssprüche, biblisch inspirierte Gedichte und Erzählungen überwiegen. Daneben stehen Rechtstexte, Eidformeln, geographische Beschreibungen. Immerhin – mancher mönchische Schreiber, der am Stehpult seinem anstrengenden Handwerk nachging, erlaubte sich dann und wann einen Ausflug in die profane Welt der Alltagssprache und notierte auf freigebliebenen Seiten Redewendungen, Sprichwörter, Zauberformeln oder anzügliche Verse. Sie erlauben den Blick in eine Sprach- und Gedankenwelt, die konkret und direkt, manchmal derb und spöttisch ist.

liubene ersazta sine gruz

unde kab sina tohter uz

to cham aber starzfidere

prahta imo sine tohter uuidere

Liubene setzte sein Hochzeitsbier an

und verheiratete seine Tochter.

Da kam aber der gefiederte Schweif

und brachte ihm seine Tochter wieder

Manche Geistliche wagten es, Bruchstücke aus der heidnischen Welt germanischer Götter- und Heldensagen zu konservieren. Dazu gehören die Merseburger Zaubersprüche, benannt nach ihrem Fundort, dem Dom von Merseburg. Jemand hatte die Zeilen trotz – oder wegen? – ihres heidnischen Inhalts auf die leer gebliebenen Seiten einer theologischen Handschrift geschrieben.

Phol unde uodan uoron zi holza

do uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkit.

thu biguol en sinthgun sunna era suister

thu biguol en friia uolla era suister

thu biguol en uuodan so he uuola conda

sose benrenki sose bluotrenki

sose lidirenki

ben zi bena bluot zi bluoda

lid zi geliden sose gelimida sin

Phol und Wotan ritten in den Wald.

Da verrenkte sich Balders Fohlen einen Fuß.

Da besprach ihn Sindgund, der Sonne Schwester,

da besprach ihn Frija, der Volla Schwester,

da besprach ihn Wotan, so gut nur er [allein] es vermochte: wie die Verrenkung des Knochens so [ist] die Verrenkung des Blutes,

so die der Glieder,

Knochen zu Knochen, Blut zu Blut

Glied zum Gliede. So seien sie fest zusammengeleimt.

Germanische Wurzeln

Diese Verse führen uns zurück bis in die Welt der Germanen, die den sprachlichen Wurzelboden für das Deutsche legte. Wie haben sie gesprochen? Zum Beispiel so:

EK HLEWAGASTIZ : HOLTIJAZ : HORNA : TAWIDO

Ich, Hlewagast, Holtes Sohn (oder: Sohn des Holzschnitzers) stellte das Horn her.

Diese Worte ritzte jemand zwischen 350 und 450 in ein Goldhorn, das 1639 in Gallehus in der Nähe des dänischen Tondern gefunden wurde. Die Sprache ist Nordwestgermanisch, die Keimzelle der späteren westgermanischen Sprachen Deutsch, Niederländisch, Englisch, Friesisch und Jiddisch sowie der nordgermanischen Sprachen Dänisch, Norwegisch, Schwedisch und Isländisch. Ein anderer Zweig, der sich schon im 4. Jahrhundert aus dem gemeinsamen Ur-Germanisch ausgegliedert hatte, ist das heute ausgestorbene Ostgermanisch mit seinem wichtigsten Vertreter, dem Gotischen (zur Grammatik des Germanischen und den indogermanischen Wurzeln s. S. 272) Der Klang des Germanischen war dem heutigen Niederdeutsch und Niederländisch ähnlicher als dem Hochdeutschen. Für eine «englische» Färbung sorgte der Lispellaut þ, der dem englischen th entspricht und sich auch noch im Deutsch des frühen Mittelalters findet. Verglichen mit den klassischen europäischen Literatursprachen Griechisch und Latein sind die sprachlichen Überlieferungen des Germanischen spärlich. Dazu gehören einige Dutzend kurze Runeninschriften aus dem 2. bis 6. Jahrhundert sowie mehrere germanische Wörter, die römische Autoren wie Caesar und Tacitus notiert haben, beispielswiese urus ‹Auerochse›, sapo ‹Schminke, Seife›, glesum ‹Bernstein, Glas›, flado ‹Fladen›, harpa ‹Harfe›, medus ‹Met›, ganta ‹Gans›. Einen Blick in die germanische Vergangenheit gewährt auch das Finnische, das einige germanische Lehnwörter in altertümlicher Form bewahrt hat: rengas ‹Ring›, kuningas ‹König›, gernas ‹gern›, tiuris ‹teuer›, hansa ‹Schar, Volk›, pelto ‹Feld›. Da germanische Stämme sich in der Völkerwanderungszeit über ganz Europa verteilten, finden sich ihre sprachlichen Spuren auch dort, wo man sie nicht unbedingt vermuten würde: In spanischen Namen wie Rodrigo (Hrôþrîks / Roderich ‹Ruhm + Herrscher›) oder Fernando (Frîþunanþ ‹Friede + Ruhm›) hallt noch die Zeit der Westgoten nach. Und auch der typisch spanische Rachenlaut (Juan) und das «gelispelte» s (entonces) sind wohl ein germanisches Erbe. Die Goten haben der Nachwelt freilich weit mehr hinterlassen, nämlich eine Übersetzung der Heiligen Schrift aus dem Griechischen ins Gotische, die um 375 im heutigen Bulgarien entstand (s. S. 224). Diese nach ihrem Verfasser benannte «Wulfila-Bibel» ist der längste germanische Text, den wir kennen. Der Missionsbischof Wulfila hatte für seine Übersetzung eine eigene Schrift mit griechischen, lateinischen und runischen Buchstaben entwickelt. Der Anfang des Vaterunsers lautet auf Gotisch: Atta unsar thu in himinam, weihnai namo thein. Qimai thiudinassus þeins…

Gud-Run raunt

Zu den faszinierendsten Hinterlassenschaften der Germanen gehören die Runen. Das Rätselhafte der spitzwinkligen Zeichen steckt schon in ihrem Namen, der «Geheimnis» bedeutet. Rune findet sich im Wort raunen ebenso wie in Gudrun (‹Kampfrune› im Sinne von ‹die sich mit Kampfrunen auskennt›) oder Sigrun (‹Siegrune›). Runen wurden in Stein, Knochen, Holz oder Metall geritzt. Das germanische writan ‹Runen ritzen› steckt im englischen to write ebenso wie in den deutschen Wörtern ritzen, reißen, Reißbrett und Aufriss.

Glaubt man den germanischen Mythen, dann stammen die Runen von Göttervater Odin. Der rammte sich zum Zweck der Bewusstseinserweiterung einen Speer durch den Leib und hängte sich daran zwischen den Ästen eines Baumes auf. Die Visionen, die er während dieser Extrem-Meditation empfing, lehrten ihn, wie man Runen ritzt und ihre magische Macht benutzt.

Wie die ältesten germanischen Schriftzeichen tatsächlich entstanden, liegt im Dunkeln: Die Wissenschaftler sind sich einig, dass die Germanen die Zeichen nicht erfanden, sondern auf eine Vorlage zurückgriffen, die sie abwandelten. Welche das war, darüber gehen die Meinungen auseinander. In der Diskussion sind das griechische, das etruskische oder das lateinische Alphabet, die alle auf die phönizische Schrift zurückgehen. Die Mehrheit der Forscher bevorzugt die Lateinlösung. Allerdings wurden die ältesten Runeninschriften nicht an den Grenzen des Römischen Reichs, also am Limes oder in den Alpen gefunden, sondern weitab in Südskandinavien und Schleswig-Holstein. Möglicherweise ist die Runenschrift Frucht einer kulturellen Blütezeit, die in dieser Region seit dem 1. Jahrhundert herrschte. Die germanische Oberschicht dort importierte Luxusgüter aus dem Imperium und orientierte sich am Lebensstil der römischen Elite. In diesem Zusammenhang könnten die Germanen auch das Alphabet übernommen und für ihre Zwecke abgewandelt haben. Möglicherweise dienten die Runen als Identitätssymbole einer Kriegerelite. Einer anderen Theorie zufolge waren es die Phönizier selbst, genauer gesagt die Karthager, die die Nordseeküsten besuchten und die dort lebenden Germanen bereits um 300 vor Christus zum Runenschreiben inspirierten. Tatsächlich gibt es einige auffällige Ähnlichkeiten mit dem phönizischen Alphabet. Trotzdem steht diese Theorie bislang auf wackligen Beinen: Zwar ist belegt, dass Phönizier Expeditionen zu den britischen Inseln unternahmen. Reisen nach Germanien jedoch sind weder in den schriftlichen Quellen noch durch archäologische Zeugnisse dokumentiert. Hinzu kommt, dass die ältesten gesicherten Runenfunde erst aus der Mitte des 2. Jahrhunderts nach Christus stammen, als Karthago schon längst nicht mehr existierte.

Das Runenalphabet wird nach seinen ersten sechs Lauten «Fuþark» genannt, ähnlich wie unser Alphabet «ABC» heißt. Der þ-Laut entspricht dem englischen th. Die 24 Runen, aus denen das Fuþark bestand, waren jedoch mehr als nur Buchstaben, die Laute wiedergaben. Jede Rune hatte außerdem einen Namen, der mit dem betreffenden Laut begann. So steht die Rune für F auch für das Wort fehu ‹Vieh, Vermögen›. U steht für ūruz ‹Auerochse›, Þ für þurisaz ‹Thurse, Riese›, A für ansuz ‹Ase›, R für raidō ‹Ritt, Fahrt, Wagen› und K für kaunan ‹Geschwür, Krankheit›. Um solche Wörter zu schreiben, reichte es, wenn man nur die jeweilige Rune ritzte. Beschrieben wurden Steine und Felsplatten, Waffen, Schmuck, Amulette, Kämme, Kästchen, Ringe, Goldhörner und kleine Statuen. Der Stab im Wort Buchstabe bezeichnete ursprünglich den senkrechten Strich der Runen, an den die Haken und Querstriche angefügt wurden.

Feierliche Formeln – Die Sprache hinter den Zeichen

Ein Volk von Schriftgelehrten waren die Germanen trotz der Runen nicht. Nur sehr wenige beherrschten diese Schrift. Es spricht einiges dafür, dass diese «Runenmeister» zu einer kleinen germanischen Bildungselite gehörten, die Latein konnte. Benutzt wurden die Runen vor allem für kurze Mitteilungen, Sprüche oder magische Formeln. Häufig beschränkte sich die Inschrift auf die Namen von Besitzern, Schenkenden oder Beschenkten. Oft verewigten sich stolze Ritzer auch nur selbst, so wie sie es noch heute auf Parkbänken und Baumstämmen tun:

BidawarijaR talgidai

BidawarijaR schnitzte.

Für längere Texte wurden die Runen nicht genutzt. Ihre Sagen und Gesänge, ihre Geschichten, Rechtsvorschriften, Sitten und Gebräuche überlieferten die Germanen mündlich von Generation zu Generation. Deshalb konnten die Runen auch nie die kulturgeschichtliche Bedeutung des lateinischen oder griechischen Alphabets erlangen. Die längste bisher gefundene Inschrift steht auf einem Steinblock, den ein Mann namens Varin seinem toten Sohn weihte. Sie ist 750 Zeichen lang. Das entspricht einem Kurzbericht in der Zeitung.

Die Magie des Lauchs

In der Vorstellungswelt der Germanen waren Runen nicht bloß Buchstaben – sie hatten auch Zauberkraft. Auf Schwertern oder Pfeilschäften halfen sie im Kampf, Rettungsrunen gaben Beistand bei Krankheit und Not. Es gab Runen für die Geburtshilfe und Schutzrunen gegen «Frauentrug». Runen, die man den Verstorbenen mitgab, sollten vor Grabräubern schützen – aber auch vor den Verstorbenen selbst, die man als Wiedergänger fürchtete. Deshalb richteten die Hinterbliebenen die abwehrenden Worte mitunter ins Innere des Grabes. An guten Ratschlägen für die Toten fehlte es nicht: «Nutze Deinen Hügel wohl», mahnen Runensteine auf Fünen und Seeland.

Mehr dem Leben zugewandt waren die Runen für den Liebeszauber. «Friedel, du fasse mich», lautet eine solche Liebesinschrift auf einer Scheibenfibel, die bei Zürich in einem Frauengrab gefunden wurde. Am Ende sind zwei L-Runen eingraviert: Sie stehen für Laukaz ‹Lauch›. Hinter der harmlosen Gemüse-Rune verbirgt sich die Geheimbedeutung ‹Glied›. Lauchstangen hatten für die Germanen eine besondere Bedeutung. Ihnen schrieben sie Heilkraft und magische Wirkung zu, sie galten als Aphrodisiakum und Symbol der Fruchtbarkeit. Sagen berichten von einer Bäuerin im Norden Norwegens, die einen Pferdephallus zur Konservierung in Lauch einwickelte, damit die Familie ihm allabendlich huldigen konnte.

Die ältesten Runen

Etwa 6500 Runeninschriften wurden bislang gefunden, die meisten entstanden allerdings erst in nachgermanischer Zeit. Der Löwenanteil aller Runenfunde stammt aus Skandinavien, 80 Inschriften kommen aus Deutschland, andere Fundorte liegen in England, in den Niederlanden und in Irland. Durch die Wikinger gelangten Runen selbst nach Russland und Griechenland. Die Zahl der bekannten Inschriften wächst dauernd, weil die Archäologen immer neue Funde machen. Am häufigsten handelt es sich um Inschriften auf Stein oder Metall, denn diese Materialien haben die Jahrhunderte am besten überdauert. Aber Moorgrabungen brachten auch Runen auf Holz und Knochen ans Licht.

Der vielleicht älteste Runenfund stammt aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts. Es ist eine Gewandspange, eine so genannte Fibel, die im schleswig-hosteinischen Meldorf entdeckt wurde. In das Metall ist die Lautfolge hiwi eingraviert – möglicherweise eine Widmungsinschrift für eine Frau. Bislang weiß man allerdings nicht, ob es sich hierbei wirklich um Runen handelt oder nur um den ungelenken Versuch, lateinische Buchstaben zu ritzen. Keinen Zweifel gibt es bei den nächstälteren Funden aus dem 2. Jahrhundert: ein Kamm, entdeckt bei Vimose im dänischen Fünen, mit dem Männernamen harja und eine Lanzenspitze aus einem Grab im norwegischen Oppland. Sie trägt das Wort raunijaR eingraviert mit der Bedeutung ‹Erprober›. Die magische Bezeichnung für die Waffe sollte beim Angriff Glück bringen.

Kulturexport von Nord nach Süd

Die Runen waren zunächst vor allem eine Sache der Nordgermanen. Im späteren Deutschland verbreiteten sie sich erst mit Verzögerung. Eine Ausnahme bildet Süd-Schleswig, das damals zum nordischen Kulturkreis gehörte. Im 4. und 5. Jahrhundert gelangten einzelne Inschriften in das heutige Niedersachsen. Zu einer echten Runen-Mode kam es im 6. Jahrhundert: Vor allem im heutigen Baden-Württemberg haben Archäologen eine Vielzahl von Schmuckstücken mit Runeninschriften aus dieser Zeit gefunden. Die Runen wurden hier populär, nachdem die Franken im Jahr 531 die Thüringer besiegt hatten. Deren Reich hatte zuvor wie ein Sperrriegel die Verbindungen zwischen Norden und Süden blockiert. Jetzt war der Weg frei für skandinavische Importe, die im Land der Alemannen offenbar eine regelrechte Nordland-Welle auslösten.

Im 8. Jahrhundert veränderte sich das Runenalphabet in Skandinavien. Die Zahl der Buchstaben schrumpfte von 24 auf 16. Der Popularität der Runen tat das keinen Abbruch – im Gegenteil: Im Hochmittelalter entwickelten sie sich in den nordischen Ländern immer stärker zu einer Alltagsschrift. In quadratische Hölzchen geritzt diente sie für Kurzmitteilungen aller Art von Liebesgrüßen bis zu «Lieferscheinen», die die Kaufleute ihren Waren anhefteten. Ihren heidnischen Ursprung legten die Runen nach und nach völlig ab. Sie finden sich mit christlichen Inhalten auf Kirchenmauern und Glocken, Taufbecken und Gräbern. Bis zur Buchschrift brachten es die Runen allerdings auch in Skandinavien nicht. Zu eng war die Schreibkultur der gelehrten Bücherwelt mit dem Erbe der klassischen Antike verbunden.

In den deutschsprachigen Gebieten kamen die Runen bereits im 7. Jahrhundert aus dem Gebrauch. Das geschah offenbar ohne äußeren Druck. Die Kirche jedenfalls bekämpfte die germanischen Zeichen hier ebensowenig wie in Skandinavien. Für sie zählte, was jemand schrieb, nicht mit welchen Buchstaben. Etliche Grabbeigaben aus Deutschland tragen Runen-Inschriften mit dem Bekenntnis zum christlichen Glauben. Auch Klosterschreiber notierten in ihren Pergamenten gelegentlich Namen oder kurze Sätze in Runenschrift. Geistliche Gelehrte zeichneten Runenalphabete auf, weil sie glaubten, dass sich dahinter eine Ursprache verberge. Doch mehr als solch antiquarisches Interesse vermochten die Runen bald nicht mehr zu erwecken. Gegen die Ausstrahlung Roms und der lateinisch-christlichen Kultur konnten sie sich in den deutschsprachigen Gebieten anders als in Nordeuropa nicht behaupten. Sie veralteten und starben aus, ähnlich wie in unserer Zeit die Sütterlin-Schrift.

Forsaichistu diobolae? Gebete und Beschwörungen

Kehren wir aus der germanischen Zeit zurück in die etwas jüngere des frühen Deutsch. Allzu groß ist der Sprung nicht. Mochten die Runen auch verwittern, die germanische Welt, in der persönliche Bindungen, Treue und Gefolgschaft, nicht staatliche Institutionen, das Gerüst der Gesellschaft bildeten, ragte noch weit in das Mittelalter hinein. Den Horizont des Adels bestimmten archaische Werte, seine Koordinaten waren Ehre und Rache, Jagd, Kampf und Beutegier. Gewalt gehörte zum täglichen Leben: Fehden, Kriege und Jagdunfälle brachten viele Herren schon in jungen Jahren ins Grab. Auch die Adligen waren in ihrer großen Mehrheit Analphabeten. Das Schwert, nicht die Feder, machte den Mann zum Mann. Die Tugenden des Nahkampfs verhießen auch dem König ewigen Ruhm.

suman thuruhskluog her, suman thruhstach her Her skancta ce hanton. Sinan fianton bitteres lides.

Den einen erschlug er, den anderen durchstach er, seinen Feinden schenkte er sogleich bitteren Trank aus.

So heißt es im «Ludwigslied» zum «seligen Angedenken» an Ludwig III., der 881 mit seinem Heer die Normannen besiegte.

Erst im 9. Jahrhundert wurden auch die letzten noch heidnisch gebliebenen Gebiete des deutschen Sprachraums christianisiert. Aber oft genug blieb die Bekehrung oberflächlich. Wichtiger als die Erforschung der Seele waren Formeln und Rituale. Glauben bedeutete, sie korrekt zu vollziehen. Bei den Niederdeutsch sprechenden Sachsen, denen Karl der Große mit dem Schwert den neuen Glauben aufzwang, hörte sich das so an:

Forsaichistu diobolae? Ec forsachu diobolae.

End allum diobolgelde? End ec forsachu allum diobogeldae. End allum dioboles uuercum? End ec forsachu allum dioboles uuercum and uuordum, Thunnaer ende Uuoden ende Saxnote ende allum them unholdum, the ira genotas sind.

Schwörst du dem Teufel ab? Ich schwöre dem Teufel ab.

Und jedem Teufelsopfer? Und ich schwöre jedem Teufelsopfer ab. Und allen Werken des Teufels? Und ich schwöre allen Werken und Worten des Teufels ab, Donar, Wotan, Saxnot und allen Götzen, die ihre Genossen sind.

Unter dem Firnis des Christentums lebte der Glaube an Zauberei weiter. Himmel und Erde, Pflanzen, Tiere und Menschen, Gedanken und Dinge waren durch ein verborgenes sympathetisches Wirkungsgeflecht miteinander verbunden, das man durch die richtigen Worte beeinflussen konnte. Vor den Unbilden des Schicksals suchte man Zuflucht bei Beschwörungen, in denen sich magische Formeln mit christlichen Gebeten vermengten.

Ih bimuniun dih. suaz pi gode iouh pi christe daz tu niewedar ni gi-tuo. noh tolc noh tot houpit.

Ich beschwöre dich, Geschwür bei Gott und Christus, dass du nie mehr eine Wunde machst oder den Tod bewirkst.

Die Sprache der Menschen in dieser Zeit nennen wir heute Deutsch, doch suggeriert der Begriff eine Einheitlichkeit, die es nicht gab. Was im Rückblick so heißt, war in dieser Zeit nicht mehr als ein Netzwerk verwandter Dialekte. Die Möglichkeiten für Bewohner verschiedener Regionen, sich zu verständigen, dürften so gut oder schlecht wie zwischen heutigen Dialektsprechern gewesen sein. Für eine gewisse Vereinheitlichung zumindest in der Schriftsprache sorgten vor allem die Geistlichen in den Klöstern, die sich bemühten, Kontakt untereinander zu halten. Wie stark die Übereinstimmungen sein konnten, zeigen die Anfänge des Vaterunsers:

Fater unseer, thû pist in himile, uuîhi namun dînan, qhueme

rîhhi dîn …

St. Gallen (8. Jahrhundert, alemannisch)

Fater unsêr, dû pist in himilum … Kauuîhit sî namo dîn, …

Piqhueme rîhhi dîn …

Freising (9. Jahrhundert, bairisch)

Fater unsêr, thu in himilom bist, giuuhîhit sî namo thîn, quaeme

rîchi thîn …

Weißenburg (9. Jahrhundert, rheinfränkisch)

Fater unser, thû thar bist in himile, sî giheilagôt thîn name,

queme thîn rîhhi …

Fulda (9. Jahrhundert, ostfränkisch)

Schneisen ins Dickicht: Die ersten deutschen Wörter werden geschrieben

Chumo kiscreip filo chumor kipeit

Mit viel Mühe fertig geschrieben, mit noch mehr Mühe dies [das Ende] erwartet.

Dieser Stoßseufzer entrang sich der Brust eines mönchischen Schreibers im Kloster St. Gallen des 9. Jahrhunderts. Er und seine Klosterbrüder verbrachten ihre Tage im Skriptorium an Stehpulten, wo sie tagein, tagaus Buchstabe an Buchstabe auf das Pergament setzten. Der Schriftsetzer hat seine sprachlichen Wurzeln in diesen Zeiten. Für diejenigen Geistlichen, die sich vom 8. Jahrhundert an daran machten, deutsche Wörter und Sätze niederzuschreiben, gesellte sich zur körperlichen Anstrengung noch die geistige Herausforderung. Sie waren Pioniere im Dickicht einer Sprache, für die weder Wörterbücher noch Orthographieregeln oder grammatische Nachschlagewerke existierten. Es gab nicht einmal eigene Schriftzeichen, nachdem die Tradition der Runen in Deutschland untergegangen war. Die Schreiber griffen deshalb auf das lateinische Alphabet zurück, dessen Zeichen aber nicht immer zu den deutschen Lauten passten. Um diese Lücken zu füllen, erfanden die Mönche das w, das ursprünglich ein doppeltes u war («double u» heißt es noch heute im Englischen), sie kombinierten Buchstaben wie s, c und h zu sch und ch, oder sie verdoppelten Vokale und Konsonanten, um lange und kurze Laute darzustellen (vgl. S. 195ff.).

Weil es keine verbindlichen Rechtschreibregeln gab, entwickelte jedes Kloster sein eigenes System. Dementsprechend viele Varianten finden sich in den alten Pergamenten. ‹Ludwig› zum Beispiel wird geschrieben als lodhuuig, Ludhuuuig, Hludwîg, Ludouuig. Die ‹Freude› gab es als vröude, vröide, vreude, vröuwede, fröwede, fröwde, vrouwede, vrowede, vroude, vrôde. Das -ch in «Reich» erscheint mal als rîhhi, dann wieder als rîhi oder rîchi. Da das w – damals «englisch» ausgesprochen (wie in wood) – oft durch ein doppeltes u dargestellt wurde, entstanden Gebilde wie triuuue (triuwe ‹Treue›) oder uuunna (wunna ‹Wonne›).

Welche Schwierigkeiten die Verschriftung bereitete, schildert der Mönch Otfrid von Weißenburg (800–875), der erste namentlich bekannte Dichter, der deutsch schrieb. Otfrid beschreibt – auf Latein – die «ungewöhnliche Lautung» seiner fränkischen Muttersprache wie ein Ethnologe, der die Sprache eines bislang unbekannten Volkes verschriften soll. «Denn bisweilen fordert sie, wie mir scheint, drei u – die ersten zwei meines Erachtens konsonantisch lautend, während das dritte u den Vokalklang beibehält – bisweilen konnte ich weder den Vokal a noch ein e, noch ein i und auch nicht ein u vorsehen: in solchen Fällen erschien es mir richtig, y einzusetzen. Aber auch gegen diesen Laut sträubt sich diese Sprache manchmal: sie geht überhaupt bei gewissen Lauten nur mühsam eine Verbindung mit einem bestimmten Schriftzeichen ein.»

Kein Wunder, dass sich manchem Mönch die Feder sträubte, wenn er statt im vertrauten Kirchenlatein in seiner Muttersprache schreiben sollte. So ging es auch Wisolf, einem alemannischen Klosterbruder, der um das Jahr 1000 das Lied vom heiligen Georg, dem Drachentöter, aufzeichnen wollte. Mit ungelenker Handschrift, zahllosen Verschreibern, Verbesserungen und immer wieder vertauschten Buchstaben quälte er sich durch die Verse, bis er entnervt mittendrin aufgab. Ih ne kan ‹Ich kann nicht› will er unter die letzte Zeile setzen. Aber nach Ih n… bricht er ab und schreibt das Gemeinte lieber im vertrauten Latein: Nequeo – das immerhin ist korrekt geschrieben.

Das älteste deutsche Buch

Eines der ersten deutschen Wörter, die den Weg aufs Pergament fanden, war dheomodi ‹demütig›. Das passt zu einer Schriftsprache, die im Schatten des Lateinischen stand und zunächst nur hinter den Mauern der Klöster gedieh. Das Wort steht am Anfang des ältesten erhaltenen deutschen Buches, eines lateinisch-deutschen Wörterverzeichnisses, genannt «Abrogans». Das ist die lateinische Vokabel für demütig und der erste Eintrag des Buches. Das bairische Original, das um 760 wahrscheinlich im Kloster Freising entstand, existiert nicht mehr. Erhalten sind drei alemannische Abschriften aus dem späten 8. und dem 9. Jahrhundert, die heute in St. Gallen, Karlsruhe und Paris aufbewahrt werden. Wer sich den St. Galler «Abrogans», 320 Seiten dick, im Internet anschaut, sieht keine Prachthandschrift vor sich. Die Schreiber mussten sich mit einem löchrigen Pergament begnügen, gebunden zwischen hölzerne Buchdeckel. Nur wenige Buchstaben sind mit Ornamenten ausgeschmückt. Die Einträge, ungelenk geschrieben, stehen sich nicht in Spalten gegenüber, wie man es von einem Wörterbuch erwarten würde, sondern reihen sich, nur durch Punkte getrennt, aneinander. Die Vorlage war ein lateinisches Synonymenlexikon, das in Italien entstanden war, um seltenere lateinische Wörter und Wendungen der Bibel durch gängigere, ebenfalls lateinische Ausdrücke zu erläutern. Die deutschen Autoren notierten die deutschen Übersetzungen, etwa helfa ‹Hilfe› für auxilium, firleitit ‹verleitet› für seducit oder kotes mines heli ‹meines Gottes Heil› für dei mei salus. Da sie sowohl für das lateinische Stichwort als auch für dessen lateinische Synonyme althochdeutsche Entsprechungen suchten, mussten sie es mit einem sehr nuancierten Wortschatz aufnehmen. Für dessen Feinheiten existierten oft noch gar keine deutschen Vokabeln, so dass notdürftige Umschreibungen herhalten mussten. Das schmälert nicht die bewundernswerte Pionierleistung, die der «Abrogans» mit seinen über 3000 althochdeutschen Wörtern darstellt.

Die ersten Spuren deutscher Schriftsprache sind sogar noch einige Jahrzehnte älter als der «Abrogans» und finden sich in lateinischen Handschriften. Dort schrieben Mönche und Nonnen deutsche Wörter als Übersetzungshilfen an den Rand oder zwischen die Zeilen. Etwa zwei Drittel des althochdeutschen Wortschatzes sind durch solche «Glossen» überliefert. Sie wurden häufig nicht mit der wertvollen Tinte geschrieben, die nur im Skriptorium für Schreibaufträge zur Verfügung stand. Stattdessen benutzten die Geistlichen Griffel, mit denen sie auch Notizen in ihre Wachstafeln ritzten, und kerbten damit die deutschen Wörter in das Pergament. Die frühesten dieser «Griffelglossen» stammen vom Beginn des 8. Jahrhunderts und finden sich in einer Handschrift aus dem luxemburgischen Echternach. Es sind die ältesten überlieferten deutschen Worte, wenn man von den wenigen Runeninschriften in althochdeutscher Sprache absieht. Lesbar sind die eingeprägten Buchstaben allerdings nur, wenn das Licht von der Seite fällt, deshalb entgingen sie auch lange den germanistischen Forschern. Ermunterung bei den ersten Versuchen, die Volkssprache zu verschriften, bekamen die deutschen Mönche von angelsächsischen Missionaren. In Britannien hatte man schon einige Jahrzehnte zuvor begonnen, altenglisch zu schreiben.

Im Namen die Tochter

Eigentlich eine ganz normale Taufe: Der Dorfpfarrer benetzt das Kind mit Weihwasser, macht das Zeichen des Kreuzes und spricht die Formel in nomine patria et filia et spriritus sanctus. So hat er es immer getan. Doch dieses Mal sitzt ein Abgesandter des Bischofs in der Kirche und den stört gewaltig, was er da hört. Die Worte des braven Priesters heißen auf Deutsch nämlich nicht ‹im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes›, sondern ‹im Namen das Vaterland und die Tochter und der Heilige Geist›. Das ist nicht nur Unsinn, sondern eine Verfälschung der heiligen Worte, die den gesamten Taufakt infrage stellt. Formeln, Gebete, Bibellesungen und Segensworte können Gott nur erreichen, wenn sie korrekt wiedergegeben werden.

Der Dorfgeistliche hatte das Pech, ertappt zu werden, war aber mit seinen mageren Sprachkenntnissen kein Einzelfall. Viele Kleriker beherrschten das Lateinische nur ungenügend – dabei zeigte die Sprache des untergegangenen Römischen Reichs im frühen Mittelalter sowieso nur noch einen schwachen Abglanz einstiger Eleganz und Formstrenge. Die Normen der klassischen Antike hatten sich gelockert, weshalb wichtige kirchliche und juristische Texte in unterschiedlichen sprachlichen Varianten nebeneinander existierten. Karl der Große und seine Berater sahen in dieser «Sprachverwilderung» eine Gefahr für die Einheit des Reiches und der Rechtsprechung, vor allem aber für das Seelenheil. Sprachpflege war für Karl ein entscheidendes Mittel, in seinem Vielvölkerreich, das sich von Nordspanien bis an die Elbe erstreckte, den christlichen Glauben zu stärken, die kirchliche Ordnung zu straffen und die Verwaltung zu vereinheitlichen. Er setzte eine Bildungsreform in Gang, die vor allem von den Klöstern getragen wurde. Die Verbesserung der Lateinkenntnisse im Klerus stand dabei obenan.

Genauso wichtig war dem fränkischen König aber auch die Pflege der Volkssprachen. Deren Stellung in der Kirche wollte er stärken, um die Seelsorge fester in den Gemeinden zu verankern. Gott, davon war Karl überzeugt, konnte in jeder Sprache, nicht nur in den «heiligen Drei» – Griechisch, Hebräisch und Latein – angerufen werden. Deshalb verlangte er von den geistlichen Hirten, ihrer Herde häufiger als bisher in ihrer Muttersprache zu predigen. Im Westen des Reiches war das Romanisch, der Vorläufer des Französischen, im östlichen Teil Deutsch. Jeder Bewohner sollte wenigstens das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in seiner Muttersprache auswendig können. Waren deutsche Worte bis dahin vor allem als Randnotizen zu lateinischen Texten aufs Pergament gelangt, so entstand jetzt ein verstärkter Bedarf nach zusammenhängenden deutschen Übersetzungen, die den Inhalt ihrer lateinischen Vorlagen korrekt wiedergaben und als Grundlage für Predigten, Gebete und Bibelauslegungen dienen konnten.

Das Deutsch dieser Texte klingt oft künstlich und gestelzt, denn die Übersetzer versuchten, typisch lateinische Sprachmuster der Originaltexte nachzubilden, die der deutschen Grammatik fremd waren. Ein noch heute zu vernehmender Nachhall ist die altehrwürdige Wortstellung Vater unser. Sie gibt das lateinische Pater noster wortgetreu wieder, während es die Engländer zu Our Father umgestellt haben.

Einen Eindruck vom Einfluss der Lateingrammatik – hier vor allem des Ablativus absolutus – auf das frühe Schriftdeutsch gibt eine Passage über den zwölfjährigen Jesus im Tempel:

Lateinisches Original:

Et cum factus fuisset annorum duodecim, ascendentibus illis in Hierusolymam secundum consuetudinem diei festi, consummatisque diebus cum redirent, remansit puer Ihesus in Hierusalem, et non cognoverunt parentes eius.

Althochdeutsche Übersetzung:

Inti mit thiu her uuard giuuortan zuelif iaro,in ufstiganten ze Hierusalemafter thero giuuonu thes itmalen tages,gifulten tagunmit thiu sie heim vvurbun, uuoneta ther knecht Heilant in Hierusalem, inti ni forstuonton thaz sine eldiron. (Hervorhebungen W. K.)

Wörtliche Übersetzung:

Und als er zwölf Jahre alt geworden war, ihnen hinaufsteigende nach Jerusalem (= und nachdem sie nach Jerusalem hinaufgestiegen waren) nach dem Brauch des Feiertages, die Tage verstrichene (= und nachdem die Tage verstrichen waren), als sie heimkehrten, blieb der Knabe Heiland in Jerusalem und nicht verstanden das seine Eltern.

Freie Übersetzung:

Und als er zwölf Jahre alt geworden war, stiegen sie hinauf nach Jerusalem entsprechend dem Feiertagsbrauch. Doch als die Tage verstrichen waren und sie wieder heimkehrten, blieb der Heiland, das Kind, in Jerusalem zurück. Das verstanden seine Elten nicht.

Es war nicht sprachliche Unfähigkeit, sondern Respekt vor der Unantastbarkeit der heiligen Schriften und der Autorität des Lateins, der solche «unnatürlichen» Übersetzungen hervorbrachte. Die ersten deutschen Texte waren kein Lesestoff für Laien, sie sollten nicht für sich stehen, sondern Geistlichen, die das Lateinische nicht so gut beherrschten, als Verständnishilfen dienen. Vielleicht war die Künstlichkeit auch gar nicht unerwünscht, schließlich verlieh sie den Texten eine Aura der Gelehrsamkeit. Zwar blieben solche Wort-zu-Wort-Übersetzungen noch lange üblich, aber daneben entstanden schon zur Zeit der Karolinger auch Texte in einer flüssigen, stilistisch geschmeidigeren Volkssprache. Das Schriftdeutsch emanzipierte sich nach und nach vom Geburtshelfer Latein und beschritt den langen Weg zur Eigenständigkeit.

Das Wort «deutsch» und seine Wurzeln

Tolesint uualha, spahe sint peigira

Dumm sind die Welschen, klug die Baiern

Die Herausbildung einer deutschen Identität ging langsam und verwickelt vonstatten. Keinem bewussten Plan entsprungen, fand die Genese der Sprach- und Kulturnation gewissermaßen hinter dem Rücken der Beteiligten statt. Wie bei kaum einem anderen europäischen Volk war die Sprache der entscheidende Geburtshelfer. Dieser Prozess spiegelt sich in der Metamorphose, die das Wort «deutsch» durchlief. Seine dokumentierte Geschichte beginnt im Jahr 786, als es zum ersten Mal in einer Quelle auftaucht: In ihr berichtet der päpstliche Nuntius Georg von Ostia dem Papst Hadrian I. über zwei Synoden, die in England stattfanden. Die dort gefassten Beschlüsse, heißt es, seien nicht nur latine, also auf Latein, sondern auch theodisce verlesen worden. Das ist die latinisierte Frühform des Wortes deutsch, doch gemeint war damit zu dieser Zeit weder die deutsche noch überhaupt eine bestimmte Sprache. Theodiscus bedeutet hier schlicht ‹in der Sprache des Volkes› und markiert damit nur den Gegensatz zum Latein der Kirchenleute und Gelehrten. Theodiscus konnten also ganz unterschiedliche Sprachen sein. Der päpstliche Gesandte zum Beispiel bezog sich damit auf das Altenglische. Die Wurzel des Wortes ist das germanische Substantiv *þeudo ‹das Volk›, wobei das Sternchen signalisiert, dass dieses Wort nicht überliefert ist, sondern rekonstruiert wurde. *þeudo wurde im Althochdeutschen zu theot oder thiot und im Mittelhochdeutschen zu diet. Diese Wortform ist bis heute als Name konserviert: Dietrich – und davon abgeleitet Dieter – setzt sich zusammen aus thiot + rihhi, was ‹im Volk mächtig› bedeutet. Dietmar kommt von thiot +mari ‹im Volk berühmt›, wobei mari sich auch im ‹Märchen› wiederfindet. Abgeleitet davon sind Dittmer, Dettmar, Dettmering. Aus Koseformen für Dietrich wie Dile, Tile oder Tele sind die Familiennamen Dehle, Thiel und Telemann entstanden.

Im Jahr 788 erscheint das Wort theodisce in den Quellen erstmals als Bezeichnung der deutschen Volkssprache: Karl der Große klagt den bairischen Herzog Tassilo wegen Hochverrats an, weil er sich während eines Feldzugs des fränkischen Reichsheers mit seinen Truppen eigenmächtig abgesetzt habe. Die Anklage lautet auf harisliz (‹Heer-Schlitz› also ‹Heerspaltung / Fahnenflucht›). Der Text ist lateinisch abgefasst, aber das Kapitalverbrechen wird mit dem deutschen Rechtsausdruck benannt:

… quod theodisca lingua «harisliz» dicitur.

… was in der Volkssprache «harisliz» heißt.

Die «lingua theodisca» hat hier einen besonderen Rang, denn sie ist nicht nur die Volks-, sondern auch die Rechtssprache, in der der Fall vor der Heeresversammlung abgehandelt wird. Für die Rechtskraft des Urteils ist es wichtig, dass das Verbrechen mit seinem korrekten «theodisken» Begriff harisliz benannt wird. Der Bericht zählt auch die Vertreter der anwesenden Stämme auf, deren Sprache die lingua theodisca ist: Franken, Baiern und Sachsen. Hier also bezieht sich der Begriff auf eine gemeinsame Sprache der germanischen Stämme im fränkischen Reich, er nähert sich schon der heutigen Bedeutung. Zugleich werden die romanischen Sprachen in Frankreich und Italien begrifflich abgegrenzt: Obwohl sie gleichfalls «Volkssprachen» gegenüber dem Latein sind, heißen sie nicht lingua vulgaris, sondern lingua romana oder lingua rustica, also – wörtlich übersetzt – die romanische oder die bäuerliche Sprache.

Dass ausgerechnet das Wort «deutsch» zunächst nur in lateinischer Camouflage auftritt, wirkt leicht paradox. Der Grund ist die Dominanz der lateinischen Schriftsprache, die die Überlieferung prägt. Es gibt aber kaum einen Zweifel, dass die lateinische Form theodiscus auf ein germanisches Wort zurückgeht. Doch wie es genau lautete, wo es entstand, welche Ursprungsbedeutung es hatte, wird unter Sprachwissenschaftlern bis heute kontrovers diskutiert. Höchstwahrscheinlich hieß die Ursprungsform *theodisk. Einer plausiblen – wenn auch nicht unumstrittenen – Theorie zufolge kam *theodisk zuerst im Gebiet zwischen Maas und Schelde in Gebrauch. Hier, wo heute Flamen und Wallonen aneinandergrenzen, lebten die germanischen Franken Dorf an Dorf mit der gleichfalls zum fränkischen Reich gehörenden romanischen Bevölkerung, die eine Vorform des Altfranzösischen sprach. In solchen sprachlichkulturellen Kontaktzonen bildet sich oft ein Blick für Unterschiede und Gemeinamkeiten, für das Eigene und das Fremde heraus, entsteht ein Bedürfnis nach begrifflicher Zuordnung und Abgrenzung. Eben das aber ließ sich hier zwischen Maas und Schelde nicht so einfach erfüllen: Der Stammesname «Franken» und seine Ableitungen hatten keine unterscheidende Kraft mehr, weil beide Sprachgruppen ihn für sich beanspruchten. Auch die im Westen des Karolingerreichs lebenden, bereits romanisierten Franken nannten sich «Franken». Später wechselte der Name ganz in den romanischen Westen und wurde als «Frankreich» zum offiziellen Ländernamen. Diese sprachliche Mangelsituation war möglicherweise das Feld, auf dem das Wort deutsch gedieh.

Zur Bezeichnung ihrer romanischen Nachbarn konnten die germanischen Franken auf das Wort walhisk ‹welsch› zurückgreifen. Das war ein alteingebürgerter Begriff, ursprünglich der Name eines keltischen Stamms, den die Germanen später auf die Romanen und ihre Sprache übertragen hatten. Was den germanischen Franken fehlte, war eine exklusive Bezeichnung ihrer selbst: Um diese Lücke zu füllen, zogen sie aus der Wurzel theot das neue Wort theodisk‹zum Volk gehörig›. Dass mit «dem Volk» nur das eigene gemeint sein konnte, verstand sich für sie von selbst: Ethnozentrik ist das Fundament aller archaischen Weltbilder.

Bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts führte das Wort «deutsch» in diesem Grenzland wohl ein ziemlich provinzielles Dasein. Außerhalb der Region war es weder im germanischen noch im romanischen Teil des Frankenreichs gebräuchlich. Seine Karriere begann, nachdem Karl der Große 768 den Thron bestiegen hatte. Er regierte ein Reich, das germanische und romanische Bevölkerungsgruppen verklammern musste. Doch nicht allein die kulturelle Kluft zwischen diesen beiden Großgruppen drohte eine zentrifugale Wirkung zu entfalten. Größer noch waren die Spannungen und Rivalitäten zwischen den germanischen Stämmen im Ostteil des Reiches, die ihren Stammesstolz pflegten und eher das Trennende statt des Einigenden betonten. Da kam das Wort theodisk gerade recht. Indem es eine wesentliche Gemeinsamkeit der germanischen Stämme – ihre sprachliche Verwandtschaft – auf den Begriff brachte und ins Bewusstsein hob, konnte es als Kristallisationskern eines langsam wachsenden Gemeinschaftsgefühls dienen. Theodisk wurde zum sprachpolitischen Schlüsselwort und ging einher mit verschiedenen Maßnahmen zur Aufwertung des Deutschen: Dazu gehörte – wie schon erwähnt – Karls Bemühen, im Kirchenleben die deutsche Sprache gegenüber dem Latein zu stärken, um so die Seelsorge tiefer im Volk zu verankern. Karl hatte daneben auch ein durchaus volkskundliches Interesse an der Sprache: So ließ er einen Jahreskalender mit volkssprachlichen Bezeichnungen der Monate und der Winde zusammenstellen, regte eine Sammlung germanischer Heldendichtungen an und gab eine deutsche Grammatik in Auftrag, die allerdings nicht überliefert ist. Zum Vordenker einer deutschen Nation wurde Karl dadurch nicht. Er sah sich in der Tradition der römischen Kaiser als Herrscher eines Vielvölkerreichs, grundiert allerdings mit dem Bewusstsein der eigenen germanisch-fränkischen Herkunft.

Die Spaltung in Frankreich und Deutschland

Das Reich der Franken zerfiel sprachlich in zwei Hälften. Im Osten wurden deutsche Dialekte gesprochen. Im Westen, dem späteren Frankreich, sprach die alteingesessene Bevölkerung Gallo-Romanisch, eine Vorform des Altfranzösischen, die aus der lateinischen Umgangssprache hervorgegangen war. Die dort herrschende Oberschicht der germanischen Franken passte sich der lateinisch-gallischen Kultur an und übernahm das Romanische, so dass die fränkisch-deutsche Sprache im Westen des Frankenreiches ausstarb. Wie weit sich die Landesteile sprachlich schon um die Mitte des 9. Jahrhunderts auseinanderentwickelt hatten, zeigen die «Straßburger Eide» von 842. Sie führen uns in eine Zeit, als die Enkel Karls des Großen um das Erbe kämpften – ein Hauen und Stechen, über dem das karolingische Reich schließlich zerbrach. Am 14. Februar jenes Jahres erschienen Ludwig der Deutsche, der das Ostreich beherrschte, und Karl der Kahle, Herrscher des Westreichs, an der Spitze ihrer Heere in Straßburg. Sie hatten sich gegen ihren ältesten Bruder, den Kaiser Lothar, verbündet, der das dazwischen liegende Mittelreich geerbt hatte. Ludwig und Karl schworen sich im Angesicht der versammelten Truppen gegenseitige Treue beim Kampf gegen Lothar. Dabei sprach Ludwig den Schwur auf Gallo-Romanisch, Karl auf Althochdeutsch. Jeder leistete den Eid also in der Sprache des anderen, um sich dessen Soldaten verständlich zu machen.

Karrieren verändern den Charakter. So erging es auch dem Wort deutsch und seinen Vorläufern. Außerhalb seines Ursprungsgebiets wurde es – im lateinischen Gewand – zum Wort der Politik und der Gelehrten. Umfasste seine Bedeutung urprünglich alles, was «zum Volk» gehörte, also auch die Menschen und ihre Sitten und Gebräuche, so verengte sie sich jetzt auf die Sprache, die entscheidende und deutlichste Identitätsklammer aus der Sicht des Herrschers. Gerade das Wort, das Volkstümlichkeit bezeichnete, war außerhalb seines Entstehungsbereichs also wenig volkstümlich, sondern eher eine papierene Vokabel der Schreibstuben und Kanzleien. Wie wenig deutsch zu dieser Zeit im deutschen Wortschatz verankert war, macht Otfrid von Weißenburg deutlich, den wir bereits kennengelernt haben: Der Mönch und Bibliothekar verfasste zwischen 864 und 870 im elsässischen Kloster Weißenburg das «Evangelienbuch», ein Epos über das Leben Jesu in 7400 Versen. Er schrieb es auf Deutsch und vollbrachte damit eine Pioniertat in einer Zeit, in der – allen Aufwertungsversuchen zum Trotz – die Verächter der Volkssprache unter den Gebildeten immer noch die große Mehrheit stellten. Otfrid war dementsprechend stolz auf sein Werk, er wusste, dass er ein kultureller Vorreiter war. Zugleich aber fühlte er sich auch seinen gelehrten Kollegen gegenüber genötigt, die Verwendung der Muttersprache ausführlich zu rechtfertigen. Er hob ihre noch schlummernden Ausdrucksmöglichkeiten hervor und pries sie als einen fruchtbaren Boden, der bislang sträflich vernachlässigt wurde: Unsere Sprache gilt als bäurisch, da sie von denen, die sie sprechen, weder durch schriftliche Werke noch durch eine Grammatik jemals kultiviert worden ist.

Otfrid verkündete sein kulturpolitisches Ziel, die Volkssprache literaturfähig zu machen, gleich zweimal: zunächst auf Latein in einem Geleitwort an den Erzbischof von Mainz und dann auf Deutsch in einer Einleitung zu seinem Werk. Dort, wo er lateinisch über die deutsche Sprache schreibt, nennt er sie gelegentlich frencisca, vor allem aber theotisca. Die deutsche Entsprechung dazu war ihm aber offenbar nicht geläufig. Er greift zur Bezeichnung «fränkisch», wenn er auf Deutsch über die deutsche Sprache sprechen will:

Wánana sculun Fránkon éinon thaz biwánkon, ni sie in frénkisgon biginnen, sie gotes lób singen?

Warum sollen die Franken als einzige zurückschrecken vor dem Versuch, in fränkischer Sprache Gottes Lob zu singen?

Otfrid von Weißenburg – Der Beginn der deutschen Literatur

Otfrid gilt als Stammvater der deutschen Literatur. Denn der Mönch, Priester und Bibliothekar ist der erste deutsch schreibende Dichter, dessen Name überliefert ist. Seine hauptsächliche Wirkungsstätte war das Kloster Weißenburg, im Norden des Elsass auf einer Insel der Lauter gelegen. Das Städtchen, das sich um diese Keimzelle bildete, zählt heute etwa 8000 Einwohner. Das Kloster gehörte zu den reichsten und kulturell bedeutendsten des Karolingerrreichs.

Hier verfasste Otfrid in den sechziger Jahren des 9. Jahrhunderts das «Evangelienbuch», ein Epos über das Leben Jesu in 7400 Versen. Zu diesem Zweck setzte er eine bahnbrechende poetische Technik ein: den Endreim. Zuvor gab es in deutscher Sprache nur den Stabreim aus germanischer Tradition, bei dem sich die Anlaute gleichen, wie zum Beispiel im Hildebrandslied:

Welaga nu, waltant got / wewurt skihit

Wehe nun, waltender Gott / Unheil geschieht.

Otfrid verdanken wir mit dem Endreim auch die erste Paarung von Herz und Schmerz:

thaz min liaba herza, bi thiu ruarit mih thiu smérza

[sie haben es mir genommen] dies mein liebes Herz, darum rühret mich der Schmerz.

In seinen jüngeren Jahren hielt sich Otfrid als Schüler des berühmten Abtes Hrabanus Maurus im Kloster Fulda auf. Wahrscheinlich arbeitete er auch zeitweise als Schreiber am Hofe Kaiser Ludwigs «des Deutschen», Enkel Karls des Großen. Sein Evangelienbuch schildert nicht nur das Leben Jesu, sondern liefert auch immer wieder theologische Interpretationen des biblischen Geschehens. Das Werk war weniger zum einsamen Selbst-Lesen als zum Vorlesen im größeren Kreis bestimmt. Es richtete sich vornehmlich an ein Publikum, das wenig oder gar kein Latein konnte. Dazu gehörten zum Beispiel ältere Mönche, die zu spät ins Kloster eingetreten waren, um noch das dortige Bildungsprogramm zu durchlaufen. Aber auch weltliche Zuhörer, vor allem Adlige, fasste Otfrid ins Auge. Das Evangelienbuch sollte nicht nur den Glauben vertiefen, sondern außerdem die Volkssprache literaturfähig machen.

Statt theodisce setzte sich im Laufe des 9. Jahrhunderts, von Baiern ausgehend, zunehmend diutisce durch. Auch das hat noch eine lateinische Endung, nähert sich aber schon dem dann später belegten althochdeutschen diutisk. Vor allem am Hof Ludwigs «des Deutschen» – der diesen Beinamen erst von den Historikern des 19. Jahrhunderts verliehen bekam – wurde das Wort gepflegt. Auch hier dürften politische Gründe eine Rolle gespielt haben: Ludwig beherrschte den ostfränkisch-germanischsprachigen Teil des Karolingerreiches, aus dem später das Deutsche Reich hervorging.

Erst um das Jahr 1000 schrieb jemand erstmals «auf Deutsch» wirklich auf Deutsch: in diutscun. Es war ein anderer Sprachmeister der frühen Jahre, der Benediktinermönch Notker, der im Kloster St. Gallen sein Leben der intellektuellen Veredelung der deutschen Sprache widmete und dafür den Beinamen «der Deutsche» erhielt. In dieser Zeit begann «deutsch» als neue Gemeinschaftsbezeichnung allmählich in der Volkssprache auch außerhalb des Ursprungsgebiets heimisch zu werden. Einen wichtigen Schritt in dieser Entwicklung markiert das «Annolied» zum Lobpreis des Bischofs Anno von Köln, das um 1090 im Kloster Siegburg bei Bonn entstand. Hier bezeichnet «deutsch» nicht mehr nur die Sprache, sondern auch das Land und seine Bewohner: Diutschi liute leben in diutschemi lande und sprechen diutschin. Interessanterweise setzt bereits das Annolied die Deutschen mit den Germanen gleich, die gegen Caesar kämpften, eine Identifizierung, die eigentlich erst Jahrhunderte später Mode wurde. Sechzig Jahre darauf tauchen dann in der Regensburger Kaiserchronik die Diutsken auf, ist deutsch also vom Attribut zum Volksnamen avanciert. Auch vom Diutisk land ist bereits die Rede. Als dauerhaft zusammengeschriebener Landesname setzt sich Deutschland allerdings endgültig erst im 16. Jahrhundert durch.

Diutsch dient jetzt nicht mehr nur wie seine Vorgängerformen als Sprachbezeichnung oder regionale Abgrenzungsvokabel, sondern als Begriff, der eine umfassendere ethnische, auch politische Identität signalisiert, die ihre Wurzel in der gemeinsamen Sprache hat. So verwendet ihn Walther von der Vogelweyde, wenn er fragt:

hât iuch der bâbes her gesendet, daz ir in rîchet und uns tiutschen ermet.

Hat Euch der Papst hergeschickt, dass Ihr ihn reich und uns Deutsche arm macht.

Nachdem «Deutsch» und seine Varianten wie dudesch, diutisch oder dietsch sich als Kollektivbenennungen etabliert hatten, leitete man von ihnen auch Beinamen für einzelne Personen ab. Nicht nur Deutsch, Deutschmann oder Deutschländer kommen daher. Auch Dietz und Deutz, Diezold, Diewald, Dederichs und Dithfurt tragen diese Wurzel, die im niederdeutschen Raum zu Detje und Thietje wurde. Eine slawische Variante ist Dutschke, die im östlichen Grenzbereich aus dučko ‹deutsch› entstand.

Während deutsch in der Volkssprache heimisch wurde, verschwand theotiscus allmählich aus der Schriftsprache. Schon in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts war in der gelehrten Literatur eine konkurrierende, ähnlich klingende Bezeichnung für die Deutschen aufgetaucht: teutonicus. Darin lebte ein Stammesname fort, dessen Träger, die Teutonen, im Jahr 102 vor Christus in der Schlacht von Aquae Sextiae, dem heutigen Aix-en-Provence, von den Römern ausgelöscht worden waren. Eine ethnische Verbindung zu den Deutschen des Mittelalters bestand natürlich nicht mehr, aber der Begriff konnte sie suggerieren. Vor allem manchen Italienern, die die deutschen Kaiser in ihrem Land nicht haben wollten, mochte das Wort gelegen kommen, um mit ihm auch die Erinnerung an den sprichwörtlich gewordenen Furor teutonicus wachzuhalten, der Rom einst in Angst und Schrecken versetzt hatte. Die harten Konsonanten, die sich so trefflich ausspucken lassen, konnten der Verachtung gegenüber den plumpen Barbaren, die sich anmaßten, die römische Kaiserkrone zu tragen, die phonetische Kontur geben.

Die Namen der anderen: Deutsch, dutch und allemand

Die Deutschen sind gewissermaßen sprachgeboren: Sie leiten die Bezeichnung ihres Volks und ihres Landes von ihrer Sprache ab. Im europäischen Vergleich ist das eine Besonderheit. Normalerweise gehen Sprach- und Volksnamen zurück auf die Benennung einer Region (italienisch, niederländisch, spanisch) oder eines Stammes, der eine führende Rolle bei der Herausbildung der ethnischen Identität spielte (englisch, griechisch, polnisch). Beide Möglichkeiten waren im Falle der Deutschen blockiert: Der Name der Franken, die im frühen Mittelalter die Träger der Leitkultur waren, ging auf das romanische Westfrankenreich über. Hinzu kam, dass Deutschland jahrhundertelang in die übernationale, Italien einbeziehende Reichspolitik seiner Kaiser involviert war. So gab es auch keine Übereinstimmung seiner sprachlichen und ethnischen Grenzen mit den territorialen und politischen Strukturen. Übrig blieb die Sprache als Namensspender – eine Verlegenheitslösung, keine bewusste Entscheidung.

Bekanntlich trägt jedoch nur einer der Staaten, in denen heute Deutsch die Staats- oder eine Landessprache ist, diese Sprache auch im Namen: Deutschland als Nachfolgestaat des 1871 begründeten Deutschen Reiches. Es gilt als erster deutscher Nationalstaat, nicht zuletzt, weil hier Deutsch von der großen Bevölkerungsmehrheit gesprochen wurde, so dass Sprache, Territorium und Volk zum ersten Mal weitgehend zur Deckung kamen. Aus diesem Grunde zog das Deutsche Reich den Namen «Deutschland» an sich und vererbte ihn weiter an seine Nachfolgestaaten. Österreich, dessen Staatssprache gleichfalls Deutsch ist, trägt dagegen einen Namen mit geographisch-politischen Wurzeln: Er geht zurück auf Ostarrîchi, die «Grenzmark im Osten». Die Schweiz, mit Deutsch als einer von vier Amtssprachen, leitet ihren Namen von der Gemeinde Schwyz her. Belgien, wo Deutsch neben Niederländisch und Französisch die dritte Amtssprache ist, verdankt seinen Namen dem keltischen Stamm der «Belgae».

Die unscharfe Kontur, die die Deutschen als Volk in den Augen der anderen lange Zeit hatten, spiegelt sich in der Vielfalt ihrer fremdsprachlichen Benennungen. Zu denen, die auf die deutsche Selbstbezeichnung zurückgriffen, gehörten die Engländer. Mit dutch belegten sie nämlich ursprünglich nicht nur die Niederländer, sondern auch die Deutschen. Die Niederländer selbst nannten ihre Sprache bis ins 16. Jahrhundert hinein ebenfalls duutsch oder dietsch. Erst als sie sprachlich und politisch immer stärker eigene Wege gingen, setzten sie niederländisch an diese Stelle. Im 17. Jahrhundert schränkten auch die Engländer den Bedeutungsbereich von dutch ein – jedoch nicht auf die Deutschen, sondern auf die Niederländer und ihre Sprache, die deshalb bis heute verwirrenderweise dutch heißen. Um die nun entstandene Lücke zu füllen, griffen die Engländer für die Deutschen auf German zurück. Da der Germanen-Begiff bedeutend weiter gefasst und Englisch zudem selbst eine germanische Sprache ist, mag diese Wortwahl zunächst erstaunen. Doch schon im Mittelalter hatte Germania vereinzelt zur Bezeichnung des deutschen Sprachgebiets gedient. Zudem entsprach der Name dem Selbstverständnis vieler deutscher Gelehrter in der frühen Neuzeit: Seit in der Mitte des 15. Jahrhunderts im Kloster Hersfeld die «Germania» des Tacitus wiederentdeckt worden war, waren sie, viel stärker als die Angehörigen der anderen Nachfolgevölker der Germanen, von der Idee, germanische Wurzeln zu haben, fasziniert.

Die deutsche Selbstbezeichnung findet sich auch im Dänischen, Norwegischen und Schwedischen, wo theodiscus zu tysk wurde. Ähnlich ist es bei den Italienern, allerdings nur was die Sprache (tedesco) und die Leute (tedesci) angeht. Bei der Landesbezeichnung (Germania) verfahren sie wie die Engländer.

Eine andere Variante der Namensgebung stellen die Allemands dar. Damit weiteten die Franzosen den Namen eines einzelnen Stammes auf das ganze Volk, sein Land und die Sprache aus. Da sie den Namen der Franken bereits selbst trugen, bot sich ein anderer grenznaher Stamm an: eben die Alemannen. Ihren Namen, der ursprünglich nicht mehr bedeutete als ‹die Vollmenschen› oder ‹Gesamtheit der Männer›, übernahmen dann auch Spanier und Portugiesen.

Während die russische Sprache zwischen dem Land (Germanija) einerseits und dem Volk (nemcy) und seiner Sprache (nemeckij) andererseits unterscheidet, bezeichnen die anderen slawischen Völker auch das Land nach dem Volk und der Sprache, so beispielsweise Německo im Tschechischen oder Nemčija im Slowenischen. Familiennamen wie Nemitz oder Niemitz kommen daher. Wahrscheinlich ist die slawische Bezeichnung der Deutschen von einem Wort abgeleitet, das «stumm» bedeutet. Für die Slawen waren die Germanen oder die frühmittelalterlichen Deutschen die «Stummen», weil sie die slawische Sprache nicht beherrschten. Das Weltbild, das dahintersteht, ist nicht bornierter als das der Griechen und Römer, denen alle Fremdsprachigen Barbaren (‹Stammler›) waren.

Die eingepflanzte Deutschlichkeit

Man kann nicht nur deutsch reden, sondern auch deutscher. Schiller bezeugt es: Wo will das hinaus – rede deutscher!, sagt einer der «Räuber». Und auch der Dichter der Meistersinger, Hans Sachs, kennt den teutonischen Komparativ: Wilt das ichs teutscher sagen soll? Ein edler Wettstreit um den deutschesten Zungenschlag ist nicht damit gemeint. Wer in diesem Sinne «deutsch redet», behauptet, sich deutlich, ehrlich, klar auszudrücken. Zwischen ungeschminkter Offenheit und deutsch besteht eine alte semantische Verwandtschaft: Deuten, deutlich und bedeuten haben die Grundbedeutung ‹dem Volk etwas verständlich machen›. Ob sie mit dem Wort deutsch tatsächlich die Wurzel theudo / thiot ‹das Volk› teilen, ist unter Etymologen zwar umstritten. Entscheidend ist, dass bereits die Menschen des frühen Mittelalters diese Verbindung ganz selbstverständlich herstellten und das Wort in diesem Sinne benutzten. Noch in Luthers Bibelübersetzung findet sich undeutsch im Sinne von ‹unverständlich› (1. Kor. 14,11): So ich nun nicht weiß der Stimme Deutung, werde ich undeutsch sein dem, der da redet, und der da redet, wird mir undeutsch sein.

Es ist, auf gut Deutsch gesagt, eine Schweinerei. Dass die Ankündigung, «gutes Deutsch» zu sprechen, oft genug als Einleitung für Schimpfwörter dient, verrät den Hang zum Grobianischen, den diese «deutsche» Deutlichkeit hat. Friedrich Nietzsche lässt Zarathustra sagen, er wolle mit seinen Gästen deutsch und deutlich reden, was diese sofort als ‹deutsch und derb› interpretieren. Ähnlich sieht es der Student im zweiten Teil des «Faust», wenn er auf Mephistos Frage Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob Du bist? keck antwortet: Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.

Hochdeutsch und andere Dialekte

Was ist eine Sprache? Ein Dialekt mit Armee! Diese Definition des Sprachwissenschaftlers Max Weinreich bringt die Entstehungsgeschichte vieler Nationalsprachen auf den Punkt. Eine Stadt – wie das antike Rom – oder ein Adelsgeschlecht – wie die Kapetinger in Frankreich – erringt die Macht über das Land. Dort, wo sich vorher Stämme, Kleinstaaten oder Fürstentümer bekämpften, entsteht ein politisch-kulturelles Herrschaftszentrum, ein Königshof, eine Hauptstadt. Die Sprache, die dort gesprochen wird, gewinnt an Prestige, sie steigt vom Provinzidiom zur Hoch- und Literatursprache des ganzen Landes auf. Schriftsteller und Rhetoren veredeln ihren Stil, Gelehrte und Dichter bauen ihren Wortschatz aus, Philologen verfassen Grammatiken, die regeln, was als richtig oder falsch gelten soll. Diese Hochsprache muss nun beherrschen, wer oben mitspielen will. Die anderen Sprachen im Lande sinken ab, jetzt erst, im Schatten der neuen Hochsprache, schrumpfen sie zu «Dialekten». Nach diesem Muster wurde Latein, ursprünglich nur die Mundart der Stadt Rom und ihrer Umgebung, zu einer Weltsprache. In Frankreich war es der Dialekt in der Gegend um Paris, der sich zur Nationalsprache der Grande Nation aufschwang. Auch das spätere Queen’s English war anfangs nicht mehr als eine südenglische Variante.