Was im Buch der Liebe steht - Julianne Bedford - E-Book

Was im Buch der Liebe steht E-Book

Julianne Bedford

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Beschreibung

Die Liebe findet Dich.

Als Nick, Geschäftsführer einer Autowerkstatt in Los Angeles, eines Tages in den Besitz eines alten Buchs gelangt, ist er sofort fasziniert und beginnt darin zu lesen. In der Nacht, die auf seine Lektüre folgt, träumt er von einer wunderschönen, ihm aber unbekannten, Frau. Als er aufwacht, findet er sich auf einer Waldlichtung wieder, und vor ihm steht die Frau aus seinem Traum. Nach und nach wird ihm klar, dass er sich in Schottland befindet – im Jahr 1692! Aber wie kam er dorthin? Verzweifelt versucht Nick sich in seiner neuen Umgebung zu behaupten und merkt schon bald: die Liebe findet einen überall. Auch in der Vergangenheit ...

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Über das Buch

Die Liebe findet Dich.

Als Nick, Geschäftsführer einer Autowerkstatt in Los Angeles, eines Tages in den Besitz eines alten Buchs gelangt, ist er sofort fasziniert und beginnt darin zu lesen. In der Nacht, die auf seine Lektüre folgt, träumt er von einer wunderschönen, ihm aber unbekannten, Frau. Als er aufwacht, findet er sich auf einer Waldlichtung wieder, und vor ihm steht die Frau aus seinem Traum. Nach und nach wird ihm klar, dass er sich in Schottland befindet – im Jahr 1692! Aber wie kam er dorthin?

Verzweifelt versucht Nick sich in seiner neuen Umgebung zu behaupten und merkt schon bald: die Liebe findet einen überall. Auch in der Vergangenheit.

Über Julianne Bedford

Julianne Bedford ist das Pseudonym der amerikanischen Schauspielerin, Schriftstellerin und Journalistin Julianne Lee. Sie ist Autorin vieler Romane und Kurzgeschichten und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Hendersonville (Tennessee).

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Julianne Bedford

Was im Buch der Liebe steht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Angelika Naujokat

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Impressum

Prolog

Schreie in der Ferne. Ganz schwach nur, wie in einem Traum, aber sie erwachte dennoch davon, wie sie es beinahe bei jedem Geräusch in der Nacht tat. Sie lag in ihrem Bett und spürte die Kälte trotz der dicken Decken, in die sie eingehüllt war, und trotz der robusten Bauweise ihres Elternhauses. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, doch die Nachglut reichte aus, um ein wenig Licht und Wärme abzugeben.

Wieder ein Schrei. Sie setzte sich auf. »Vater?« Die Männer schliefen ungerührt weiter. »Vater, wach auf.«

Das Schnarchen auf der anderen Seite des Raums geriet ins Stocken und verstummte. Es wurde still, doch dann hörte sie Vater fragen: »Was ist?«

»Da stimmt etwas nicht. Da waren Schreie draußen.«

In der Ferne ertönte ein Knall, und Vater setzte sich auf. Sie vermochte den Umriss seiner Gestalt kaum auszumachen.

»Musketenfeuer«, sagte er. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Musketen? Vater schaute zum Wohnraum hinüber. Die einquartierten Soldaten waren verschwunden. Er sprang aus dem Bett und griff zur oberen Pritsche hinauf, um deren Benutzer wachzurütteln. »Komm mit, Junge«, forderte er seinen Sohn auf. »Mach schnell.« Und zu ihr sagte er: »Bleib hier, hier bist du sicher.« Ihr Bruder sprang aus dem Bett und erkundigte sich schlaftrunken, was denn geschehen sei, während er seine Schuhe anzog. Er tastete im Dunkeln nach seinem Kilt, schlang ihn sich um und zurrte den Gürtel fest. Vater sagte nur: »Zieh deinen Mantel an, nimm deinen Dolch und komm mit.« Die beiden Männer griffen rasch nach ihren Waffen und verließen das Haus.

In der Dunkelheit jagten ihr die vereinzelten Geräusche draußen Angst ein. Sie kauerte auf ihrem Bett. Männerstimmen schrien etwas, dann wurde es still. Ein weiterer Musketenschuss ertönte in der Ferne, dann noch zwei kurz hintereinander. Eine Frau begann zu schreien, ein langes, schrilles Klagegeschrei, das gar nicht mehr verstummen wollte. Ihre Angst wuchs. Dann mit einem Mal hörte das Wehklagen abrupt auf.

Die Tür des Hauses wurde geöffnet und mit einem lauten Knall wieder zugeschlagen. »Vater?«

Sie erhielt keine Antwort, und so wusste sie, dass es nicht ihr Vater war, sondern wahrscheinlich ein Soldat. Sie schlüpfte aus dem Bett, um ihm gegenüberzutreten. Es war ein ganz junger Private, ein Soldat noch ohne Dienstgrad, kaum mehr als ein Junge, der zu denen gehörte, die bei ihnen einquartiert waren. Sie verlieh ihrer Stimme einen strengen Ton.

»Was geht da vor sich?«

Der Junge stand neben seinem zusammenrollbaren Bettzeug in der Nähe des Feuers, hielt sein Schwert in der Hand, das im pulsierenden Licht des schwelenden Feuers glitzerte, und sagte nichts, sondern starrte sie nur an. Er war ein Campbell, und sie glaubte, dass er sich für etwas Besseres hielt und daher nicht mit ihr sprach. Aber sie musste sich auch eingestehen, dass sie Angst hatte, was sie wütend machte, wütend, weil sie sich vor einem Campbell fürchtete.

»Was geht da draußen vor sich? Warum hat diese Frau so geschrien?« Es waren weitere Schüsse zu hören, und sie sehnte sich nach Stille, friedlicher, gesegneter Stille.

Aber der junge Soldat sprach weiterhin kein Wort. Er starrte sie nur unter seinen gesenkten Brauen an, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, als würde er angestrengt über etwas nachdenken. Seine Augen blickten seltsam trüb, und es lag ein Ausdruck von Verwirrung darin und von animalischer Einfalt. Er schien sie gar nicht zu sehen, schaute durch sie hindurch.

Die Tür wurde aufgestoßen, und ein weiterer Soldat, der andere Rotrock, der bei ihnen untergebracht war, trat mit eingezogenem Kopf ein. Der Neuankömmling sah sie in ihrem Nachthemd dastehen und sagte zu dem Jüngeren: »Töte sie.«

Der Junge schien aus seiner Trance zu erwachen und erwiderte mit erstickter, zitternder Stimme: »Aber sie ist eine Frau.«

»Sie ist eine MacDonald und Abschaum. Eine geborene Diebin, die nur noch mehr Diebe gebären wird. Töte sie, sonst wird man dich wegen Verrats anklagen.« Der junge Private wollte etwas antworten, doch der andere Soldat schnitt ihm das Wort ab. »Gott stehe dem Mann bei, der bei Sonnenaufgang kein blutiges Schwert vorzuweisen hat. Töte sie, oder man wird dir den Prozess machen.« Die Schwertklinge des älteren Soldaten war mit etwas Dunklem getränkt, und es war offensichtlich, dass er sich der englischen Krone bereits als loyaler Untertan erwiesen hatte.

Es war zu spät, um davonzulaufen. Der ältere Private versperrte den einzigen Ausgang. Sie lüpfte ihr Nachthemd und fuhr herum, um sich in den Schlafraum zu flüchten, wo sie hoffte über die Flechtwand in den Kuhstall klettern zu können. Der Junge nahm die Verfolgung auf. Sie stieß einen Schrei aus und begann zu weinen, den Tod vor Augen. In dem schmalen Schlafraum saß sie nun in der Falle und eilte dort zwischen den Wandbetten hin und her. »Bitte tut mir nicht weh«, flehte sie, aber der Soldat sagte nichts und ging mit seinem Schwert auf sie los. Er hätte sie in diesem Moment leicht erwischen können, war aber noch unentschlossen. Sie fuhr fort, um ihr Leben zu betteln, aber jedes Mal, wenn sie versuchte Richtung Kuhstall oder Wohnraum an ihm vorbeizuschlüpfen, trat er ihr in den Weg. Und der Ältere stand mit seinem eigenen Schwert hinter ihm, um die Arbeit zu erledigen, falls der Junge es nicht über sich bringen würde.

Sie wich wieder zur Seite aus und sprang dieses Mal auf ihr Bett. Ihre Füße verfingen sich dabei in den Decken, und sie stolperte. Voller Panik kroch sie über ihr Bett, und Tränen der Verzweiflung rannen ihr über die Wangen.

Das Schwert fand sie in der Dunkelheit. Ein kalter metallischer Schmerz ließ sie aufkeuchen. Auch wenn es nicht so wehtat, wie sie es befürchtet hatte, ließ sie die Gewissheit ihres bevorstehenden Todes einen kummervollen Schrei ausstoßen. Sie schluchzte, als die Klinge herausgezogen wurde und erneut in ihren Körper eindrang, nun in den Rücken, und sie brach auf dem Bett zusammen, unfähig, sich zu rühren. Ihre letzten Schreie zeugten von der panischen Angst, ihrem Ende ohne Beistand entgegensehen zu müssen, nur in Gegenwart ihrer Mörder, die Campbells waren und daher keine echten Männer.

Das Schwert durchbohrte sie ein drittes Mal, traf dabei ihr Herz, und dann spürte sie nichts mehr.

1

Es war muffig und stickig in dem kleinen Laden, aber zumindest waren sie dem Regen entkommen. Nick strich sich das feuchte Haar aus der Stirn und folgte Darlene in das enge, übelriechende, staubige und überheizte Geschäft. Allen Kramläden war dieser typische Geruch nach Verfall zu eigen, eine Kombination aus Staub und alter Möbelpolitur. Bröckliges Holz gesellte sich zu verrottender Baumwolle und dem vergilbten Papier von Büchern, die an allen vier Wänden in Regale gestopft waren. Tischreihen übersät mit Krimskrams und alten Spielsachen. Keramikenten, eine Keksdose in Form einer Kuh, eine Digitaluhr, deren Zahlen auf Plastikklappen wie von einer Rotationskartei gedruckt waren. Ein Sammelsurium von Porzellan mit einer solchen Vielfalt von Blumenmustern, dass es an einen vernachlässigten englischen Garten erinnerte. Ein Verwandlungsroboter, dem offenbar eine Hand fehlte oder auch nicht.

Nick blieb in der Nähe der Tür stehen, vergrub die Hände in den Hosentaschen und hoffte inständig, dass seine kleine Schwester nicht allzu lange für diese Besorgung benötigen würde. Er hatte Hunger und musste sie erst noch bei den Eltern in Van Nuys absetzen, bevor er in seine eigene Wohnung und zu seinem Abendessen in Burbank zurückkehren konnte. Auf dem Freeway war heute aufgrund des Wetters die Hölle los, und sie würden noch eine halbe Ewigkeit für die Fahrt benötigen.

Doch seine Hoffnung erlosch, als Nick sah, wie Darlene langsam zwischen den Tischreihen durchschlenderte, sich Keramikfigürchen und verfärbte Bonbongläser ansah, von denen einige sogar einen Sprung hatten. Sie liebte solches Zeug. Er hatte nie begreifen können, warum das so war. Alter Kram. Warum bedeutete alter Kram manchen Leuten nur so viel? Einige Honigflaschen aus Plastik, die die Form eines Bären hatten, standen auf einem Regal in seiner Nähe, und er fragte sich gedankenverloren, ob die Flasche, die er in seiner Wohnung hatte und die er letzte Woche mit Honig gefüllt gekauft hatte, wohl auch die fünf Dollar wert sein mochte, die dieser Laden für die hier angebotenen verlangte.

Sein Blick ging zu den Wandregalen, und er schlenderte hinüber. Mit alten Büchern war das nun wieder eine ganz andere Sache. Er liebte Bücher, ganz besonders seltene. Zu Hause hatte er einige richtig alte Taschenbücher und ein paar nicht besonders wertvolle Erstausgaben, aber sein ganzer Stolz war die Erstausgabe von Stephen Kings Carrie, die er vor einigen Jahren in einem Secondhand-Buchladen gefunden hatte. Heutzutage hätte er sich das Ding nicht leisten können, wenn er es zu seinem derzeitigen Schätzwert hätte kaufen wollen. Welche Titel mochten die hier wohl haben? Waren vielleicht einige alte Ausgaben dabei? Oder boten sie nur gebrauchte, zerfledderte Bücher an? Er legte den Kopf zur Seite und überflog die Buchrücken. Einiges, was hier stand, war wirklich alt – die Hardy Boys, Prinz Eisenherz, ein Benimm-Buch von Emily Post aus den Fünfzigerjahren. Wunderbar, etwas, das ihn zum Lachen bringen würde. Er griff danach, um sich die Wartezeit zu vertreiben.

Im selben Moment vernahm er einen entfernten Schrei, verharrte und blickte sich suchend um. Doch nun, da er eingehend lauschte, hörte er nichts weiter als die vertrauten Geräusche der Stadt draußen vor dem Laden, die Autos, die den Ventura Boulevard hinauf- und hinunterfuhren, das zischende Geräusch der Räder auf der nassen Fahrbahn. Niemand sonst im Laden schien etwas bemerkt zu haben. Nach einer kleinen Weile griff er erneut nach dem Buch.

Wieder vernahm er einen Schrei, näher diesmal. Es klang, als würde jemand furchtbare Schmerzen leiden. Offenbar handelte es sich dabei um eine Frau. Nick ging beunruhigt zur Tür, um hinauszusehen, konnte aber nichts weiter entdecken außer peitschendem Regen und umhereilenden grauen Gestalten. Ein kühler Wind blies ihm den Regen ins Gesicht, und er wich in den Laden zurück und blickte zu dem Regal hinüber, in dem das Buch von Emily Post stand.

Komisch. Selbst für eine Stadt wie Los Angeles war das komisch.

Er kehrte zu dem Regal zurück und griff wieder nach dem Buch, und als seine Finger es berührten, ertönte ein Schluchzen, diesmal von einem Mann. Der Laut war in seinem Kopf, und er bemerkte, dass die Rückseiten seiner Finger warm wurden. Das Buch, das neben dem von Emily Post stand, fühlte sich noch wärmer an, und er zog seine Hand weg. Wie eigenartig. Er neigte den Kopf zur Seite, um den Titel auf dem Rücken des anderen Buches zu lesen, doch es war nur ein ganz schmales Büchlein und hatte gar keinen Rücken. Eigentlich waren es nur ein paar Seiten, die offenbar von Hand zusammengeheftet worden waren. Er berührte es, und es fühlte sich immer noch warm an und weich, obwohl der Ledereinband ausgesprochen alt war. Er ignorierte das Benimm-Buch und griff nach dem Büchlein und drehte es in seinen Händen. Es war nicht nur warm, sondern er hätte schwören können, dass es sich anfühlte, als hätte es einen Puls, als flösse Blut unter dem glatten Leder. Er hatte Bücher schon immer als Freunde betrachtet, die ihm an ruhigen Abenden gute Gesellschaft leisteten, aber bis zu diesem Moment war es ihm noch niemals so vorgekommen, als ob ein Buch lebendig wäre.

Auf dem Einband war in Blattgold der Titel aufgeprägt: Eine Geschichte über den blutigen und abscheulichen Verrat, begangen am Clan Donald von Glen Coe. Ein Massaker, verübt von Soldaten im Dienste von King William, 1692. Ein Autorenname war nicht angegeben.

Puh. So wie es aussah, handelte es sich um ein ausgesprochen altes Buch. Nick fragte sich, ob er womöglich einen echten Fund gemacht hatte. Er warf einen Blick hinein, auf die erste Seite, fand aber keine Preisauszeichnung. Das Papier war schrecklich vergilbt, die Seiten waren beinahe schon braun und die Ränder bröcklig. Und jetzt sah er, dass das Büchlein gar nicht gedruckt, sondern in einer ordentlichen Handschrift geschrieben worden war. Die in sorgfältigen Abständen aneinandergefügten Worte marschierten wie Soldatenreihen über die Seite, unerbittlich genau und dicht an dicht. Dieses Büchlein war nicht nur alt, es war einzigartig. Der Einband fühlte sich unheimlich unter seinen Fingern an, merkwürdig vertraut und doch fremd, und er hatte keine Ahnung, warum. Es handelte sich ganz offenbar um etwas Wertvolles, und in diesem Ramschladen würde er es sich vielleicht leisten können. Eine aufgeregte Unruhe stieg in ihm auf.

Jetzt war Nick wirklich neugierig, wie viel sie für dieses Ding verlangen würden. Wenn es tatsächlich so alt war, wie es schien, was tat es dann hier? Er schloss das Büchlein und strich mit der Hand über den Einband. Er hatte eine eigenartige Farbe, beinahe so, als wäre das Alter die einzige Farbe daran. Das Leder war nie gefärbt worden und hatte eine seltsam durchsichtige Beschaffenheit. Ungefärbt und schlecht gegerbt. Oder komisch gegerbt. Als würde es sich immer noch um Haut und nicht um Leder handeln. Unheimlich.

Er ging mit dem Buch zu der Vitrine in der Nähe der Tür. Auf dem verschmierten und verfärbten Glas stand eine Addiermaschine, und daneben lag ein Block mit Quittungsvordrucken, und so nahm Nick an, dass es sich um die Kasse handelte. Er schaute sich um, trommelte mit den Fingerspitzen auf das Glas und lenkte schließlich die Aufmerksamkeit einer jungen Frau auf sich, die ganz in der Nähe auf einem Stuhl saß und ins Leere starrte. Sie richtete ihren Blick auf sein Gesicht und lächelte.

»Was gefunden?« Sie erhob sich träge, gelangweilt und schwankte in einem nicht vorhandenen Wind.

Er nickte und versetzte dem Buch auf der Theke einen kleinen Schubs, um seine Wahl deutlich zu machen. »Ich würde gern wissen, wie viel es kosten soll. Es steht kein Preis drin.«

Die Frau war ganz in Schwarz gekleidet – langes schwarzes Baumwollkleid mit Ärmeln, die so lang waren, dass sie ihre Hände beinahe bis zu den Fingerspitzen bedeckten, schwarze Arbeitsstiefel, dünner schwarzer Schal, den sie sich um den Hals geschlungen hatte, und dunkle Ringe unter den Augen. Sie war ausgesprochen dünn, so dünn, dass Nick glaubte, sie hätte sich in einer anderen Epoche ihren Lebensunterhalt gut und gern als Zirkusattraktion verdienen können – »das lebende Skelett«. Ihre von stark getuschten Wimpern umgebenen Augen wurden groß, als sie das Büchlein erblickte, das er auf die Theke gelegt hatte. »Oh, das.«

Er lächelte. »Das?«

»Na, das Massakrierbuch. Aus Schottland.« Sie kräuselte ein wenig die Lippen, und er fragte sich, ob sie das Büchlein gelesen und es ihr nicht gefallen hatte.

»Wie viel soll es denn kosten?«

»Zehn.« Offenbar musste sie gar nicht erst nachschauen. Sie kannte das Buch.

»Zehn Dollar?« Sie nickte. Zehn Dollar, ein unschlagbarer Preis, wenn dieses Ding wirklich so alt war, wie er vermutete. Und selbst wenn es das nicht war, allein das seltsame Leder war diesen Preis wert. Er griff nach seinem Portemonnaie, das er in der Gesäßtasche hatte, während sie den Quittungsblock zu sich herüberzog. Sie nahm einen Kugelschreiber von der anderen Seite der Theke und sagte: »Name?«

Er zögerte, denn er war es nicht gewohnt, bei einem Barkauf nach seinem Namen gefragt zu werden. »Nick Mouliné.« Er willigte auch ein, als sie ihn um seine Adresse und seine Telefonnummer bat, weigerte sich aber, ihr seine E-Mail-Adresse zu nennen. Er hasste es, zugemüllt zu werden. Der jungen Frau schien es egal zu sein, ob sie die Adresse bekam oder nicht, und sie fuhr fort, den Vordruck auszufüllen, wobei sie ohne Unterlass redete.

»Interessieren Sie sich für schottische Geschichte, oder haben Sie schottische Vorfahren? Mütterlicherseits vielleicht?« Sie neigte ihren gebeugten Kopf ein wenig zur Seite, während sie langsam in großen schnörkligen Buchstaben schrieb.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich lese gern. Ich interessiere mich für Bücher.« Bei seinem Gehalt konnte er sich die wirklich guten selten leisten, aber ein erster Blick auf das Büchlein hier sagte ihm, dass zehn Dollar geschenkt waren. »Wie alt ist dieses Buch überhaupt?«

Die junge Frau gab einen summenden Laut von sich, legte die Stirn in Falten und sagte dann: »Ungefähr dreihundert Jahre, glaube ich. Es ist so eine Art Tagebuch.«

Nun war Nicks Neugierde geweckt, warum sie nur zehn Dollar dafür verlangte, aber er wollte die Angelegenheit lieber nicht weiterverfolgen und sie möglicherweise am Ende noch dazu bringen, mehr Geld zu fordern, als er sich ohne an sein Erspartes zu gehen leisten konnte. Vielleicht war das Buch ja gar nicht so alt, wie sie dachte. Wenn dies der Fall sein sollte, dann war eine von Hand geschriebene Geschichte über ein Massaker vielleicht wenigstens des Lesens wert. Er wollte dieses Büchlein unbedingt haben und öffnete sein Portemonnaie, um es zu bezahlen.

Die Frau redete weiter: »Schottland. Die haben da drüben meine ganze Religion ausgelöscht.«

Nick runzelte die Stirn, war um eine Entgegnung verlegen und fragte sich, wovon in aller Welt sie redete. »Wie bitte?«

»Meine Religion. In Schottland haben sie schon vor langer Zeit versucht uns zu vernichten.« Wut schwang in ihren Worten mit, als wäre dies gestern erst geschehen und es würde ihr bei der Erinnerung an dieses erlittene Martyrium die Stimme verschlagen.

Bei seinem Versuch zu begreifen, was sie damit meinte, kam ihm ein Film über das elisabethanische England in den Sinn, den er einmal gesehen hatte, und er sagte im Bemühen, freundlich zu erscheinen: »Sind Sie Katholikin?«

Ihre Hand ging zu einem kleinen Anhänger, der, wie er erst jetzt bemerkte, an einer Silberkette um ihren Hals hing und der ein Pentagramm darstellte. »Nein, natürlich nicht! Ich bin eine Wicca!« Ihr Ton legte nahe, dass er ein Dummkopf war, weil er sich mit diesem Wicca-Kram nicht auskannte.

Nick war wieder einmal überfragt, setzte die Unterhaltung aber tapfer fort. »Und Wicca wurde … ausgelöscht?«

»Von den Christen, ja. Die Priester haben uns alle umgebracht.«

Nick blinzelte. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn persönlich beschuldigte oder lediglich Konversation machte. Möglicherweise versuchte sie ihn auch zu werben. Er vermochte es wirklich nicht zu sagen – nicht, dass er ein besonderes Interesse an Religion gehabt hätte. »Wann war denn das?«

»Vor langer Zeit.«

»Sie wissen nicht, wann?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Das weiß doch jeder. Das Christentum hat uns alle ausgelöscht.« Sie hielt ihm eine geöffnete Tüte hin, damit er sein Buch hineintun konnte.

Nachdem er es getan hatte, nahm er die Tüte an sich, lächelte und sagte fröhlich: »Na ja, aber Sie sind ja noch hier. Da haben sie wohl eine übersehen.«

Sie reagierte mit einem verdutzten Stirnrunzeln, und er drehte sich um, um nach seiner Schwester zu schauen. Aber die Frau rief ihm nach: »Dieses Buch da.« Nick wandte sich wieder um, denn seine Neugierde siegte, obwohl er darauf brannte, wegzukommen. »Wie ertragen Sie es nur, es anzufassen?«

»Was meinen Sie damit?« Er wusste genau, was sie meinte, wollte es aber nicht zugeben.

Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Weiß auch nicht. Ich krieg davon das kalte Grausen. Ich hab versucht es zu lesen, aber es ist irgendwie komisch. Beinahe so, als wollte das Buch nicht, dass ich es lese.«

Junge, Junge. Er schenkte ihr ein fröhliches, absolut unechtes Lächeln und sagte: »Dann weiß das Buch ja gar nicht, was ihm entgeht. Ich würd’s an Ihrer Stelle aber nicht persönlich nehmen.«

Die Frau kicherte. »Nein, im Ernst, ich kann so was spüren, und ich weiß, wovon ich rede. Bei dem Ding läuft es mir kalt den Rücken herunter.«

Nick betrachtete die Tüte. »Tja, dann bin ich ja mal gespannt, ob es sich von mir lesen lassen will, wenn ich nach Hause komme.«

Sie nickte. »Keine Sorge, das wird es. Es hat ja auch zugelassen, dass Sie es kaufen.« Sie sagte es einfach so leicht dahin, im Brustton der Überzeugung, als wüsste sie mit Sicherheit, dass er sich darüber freuen würde.

Daher entgegnete er: »Dann ist es ja gut.« Dann machte er sich auf die Suche nach seiner Schwester.

Es herrschte dichter, stockender Verkehr und schlechte Sicht, was an den Nerven zerrte. Dazu kamen die zahlreichen Ampeln und die übervorsichtigen Fahrer, die ihre Wagen langsam durch den Sturm lenkten. Aber dennoch gelang es Nick, recht schnell voranzukommen, um Darlene vor ihrem Elternhaus abzusetzen, wo er nun gehalten hatte und darauf wartete, dass sie durch den Regen vom Wagen zur Haustür laufen würde.

»Kommst du denn nicht mit rein?« Sie hangelte sich über den Sitz, um ihre Tüten mit den Einkäufen vom Rücksitz zu nehmen. Es war eine lange Shoppingtour gewesen, und es gab eine Menge raschelnder Plastiktüten.

Nick warf einen Blick auf den von Wacholder und Rhododendron eingerahmten großen Bungalow und seufzte vernehmlich. »Es ist eine Falle, die nur darauf wartet, zuzuschnappen. Ich würde da nie rauskommen, ohne mir den Fuß abzunagen.«

»Sooo schlimm ist Mom gar nicht.«

»O doch, das ist sie. Wenn ich da jetzt mit reingehe, wird sie wollen, dass ich zum Abendessen bleibe. Dann zum Fernsehen. Ich werde vor Mitternacht nicht entkommen. Du weißt doch, dass ich Mom nichts abschlagen kann. Das bringt keiner fertig.«

Das Rascheln der Tüten verstummte für einen Moment, und Darlene hatte eine Hand auf den Türgriff gelegt, bereit, loszurennen, doch sie wollte diese Sache erst noch klären. »Und was wartet auf dich in deiner Wohnung?«

»Friede. Ruhe.«

»O ja, jede Menge Ruhe.«

Er nickte nur, ließ sich aber nicht ködern. Allein zu leben war nicht gerade ideal, aber er empfand es auch nicht als die große Tragödie, die seine Familie darin sah.

Darlene gab einen verächtlichen Laut von sich, sagte dann aber: »Na schön, da werde ich ihr eben erzählen, dass du ein heißes Date hast. Vielleicht haut sie das ja um, dann müssen wir uns nicht länger von ihr nerven lassen.«

»Das wäre gar keine so große Lüge. Ich habe hin und wieder heiße Dates, und das nächste kommt bestimmt. Man weiß nie, was der Tag so bringt.«

»Dad macht sich Sorgen um dich.« Das schien sie zu amüsieren.

Nick schnaubte und blickte in den Regen hinaus. »Klar. Er glaubt, ich sei schwul.«

»Bist du’s?«

»Darlene!«

»Wär schon okay.« Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, denn es machte ihr Spaß, ihn aufzuziehen. Er musste unwillkürlich lächeln, denn selbst mit ihren achtzehn Jahren war sie doch immer noch seine kleine Schwester, und wenn sie aufhören würde ihn aufzuziehen, könnte er auf die Idee kommen, dass sie ihn nicht mehr lieb hatte.

»Hör auf.«

»Wie auch immer, Dad glaubt nicht wirklich, dass du es bist. Er versteht bloß nicht, warum du nicht öfter ausgehst.«

»Du weißt, warum.« Trotz des großen Altersunterschieds kannte ihn Darlene besser als jeder andere auf der Welt. »Mein derzeitiger Job zieht die Mädchen nicht gerade in Scharen an.«

»Quatsch. Jeder kann doch eine Nummer schieben, wenn man seine Ansprüche entsprechend runterschraubt.«

Das brachte ihn zum Lachen. »Na toll! Das ist ja endlich mal ein Ziel, für das es sich zu leben lohnt!«

Darlene kicherte. Und dann verwandelte sie sich vom albernen Teenager in die beinahe erwachsene Frau, wie es in letzter Zeit immer öfter geschah. Mit ernstem Gesicht sagte sie: »Mom ist schon ziemlich sauer, dass du so selten vorbeikommst.«

»Kann man mir wohl kaum verdenken. Es ist einfach langweilig.« Er rieb mit dem Daumen über einen Fleck auf dem Lenkrad. »Jedes Mal, wenn ich da bin, muss ich mir einen Vortrag darüber anhören, wie ich mein Leben führe, und ehrlich gesagt ist dieses Leben zurzeit einfach nicht interessant genug, um einen ganzen Abend ausführlich darüber zu reden.« Er rieb fester über den Fleck.

»Sie würde sich wirklich freuen, wenn du zum Essen mit reinkämst.«

Er seufzte und blickte aus der Windschutzscheibe in den Regen hinaus, der auf die Motorhaube seines Wagens trommelte. Dann sagte er: »Richte ihnen aus, dass ich am nächsten Wochenende vorbeikommen werde.«

Darlene lächelte so breit, dass sie tausend Fältchen um die Augen bekam. »Klasse! Okay, dann sehen wir uns also nächstes Wochenende. Danke fürs Mitnehmen und auch für die Hilfe bei der Reparatur meines Wagens.«

»Er müsste eigentlich Mittwoch fertig sein.«

»Du bist mein Lieblingsbruder!« Da er ihr einziger Bruder war, lachte er. »Mach’s gut!« Sie riss am Griff, um die Tür zu öffnen, knallte sie hinter sich zu und hastete durch den Regen über den Rasen zur Haustür.

Nick seufzte erneut, schaltete und lenkte den Wagen vom Bordstein auf die Straße, um sich auf den Nachhauseweg zu machen.

Als er in seiner Wohnung ankam, warf er die Tüte mit dem Buch auf den Couchtisch und hing dann seine vor Nässe triefende Jacke an den Haken hinter der Tür, bevor er auf der Suche nach etwas Essbarem Richtung Küche ging.

Da war nichts im Kühlschrank, was sein Interesse zu wecken vermochte – bis auf ein paar Karotten, die dringend weggeworfen werden mussten. Er entschied sich, ihnen noch einen weiteren Tag zu geben, denn dann würde er sich weniger schuldig fühlen, sie in den Müll zu tun. Im Hängeschrank war auch nichts weiter als Nudelschachteln und ein paar Gläser Soße. Mist. Auf Kochen hatte er jetzt überhaupt keine Lust. Warum hatte er sich nicht unterwegs was besorgt? Er warf einen Blick in die Tiefkühltruhe. Gefrorene Enchiladas und Waffeln. Auch nicht wirklich verlockend. Außerdem völlig vereiste Rippchen, die schon so lange dort lagen, dass sie mit Sicherheit an irreparablem Gefrierbrand litten. Er warf sie sofort in den Abfall. Im Unterschrank befanden sich Popcorn, Chips, Trockenfrüchte, Kaffee, Teeschachteln – Kräutertee und diverse andere Sorten. Außerdem Erdnussbutter, Ramen-Nudeln, eine Chili-Gewürzmischung und ein Glas mit Sandwich-Paprikas. Kein Brot im Brotkasten. Er musste unbedingt Brot kaufen. Und vielleicht auch etwas Aufschnitt, wenn er schon einmal dabei war. Er hatte nur noch Schinken. Und Majo. Und auch davon war nicht mehr viel da, wenn man dem Glas auf dem Kühlschrank glauben durfte.

Er beugte sich wieder zum Unterschrank hinunter, nahm die Kartoffelchips und eine Tüte getrocknete Feigen heraus und ging ins Wohnzimmer, um sich damit auf der Couch vor dem Fernseher niederzulassen. Die Chips und die Feigen reizten ihn ebenso wenig wie alles andere in der Küche, aber wenigstens musste er nicht erst irgendetwas mit ihnen machen. Er stellte den Fernseher auf stumm, wie er es meistens tat, und ließ die Gameshow laufen, um darauf zu warten, dass etwas Gutes auf dem Sender kam. Das würde allerdings noch zehn Minuten dauern.

Der Regen draußen glich einem lauten Zischen auf dem Beton um den Pool, und Nicks Gedanken wanderten zur Arbeit, die ihn am nächsten Tag erwartete. Einer seiner Mechaniker war bekifft in der Werkstatt erschienen, und Nick hatte vor, ihn zu feuern. Die anderen beiden Jungs würden wegen der zusätzlichen Arbeitsbelastung zwar sauer sein, aber das war immer noch besser, als einen bekifften Typen mit Elektrowerkzeug hantieren zu lassen.

Er kaute nachdenklich auf einer Feige herum und beugte sich zum Couchtisch vor, um das Buch, das er gekauft hatte, aus der Tüte zu nehmen. Als er den Einband berührte, bekam er eine Gänsehaut, obwohl er dieses Mal keine Stimme hörte. Das Büchlein kam ihm noch schmaler vor als im Laden und auch älter, falls dies überhaupt möglich war. Er schlug es auf und biss beim Lesen der gleichmäßigen, dekorativen Handschrift in eine weitere klebrige Feige. Die Schrift war so perfekt, dass er kaum glauben mochte, dass sie nicht gedruckt worden war.

»Hierin lege ich Zeugnis ab von dem abscheulichen und furchtbaren Verbrechen, das begangen wurde von meiner Person und den Mitgliedern meines Clans von Argyll. Von der brutalen Ermordung von 39 Männern, Frauen und Kindern des Maclain-Clans, wofür ich keine Vergebung erhoffen kann und auch keine erbitte, wenngleich ich mich ob meiner Beteiligung an diesem Unheil ein Leben lang gegrämt habe. Die Darstellung der Geschehnisse hat nicht zum Ziel, mein Gewissen zu erleichtern, denn die Schuld, die ich auf mich geladen habe, ist allzu groß, und es bleibt mir nur auf die Gnade unseres Erlösers zu hoffen. Die Schilderung dieser wahren Begebenheit jedoch soll als Warnung dienen …«

Ein leises Stöhnen schien beim Lesen in Nicks Kopf zu erklingen. Er legte das Buch auf den Couchtisch zurück und rieb sich die Hände an seiner Jeans. Obwohl er immer neugieriger auf das wurde, was in dem Buch stand, widerstrebte es ihm doch, es noch einmal zu berühren. Er ließ es dort liegen, und nachdem er es geschlossen hatte, war auch die schmerzerfüllte Stimme verstummt. Er griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher auf Zimmerlautstärke zu stellen. Die Gameshow war beinahe zu Ende, und vielleicht würde ja doch noch etwas Gutes laufen. Den restlichen Abend ließ er sich von einer Reihe von mittelmäßigen Sitcoms berieseln und vergaß dabei das eigenartige Buch.

Später dann zog er sich aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Er hatte das Büchlein mitgenommen, um noch ein wenig darin zu lesen, ließ es aber ungeöffnet auf dem Nachttisch liegen und schaltete sofort das Licht aus. Er brachte es einfach nicht über sich, noch einmal diesen unheimlichen, viel zu weichen Einband zu berühren. Als er das Kissen unter seinem Kopf zusammengeknüllt hatte und in der Dunkelheit dalag, wanderten seine Gedanken wieder zu der bevorstehenden Entlassung, und er überlegte, wie er die Sache anstellen sollte. Der Regen schlug gegen das Schlafzimmerfenster in der Nähe seines Kopfs, einem sich wiederholenden Trommelwirbel gleich, und lullte ihn in den Schlaf.

Zumindest für eine Weile.

Da war eine Stimme – die Stimme eines Mannes, tief und voller Nervosität –, und sie beschwor ihn, aufzuwachen. Aber das wollte Nick nicht. Es war so gemütlich in der Dunkelheit. Aus irgendeinem Grund wusste er, dass er frieren würde, wenn er die Augen öffnete. Daher ließ er sie zu und kämpfte darum, weiterzuschlafen.

Aber die Stimme war beharrlich. Eine gewisse Verzweiflung lag darin, die Nick tief berührte. Ihre Intensität ließ ihn schaudern und den Kampf aufgeben. Er öffnete die Augen und spürte die Kälte, griff nach der Lampe auf dem Nachttisch, konnte sie aber nicht finden. Seine Hand griff ins Leere, obwohl er einen weiten Bogen zog. Die Frage, wie der Mann, der da mit ihm sprach, in seine Wohnung gekommen sein mochte, beschäftigte ihn nur vage irgendwo in seinem Hinterkopf. Es musste ein Traum sein. Jawohl, ein Traum. Er war mehr mit seiner verschwundenen Lampe und dem verschwundenen Nachttisch beschäftigt, tastete weiter in der Dunkelheit nach ihnen, konnte sie aber nicht finden.

Die Stimme sagte: »Sieh mich an.«

»Einen Augenblick.« Wo war nur die verdammte Lampe?

»Sieh mich an!« Die zittrige Stimme hatte einen Akzent, möglicherweise schottisch. Nick bekam eine Gänsehaut, war aber viel zu schlaftrunken, um sich nach der Ursache zu fragen. Er zog langsam seine Hand zurück und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Der Raum war dunkel bis auf ein Licht, das von einer Gestalt auszugehen schien, die vor dem Fußende von Nicks Bett stand. Es war ein vom Alter gebeugter Mann, grau und ungepflegt, mit einer Haltung, die an ein Fragezeichen erinnerte – sein Hals war beinahe waagerecht, und sein Kopf hing am Ende herunter wie ein gut ausbalanciertes Mobile. Er trug eine eigenartige rote Jacke – das heißt, sie musste wohl einmal rot gewesen sein – mit verblichenen gelben Besätzen, gekreuzten, zerfledderten Wehrgehängen, die vielleicht früher weiß gewesen, inzwischen aber aufgrund des Alters und des häufigen Gebrauchs braun waren und weder ein Schwert noch eine Muskete hielten. Unter der Jacke schaute eine karierte Weste hervor. Die Hose war graubraun und saß ihm sehr locker um die Oberschenkel. Von seinen knochigen Knien an abwärts waren seine Beine nackt und spindeldürr bis hinunter zu seinen Füßen mit ihren blauen Venen und den krustigen braunen Zehennägeln. Klar, ein Traum. Nick gewöhnte sich an den Gedanken. Für einen Moment dachte er an Jacob Marley, den Geist aus Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte, und er fragte sich, warum dieser Kerl hier nicht an Ketten gefesselt war, ließ sich aber ablenken, als die Gestalt vor ihm erneut zu sprechen begann.

»Ich bin William Campbell.«

Nick entschied sich zu raten, schließlich war das hier sein Traum. »Der Kerl, der dieses gruselige Buch verfasst hat.«

Campbells Mund zuckte. »Ich habe mich darin zu meiner Schuld bekannt.«

»Du bist ein ziemlich alter Mann, um ein solches Massaker angerichtet zu haben.«

Die rotgeränderten Augen des alten Soldaten huschten hin und her. »Ich habe noch viele lange, von Kummer erfüllte Jahre bis zu meinem eigenen Tode verbracht. Jahre, in denen mir das, was ich getan habe, immer vor Augen stand. Jahre, in denen das Wissen darum, dass, gleichwie die Gründe auch ausgesehen haben mochten, dieser Akt der Gewalt ohne jede Berechtigung geschehen ist und dieses Unheil mich bis zum Ende meiner Tage verfolgen würde …« Ein Schluchzen entfuhr ihm, und für einen Moment stand er mit offenem Mund da, die Lider zusammengepresst, um den Tränen Einhalt zu gebieten. Dann fuhr er mit erstickter Stimme fort: »… und darüber hinaus.«

»Darüber hinaus?« Nick gähnte und sehnte sich danach, wieder in Schlaf zu sinken.

Es gelang dem alten Soldaten seine Fassung so weit wiederzuerlangen, dass er in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen vermochte, und er sagte langsam: »Siehst du mich denn nicht hier?«

Nick zuckte mit den Schultern. »Ja, schon.«

»Du siehst die gebrochene Seele, die vor dir steht, aber du bist nicht Gott?«

Das brachte Nick zum Blinzeln. »Äh … nein, bin ich nicht.« Komischer Traum.

»So bin ich also gefangen. Ich vermag nicht einmal die verdiente Bestrafung eines Mörders zu erhalten. Keine Reue, keine Buße kann mich retten. Mein Leiden soll einfach kein Ende finden.« Der alte Kerl begann wieder zu schluchzen, und Tränen kullerten über sein blasses, faltiges Gesicht.

Nick zog in Erwägung, ihm ein Papiertaschentuch anzubieten, konnte sich aber nicht vorstellen, dass er seine Frisierkommode mit der Schachtel Kleenex darauf finden würde, war er doch bereits daran gescheitert, seinen Nachttisch ausfindig zu machen. Und so stützte er einen Ellbogen auf ein Knie und wartete. Als der Kerl aufgehört hatte zu weinen, fragte Nick: »Wen hast du denn umgebracht?«

»Eine Frau.« Wieder ein Schluchzer. »Es war eine Frau.«

»Bloß eine einzige? In einem Massaker?«

Die frisch geröteten Augen schauten Nick aus dem tief herabhängenden Kopf des Mannes an. »Die Pflicht hat mich dazu gezwungen, mein Schwert in Blut zu tauchen, sonst wäre da wohl niemand zu beklagen gewesen, der durch meine Hand sein Leben verloren hätte.«

»Ich wette, du warst nicht der Einzige, der Leute umgebracht hat. Da waren doch bestimmt eine ganze Menge daran beteiligt.«

Der Traum-Soldat verzog das Gesicht. Der Gedanke schien seinen Schmerz nicht zu erleichtern. »Aye. So mancher fand gar fürchterlichen Gefallen an dieser Abschlachterei. Die Maclains waren ein übler Haufen inmitten eines noch größeren üblen Haufens, doch selbst im Clan Donald stachen sie durch ihre Untaten hervor.«

»Du hast doch nur Befehle befolgt.«

»Ich habe versucht meine eigene Haut zu retten, mir einen Ruf zu erwerben, damit niemand meine Loyalität zur Krone und zu meinem Laird in Frage stellte. Ich war ein Feigling und bin es noch.«

Nick ging dieses Selbstmitleid langsam auf die Nerven. Eigentlich war er die ganze Angelegenheit leid und hatte nur noch den einen Wunsch, endlich wieder in tiefen Schlaf zu sinken, der auch die Kälte zum Verschwinden bringen würde. Wenn er einen Pyjama übergezogen hätte, würde er sich wahrscheinlich wohler fühlen, aber er lag nun einmal unter dieser Decke, wie Gott ihn geschaffen hatte, und die Gegenwart eines Fremden in seinem Schlafzimmer – auch wenn er seiner eigenen Phantasie entsprungen war – verlieh ihm ein unbehagliches Gefühl.

Er sagte: »Tja, und warum bist du eigentlich hier?« Ein neuerliches Gähnen überfiel ihn, und er gab sich redlich Mühe, den Mund wieder zu schließen. Du liebe Güte, war er müde.

»Das war das Tun der Kleinen Leute.«

»Reden wir hier etwa von Feen, Elfen oder wie die Dinger alle heißen?«

»Aye. Feen, die in den Bergen von Glencoe leben. Es heißt, die Feen hätten versucht den Clan zu warnen. Eine Frau, die überlebt hat, berichtete davon, eine Fee am Fluss gesehen zu haben, die die Leichentücher derer wusch, die sterben würden. Immer und immer wieder wusch sie sie, aber keiner, der sie sah, wagte zu fragen, wessen Tücher es waren. Und sie plagten uns danach. Wie sie uns plagten! Mein ganzes Leben lang vermochte ich mich kein einziges Mal mehr umzudrehen, ohne für einen kurzen Moment den Blick auf eine kleine Gestalt zu erhaschen, die gleich darauf auch schon wieder verschwunden war. Augen haben mich beobachtet. Stimmen sprachen zu mir aus der Luft. Und als ich dann schließlich mein von eigener Hand geschriebenes Geständnis verfasste, um es der Nachwelt zu hinterlassen, da stürzte sich eine von ihnen darauf und benutzte es für ihre bösen Zwecke. Ich stehe unter einem Zauber, und ich zahle dem Teufel für mein Verbrechen.«

Nick überlegte, was er früher am Abend gegessen hatte und ihm nun so schwer im Magen lag, dass es diese absonderlichen Einfälle seiner Phantasie verursachte. Ein Klecks Senf? Kartoffeln, die noch nicht ganz gar gewesen waren? Er schwor sich im Stillen, nie mehr vor dem Schlafengehen Kartoffelchips und auch keine Feigen zu essen. »Ein Zauber? Magie?«

»Aye. Auf mir liegt ein Zauberbann. Durch meine Bemühungen, meine Seele reinzuwaschen, habe ich der Fee die Möglichkeit gegeben, mich nach meinem Tode gefangen zu halten. Sie hat mich mit meinen eigenen Worten gebunden und band nach meinem Tode mit meiner Haut die Seiten.«

Nick erinnerte sich daran, wie unheimlich sich der Ledereinband anfühlte, und ihm wurde unbehaglich zumute. Das hier war wirklich mehr als seltsam. Einen solchen Traum hatte er noch nie zuvor gehabt. Normalerweise träumte er davon, als Quarterback beim Super Bowl zu spielen oder mit Sheryl Crow auszugehen. Aber es ging nie darum, Leute umzubringen oder Bücher in Menschenhaut zu binden. Von Feen gar nicht zu reden! Warum zum Teufel gerade Feen? Er zermarterte sich das Hirn, was der Auslöser für etwas derart Abgedrehtes sein könnte, fand aber keine Antwort. Stattdessen kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Was wäre, wenn diese ganze Sache gar nicht auf seinem Mist gewachsen war?

»Was habe ich mit dieser ganzen Angelegenheit zu tun?«

»Das vermag ich nicht zu sagen.«

»Ich dachte, es wäre dein Buch.«

»Es war meine Haut und es waren meine Worte.«

Nick drehte die Handflächen nach oben. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen, Kumpel, aber …«

»Nein!« Die Gestalt verstummte und blickte sich in der Dunkelheit um, während die Luft immer kälter wurde. Erneut stiegen ihm Tränen in die Augen, und Nick dachte, was für ein jämmerlicher alter Kerl er doch war. Diese Geschehnisse, die ihn sein halbes Leben lang verfolgt und an ihm genagt hatten, hatten ihn offenbar zugrunde gerichtet. Dann sprach der alte Mann mit bebenden Lippen. »Was hast du getan?«

»Ich?« Nick begann zu zittern. Er hatte das Gefühl, als ob ein Windstoß über ihn hinwegfegen würde, und er zog seine Knie an die Brust und schlang die Hände darum.

»Ich flehe dich an, mir zu vergeben.« Dem alten Mann versagte die Stimme.

»Was soll ich dir vergeben?«

»Das, was mit dir geschehen wird. Ich weiß nicht, was dir widerfahren wird, aber ich fürchte, es wird furchtbar

sein. Denn die Kleinen Leute sind erzürnt, und sie besitzen dunkle Mächte, die sich unsereins nicht vorzustellen vermag, und sie wollen nicht mit sich handeln lassen.«

»Ich glaube nicht an Feen.«

Der Mann in der zerfledderten roten Uniformjacke legte den Kopf zur Seite, um ihn anzusehen, und sagte mit einer unendlichen Traurigkeit: »Das wirst du schon noch.«

Im selben Moment, als er diese Worte sprach, erschien ein blendendes Licht. Nick fiel aus seinem Bett und landete mit einem Ächzen unsanft auf seinem Rücken. Irgendetwas bohrte sich in sein Hinterteil. Ein Stein, wie sich herausstellte, und als er ein Stück zur Seite rutschte, besserte sich mit einem Mal sein Sehvermögen und er erblickte einen blauen Himmel und weiße Schäfchenwolken. Eine beißende Kälte strich über ihn hinweg, und er begann augenblicklich zu zittern. Er setzte sich auf. Aus irgendeinem Grund befand er sich nun draußen in der freien Natur, mitten auf einer mit einzelnen Farnen bewachsenen Lichtung, die von einem dichten Kiefernwald umgeben war.

»Aua.« Er schaute nach, ob er blutete, aber der scharfkantige Stein hatte seine Haut nicht verletzt. Sein Bett und das Schlafzimmer waren verschwunden, und er saß splitterfasernackt im Gras. Jetzt kam ihm der Traum ein bisschen weniger befremdlich vor, denn er hatte schon einmal einen Alptraum gehabt, in dem er in aller Öffentlichkeit nackt gewesen war. Diese Kälte war allerdings nervig, und er wünschte, er hätte sich etwas wärmeres Wetter einfallen lassen.

Beth NicDonald nahm die selten benutzte Abkürzung durch den Wald in der Nähe von Inverrigan und eilte den Weg entlang, der kaum mehr als ein Wildpfad war und durch ein Dickicht aus Adlerfarn, Stechginster und sich ausdehnender Kiefernbäume führte. Sie mied die Lichtung, die in seiner Mitte lauerte. Jeder zog es vor, die Stelle zu umgehen, wo sich ein Feenring aus braunen Giftpilzen in einem Kreis auf dem moosbedeckten weichen Boden wiegte und wo nur das Wild sich hindurchtraute. Sie befand sich auf dem Heimweg vom Haus ihres Onkels in Achnacone oben im Tal zu einer weiteren Ansammlung von Torfhütten in der Nähe des Flusses Coe, die sich Inverrigan nannte. Sie trug einen Strohkorb auf ihrer Hüfte, in dem sich die Rohwolle befand, die sie gegen das Garn eingetauscht hatte, das sie für ihre Tante gesponnen hatte. Vater wäre verärgert, wenn er erführe, wo sie gewesen war. Er war der Ansicht, dass die Frau seines Bruders ihre Arbeit selbst erledigen sollte, aber Beth tat ihre Tante leid, die drei Kinder in ebenso vielen Jahren verloren hatte und nach der letzten Totgeburt kaum mehr der Aufgabe gewachsen war, sich um ihre verbliebenen Kinder zu kümmern. Beth beeilte sich, denn sie wusste, dass ihr Vater sie dafür tadeln würde, dass sie das Garn das Tal hinaufgebracht hatte, und sie hoffte, unbeobachtet in die Hütte zurückschlüpfen und vorgeben zu können, gar nicht weg gewesen zu sein.

Gerade als sie an der Feenlichtung vorüberkam, hörte sie eine Männerstimme auf eine überraschte Weise »Aua« sagen, die ihre Aufmerksamkeit weckte. Sie blieb abrupt stehen. Ob er sie wohl gehört hatte? Wer um Himmels willen konnte sich in diesem Ring befinden? Niemand, den sie kannte, so viel war sicher – und das bezog sich auf alle, die in Glencoe lebten –, denn die Kleinen Leute waren tückisch, und man konnte ihnen nicht trauen. Neugierig schritt sie einen schmalen Seitenpfad hinunter, um zwischen einigen Farnwedeln hindurchzusehen, und hielt den Atem an.

Es war nicht nur ein Mann, sondern einer im Adamskostüm, der dort inmitten des Ringes saß und sich umblickte, als hätte er sich verlaufen. Sie versuchte in den Wald zurückzuweichen, doch es war bereits zu spät. Er hatte sie erblickt, lächelte und rief: »He!«

Sie hielt inne. He? »Ich wünsche Euch auch ein He«, erwiderte sie ebenfalls auf Englisch und zog sich ihr Plaid fester um die Schultern. Was mochte ein Sasunnach so ganz allein und nackt und dazu so tief hier im Tal zu schaffen haben? Wenn Vater oder Dùghall hier wären, würde dem Mann gewiss das Lächeln vergehen.

Auf ihre Worte hin runzelte er verdutzt die Stirn und zog die Knie an den Körper, so dass sie nicht mehr länger seine Geschlechtsteile zu sehen vermochte. Nicht etwa, dass es dort etwas zu sehen gegeben hätte, was sie nicht jeden Tag seit der Geburt ihres Bruders zu Gesicht bekam. Er saß da, die Knie bis unter sein Kinn gezogen, und erweckte den Eindruck, als würde er sich am liebsten nicht von der Stelle rühren.

»Habe ich irgendein Ritual unterbrochen?«

»Wie bitte?« Da erschien wieder dieses Lächeln auf seinem Gesicht, und obwohl er schrecklich zitterte, bemerkte sie, dass er recht gut aussah. Seine Zähne waren von dem weißesten Weiß, das sie jemals an irgendjemandem gesehen hatte, der älter als zehn Jahre war, und sein Mund war breiter als der jedes Mannes irgendeines Alters hier in der Gegend. Vielleicht war es doch gut, dass Vater und Dùghall nicht in der Nähe waren, denn sie hätten ihn sofort verjagt, und das hätte ihr gar nicht gefallen.

»Nun, da Ihr Euch im Adamskostüm befindet, unterhaltet Ihr Euch womöglich mit den Kleinen Leuten.«

Der Mann schloss für einen Moment die Augen und sah sie dann wieder an. Er zitterte wie ein neugeborenes Kalb im Schnee und war schrecklich blass, obwohl diese Kälte bei den meisten Männern lediglich einen rosa Schimmer auf den Wangen hinterlassen würde. »Nein, das tue ich nicht.«

»Hat man Euch ausgeraubt?« Was in dieser Gegend eigentlich sehr unwahrscheinlich war, es sei denn, das Feenvolk hätte wieder einmal sein Unwesen getrieben.

Der Mann zögerte und nickte dann. Er schien sich nicht allzu sicher, was geschehen war, und sie vermutete, dass er einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Da sie ansonsten keine Zeichen eines Kampfes an ihm bemerkte, schien ihr das wahrscheinlich.

»Oh, Ihr Ärmster«, sagte sie, zog sich ihr Plaid von den Schultern und ging damit auf ihn zu. »Hier, nehmt mein Plaid, um Euch zu bedecken. Wer hat Euch denn ausgeraubt? Wenn es die Calum-Jungen gewesen sind, werde ich Euer Eigentum schon zurückholen. Waren sie es, die Euch ausgeraubt haben?«

»Ich … äh … weiß es nicht. Ich bin nicht von hier.« Er erhob sich und nahm das Plaid, wobei er zunächst mit zittrigen Fingern an dem schweren, länglichen braungrünen Wollstoff herumhantierte, bis ihm aufgegangen zu sein schien, dass er ein Ende davon um seine Taille schlingen musste. Nachdem er dies getan hatte, warf er den Rest des Stoffes über seine Schulter und wickelte sich wie ein Säugling darin ein. Der Tag war gar nicht so kalt, und sie wunderte sich, dass er so zitterte.

Ein Kichern stieg in ihr auf. »Aber gewiss seid Ihr nicht von hier. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und Euch noch niemals gesehen. Und auch wenn es sich anders verhielte, so würde Euch Eure Sprache doch als Sasunnach verraten.«

»Als was?«

»Ihr seid Engländer, das ist nicht schwer zu erkennen.«

»Nein, das bin ich nicht.«

»Was seid Ihr dann?«

Er blinzelte, stotterte etwas herum, ehe er sagte: »Mein Name ist Nicholas Mouliné.«

»Sehr erfreut, Euch kennenzulernen, Mr. Mouliné. Ich bin Beth NicDonald, Tochter von Seòras MacDonald von Inverrigan. Ihr seid also Franzose. Ihr klingt aber gar nicht französisch.« Allerdings war es besser für ihn, Franzose als Engländer zu sein.

»Ich bin … Amerikaner.«

Nun war es an ihr, überrascht zu sein. »Ein französischer Kolonist aus Amerika? Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt.« Das war ja unglaublich faszinierend. Wie aufregend, jemanden kennenzulernen, der von so weit herkam. »Erzählt mir von der Neuen Welt. Ist sie so wild und gefährlich, wie es gemeinhin heißt?«

Mr. Mouliné zögerte erneut, dann antwortete er: »Ja. Überaus wild. Ungezähmt.« Er verzog ein wenig das Gesicht, als würde er bedauern, dies gesagt zu haben.

Sie lächelte ihn an. »Es muss sehr aufregend sein, dort zu leben. Wohl zu aufregend für mich. Ich hätte viel zu viel Angst, das Tal zu verlassen.«

Ein trauriger Ausdruck trat in seine Augen, der nicht mehr daraus weichen wollte, obgleich sich sein Mund zu einem unechten Lächeln verzog. Was für ein eigenartiger Mann. Sie deutete mit dem Kopf zum Pfad hinüber und sagte: »Kommt, ich werde Euch zum Haus meines Vaters bringen. Er wird die Jungen finden, die Euch angegriffen haben, und dafür sorgen, dass Ihr Eure Habseligkeiten zurückbekommt.« Sie verschwand wieder im Wald, aber Mr. Mouliné folgte ihr nicht. Sie drehte sich zu ihm um. »Kommt nur. So kalt, wie Euch augenscheinlich ist, könnt Ihr ein warmes Feuer gut gebrauchen.«

Das brachte ihn dazu, sich in Bewegung zu setzen, und er folgte ihr, wobei seine nackten, weichen Füße einen Tanz aufführten, als er auf Steine, tote Zweige und Dornen trat. »Ich glaube nicht, dass sie hier aus der Gegend kamen.« Da war immer noch ein Zittern in seiner Stimme, obwohl ihn das Plaid von den Schultern bis zu den Knien bedeckte.

»Und woher wollt Ihr wissen, wer von hier stammt und wer nicht?«

»Ich … äh … na ja, sie klangen, als wären sie Engländer.«

»Ein englischer Besitzstörer und englische Räuber noch dazu? Da scheinen mir aber eine Menge Leute einmal gern etwas zu wagen im Tal von MacIain! Aber ob es nun Engländer oder Dhomhnallach waren, Vater wird Euch Eure Habe wiederbeschaffen. Oder zumindest Eure Hose, damit ich mein Plaid zurückbekomme.« Sie drehte sich um und lächelte ihn an, und als er ihr mit einem strahlenden Lächeln antwortete, da brachte sie das zum Kichern. Sie hob ihren Korb auf die Hüfte, und ihr Schritt wurde ein kleines bisschen beschwingter.

Mannomann, dieser Traum dauerte ja ewig! Wenn er doch nur endlich aufwachen würde! Aber andererseits verlieh dieses freundliche Mädchen dem Ganzen eine hübsche Note. Er blickte sich im Wald um und staunte über seine Vorstellungskraft. Das hier war der detaillierteste Traum, den er jemals gehabt hatte. Jeder Grashalm, jedes Blatt an jedem Baum war so unglaublich deutlich zu erkennen, und es gab keine Zeitsprünge oder Ortswechsel, wie er es gewohnt war. Sogar die Unterhaltung war zusammenhängend, was eigentlich nie vorkam. Und nun schritt er hinter dieser Traumschöpfung von einer Frau her, folgte ihr den Weg entlang. Immer weiter. Und weiter.

Unruhe machte sich in ihm breit wie schon zuvor bei dieser Episode mit dem alten Mann. Dieser Traum passte eigentlich gar nicht zu ihm. Abgesehen von dem hübschen Mädchen war das hier so gar nicht sein Ding. Schottland? Was interessierte ihn Schottland? Er hatte vielleicht mal einen Absatz in einem Buch darüber gelesen. Na toll. Er dachte an das, was der alte Soldat über diese Sache erzählt hatte, und fragte die kleine NicDonald: »Du … äh … Sie … hm, also Ihr spracht davon, dass sich Feen auf dieser Lichtung dort hinten aufhalten?« Er trat erneut auf einen Stein, vollführte einen Satz und humpelte weiter, bis der Schmerz nachließ.

»Och, aye. Habt Ihr denn nicht den Ring gesehen?«

Ring? »Was denn, diese Pilze, die da im Kreis wachsen?« Er blickte den Pfad zurück, aber natürlich war die Lichtung von hier aus nicht mehr zu sehen. Da er für einen Moment nicht auf den Weg geachtet hatte, trat er auf einen Zweig und vollführte auch jetzt einen kleinen Tanz. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Boden vor ihm.

»Aye. Gibt es denn keine in Amerika?«

»Ich glaube, wir haben solche Ringe auch, aber es befinden sich keine Feen darin. Zumindest habe ich noch nie etwas Derartiges gehört.«

Sie lächelte ihn an, und er bemerkte ihre Grübchen. »Offenbar wissen die Kleinen Leute, wo ihre Heimat ist, und legen keinen Wert darauf, sie zu verlassen«, sagte sie.

»Sieht ganz so aus.« Mensch, war dieses Mädchen hübsch! Er entschied, dass es ihm doch nichts ausmachen würde, wenn dieser Traum noch etwas länger dauerte und sie irgendwann zum wirklich interessanten Teil übergingen. Seine Träume mit Sheryl Crow endeten für gewöhnlich im Bett, und es wäre jetzt gar nicht schlecht, bei der Kälte etwas ins Schwitzen zu geraten.

Sie folgten dem sich durch den Wald schlängelnden Pfad noch eine Weile bis zu einem Flussufer. Auch das entsprach nicht dem, was er von seinen Träumen gewohnt war. All diese Details. Und immer noch kein Zeitsprung. Es dauerte einfach zu lange, um zum Haus von diesem Mädchen zu kommen.

Er hätte sich gern danach erkundigt, in welchem Jahr sie sich befanden, aber wie hätte er eine solche Frage in eine normale Unterhaltung einfließen lassen sollen, ohne gleich als armer Irrer dazustehen? Außerdem konnte er sich die Antwort angesichts ihres Kleides vorstellen. Genauso wie die Antwort auf die Frage, die er ihr nun tatsächlich stellte: »Wo genau befinden wir uns?«

»Das da drüben ist Inverrigan.« Sie deutete auf eine Ansammlung von Hütten, die aus Erde gebaut zu sein schienen. Sie hatten alle strohgedeckte Dächer, und auf einem stand eine Ziege und tat sich an dem getrockneten Gras und den Farnen gütlich. Das Tier hob den Kopf, schaute mit mattem Blick in ihre Richtung und kaute an seinem Futter.

»Wir sind doch hier in Schottland, stimmt’s?«

»Aye. In Glencoe.«

Nick spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Wenn das hier ein Traum war, dann wollte er ihn nicht, o nein, vielen Dank auch. »1692.«

»Noch nicht. Das dauert noch einen guten Monat. Seid Ihr so lange umhergeirrt, dass Ihr nicht einmal mehr wisst, in welcher Zeit des Jahres Ihr Euch befindet?«

Nick zog das Wolltuch fester um seine Taille. Die winterliche Kälte drang bis zu seinen Eingeweiden vor. Er blickte sich um und wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich aufzuwachen.

2

Aber Nick wachte nicht auf. Er folgte Miss NicDonald weiterhin, die auf eines der Erdhäuser zuschritt und in einem eigentümlichen Singsang rief: »Athair? Da, seo aoigh.« Er nahm an, dass sie verkündete, sie habe einen nackten Mann im Wald gefunden und ihn mit nach Hause gebracht, und er rückte den Wollstoff ein wenig zurecht, in der Hoffnung, etwas weniger lächerlich auszusehen.

Von Nahem konnte er erkennen, dass die Hütte aus einer Art Sode erbaut worden war – man hatte das braune Zeug durchhängenden Backsteinen gleich übereinandergestapelt. Das Dach bestand aus Stroh und toten Farnen, und die ganze Konstruktion war mit nackten braunen Kletterpflanzen überwuchert. Die wacklige Holztür war so niedrig, dass sich selbst das Mädchen beim Hineingehen ducken musste. Aus der Entfernung hätte die Behausung gut und gern als niedriger Grashügel durchgehen können. Oder als großer Heuhaufen.

Von drinnen ertönte eine Stimme, die Stimme eines alten Mannes. Miss NicDonald bedeutete Nick, einzutreten, und er duckte sich, um ihr zu folgen. Im Inneren roch es stark nach Rauch, und es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten. Auf der anderen Seite des Raums stand ein großer, schwerer Holztisch, der diesen Bereich dominierte. Rechts und links davon waren eine Bank und einige Stühle, und darauf befanden sich eine Reihe von Küchenutensilien – eine Holzschüssel, ein Leinensack, in dem sich möglicherweise Mehl befand, ein Kerzenhalter, Löffel und ein Messer. Dahinter waren im Dunkeln Stapel mit weiteren Leinensäcken auszumachen, Regalbretter mit Holzeimern, Schüsseln, Holztellern, Bechern aus Horn sowie Wasserschläuche, Kerzenstapel, Keramikgefäße, zusammengerollte Stricke und andere komische Sachen, mit denen Nick nichts anfangen konnte. Truhen standen an einer Art Wand aus Korbgeflecht, die eine L-Form beschrieb und hinter ihm eine Nische schuf. Ein kurzer Blick in diesen lichtlosen Alkoven ließ ihn schwere grob gezimmerte Holzbetten erkennen, eine einzelne Pritsche und zwei übereinander. Der Boden bestand aus Lehm und war mit trockenem Schilf und Farn bedeckt. Bisher war das Beste an diesem Haus, dass es warm genug war, um ihn davor zu bewahren, sich den Hintern abzufrieren. Sein Zittern begann nachzulassen, und er seufzte vor Erleichterung.

Da war ein alter Mann in einem großen unförmigen Kilt, der an einem kleinen Feuer saß, das in einem flachen Loch im Boden zu brennen schien. Er nähte irgendetwas, hielt aber in seiner Arbeit inne, um Nick anzustarren.

Das Mädchen sagte mit einer Stimme, in der die Zusicherung mitschwang, dass alles in Ordnung war: »Seo Nicholas Mouliné, Athair.« Sie zuckte mit den Schultern. »Chan eil e Sasunnach; tha e Fràngaich.« Die Augen des Mannes begannen Nick anzustrahlen, und der vermutete, dass sie dem alten Mann gerade mitgeteilt hatte, dass ihr Besucher Franzose war und nicht Engländer. Dann fuhr sie mit gesenkter Stimme fort, als ob Nick verstehen könnte, was sie sagte, sie aber nicht wollte, dass sie ihn hörte: »Tha Beurla aige.«

Der alte Mann warf Nick erneut einen scharfen Blick zu und sagte: »Nur Englisch? Du sprichst kein Französisch, Fremder?« Im Gegensatz zu seiner Tochter schien er sich nicht mit höflichen Umgangsformen aufzuhalten.

»Er ist Kolonist, Athair.«

»Aber er hat doch sicherlich …«

»Je ne parle …« Nick durchstöberte sein Hirn nach den paar Brocken Französisch, die er kannte, um auszudrücken, dass er diese Sprache nicht beherrschte. Er warf einen Blick auf das Mädchen und wiederholte: »Je ne parle Français.«

Der alte Mann blinzelte. »Nein, das tust du in der Tat nicht, so viel ist gewiss.«

Das Englische schien jedem im Raum vertraut zu sein und die einzige Sprache, die Nick beherrschte, und so wurde die Unterhaltung darin weitergeführt.

Das Mädchen sagte: »Mr. Mouliné, das hier ist mein Vater, Seòras MacDonald.« An ihren Vater gewandt fuhr sie fort: »Wo ist Dùghall? Es ist an der Zeit, dass du und er und der Rest der Clanleute etwas wegen Calums Söhnen unternehmt, denn sie haben diesen armen Fremden hier überfallen und ihm nicht einmal etwas gelassen, um sich zu bedecken. Und das Wetter wird schon bald schlechter werden.«

Die alternden Augen registrierten nun, dass Nick sich den Schal seiner Tochter wie ein Badetuch umgeschlungen hatte, und er verzog den Mund zu einem trockenen Lächeln. Aber er lachte ihn nicht aus, und dafür war ihm Nick sehr dankbar.

An Miss NicDonald gewandt beeilte sich Nick rasch klarzustellen: »Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, wer es gewesen ist. Es könnte sein, dass diese Jungs gar nichts damit zu tun haben.« Er wollte unbedingt vermeiden, dass jemand für einen Raub verhaftet wurde, den er gar nicht begangen hatte. Nicht einmal in einem Traum. Wenn dies tatsächlich ein Traum war. Ein kleiner nagender Zweifel regte sich irgendwo in seinem Hinterkopf.

»Calum und seine Brut sind faule Gesellen und eine Plage«, brummte der Vater, der seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Arbeit richtete. »Ihrem Treiben im Tal muss ein Ende gesetzt werden. Sollen sie doch Breadalbane zur Last fallen und nicht ihre eigene Sippe quälen. Ich werde Dùghall losschicken, um deine Habe zurückzuholen.«

»Ich bin überzeugt, dass sie es nicht waren.«

Der alte Mann blickte auf. »Du kennst sie also?«

»Nein, aber wie ich schon sagte, die Räuber waren Engländer.«

Der alte Mann widmete sich schulterzuckend erneut seiner Arbeit. »Nun, wenn es Engländer waren, dann haben sie sich längst davongemacht oder sind in die Berge verschwunden. Ein Glück, dass wir sie vom Hals haben. Sind wahrscheinlich auf dem Weg ins Moor. Oder nach Argyll. Hier«, er nickte mit seinem grauen Kopf zu einer dunklen Ecke hinüber. »Beth, nimm Dùghalls anderen Kilt und mein altes Leinenhemd und gib es ihm. Ich will mir doch nicht nachsagen lassen, dass ich einen Mann splitternackt aus meinem Haus geschickt habe.«

»Oder hungrig. Vater. Er wird heute Nacht bei uns bleiben.«

Miss NicDonald machte sich daran, die Kleidung aus der dunklen Ecke zu holen, wo eine große Truhe stand.

»Hat er denn sonst niemanden, wo er hingehen könnte?« Der alte Seòras rutschte auf seinem wackligen, quietschenden Schemel hin und her.

Sie hielt an der Truhe inne und blickte Nick fragend an. Ihm wäre es am liebsten gewesen, endlich zu Hause in seinem Bett aufzuwachen, aber er antwortete: »Ich werde nirgendwo erwartet, und selbst wenn es sich so verhielte, wäre ich nicht imstande, dorthin zu gelangen.« Siebentausend Meilen und mehr als drei Jahrhunderte. Eine lange, merkwürdige Reise.

»Dann werdet Ihr bei uns bleiben, bis Ihr das Nötige für Eure Reise zusammenhabt.«