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Miles und Jules sind eigentlich gar nicht so verschieden. Sie lieben Musik, sind im gleichen Alter, wohnen in derselben Stadt und teilen das gleiche Geheimnis. Dennoch lernen sie sich erst durch Zufall kennen, als sie von ihrer Erkrankung eingeholt werden. Obwohl die Umstände schwierig sind, merken beide, wie wichtig diese Begegnung für sie ist. »Was ich sonst nicht sagen kann« erzählt die Geschichte von zwei jungen Menschen, die mit einer psychischen Erkrankung leben. Es ist eine Geschichte über Freundschaft und die erste große Liebe, aber auch über Verluste und Schicksalsschläge.
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Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für Neele & Hilke
Weil ihr zur richtigen Zeit am richtigen Ort wart.
Triggerwarnung
Eine Triggerwarnung befindet sich auf Seite 377 des Buches. Diese Geschichte behandelt viele schwierige Themen, mit denen nicht jede*r locker umgehen kann.
Achtung: es werden Inhalte des Buches gespoilert. Wenn du dir unsicher bist, ob dich Inhalte möglicherweise triggern, würde ich dir dringend empfehlen, die Warnung vorher zu lesen.
Die Playlist befindet sich ebenfalls ganz hinten im Buch, weil auch diese die Inhalte des Buches möglicherweise spoilert.
Sechs Monate vorher
Ich sitze auf meinem Platz, ohne mich auch nur ein bisschen zu bewegen. Wortlos starre ich den Mann vor mir an und merke, dass er redet, aber ich höre nicht, was er sagt. Ich sehe nur, wie sich seine Lippen bewegen und Worte sprechen, die alle anderen im Raum zum Weinen bringen. Aber ich spüre nichts. Nichts außer der harten Holzbank, auf der ich sitze, von der mir mein Hintern schon wehtut. Keine Ahnung, wie lang das hier schon geht, ich habe kein Zeitgefühl mehr. In meinem Kopf höre ich nicht mal ein einziges Geräusch. Kein Summen, kein Piepen, kein Schmerz. Da ist einfach nichts.
Plötzlich greift meine Mutter nach meiner Hand und hält sie ganz fest. Sie wischt sich mit einem Taschentuch die Tränen von der Wange. Ihre Wimperntusche ist fast bis zur Nase verschmiert und ich verstehe nicht, warum sie heute überhaupt welche aufgetragen hat. Ich bin mir nicht sicher, welche Tatsache sie eigentlich am traurigsten stimmt. Dass sie ihren Ehemann verloren hat? Dass sie sich jetzt um alles allein kümmern muss? Oder, dass sie sich mit Ende dreißig jetzt Witwe nennen soll?
Mein Vater war ein Alkoholiker, das brauchen wir alle nicht schönreden. In den letzten Wochen vor seinem Tod hat er sogar sehr offensichtlich getrunken, auch vor seinen minderjährigen Kindern. Morgens, mittags und abends – er hatte immer eine Alkoholfahne. Und jetzt, wo er den Kampf gegen die Sucht verloren hat, sitze ich hier und höre eine Rede nach der anderen, was für ein toller Mensch, und vor allem Vater, er nicht gewesen sei. Klar, anfangs war er das auch, aber in der letzten Zeit war ich immer wütender auf ihn. Er hat nie eingesehen, dass er Hilfe braucht. Und das haben wir jetzt alle davon. Er hat den beschissenen Alkohol über seine eigene Familie gestellt und uns alle allein gelassen. Er lässt seine Kinder ohne Vater aufwachsen, seine Frau mit dem ganzen Stress allein zurechtkommen und seine Eltern ihr jüngstes Kind beerdigen. Mein Vater hat es ja nicht einmal versucht, sodass man behaupten könnte, er hätte sein Bestes gegeben und den Kampf dennoch verloren. Nein, er war egoistisch und feige.
Ich höre dem Redner nicht zu, weil er mir quasi nichts über meinen Vater erzählen kann, das ich nicht längst schon weiß. Stattdessen frage ich mich, wer wohl zu meiner Beerdigung kommen würde. Wäre der Raum auf meiner eigenen Beerdigung auch so gefüllt wie auf der meines Vaters? Wer würde hier sitzen und sich den Vortrag über mein Leben anhören?
Ich denke darüber nach, was so ein Redner wohl über mich erzählen würde. Also, im Grunde wurde Jules sein Leben lang fertiggemacht. In der Schule war er immer die Lachnummer für alle und sein Bruder hat ihn eigentlich schon immer gehasst. Er wollte Schriftsteller werden, ist aber vorher gestorben. Nun ja, wir werden ihn sehr vermissen.
Wenn ich es mir aussuchen kann, würde ich zu diesem Zeitpunkt lieber noch nicht sterben wollen, denn genau so würde sich meine Grabrede nämlich anhören.
Mir geht außerdem durch den Kopf, für wen ich hier wohl als Nächstes sitzen werde, um zu trauern. Ist das nicht schlimm? Jetzt sitze ich hier, weil mein Vater tot ist. Und wer wird demnächst der Grund sein, dass ich wieder hier sitze?
Der Mann vom Bestattungsinstitut ist fertig mit seinem Vortrag. Er hat uns allen die Möglichkeit gegeben, noch etwas zu sagen, aber entweder können die Angehörigen vor lauter Trauer nicht reden oder finden sich selbst nicht wichtig genug, um vor allen wichtigen Menschen im Leben meines Vaters eine Rede zu halten. Dennoch bittet er uns alle, aufzustehen. Zwei andere Männer, die ebenfalls einen Anzug tragen, betreten den Raum, um die Urne meines Vaters nach draußen zu tragen. Im Hintergrund läuft ein trauriges Klavierstück und alle Anwesenden halten ihren Blick gesenkt. Die zwei Männer laufen vor und alle anderen hinterher. Fast alle, auch ich, haben in ihrer Hand eine Rose, um sie gleich auf das Grab legen zu können.
Langsam trotten wir den Männern hinterher. Mir schießen die Gedanken von eben immer wieder durch den Kopf. Schon komisch, dass ich gedanklich eher auf meiner Beerdigung bin als auf der meines Vaters. Und das, obwohl ich weder todkrank bin, noch seit zehn Jahren Alkoholiker.
Nacheinander gehen wir alle zu seinem Grab, werfen ein bisschen Erde hinein und legen eine Rose dazu. Manche brauchen ziemlich lang dafür, andere höchstens eine halbe Minute. Ich tue erst einmal nichts, außer neben dem Grab stehen zu bleiben und mit meinem Vater zu reden. Der Boden ist noch ganz feucht vom Regen der letzten Nacht. Stundenlang hat es geregnet. Es ist Herbst in Hamburg, was will man schon anderes erwarten?
»Ich bin so sauer auf dich, dass du uns alle allein lässt«, beginne ich zu reden. »Aber ich habe dir verziehen. Ich habe dir verziehen, dass du andere Prioritäten hattest als uns. Ich hoffe, dass es dir dort, wo du jetzt bist, besser geht. Und dass sich der ganze Scheiß dafür gelohnt hat. Ich möchte auch, dass du weißt, dass ich dich trotzdem noch lieb habe. Ich brauche dich hier und weiß genau, dass die Zeit ohne dich richtig beschissen wird. Mach’s gut, Papa.«
Diese Worte kommen erstaunlich leicht aus meinem Mund. Als wären sie schon lang da gewesen, um endlich ausgesprochen zu werden. Dann nehme ich die Schippe, um ein wenig Erde ins Grab zu werfen. Ich lege die Rose daneben und schließe die Augen. Auf einmal habe ich das Gefühl, dass mir alle schönen Erinnerungen mit meinem Vater durch den Kopf gehen. Das ganze Leben mit ihm zieht binnen Sekunden an mir vorbei. Kurz muss ich lächeln. Wenn man eine wichtige Person in seinem Leben verloren hat, erinnert man sich doch lieber an die schönen Momente zurück, oder? Man trauert, weil man jemanden verloren hat. Aber warum lächelt man nicht, weil man die Person in seinem Leben haben durfte, wenn auch nicht für lange Zeit?
Als Nächstes ist meine Mutter an der Reihe. Sie geht gemeinsam mit meinem Bruder und sie bleiben ziemlich lang dort stehen, wobei ich nicht hören kann, was sie sagen. Wahrscheinlich will ich es auch nicht hören und mein Gehirn stellt alles um mich herum wieder stumm. Ich weiß, dass ich sie eigentlich beide in den Arm nehmen müsste, aber ich kann es irgendwie nicht. Wir sitzen alle im gleichen Boot, streng genommen bin ich ihnen nichts schuldig.
Was nach der Beerdigung passiert ist – keine Ahnung, ich habe einen totalen Filmriss. Den Rest des Tages bin ich mit Tunnelblick durch die Gegend gelaufen und ich weiß nicht, was um mich herum passiert ist. Was ich aber weiß, ist, dass die nächste Zeit richtig beschissen wird.
Prolog
Montag, 8. April
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Dienstag, 9. April
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Mittwoch, 10. April
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Freitag, 12. April
Kapitel 20
Kapitel 21
Samstag, 13. April
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Sonntag, 14. April
Kapitel 31
Kapitel 32
Montag, 15. April
Kapitel 33
Kapitel 34
Mittwoch, 17. April
Kapitel 35
Kapitel 36
Samstag, 19. April
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Sonntag, 21. April
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Mittwoch, 24. April
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Freitag, 26. April
Kapitel 62
Samstag, 27. April
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Sonntag, 28. April
Kapitel 68
Kapitel 69
Mittwoch, 8. Mai
Kapitel 70
Danksagung & Nachwort
Impressum
Miles
Es ist jetzt ungefähr sechs Uhr morgens. Seit zweiundzwanzig Uhr habe ich versucht zu schlafen – vergeblich. Draußen ist es noch dunkel, nur das Licht der Straßenlaterne leuchtet durch das Fenster in meinem Zimmer. Außerdem beleuchtet es nur meinen Schreibtisch, sodass man mich im Dunkeln nicht erkennen könnte, würde man mein Zimmer betreten. Mein Bett steht in der Ecke des Raumes, die ich höchstens mit meiner Nachttischlampe beleuchten kann, wenn ich es möchte. Das habe ich damals absichtlich so geplant, als ich es eingerichtet habe. So kann man mich nicht sofort erkennen, wenn man mein Zimmer betritt.
Müde reibe ich mir die Augen. Meine Finger sind eiskalt. Es ist Anfang April und ich friere ununterbrochen. Ich ziehe mir meine Decke bis zum Kinn und lege meine Hände unter meinen Rücken, in der Hoffnung, sie würden dadurch wärmer. Allerdings ist der Rest meines Körpers auch nicht sonderlich warm, was die Sache irgendwie schwieriger gestaltet. Was soll’s.
Dann konzentriere ich mich auf meine Atmung und versuche, mich aufzurappeln. Die letzten drei Tage habe ich es morgens nicht geschafft, aufzustehen. Wenn ich über einen längeren Zeitraum liege, wird mir immer schwarz vor Augen, sobald ich mich aufsetze.
Um genau sechs Uhr höre ich den Wecker im Schlafzimmer meiner Eltern klingeln. Wenig später bemerke ich, wie meine Mutter ihre Morgenroutine beginnt. Sie ist die Erste, die morgens ins Bad geht. Das hatte sie sich vor Jahren so gewünscht, denn sie hasst es, morgens schon gestresst zu sein. Sie kümmert sich gern um meinen Vater, meine Schwester und mich, aber diese Zeit sollen wir ihr geben. Kein Problem, denke ich, viel weiter als bis zum Rand meines Bettes schaffe ich es vermutlich sowieso nicht. Eh ich im Badezimmer ankomme, ist sie schon dreimal fertig.
Nachdem meine Mutter das Bad verlassen hat, weckt sie meine Schwester und bereitet das Frühstück für uns alle vor. Na ja, nicht ganz für alle.
Ich merke, dass ich mittlerweile ziemlich dringend zur Toilette muss, also probiere ich aufzustehen. Ich schiebe die Decke zur Seite und sehe an mir herunter: Haut und Knochen. Man braucht nicht mehr als diese zwei Worte, um meinen Körper zu beschreiben.
Ich sitze auf meinem Bett – meine Beine stehen, mehr oder weniger fest, auf dem Boden. Ich will mich gerade nach oben drücken, als es an meine Zimmertür klopft.
»Miles? Bist du wach?«, fragt meine Mutter, während sie die Tür einen Spalt aufschiebt. Ich habe es noch nicht geschafft, mir ein T-Shirt überzuziehen. Sie schaltet das Licht an und ihr Blick erstarrt, als sie mich sieht. Erschrocken atmet sie scharf ein.
Meine Mutter sieht weg, weil sie meinen Anblick schon seit Monaten nicht mehr erträgt. Wenn sie mich unangekündigt so sieht, ist ein Schock die häufigste Reaktion.
»Ähm«, stottere ich, während ich mich nach einem T-Shirt umsehe. Ich finde eins und werfe es mir schnell über. »Ja«, antworte ich.
»Frühstück ist fertig«, sagt sie und geht, ohne mich noch einmal anzusehen. Die Tür lässt sie offen stehen und das Licht bleibt an.
Ich stehe auf. Alles dreht sich und kurz sehe ich alles verschwommen. Mein Körper hat keine Kraft, aber woher soll er die auch nehmen? Ich schlüpfe in meine Hausschuhe und stütze mich dafür an der Wand ab.
Jules
Von dem lauten Knallen der Badezimmertür werde ich aus dem Schlaf gerissen. Draußen ist es noch dunkel, was mich vermuten lässt, dass ich eigentlich noch gar nicht aufstehen müsste. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Kurz vor halb sechs. Im Stillen verfluche ich meinen Bruder, oder meine Mutter, je nachdem wer um diese Zeit schon so einen Lärm macht. Ich stöhne, dann ziehe ich mir die Decke über den Kopf und drehe mich noch mal um.
Insgeheim hoffe ich, dass es meine Mutter ist, die so einen Lärm macht. Das würde nämlich bedeuten, dass sie vor uns die Wohnung verlässt und nicht mitbekommen würde, wenn ich einfach nicht aufstehe. Ich könnte den ganzen Tag im Bett liegen und mir würden eine Menge Qualen erspart bleiben.
Meine Mutter würde abends von einem ihrer drei Jobs zurückkommen und fragen, wie es in der Schule war. Ich würde sagen, dass alles wie immer war, und dann wäre sie auch schon zu erschöpft, um weitere Nachfragen zu stellen.
Tja, früher ging das ganz gut, aber mittlerweile ruft die Schule meine Mutter sofort an, wenn ich nicht pünktlich zur ersten Stunde dort erscheine. Wie oft hat sie mich deswegen schon angeschrien und mit mir diskutiert, bis es nicht mehr ging. Eigentlich kann man es ihr nicht übel nehmen. Da ist man plötzlich allein mit zwei Kindern, eines davon krank und das andere schwer erziehbar, und muss die Miete und alle Rechnungen allein bezahlen. Neben all ihren Jobs und meinem Bruder und mir hat sie dann keine Zeit mehr, auch noch um ihren verstorbenen Ehemann zu trauern. Dass ihr alles zu viel wird und sie ihren Frust dann an mir auslässt, kann ich sogar ein bisschen verstehen.
»Ich schwöre dir, Jules, wenn du heute nicht zur Schule gehst-«, beginnt sie mir zu drohen, während sie in mein Zimmer gestolpert kommt und gerade dabei ist, sich die Schuhe anzuziehen. Sie schaltet das Licht an und öffnet das Fenster, um frische Luft hineinzulassen. Ich antworte ihr nicht, sehe sie nicht einmal an.
»Ich will nicht zur Schule«, sage ich matt. Die Energie zum Aufstehen fehlt mir schon seit Monaten, aber das versteht sie nicht. Und sie versteht auch nicht, was jeden Tag in der Schule abgeht, welche Qualen ich tagtäglich über mich ergehen lassen muss.
»Das ist mir völlig egal, noch einmal kannst du die Klasse nicht wiederholen, also beweg deinen Arsch hoch und mach endlich deinen Abschluss!«
Mit ihr zu diskutieren bringt nichts, weil sie sich das, was ich sage, nicht einmal anhört. Sie wartet auch gar nicht auf eine Antwort von mir, sondern redet gleich weiter. »Mach deinem Bruder bitte Frühstück, ja? Und dann fahrt ihr zusammen zur Schule. Ich finde sowieso heraus, ob du da warst oder nicht!«
Mein Bruder hat es auch schon öfter ausgenutzt, dass meine Mutter so viel arbeitet, und ist an manchen Tagen einfach zu Hause geblieben. Nur ist der Unterschied zu mir, dass es sie nicht interessiert, wenn Jona das tut. Schließlich geht er erst in die achte Klasse und bei ihm stünde angeblich nicht so viel auf dem Spiel wie bei mir.
Auch jetzt wartet meine Mutter nicht auf eine Antwort von mir. Denn, auch wenn sie Sätze wie Fragen formuliert, verteilt sie damit Anweisungen. Sie verlässt die Wohnung ohne eine Verabschiedung und knallt die Tür hinter sich zu.
Was für ein Morgen, denke ich mir. Ich bekomme jetzt schon Kopfschmerzen und weiß nicht, wie ich diesen Tag überstehen soll. Zumindest bin ich jetzt wach und kann nicht mit der Ausrede ankommen, ich hätte verschlafen.
Aufstehen ist jeden Tag aufs Neue eine Qual für mich. Nur selten kann ich mich aufraffen, weil ich meistens gar keinen Sinn darin sehe, überhaupt aufzustehen. Mir fehlt einfach die Kraft dazu. Jetzt liege ich wach im Bett, eine Stunde zu früh, und kann nicht wieder einschlafen. Dabei würde ich so gern, weil Schlafen für mich eine der wenigen Möglichkeiten ist, der Realität zu entfliehen. Wenn ich nicht gerade schreibe oder Musik höre, schlafe ich.
Heute ist Montag. Normalerweise hassen Menschen Montage, aber für mich ist es der beste Tag der Woche. Zwischen dem letzten Schultag und dem ersten der neuen Woche liegen zwei Tage, an denen ich nicht dort sein musste. Wenn ich beispielsweise an einem Freitag in die Schule gehe, gehe ich mit dem schlechten Gefühl der letzten vier Tage dorthin. Aber an einem Montag hatte ich zwei Tage vorher meine Ruhe und fast schon wieder vergessen, warum ich die Schule hasse.
Miles
Nach der Toilette schaffe ich es irgendwie in die Küche. Mittlerweile ist es kurz vor sieben Uhr. Meine Familie sitzt am Küchentisch und frühstückt. Am Blick meiner Mutter erkenne ich, dass sie es leid ist, mit mir zu diskutieren. Sie starrt ihren Kaffee an und sagt nichts. Sie presst ihre Lippen zusammen, sodass sie nur noch wie ein dünner Strich aussehen. Dann will sie etwas sagen, tut es aber doch nicht.
Heute bin ich fest entschlossen, in die Schule zu gehen. Die letzten drei Tage war ich krankgeschrieben, weil ich einfach keine Kraft hatte. Mittlerweile ist die Sonne aufgegangen und scheint durch das Küchenfenster in mein Gesicht. Ich glaube, ausnahmsweise, dass heute ein schöner Tag werden kann.
Ich setze mich nicht zu meiner Familie an den Tisch, sondern nehme zwei große Gläser aus dem Schrank, der über dem Waschbecken hängt. In eines der Gläser fülle ich Leitungswasser, in das andere mische ich einen Eiweißshake, der nach Vanille schmeckt. So sieht mein Frühstück aus, wenn ich mal welches zu mir nehme. Manchmal schlucke ich noch Nahrungsergänzungsmittel, die meine Mutter für mich kauft. Aber das mache ich eigentlich nur, wenn sie beharrlich darauf besteht.
»Guten Morgen, Miles«, sagt mein Vater mit sanfter Stimme, als ich mich mit meinen beiden Gläsern zu ihnen an den Tisch setze.
»Morgen.«
»Mama, kann ich auch so etwas haben?«, fragt meine kleine Schwester Annie und deutet auf mein Glas.
»Nein Schatz, du isst bitte etwas Richtiges zum Frühstück«, antwortet sie und versucht, mich dabei nicht anzusehen. Die Blicke meiner Mutter sind immer entweder besorgt oder vorwurfsvoll. Ich weiß, dass sie mich manchmal am liebsten nur anschreien möchte, aber weiß, dass es zu nichts führt. Also lässt sie es und findet andere Wege, ihren Frust abzubauen. Traurig bin ich deswegen nicht.
»Los, zieh dich schon mal an, Annie, wir müssen los zur Schule«, sagt meine Mutter, als sie gerade aufsteht. Motiviert springt Annie von ihrem Stuhl auf, um sich Jacke und Schuhe anzuziehen. Ihre zwei blonden, geflochtenen Zöpfe springen dabei auch hoch und wieder runter und lassen sie noch ein wenig niedlicher wirken. Annie ist sechs Jahre alt und besucht seit letztem Sommer die erste Klasse. Ich bin gespannt, wie lang diese Lust auf Schule noch anhält. Bei mir hielt es bis zur Vierten, aber Annie ist eine der Besten in ihrer Klasse, also denke ich, dass sie das noch ein paar Jahre länger motivieren könnte.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr und bemerke, dass ich mich auch bald fertigmachen müsste, um noch pünktlich zu kommen. Ich kippe den Inhalt meiner zwei Gläser schnell runter, dann kommt Annie auf mich zu.
»Tschüss, großer Bruder«, sagt sie und umarmt mich. Ich umarme sie zurück.
»Tschüss, kleine Schwester.« Ich gebe ihr noch einen Kuss auf die Stirn und dann verschwindet sie mit meiner Mutter aus dem Haus. Wenn Annie und ich uns nicht mit unseren Vornamen ansprechen, dann mit großer Bruder und kleine Schwester. Diese Spitznamen sind damals auf irgendeinem Geburtstag entstanden. Unsere Oma drückte Annie irgendetwas in die Hand und sagte »hier, gib das deinem großen Bruder« und sie gab es mir und wiederholte das, was meine Oma zuvor gesagt hatte. Seitdem sprechen wir uns gegenseitig so an.
Ich stelle die benutzten Gläser in die Spüle und laufe zurück in mein Zimmer, um mich schnell noch umzuziehen. Ich habe sieben Minuten, bis ich an der Bushaltestelle sein muss, um den Bus noch zu erwischen.
Ich schlüpfe in meine Jeans, die an den Knien Löcher hat, ziehe mein T-Shirt aus und ein frisches an, nehme einen Hoodie aus meinem Schrank und setze meine graue Beanie auf. Dann ziehe ich im Flur meine schwarzen Converse an, die ich aus Zeitgründen nicht zuschnüren kann und schnappe mir anschließend meinen Rucksack und mein Skateboard. Ich fühle mich irgendwie nur halb angezogen und laufe trotzdem schnellen Schrittes zur Bushaltestelle. Dort werde ich schon Zeit haben, meine Schuhe zu binden, und wenn nicht, dann erst im Bus.
Als der Bus seine Türen öffnet, komme ich gerade an und schaffe es noch einzusteigen, bevor sich die Türen wieder schließen. Erschöpft lasse ich mich auf einen der Sitze fallen. Ich atme schnell und halte mich an einer der Lehnen fest. Für einen kurzen Moment sehe ich wieder alles verschwommen. Körperlicher Belastung kann ich mich schon seit Längerem nicht mehr aussetzen, dafür fehlt mir einfach die Energie. Zum Bus rennen bringt mich oft schon an meine physischen Grenzen.
Ich komme wieder zu mir. Mein Skateboard und meinen Rucksack habe ich zwischen meine Beine gestellt, damit sie nicht umfallen. Aus meiner Hosentasche ziehe ich Handy und Kopfhörer. Letztere stecke ich mir in die Ohren und wähle ein Lied aus. In den letzten Tagen höre ich sehr oft meine Playlist von OneRepublic, so wie jetzt auch.
Dann lehne ich mich an der Fensterscheibe an und schließe die Augen. Die Fahrt zur Schule dauert ungefähr fünfzehn Minuten – genug Zeit, um ein wenig abzuschalten. Es ist eines meiner Highlights, wenn ich morgens allein zur Schule fahren kann und diese Zeit nur für mich habe. Ungestört Musik hören, keine Konversationen führen, mit den Gedanken noch woanders schweben als in der Schule. Ich liebe das.
Ich lege meine Hände ineinander und bemerke erst jetzt, wie kalt sie eigentlich immer noch sind. Schnell stecke ich sie in die Taschen meines Pullovers. Dann bemerke ich, dass mein Magen knurrt. Knurren ist eigentlich kein Ausdruck mehr – ich habe echt Angst, dass der Junge ganz hinten im Bus es auch gehört hat. Manchmal ist es wirklich kein Grummeln oder Knurren mehr, es ist eher ein Stechen, das meistens im Krampf endet. Ich glaube, ich habe das letzte Mal vor vier Tagen etwas gegessen.
Warum? Weil ich nicht anders kann.
Jules
Ich stehe auf und gehe ins Badezimmer, welches man, seitdem wir hier wohnen, noch nie abschließen konnte. Irgendjemand, der hier vor uns gewohnt hat, hat den Schlüssel verloren und der Vermieter hat sich nicht die Mühe gemacht, einen neuen erstellen zu lassen. In normalen Familien, wo man sich gegenseitig mag, würde es mit einem Besetzt-Schild an der Türklinke wahrscheinlich funktionieren, dass niemand ins Bad kommt, wenn sich bereits jemand darin befindet. Aber wir sind keine normale Familie, schon gar nicht eine, in der man sich mag. Wir sind eher eine Wohngemeinschaft, in der mein Bruder und ich auf uns allein gestellt sind und ab und zu Anschiss und den Kühlschrank gefüllt kriegen.
Ich ziehe mein T-Shirt und meine Boxershorts aus und stelle das Wasser an. Ich gebe mir immer große Mühe, mich selbst nicht im Spiegel anzusehen, aber es ist wie ein Unfall: man will nicht hinsehen, tut es aber doch. Meine Arme sind komplett übersät mit Narben, die ich mir fast alle selbst hinzugefügt habe. Ich schaue sie mir nicht gern an. Vor allem nicht, wenn ich gerade keinen depressiven Schub habe, denn dann ist der nächste schon vorprogrammiert. Meine Mutter hat sie bisher noch nicht entdeckt und mein Bruder auch nicht. Da bin ich auch ganz froh drüber, denn sie würden es sowieso nicht verstehen. Vor allem meiner Mutter wäre es zu viel und auf diesen Vortrag habe ich definitiv keine Lust.
Kaum habe ich das Wasser angestellt und mich darunter gestellt, platzt mein Bruder Jona ins Badezimmer.
»Was brauchst du denn so lang?«, fragt er. »Beeil dich, ich muss mich auch noch waschen.«
»Verpiss dich«, sage ich genervt.
Jona zieht den Duschvorhang zur Seite und in seinem Gesicht sehe ich, dass er gerade ansetzen will, eine blöde Bemerkung über mich oder meinen Körper zu machen.
»Hau ab!«, schreie ich ihn an. Jona lacht mich nur aus, geht dann aber doch aus dem Badezimmer. Eigentlich kann ich mich nicht darüber beschweren, dass er so unreif ist, denn am Anfang meiner Pubertät war ich bestimmt nicht besser.
Als ich mit dem Duschen fertig bin, wickle ich mir ein Handtuch um und gehe in mein Zimmer.
»Mama hat gesagt, du sollst mir Frühstück machen.«
»Mach deinen Scheiß allein«, fauche ich ihn an und schließe meine Zimmertür hinter mir. Im Gegensatz zur Badezimmertür kann ich diese immerhin abschließen.
Mein Bruder und ich hatten noch nie das beste Verhältnis, aber seitdem er in der Pubertät ist, ist es nur noch schlimmer geworden – ganz zum Leid meiner Mutter. Er nutzt jede Gelegenheit dazu, mich zu provozieren oder einen Streit anzufangen. Ich weiß nicht, wann wir uns zuletzt gegenseitig ein nettes Wort gesagt haben.
Ich ziehe mir frische Boxershorts an, darüber eine Jeans, dann ein T-Shirt und einen Pullover. Ich bevorzuge langärmlige Kleidung, damit ich meine Narben so gut es geht verdecken kann. Dann beginne ich, meinen Rucksack zu packen mit Dingen, die ich für die Schule brauche: Block, Stift, Notizbuch, Brieftasche, Kopfhörer, mein Lieblingsbuch und eine Flasche Wasser. Ich schwinge den Rucksack über meine Schulter und ziehe mir meine Sneaker an.
»Hey, wir sollen zusammen fahren«, protestiert Jona breit grinsend, als ich die Wohnungstür öffne.
»Du kannst mich mal«, sage ich und ziehe die Tür zu.
Wenn ich mal zur Schule gehe, laufe ich dorthin. Für die Strecke braucht man nur ungefähr fünfzehn Minuten und vor allem morgens genieße ich es, allein zu sein und Musik zu hören.
Auf dem Weg zur Schule komme ich an einem Bäcker vorbei. Alle Mitarbeiterinnen dort kennen mich beim Namen und es hat mir schon oft den Tag gerettet, mit ihnen einfach nur kurz zu quatschen. Sie wissen nämlich nicht, was bei mir zu Hause oder in der Schule passiert. Für sie bin ich einfach nur der nette Junge, der sich jedes Mal, wenn er da ist, zwei Donuts kauft.
Auch heute Morgen betrete ich den Laden, um mir meine Donuts zu kaufen. Einen esse ich immer zum Frühstück, den anderen nach der Schule. Ich gönne mir quasi vor und nach dem Elend etwas, das mich glücklich macht. Außerdem esse ich immer erst nach der Schule, weil ich mir nicht die Blöße geben will, allein in der Mensa zu sitzen.
»Guten Morgen, Jules«, begrüßt mich Isa, eine der älteren Angestellten.
»Guten Morgen.« Ich setze ein Lächeln auf und sie nimmt es mir ab. Ohne, dass ich etwas sagen muss, greift sie nach einer Tüte und packt zwei Donuts unterschiedlicher Sorten hinein.
»Wie geht es Momo?«, frage ich sie höflich. Momo ist einer ihrer Kater. Die beiden sind ihr das Wichtigste, weil sie niemand anderen mehr hat. Ihr Mann ist vor einigen Jahren plötzlich verstorben und Kinder hatten sie nie bekommen. Dann hat sich Isa ihre zwei Kater zugelegt, die nun ihr ganzer Stolz sind. Momo ging es nicht gut, als ich das letzte Mal hier war, und Isa freut sich, wenn sich jemand nach ihren Katern erkundigt.
»Ach, das ist ja lieb, dass du fragst«, beginnt sie, »aber der Kleine hatte einfach nur etwas Falsches gegessen. Es geht ihm wieder gut.« Sie reicht mir die Tüte und ich lege zwei Euro auf den Tresen .
»Dann bin ich ja beruhigt«, sage ich und nehme die Tüte, um sie in meinen Rucksack zu packen.
»Hab einen schönen Tag, Jules«, verabschiedet sie sich, weil schon der nächste Kunde den Laden betreten hat.
»Den habe ich, danke gleichfalls!«, lüge ich, denn wenn ich eines sicher weiß, dann, dass ich keinen schönen Tag haben werde.
Miles
Ich springe von meinem noch rollenden Skateboard, um es ein paar Schritte weiter aufzuheben. Dann nehme ich es hoch, klemme es unter meinen Arm und betrete das Schulgebäude. Ich schiebe meine Beanie zurecht, die beim Fahren ein wenig nach unten gerutscht ist. Sie verdeckt alle Haare, bis auf die, die an der Stirn heraushängen.
Vor dem Klassenzimmer sehe ich Addy und Nick stehen. Sie unterhalten sich miteinander und scheinen gar nicht damit gerechnet zu haben, dass ich heute hier auftauchen würde.
»Miles!«, ruft Addy sichtlich erfreut, als sie mich sieht. Sofort kommt sie auf mich zu, um mich zu umarmen. Auch Nick hat mich bemerkt und umarmt mich ebenfalls. Die zwei sind meine besten Freunde und streng genommen auch die einzigen, die ich habe und je hatte. Wir kennen uns schon seit der Grundschule und waren bis jetzt, bis zur zehnten Klasse, nie voneinander getrennt worden.
»Wie geht’s dir, Mann?«, fragt mich Nick, »wo warst du die letzten Tage?«
»Ach«, sage ich beiläufig, »mir ging es irgendwie nicht so gut.« Das ist tatsächlich die Ausrede, die ich am häufigsten benutze. Ich weiß einfach nicht, was ich sonst sagen soll. Ach, wisst ihr, seit ungefähr sechs Monaten esse ich nur alle paar Tage etwas und habe keine Kraft, um überhaupt irgendetwas zu tun. Nein, das wäre mir unangenehm, auch wenn sie meine besten Freunde sind. Immerhin ist es ihnen bisher auch noch nicht aufgefallen. Zum Glück. Im Herbst letzten Jahres hat es angefangen und jetzt haben wir Frühling – das heißt, ich konnte bisher weite und lange Sachen tragen und niemand hat die fehlenden Kilos bemerkt.
»Schön, dass du endlich wieder da bist«, sagt Addy, »noch länger hätte ich das mit dem da allein nicht ausgehalten.« Sie deutet auf Nick und macht ein abwertendes, aber gleichzeitig witziges Gesicht.
»Ach komm, jetzt tu mal nicht so.«
»Jetzt ist unser Streitschlichter ja wieder da«, sagt Addy und klopft mir auf die Schulter. Dann sieht sie mich erwartungsvoll an und ich nicke, in der Hoffnung, dass dies als Zustimmung ausreicht. Das, was zwischen Addy und Nick stattfindet, ist so etwas wie eine Hassliebe. Sie tun ständig so, als würden sie sich streiten, obwohl es dazu nie einen Grund gibt. Sie können nicht miteinander, aber ohne einander auch nicht. Was sich neckt, das liebt sich, sagt man so schön, aber davon wollen die beiden nichts wissen. Addy hatte noch nie wirklich weibliche Freunde. Sie hatte Nick und mich und damit war sie völlig zufrieden. Seit Jahren geht sie mit uns zusammen skaten, kauft sich ab und zu die gleichen Klamotten wie wir und bisher stand es nie zur Debatte, dass sie mit einem von uns eine Beziehung anfängt. Mit mir ja sowieso nicht, aber auch wenn es am Anfang irgendwie komisch wäre, würde ich mich sehr für die beiden freuen. Na ja, bis sie sich eingestehen, dass sie sich gegenseitig sehr mögen, wird es bestimmt noch eine Weile dauern.
Es klingelt zum ersten Mal, was bedeutet, dass der Unterricht in fünf Minuten beginnt. Gemeinsam betreten wir das Klassenzimmer und begeben uns zu unseren Plätzen. Addy und ich sitzen nebeneinander in der vorletzten Reihe und Nick sitzt am Tisch hinter uns. Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen und bin froh, nicht mehr stehen zu müssen. Nach meinem ungeplanten Frühsport vorhin strengt mich Stehen nur noch mehr an.
»Guten Morgen«, höre ich Herrn Schmidt sagen, der, seine Tasche unter die Achseln geklemmt, schnellen Schrittes ins Klassenzimmer gelaufen kommt. Er schaut auf seinen Schreibtisch und meidet grundsätzlich Augenkontakt zu anderen Menschen. Fachlich ist er wahrscheinlich wahnsinnig kompetent, aber als der liebe Gott die Empathie verteilt hat, war Herr Schmidt gerade angeln. Angeln ist wirklich sein Hobby. Das ist das einzig Private, das er in den letzten Jahren von sich gegeben hat und außerdem trägt er immer so ein merkwürdiges Hütchen, das nur Menschen tragen, die angeln gehen oder nur wenig Verständnis für Mode haben.
»Guten Morgen«, antworten ein paar Schüler aus unserer Klasse, mehr oder weniger synchron.
»Miles, bist du bitte so freundlich und entfernst deine Kopfbedeckung? Wir möchten dann anfangen.« Ich nehme sie wirklich nur ab, wenn ich muss, weil ich mich ohne einfach unwohl fühle. In den letzten Jahren ist sie sogar zu meinem Markenzeichen geworden. Wenn man jemanden aus der Schule fragt, wer Miles sei, kommt häufig als Gegenfrage: das ist der Typ mit der Mütze, oder?
Widerwillig ziehe ich mir die Mütze vom Kopf und lege sie in meinen Schoß, um meine Hände damit zu wärmen. Erst jetzt bemerke ich, wie kalt sie schon wieder sind.
Herr Schmidt beginnt seinen Unterricht, aber ich höre ihm nicht zu. Wir beginnen damit, die Hausaufgaben zu vergleichen, die ich selbstverständlich nicht gemacht habe. Ich bin schon stolz darauf, überhaupt hier zu sitzen. Und das sogar pünktlich.
Früher war ich mal richtig gut in der Schule und bin die meiste Zeit auch echt gern hingegangen, aber mittlerweile ist es eine Qual für mich geworden.
»Miles?«, fragt Herr Schmidt eindringlich.
»Hm?« Scheinbar habe ich geträumt, denn er scheint mich nicht zum ersten Mal anzusprechen.
»Die Lösung, bitte.«
»Ich habe keine Ahnung, tut mir leid.« Er verdreht die Augen und schüttelt den Kopf. Mathematik ist sein Leben und ich habe das Gefühl, dass er sich manchmal persönlich angegriffen fühlt, wenn sich jemand nicht so sehr für das Fach begeistern kann wie er. Er nimmt einen anderen Schüler dran, der die Lösung Gott sei Dank weiß und uns eine Predigt vor der ganzen Klasse erspart.
Ich bin gerade in meinen Gedanken versunken, als ich plötzlich bemerke, wie laut mein Magen schon wieder knurrt. Reflexartig halte ich mir die Hände vor den Bauch, als würde das irgendwie verhindern, dass andere das hören können.
»Hast du Bauchschmerzen?«, fragt mich Addy. Ich schüttle den Kopf und funkle sie böse an, um ihr zu bedeuten, dass sie nicht weiter reden soll. Herr Schmidt starrt schon in unsere Richtung. Schnell vergrabe ich meine Hände wieder in meiner Mütze und schaue nach vorn zur Tafel. Ich verstehe kein Wort von dem, was er da erzählt und habe auch keine Energie, mich zu konzentrieren.
Als es endlich zum Ende der Stunde klingelt, springen die meisten sofort auf, um so schnell wie möglich den Raum verlassen zu können. Die Schlange in der Schulcafeteria reicht immer bis auf den Schulhof und wenn man nicht schnell genug ist, bekommt man nur die abgepackten Sandwichs statt der frischen Brötchen ab. Das ist ein Problem, das mich schon seit Längrem nicht mehr beschäftigt.
Nick, Addy und ich verlassen gemeinsam das Klassenzimmer und machen uns auf den Weg zum nächsten Unterricht. Da wir schon in der zehnten Klasse sind, dürfen wir die Pausen im Schulgebäude verbringen und müssen nicht nach draußen auf den Schulhof. Vor allem im Winter ist dies sehr angenehm.
Dass wir drei zusammen gehören, kann man nur schwer übersehen. Manchmal ist mir gar nicht bewusst, wie ähnlich wir uns sind, aber wenn man uns beobachtet, ist es fast schon gruselig, wie oft wir gleich aussehen oder die gleichen Dinge tun oder sagen. Wir tragen alle ständig Mützen, solang es draußen nicht unerträglich heiß ist, haben immer ein Skateboard dabei und wir alle lieben die Musik von One-Republic. Wir waren letztes Jahr schon auf einem Konzert von ihnen und werden diesen Frühling wieder eines besuchen. Im letzten Jahr war dieses Konzert auf jeden Fall mein Highlight und ich wüsste nicht, was mir dieses Jahr Besseres passieren könnte.
»Miles, kommst du nachher eigentlich mit?«, fragt mich Addy.
»Skaten«, fügt Nick hinzu.
»Ja, klar«, antworte ich und bin ein wenig verwundert, dass die beiden das untereinander schon ausgemacht haben und jetzt erst fragen, ob ich auch mitkommen möchte.
Wir sind die Ersten, die den Raum betreten. Das wundert mich nicht, schließlich geht die Pause erst gefühlte zwei Minuten.
Nick und Addy packen ihre Lunchboxen aus ihren Rucksäcken auf den Tisch und beginnen zu frühstücken. Ich hingegen schaue nach neuen Nachrichten auf meinem Handy. Nur eine neue Benachrichtigung von Tumblr, dass jemand mein letztes Bild geteilt hat. Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern, was ich gestern Abend zuletzt geteilt habe. Wahrscheinlich Bilder von irgendwelchen Jungen, die ich heiß finde. Deswegen kann ich die App unmöglich öffnen, wenn Nick und Addy neben mir sitzen.
»Willst du nichts essen?«, fragt mich Addy, als sie gerade ihr mitgebrachtes Sandwich auspackt.
»Ne du, ich bin noch so satt vom Frühstück zu Hause«, antworte ich. Das ist eine Lüge, aber Addy fragt nicht weiter nach.
»Habt ihr die neue Single schon gehört?«, fragt Addy. Nick und ich schütteln den Kopf. Sie zieht Kopfhörer aus ihrer Tasche, steckt diese in ihr Handy und reicht Nick und mir jeweils ein Ende. Dann startet sie den Song Rescue Me.
»Klingt cool«, sage ich, als die zweite Strophe beginnt.
»Ja, nicht? Ich habe uns auch schon die T-Shirts bestellt! Und guckt mal, das hat Ryan Tedder gestern hochgeladen.« Sie zeigt uns ein Foto auf Instagram.
Addy gehört zu diesen Ultra-Fans. Sie mag nicht einfach nur die Musik, sondern verfolgt wirklich alles, was Ryan Tedder und seine Bandkollegen den ganzen Tag über machen. Außerdem kauft sie jedes Merchandise, das es gibt, und tapeziert ihre Wände mit all möglichen Postern aus der Bravo. Vor ein paar Jahren hat sie das Gleiche mit Harry Potter gemacht, aber da hat sie jetzt vermutlich schon alles, was es gibt, zumindest vom Gryffindor-Haus.
Drei Dinge, die ich durch Addy gelernt habe:
1.Man kann nie genug Merchandise haben
2.Fan-Atrikel sammeln ist sehr wohl ein Hobby
3.Wäre Slytherin ein Sternzeichen, dann Zwilling
»Du weißt schon, dass es bis zum Konzert noch fast zwei Wochen Zeit sind?«, fragt Nick sie.
»Haben ist besser als brauchen.«
»Sagt sie und hat sich gestern den fünften Zauberstab bestellt.«
»Den brauche ich noch für die Sammlung! Ich meine, hallo, es ist der von Harry!«, protestiert Addy. Ich bewundere ihre Leidenschaft für das Sammeln. Wenn sie sich einmal für etwas begeistert, dann so richtig. Wenn man ihr Zimmer betritt, weiß man gar nicht, wo man zuerst hinsehen soll. Überall steht etwas herum und alltägliche Dinge wie Wecker, Kissen, Federtasche oder Hausschuhe sind nicht aus normalen Läden. Nein, all diese Dinge haben etwas mit Filmen oder Musik zu tun, auf die sie total abfährt.
»Vier Poster von Ryan Tedder über dem Bett – okay«, sagt Nick, »aber fünf Zauberstäbe sind echt superschräg.«
»Du bist doch der Erste, der ihn sehen will, wenn er da ist.« Addy beginnt zu lächeln.
»Das hast du jetzt gesagt.« Er lächelt zurück.
»Oh man, das ist so niedlich, dass es fast schon wieder ekelhaft ist«, sage ich.
»Was?«, fragt Nick.
»Ihr.«
»Na ja, eigentlich nur Nick«, sagt Addy.
»Hey!«, protestiert er. Addy verzieht ihre Lippen zu einem Schmollmund, um Nick nachzuäffen. »Miles, sag was!«
»Nö.«
»Gemeinheit!«
Dann klingelt es und die Pause ist beendet. Nicht viel später kommen Massen an Schülern ins Schulgebäude gestürmt und auf dem Flur wird es richtig laut. Nach und nach füllt sich auch unser Raum mit Mitschülern und prompt sinkt meine Motivation für die nächste Stunde. Na ja, Mathe ist für heute schon geschafft und damit kann es eigentlich nur bergauf gehen.
Jules
»Aus dem Weg, Schwuchtel!«, schreit Tim mich an, während er mich von hinten schubst und ich gegen meinen Spind geschleudert werde. Ich stand ihm nicht mal im Weg, er findet nur immer wieder Gefallen daran, mich zu verspotten. Mit der Hand fahre ich mir über die Stelle an meinem Kopf, mit der ich mich eben gestoßen habe. Ich hoffe, dass es kein blauer Fleck beziehungsweise keine Beule wird. Aua.
Dann öffne ich meinen Spind, um das Buch herauszuholen, welches ich für die erste Stunde benötige. Das Erste, was mir ins Auge fällt, ist ein zusammengefalteter Zettel, der definitiv nicht von mir stammt. Ich falte ihn auseinander. Schwuchtel steht darauf. Na toll, das geht ja gut los. Und meine Mutter versteht nicht, warum ich hier nicht herkommen möchte. Ich will einfach nur nach Hause und mich in meinem Bett verkriechen.
Dann betrete ich das Klassenzimmer und neben der Tür steht ein Mülleimer, in den ich die nette Botschaft von eben fallen lasse. Ich saß schon oft im Büro des Direktors unserer Schule, am häufigsten wegen Tim, aber gebracht hat es nie etwas. Danach war ich immer das Weichei oder die Petze und er hat dies als Anlass genommen, mich weiter fertig zu machen.
Was Tim nicht weiß, ist, dass er schon längst gewonnen hat. Ich kann und möchte nicht mehr und dazu hat er einen großen Teil beigetragen. Ich habe keine Kraft mehr, gegen seine Schikanen anzukämpfen. Bis zum Sommer muss ich es in diesem Irrenhaus hier noch aushalten und danach muss ich sie alle hoffentlich nie wiedersehen.
Ich setze mich auf meinen Platz und öffne auf meinem Handy ein Forum, auf dem ich seit ungefähr einem Jahr aktiv bin. Dort hat man die Möglichkeit, sich anonym mit sämtlichen Leuten auszutauschen. Tatsächlich habe ich dort eine gute Freundin kennengelernt. Streng genommen ist sie die einzige, die ich habe, und das auch nur im Internet. Am Anfang war ich skeptisch, dass sie eigentlich kein siebzehnjähriges Mädchen sondern ein sechzigjähriger Mann ist, aber nachdem wir das erste Mal mit Video telefoniert hatten, war ich beruhigt, denn Ava ist tatsächlich ein siebzehnjähriges Mädchen. Ava heißt eigentlich Avery, aber weil sie von der Frage genervt ist, ob sie denn ein Junge oder ein Mädchen sei, hat sie sich den Spitznamen Ava gegeben, weil dieser, im Gegensatz zu Avery, eindeutig ist. Wie jeden Morgen schaue ich nach, ob sie mir eine Nachricht geschrieben hat.
Averyone: Guten Morgen, Jules Verne für Arme!
Julesvernefuerarme: Hi.
Averyone: Ist alles in Ordnung bei dir?
Julesvernefuerarme: Das Übliche. Wurde wieder mit Schwuchtel begrüßt. Gleich zweimal.
Averyone: Idioten. Donuts gekauft?
Julesvernefuerarme: Selbstverständlich.
Averyone: Nachher quatschen?
Julesvernefuerarme: Selbstverständlich.
Averyone: Wow und du willst Schriftsteller werden. So wortgewandt. Bis später, July.
Kurz muss ich lächeln. Ava und ich kennen uns zwar nicht persönlich, aber ich habe das Gefühl, dass sie der einzige Mensch ist, der mich wirklich versteht. Ähnlich wie bei Isa weiß sie nur das über mich, was ich ihr erzähle. Wobei man die beiden eigentlich nicht miteinander vergleichen kann, denn Ava weiß deutlich mehr. Ava weiß eigentlich alles über mich.
Sie weiß von dem Mobbing, von meinen selbst hinzugefügten Verletzungen, von meiner Homosexualität, von meinem Vater und von all meinen Träumen. Irgendwie ist es schon schräg, sich einem fremden Menschen komplett anzuvertrauen, aber sie gibt mir den Halt, den ich an schlechten Tagen brauche.
Seitdem sie meinen Nachnamen weiß, hat sie mir blöde Spitznamen gegeben oder bezeichnet mich als Jules Verne für Arme. Streng genommen mag ich meinen Namen seitdem noch weniger, weil mir dieser Vergleich bis dahin nie aufgefallen ist. Aber sie sagt, Jules Werner klingt wie die schlechte deutsche Übersetzung für den Namen des französischen Schriftstellers Jules Verne. Wo sie recht hat. Ich hatte meine Eltern nie gefragt, ob sie das mit Absicht so gemacht haben. Wenn ja, wurde ich von meinen eigenen Eltern bereits vor meiner Geburt schon gemobbt.
In den letzten fünf Minuten der Pause, bis der Unterricht beginnt, esse ich einen der Donuts. Augen zu und durch, das denke ich mir jeden Morgen. So auch heute.
Aus meinem Rucksack ziehe ich mein Notizbuch. Liebevoll trägt es den Namen »Was ich sonst nicht sagen kann«, weil dieser Titel zu einhundert Prozent der Wahrheit entspricht. In diesem kleinen Buch steht alles, was ich nicht sagen kann. Es zu schreiben ist etwas anderes, so wie mit Ava. Wenn wir miteinander telefonieren, führen wir meistens nur Smalltalk. Die wirklich wichtigen Dinge, die ich nicht aussprechen kann, schreibe ich auf. Gleichzeitig funktioniert es auch als Tagebuch, in dem ich manchmal nur Gedanken sammle, selten auch Gedichte schreibe.
Ich überfliege noch einmal meinen letzten Eintrag, den ich gestern Abend erst geschrieben habe.
Was ich sonst nicht sagen kann: Gedanken
Ich will mein altes Leben zurück. Vor allem meinen Vater und die unbeschwerte, glückliche Familie, die wir mal waren. Mein Bruder hasst mich, aber ich mag ihn eigentlich ganz gern. Das sage ich ihm nicht, denn wer Schwäche zeigt wird angegriffen. Wenn ich eins in dem letzten halben Jahr gelernt habe, dann das. Manchmal denke ich daran, wie es wäre, nicht mehr hier zu sein. Hier auf der Erde. Gibt es einen anderen Ort für mich, an dem es mir besser gehen würde?
Als es zur Stunde klingelt, packe ich es schnell wieder zurück in meinen Rucksack. Ich möchte Fragen vermeiden, was das denn sei oder das mein Lehrer im schlimmsten Fall daraus vorliest.
»Ich bitte um Ruhe!«, ruft er. Leider vergebens.
In dieser Klasse sind hauptsächlich Schüler, an die niemand mehr glaubt. Wir sind die zehnte Klasse einer Realschule, die Hälfte von