Diese eine große Liebe - Julianne Bedford - E-Book

Diese eine große Liebe E-Book

Julianne Bedford

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Beschreibung

Eine Liebe über alle Zeiten hinweg.

Nach dem Tod ihrer Eltern erfüllt sich Shelby einen lang gehegten Wunsch: Von ihrem Erbe ersteht sie ein wunderschönes Landhaus in Tennessee, das bereits schon zu Zeiten des Bürgerkrieges stand. Shelby verliebt sich auf den ersten Blick in das alte Haus, in dem einst eine bedeutende Familie, die Brosnahans, residierten. Sie ist fasziniert von der Geschichte des Anwesens und seinen ehemaligen Bewohnern. Mit viel Liebe und noch mehr Leidenschaft beginnt sie, ihr neues Heim einzurichten. Da begegnet ihr eines Tages in einem der Zimmer der attraktive Lucas, der aus einer anderen Welt zu stammen scheint. Hals über Kopf verliebt sich Shelby in den so melancholisch wirkenden Mann - und es beginnt eine höchst ungewöhnliche Liebesgeschichte ...

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Über das Buch

Eine Liebe über alle Zeiten hinweg.

Nach dem Tod ihrer Eltern erfüllt sich Shelby einen lang gehegten Wunsch: Von ihrem Erbe ersteht sie ein wunderschönes Landhaus in Tennessee, das bereits schon zu Zeiten des Bürgerkrieges stand. Shelby verliebt sich auf den ersten Blick in das alte Haus, in dem einst eine bedeutende Familie, die Brosnahans, residierten. Shelby ist fasziniert von der Geschichte des Anwesens und seinen ehemaligen Bewohnern. Mit viel Liebe und noch mehr Leidenschaft beginnt sie, ihr neues Heim einzurichten.

Da begegnet ihr eines Tages in einem der Zimmer der attraktive Lucas, der aus einer anderen Welt zu stammen scheint. Hals über Kopf verliebt sich Shelby in den so melancholisch wirkenden Mann – und es beginnt eine höchst ungewöhnliche Liebesgeschichte …

Über Julianne Bedford

Julianne Bedford ist das Pseudonym der amerikanischen Schauspielerin, Schriftstellerin und Journalistin Julianne Lee. Sie ist Autorin vieler Romane und Kurzgeschichten und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Hendersonville (Tennessee).

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Julianne Bedford

Diese eine große Liebe

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriela Schönberger

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Impressum

1

Was für ein Haus! Shelbys Herz hüpfte vor Freude, als sie mit einer Tüte Lebensmittel im Arm darauf zuschritt. Feiner Kies knirschte unter ihren Stiefeln. Eine helle, wie poliertes Chrom gleißende Nachmittagssonne tauchte das rotbraune, leicht schiefe Backsteingebäude in warmes Licht, fiel in schrägen Strahlen über Schichten aus verwittertem Lehm und abblätternder Farbe und brach sich in tausend winzigen schwarzen Schatten auf der schuppigen Oberfläche. Wie die Falten im Gesicht eines alten Mannes. Das Haus hatte Charakter. Deutlich traten Risse und Beulen hervor, und an vielen Stellen zeichnete der doppelt und dreifach aufgetragene Mörtel in sanft geschwungenen Linien die Ablagerungen zweier Jahrhunderte nach. Trotz alldem war es das schönste Haus, das Shelby je gesehen hatte. Es besaß ein Stockwerk, dazu einen Speicher und einen Keller, und es gehörte ihr ganz allein. Ein Traum war wahr geworden.

Das Haus war zweihundertsieben Jahre alt und damit das älteste Gebäude in Hendersonville. Leider war es in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich vernachlässigt worden. Aus schwarzen Eisennägeln geformte Sterne zierten an den Stellen die Außenwände, an denen nach dem Beben in der New Madrid-Falte von 1811 Verstrebungen eingesetzt worden waren. Ein Teil der Veranda war eingestürzt, und wilder Wein, vermengt mit blauen Winden, überwucherte die am Boden liegenden Bretter. Dem dichten Bewuchs nach zu schließen musste die Veranda schon eine ganze Weile in diesem Zustand sein. Das Haus renovieren zu lassen würde eine Menge Geld verschlingen, aber darauf hatte sie sich nun mal eingelassen.

Die Renovierung war Teil des Kaufvertrags. Die Denkmalschutzbehörde und das Bürgerkomitee, das sich zur Rettung dieses Hauses gebildet hatte, hatten dem Kauf auch nur deshalb zugestimmt, weil Shelby sich bereit erklärt hatte, es wieder in seinen alten Zustand zu versetzen. Die zuvor bekannt gewordene Absicht eines Bauunternehmers, das Haus zu kaufen und anschließend abreißen zu lassen, hatte einen Sturm der Entrüstung in der Stadt ausgelöst. Alle waren dagegen gewesen. Shelbys Angebot war gerade zum rechten Zeitpunkt gekommen. So war sichergestellt, dass der Stadt weiter ein Teil ihrer Vergangenheit erhalten blieb, ohne dass es sie einen Cent kosten würde. Mit einem Wort – alle waren glücklich und zufrieden.

Beim Anblick der blauen Winden lief Shelby ein Schauder der Vorfreude über den Rücken, und sie holte tief Luft. Sie beabsichtigte, die Blumen nach der Instandsetzung der Veranda hier wieder anzupflanzen, und sah bereits ein Meer aus blauen Blüten vor sich. Versonnen lächelte sie.

Mit einem Arm die Tüte mit den Lebensmitteln umklammernd, zerrte sie mit der freien Hand das mehrfarbige Verkaufsschild aus dem Boden, das neben dem zerbeulten alten Briefkasten aufgestellt worden war. Schild und Briefkasten waren verblichen und von Einschüssen durchlöchert. Eine Seite des Briefkastens war eingedellt, wahrscheinlich vom Baseballschläger irgendeines Teenagers. Aber das war alles unwichtig. Shelby würde so bald wie möglich einen gemauerten Briefkasten aufstellen lassen, um jugendlichen Rowdys von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und zwar aus braunen Ziegeln in der Farbe des Hauses. Sie lehnte das Verkaufsschild an die Veranda, mit der Schrift nach innen, damit es von der Straße aus nicht gelesen werden konnte. Das Haus gehörte jetzt ihr und stand nicht länger zum Verkauf. Shelby hatte endlich ihr Zuhause gefunden.

Ihr Lächeln erlosch jedoch, als sie die Stufen zur Veranda hochstieg. Das Geländer aus Schmiedeeisen war vor langer Zeit abgebrochen und rostete, von Unkraut überwuchert und in Gesellschaft einiger kaputter weißer Stühle, die irgendjemand dort abgeladen hatte, auf dem Boden vor sich hin. Das arme vernachlässigte Haus. Shelby verspürte ein Ziehen in der Magengegend. So musste es sich anfühlen, ein streunendes Haustier zu retten, das krank und leidend war. Am liebsten hätte sie sich sofort an die Arbeit gemacht. Liebevoll streichelte sie im Vorübergehen eine der Säulen der Veranda. Bald würde alles wieder in Ordnung kommen. Es war eine Schande, was aus diesem wunderschönen alten Haus geworden war.

An der Tür drehte sie sich um und betrachtete die modernen Häuser und den großen Gebäudekomplex auf der anderen Seite der Bahngleise. Verstreut zwischen Weideland und Koppeln liegend, boten sie in der vorstädtischen Einöde, die sich von Nashville bis hierher erstreckte, eine willkommene Abwechslung für das Auge. Shelbys Haus war sogar noch älter als die Bahngleise, denen es – einem Bahnhof nicht unähnlich – genau gegenüberlag. Dafür kehrte es der baumgesäumten Straße, über die Shelby gekommen war, den Rücken zu. Ja, sie fragte sich, ob das Haus nicht sogar noch älter als diese Allee war. Zu der Zeit, als es erbaut worden war, hatte es hier nicht viel mehr gegeben als wilde Tiere und Indianer. Und danach hatten sich die menschlichen Strukturen wie Wildwuchs ausgebreitet, ohne groß Rücksicht auf das allein stehende Haus zu nehmen.

Ringsum glühten dicht belaubte Ahornbäume in herbstlichem Gelb und Korallenrot. Die Baumstämme standen knietief in kreisrunden Pfützen aus buntem Laub, dem Widerschein ihres leuchtenden Blattwerks. Etwas weiter entfernt konnte Shelby durch die Zweige weniger dicht belaubter Bäume die Auffahrt zur Umgehungsstraße erkennen. Zwanzig Minuten waren es bis zu ihrem Büro in Nashville und keine fünf Minuten bis zum Zentrum von Hendersonville, aber hier draußen war sie von Pferden, Bäumen und Feldern umgeben.

Shelby kämpfte mit ihrem Schlüsselbund, bis sie den nagelneuen glänzenden Messingschlüssel für das Schloss gefunden hatte, das erst vor kurzem eingebaut worden war. Laut Auskunft ihres Maklers war das Anwesen seit vielen Jahrzehnten, seit die letzten Besitzer es hatten herunterkommen lassen und von heute auf morgen verschwunden waren, immer unverschlossen gewesen. Aber es habe keinen Vandalismus gegeben, keine Schmierereien, nicht ein Loch in der Wand und auch keine eingeschlagene Fensterscheibe.

Der Makler hatte voller Stolz berichtet, dass die kleine Stadt Hendersonville ein Ort sei, wo nie etwas gestohlen würde, geschweige denn gar jemals ein böses Wort falle. Und am Sonntag seien alle Kirchen brechend voll. Shelby hatte sich ein skeptisches Grinsen nicht verkneifen können und ein neues Schloss installieren lassen, sobald sie den Kaufvertrag unterschrieben hatte.

Sie drückte die Tür auf, die sich knarrend an staubigen Angeln bewegte und den Blick in die vordere Diele freigab. Muffig und trüb wie das Innere eines alten Schranks voller vergessener Habseligkeiten lag sie vor ihr. Shelby holte tief Luft und seufzte. Es roch förmlich nach Geschichte. Sie war umgeben von Vergangenheit und glaubte fast die Gegenwart all der Menschen zu spüren, die hier einst gelebt hatten, die hier ein und aus gegangen waren, die gelacht und geweint hatten, die in diesem Haus geboren und gestorben waren.

Linker Hand befand sich eine glatte Holztür, die über ein paar Stufen hinab in den Keller führte. Der großzügige Vorraum nahm in sinnloser Verschwendung die gesamte Breite des Hauses ein. Gegenüber der Eingangstür gingen zwei Türen in das Esszimmer und in den Wohnraum, wo ausladend und dominant je zwei identische Kamine standen. Auf einer Schmalseite des Vorraums lag die Küche, die über zwei Stufen zu erreichen und völlig verschieden vom Rest des Hauses war, da sie erst Mitte des 20. Jahrhunderts, zusammen mit der Wasserleitung, eingebaut worden war. Shelby hatte nichts dagegen einzuwenden, dass dem Haus nachträglich gewisse moderne Annehmlichkeiten hinzugefügt worden waren, die seinen Erbauern fremd gewesen waren. Geschichte war eine Sache, aber selbst Shelby konnte darauf verzichten, in einem Haus ohne Wasseranschluss zu wohnen.

Der Lichtschalter an der Wand zu ihrer Rechten war zum Drücken und nicht zum Kippen, und die elektrischen Leitungen mündeten in ein kleines eckiges Isolierrohr, passend zur Wand gestrichen, das hinunter auf den Boden und weiter die Fußbodenleiste entlang verlief. Shelby drückte auf den Knopf mit dem weißen Punkt, und ein Wandleuchter rechts von ihr ging an. Der schwache gelbliche Schein mühte sich jedoch vergebens, alle Ecken des Vorraums auszuleuchten, zu viele tote Fliegen füllten den verstaubten Glasschirm.

Die Innenwände des Hauses bestanden aus zentimeterdickem Putz auf Holzlatten und waren hart wie Stein. Erst sehr viel später waren darauf die elektrischen Leitungen verlegt worden. Aber die Bausubstanz des Hauses war solide und stabil. Die äußeren Mauern waren über einen halben Meter dick und bestanden aus Ziegeln und nicht aus Gipskarton. In allen Räumen verliefen Zierleisten aus Holz, blassgrün gestrichen und von Schimmel überzogen – zwanzig Zentimeter hoch am Fußboden und zehn Zentimeter oben an der Decke. An einigen Stellen waren sie beschädigt und mussten ersetzt werden, aber die Ausgabe würde sich lohnen.

»Hallo«, sagte Shelby und kicherte. Sie hatte keine Ahnung, wer sie hören sollte, aber irgendwie kam es ihr richtig vor, das Haus zu begrüßen. »Hallo, hier bin ich.« Keine Reaktion. Sie seufzte, gleichzeitig froh und traurig, keine Antwort erhalten zu haben.

Nachdem sie die Tüte auf der Küchenablage mit den zersprungenen Fliesen abgestellt hatte, ging sie ins Wohnzimmer. Ihre Schritte und ihre leisen Atemgeräusche dröhnten überproportional laut in dem stillen Haus. Shelby sah sich um. Der Teppichboden war ein billiger abgetretener Lumpen aus den siebziger Jahren. Und noch dazu in Orange. Sie erschauderte bei der Vorstellung, wie die übrigen Möbel der Bewohner ausgesehen haben mochten, die diesen Teppich verlegt hatten. Das arme missbrauchte Haus. Leider kamen nur schlammbraun gestrichene Bodendielen unter dem Teppich zum Vorschein, kein glänzendes Parkett. In diesem Haus hatten keine reichen Leute gewohnt. Nicht so wie in den alten Anwesen mit illustren Namen, die überall im County zu finden waren. Hazel Path hieß eines davon. Einst hatte es die Landschaft von Hendersonville dominiert, so wie es heute die Methodistenkirche tat. Rock Castle war ein anderes. Es lag im Indian Lake Distrikt und hatte einmal einem Verwandten von Andrew Jackson, dem siebten Präsidenten der Vereinigten Staaten, gehört. Ganz bestimmt war ihr Haus nie so vornehm gewesen wie diese Anwesen. Aber es war groß und – in seinem Zustand – auch teuer genug für eine unterbezahlte und überarbeitete Lektorin wie sie.

Besonders die Flügelfenster hatten es Shelby angetan. Als sie das Haus das erste Mal gesehen hatte, war sie fast außer sich vor Freude über die tiefen Fensterbänke gewesen, auf denen man bequem sitzen konnte. Der Nachteil war, dass sie genau aus diesem Grund nur wenig Tageslicht hereinließen, obwohl die Morgensonne schräg aus dem Osten hereinleuchtete. Außerdem waren sie ebenso vernachlässigt wie der Rest des Hauses. Nicht einmal ein billiges Rollo konnte man vorziehen. Shelby spielte mit dem Gedanken, Jalousien anbringen zu lassen. Oder sollte sie lieber zu traditionelleren Vorhängen greifen? Aus Segeltuch? Nein. Auch nicht aus Chintz. Doch, Jalousien – vielleicht sogar aus Holz – schienen ihr das Beste zu sein.

Unten an den Fußbodenleisten zogen sich weiße Heizungsrohre entlang. Shelby bückte sich, um sie einzuschalten. Die Drehknöpfe gingen sehr streng, sodass sie all ihre Kraft aufwenden musste. Als die Wärme in die Heizrohre strömte, knarrten und quietschten sie und erfüllten den ganzen Raum mit ihrem Gestank nach verbranntem Staub. Shelby verließ das Wohnzimmer und ging nach oben. Der erste Stock war genauso geschnitten wie das Erdgeschoss, und in jedem Zimmer stand ein Kamin wie unten. Das Badezimmer befand sich am östlichen Ende des Korridors. Seine Ausstattung aus den fünfziger Jahren – kantige Porzellanbecken und weiße Kacheln statt abgerundetem Plastik – war nicht sonderlich modern, unterschied sich aber nicht wesentlich von dem, was Shelby bisher gewohnt war.

Draußen auf der Straße ertönte das Zischen einer Druckluftbremse. Shelby trat ans Fenster und sah, wie ein Sattelschlepper langsam und vorsichtig in ihre Einfahrt bog. Jetzt wünschte sie, sie wäre gestern schon gekommen und hätte sauber gemacht, bevor sie ihre Möbel bringen ließ. Vor allem den grässlichen alten Teppichboden wäre sie gerne los gewesen. Aber nun konnte sie nichts mehr ändern, ihre Sachen standen vor der Tür. Sie lief nach unten, um die Umzugsleute hereinzulassen.

Eine Gruppe tätowierter Männer in Muskelshirts und schmutzigen Jeans begann damit, die größeren Stücke ins Haus zu schleppen. Die Sehnen ihrer Arme waren zum Zerreißen gespannt, als sie sich abmühten, zuerst ihr Sofa und dann die Einzelteile ihres Bettes durch die Eingangstür zu manövrieren und durch den Vorraum ins Esszimmer zu schaffen. Ein säuerlicher scharfer Geruch nach altem Schweiß entströmte den Männern, als sie an ihr vorbeigingen. Der Chef der Gruppe, der an dem Klemmbrett in seiner Hand als solcher zu erkennen war, zeigte eine Reihe schlechter Zähne, als er sie anlächelte. Unter seinem rechten Auge waren übereinander drei Tränen eintätowiert. Wie beruhigend. Ein Exsträfling war für ihre Habseligkeiten verantwortlich.

Es hatte fast alles im Esszimmer Platz, bis auf die Kartons, auf denen »Küche« stand und in denen die Sachen verpackt waren, die sie sofort brauchte. Shelby dirigierte die Umzugsmänner mit präzisen Anweisungen, doch ihre alte Wohnung war so klein gewesen, dass es nicht lange dauern würde, ihre ganzen Möbel und die Umzugskartons auszuladen.

Als sie gerade mitten am Arbeiten war, ertönte von draußen das Knirschen von Autoreifen auf dem Kies der Einfahrt. Ein Wagen hielt hinter dem Sattelschlepper, und Shelby rannte hinaus, um Susan und Neil zu begrüßen.

»Hallo!« Ein breites Lächeln überzog ihr Gesicht, als sie ihnen winkte. »Kommt rein! Kommt und bewundert mein neues Haus!« Ihren Freunden blieb tatsächlich vor Staunen der Mund offen stehen, so wie es auch Shelby ergangen war, als sie näher kamen und zur Veranda hochstiegen. Beide hatten, passend für einen Umzug, Jeans und T-Shirts an. Einer der Umzugsmänner, der mit seinem Handwagen gerade hinauswollte, um weitere Kartons zu holen, trat auf die Seite, um sie vorbeizulassen. Aber die drei gingen nicht sofort ins Haus, sondern versperrten ihm den Weg. Neil hatte den eingestürzten Teil der Veranda entdeckt und besah sich – die Hände in den Hosentaschen, den Kopf schräg geneigt – den schweren Balken, die verrotteten Bretter und das verrostete Geländer aus Schmiedeeisen. Kommentarlos zwängten sich die Umzugsleute an ihm vorbei.

»Das wird ein schweres Stück Arbeit«, sagte Neil. Man sah ihm an, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Er berechnete offenbar bereits Zeit, Aufwand und Kosten, die auf sie zukamen. Als Besitzer einer Baufirma verdiente er schließlich sein Geld damit.

»Richtig«, erwiderte Shelby und zuckte mit den Schultern. »Aber keine Angst, ich werde mich nicht selbst daran versuchen.«

Mit offensichtlicher Erleichterung hob Neil den Blick und grinste schief. »Gut, dann mache ich dir einen Kostenvoranschlag, und meine Leute kümmern sich darum.« Er stieß einen leisen Pfiff aus, während er sich weiter alles genau ansah. »Das wird nämlich eine Heidenarbeit. Das Haus ist ganz schön heruntergekommen.«

Shelby forderte sie auf, doch endlich hineinzugehen.

Neils Frau sah sich mit unverhohlener Neugierde um. »Mein Gott, ist das Haus alt!« Selbst wenn sie aufgeregt war, strahlte Susan noch Ruhe und Zurückhaltung aus. »Hier gefällt es mir«, bemerkte sie mit leiser, weicher Stimme, während sie ihren Blick schweifen ließ. Susan war Shelbys beste Freundin und arbeitete im selben Verlag wie sie als Lektorin. Sie hatten sich schon oft ausgemalt, wie es wohl wäre, in einem Haus zu wohnen, das weit vor dem Bürgerkrieg erbaut worden war. »So etwas will ich auch haben.«

»Nein«, erwiderte Neil entschieden.

»Doch.« Susans Stimme klang immer noch leise und zurückhaltend.

»Das ist doch eine Sparbüchse.«

»Aber in genau so einem Haus möchte ich auch leben.«

»Wir sind jetzt seit vierzehn Jahren verheiratet, und ich liebe dich, aber es kommt überhaupt nicht in Frage, dass ich in so einem alten Spukschloss leben werde.«

Susan seufzte. »Es ist unglaublich.« Eine ungeheure Sehnsucht lag in ihrer Stimme.

»Ja, und unglaublich schmutzig«, fügte Shelby, deren Freude nicht zu überhören war, munter hinzu. »Aber es ist einfach ein Traum. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn wir oben erst mal sauber machen, bevor wir die Möbel hinauftragen.« Nervös wechselte sie von einem Bein aufs andere. Sie konnte es kaum erwarten, mit der Arbeit anzufangen.

Neil ging mit prüfendem Blick durch den Vorraum, testete mit der Fußspitze die Festigkeit der Dielenbretter und strich mit der Hand über die verputzten Wände. »Gute Arbeit.« Bevor er die Baufirma seiner Familie übernehmen durfte, hatte er bei seinem Vater den Beruf von der Pike auf gelernt. Es gab nicht vieles auf diesem Sektor, das Neil nicht wenigstens andeutungsweise vertraut gewesen wäre. Das machte ihn zu einem unschätzbar wertvollen Freund, denn die meisten aus Shelbys Bekanntenkreis kannten sich eher mit Literatur und Wirtschaft aus und hatten zwei linke Hände, wenn es um Hammer und Säge ging. Neil sah auch aus wie ein Mann vom Bau. Er war stämmig und muskulös und hatte große, kräftige Pranken, die mit jedem Werkzeug umgehen konnten. Heute hatte er sogar daran gedacht, seinen Werkzeuggürtel umzuschnallen.

»Wie alt ist das Haus? Ein paar hundert Jahre, sagst du? Hast du die Absicht, das Wasser aus dem Brunnen zu holen und auf ein Plumpsklo hinterm Haus zu gehen?«

Shelby lachte. »Kein Plumpsklo. Ich habe fließendes Wasser, heiß und kalt, Toilettenspülung und sonstigen Komfort.«

»Und sonstigen Komfort? Funktioniert der Boiler?« Neil steckte den Kopf in die Küche.

»Funktioniert hervorragend. Ich würde ihn nur gerne woanders hinhängen, nicht unbedingt mitten in die Küche. Aber wahrscheinlich werde ich mich damit abfinden müssen.«

Neil drehte sich zu ihr um. »Und in welchem Zustand sind die Wasserleitungen?«, wollte er wissen.

»Alles bestens, wenn ich das Wasser ungefähr eine halbe Stunde laufen lasse, bis der Rost draußen ist«, erwiderte Shelby fatalistisch.

Neil lachte. »Dann habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht für dich. Die schlechte ist, dass du wahrscheinlich die Leitungen erneuern lassen musst. Die gute, in einem solchen Haus gibt es nicht viele Leitungen.«

»Du hast Recht, es sind wirklich nicht viele. Sie führen nur in die Küche, von dort aus hoch ins Bad und wieder zurück in die Abwasserleitung. Kommt mit, ich zeige es euch.« Shelby wollte gerade nach oben gehen, als sie von dem Chef der Umzugsleute aufgehalten wurde, der ihre Unterschrift benötigte. Sie setzte ihren Namen auf das Blatt Papier und eilte zu der schmalen Treppe, während die Arbeiter zu ihrem Sattelschlepper zurückkehrten. »Ich muss sagen, ich bin euch wirklich dankbar, dass ihr gekommen seid, um mir zu helfen.«

»Wofür hat man denn Freunde?«, entgegnete Susan lächelnd.

Neil fügte trocken hinzu: »Aber wundere dich nicht über unsere gesalzene Rechnung hinterher.« Susan stupste ihn mit dem Ellbogen an, und er lachte.

Als die Umzugsleute weggefahren waren, folgten Shelbys Freunde ihr nach oben und bewunderten den Rest des Hauses. Ungläubig stolperten sie über den vor Schmutz starrenden Teppichboden und strichen mit dem Finger über die verstaubten Fensterbretter. Dann machten sie sich daran, den alten Teppich herauszureißen, zusammenzurollen und nach unten zu dem übrigen Müll auf die Straße zu schaffen.

Als die Bodenbretter zum Vorschein kamen, gingen sie alle drei auf die Knie und wässerten und schrubbten den Zimmerboden auf der Westseite des Hauses. Hier wollte Shelby ihr Schlafzimmer einrichten, das andere Zimmer sollte ihr als Arbeitszimmer dienen. Sie konnten das Wasser im Putzeimer gar nicht so schnell erneuern, wie es sich grau verfärbte, ganz zu schweigen von dem dicken Belag, den sie von Wänden und Boden schabten und der sich am Boden des Eimers ansammelte. Immer wieder mussten sie frisches Wasser in den Eimer füllen, bis das Haus langsam weniger düster und verstaubt wirkte. Das feuchte Holz sonderte einen scharfen Geruch ab, fast so, als würde es leben.

»Mann, hab ich einen Hunger.« Neil warf den Schwamm in den Eimer, trocknete seine Hände an der Hose ab und griff nach dem Handy in seinem Werkzeuggürtel. »Was wollt ihr auf eurer Pizza?«

Shelby schüttelte den Kopf. Pizza war nichts für ihre schlanke Linie. »Was haltet ihr davon, wenn ich uns rasch was in der Küche mache? Ich habe die restlichen Lebensmittel aus meiner alten Wohnung mitgebracht.«

»Ist es dir nicht lieber, wenn wir uns was zu essen bringen lassen? Von mir aus auch was vom Chinesen. In dieser kleinen Stadt gibt es sage und schreibe fünf chinesische Restaurants.«

»Nein, mittlerweile sind es nur noch vier«, widersprach Susan ihrem Mann. »Eines musste schließen, weil der Koch immer die Enten aus dem Teich im Stadtpark geholt und seinen Kunden als Peking-Ente serviert hat.«

»Dann verzichten wir doch besser auf die chinesische Küche, würde ich sagen«, meinte Shelby. »Ich habe unten noch Brot, ein paar Dosen, Käse und ein bisschen Obst. Das schmeckt uns bestimmt.«

»Neil kann inzwischen Bier holen, dann ist er auch zufrieden. Gleich oben an der Umgehungsstraße ist ein Supermarkt.« Susan strich sich mit den Fingerspitzen einige vorwitzige Strähnen aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf, damit ihre übrigen Haare nicht mit ihren nassen Händen in Berührung kamen.

Neil ließ ein zustimmendes Brummen hören und griff nach seinem Autoschlüssel, während Shelby und Susan in die Küche hinuntergingen. Dort gab es leider nur einen Elektroherd, obwohl Shelby so gern mit Gas gekocht hätte. Am liebsten hätte sie jedoch einen alten, mit Holzscheiten befeuerten Küchenherd gehabt, auch wenn sie genau wusste, wie umständlich das im täglichen Leben war. Als sie mit einem feuchten Lappen die schmutzigen und gesprungenen Fliesen auf der Küchentheke säuberte, stellte sie sich eine große schwarze Feuerstelle statt des avocadogrünen Elektroherds vor. Der sah aus, als hätte man ihn seit Jahrzehnten nicht mehr angemacht. Es bestand also noch die vage Hoffnung, dass das monströse Ding nicht funktionierte und sie eine Entschuldigung hätte, es durch einem Gasherd zu ersetzen. Mit Gas käme sie wahrscheinlich ohnehin besser zurecht als mit einem alten Holzherd. Als die Küchentheke sauber war, breitete sie einige Dosen mit Sardinen, den Käse, einen halben Laib Brot und eine Flasche Orangensaft darauf aus.

Sobald Neil mit dem Bier wieder da war, gingen sie mit ihrem Imbiss hinaus und setzten sich in der frischen Luft auf die Stufen. Neil reparierte in Gedanken bereits die eingefallene Veranda.

»Hast du ein Glück mit diesem Haus«, bemerkte Susan.

Shelby nickte, nur der Gedanke daran, wie sie zu dem Geld dafür gekommen war, dämpfte ein wenig ihre Freude. »Ich hätte aber auch noch ein paar Jahre warten können.«

Susan brummte zustimmend, fügte aber hinzu: »Deine Eltern waren schließlich schon alt.«

»Stimmt. Sie waren alt genug, um meine Großeltern zu sein. Und als Dad starb, wollte Mom auch nicht mehr leben. Sie waren einfach zu lange zusammen gewesen.«

Susan stieß einen sehnsuchtsvollen Seufzer aus. »Kannst du dir vorstellen, jemanden so sehr zu lieben, dass du nicht mehr fähig bist, ohne ihn zu leben?«

Neil horchte auf und warf ihr einen bedeutungsschweren Blick zu.

Susan kicherte und legte ihrem Mann eine Hand aufs Knie. »Tut mir Leid, Schatz, aber es heißt nun mal: ›Bis dass der Tod euch scheidet.‹ Danach kannst du wieder machen, was du willst.«

Er knurrte und versank mit einem schiefen Lächeln erneut in seinen Tagträumen. In Gedanken war er immer noch damit beschäftigt, die eingestürzte Veranda wieder aufzubauen

Shelby legte ein Stück Käse auf ihr Brot und sagte: »Ich weiß nur, dass ich niemanden kenne, für den ich würde sterben wollen.« Gleichzeitig aber verspürte sie ein sehnsüchtiges Ziehen in der Magengegend. Sie hätte schon gerne gewusst, wie es war, so zu lieben, wie es ihre Eltern getan hatten.

Neil war ein Mann, der zupacken konnte, und so kamen sie nach dem Imbiss rasch voran. Die einzelnen Teile von Shelbys sperrigem Himmelbett nach oben zu schleppen war ein schönes Stück Arbeit. Zu dritt zerrten sie schließlich noch die Matratze die Treppe hinauf und ließen sie in den Bettrahmen plumpsen. Shelby war zutiefst dankbar für die Hilfe ihrer Freunde. Erschöpft fuhr sie mit den Händen durch ihre verschwitzten Haare im Nacken und klopfte schwarzen Staub von ihren Jeans. Es würde noch Wochen dauern, bis aus diesem Haus auch der letzte Schmutz verschwunden war.

Als sich der Tag dem Ende zuneigte, waren alle Schlafzimmermöbel im ersten Stock untergebracht, das Wohnzimmer auf der Westseite im Erdgeschoss geputzt und die schweren Wohnzimmermöbel platziert. Die Fußbodenbretter waren freigelegt, und draußen auf der Straße warteten zusammengerollt der schmutzige orangerote Teppichboden und vergammelte Polstermöbel auf ihren Abtransport. Es roch nach einer seltsamen Mischung aus Putzmittel und Staub, und in den großen Zimmern, die Shelbys spärliche Möbel mühelos geschluckt hatten, fing sich die Stille. Im Wohnzimmer hatten sie das Sofa mit dem Rücken vor die beiden Wohnzimmerfenster gestellt, und gegenüber stand der kleine Fernsehapparat, dessen Bildschirm auf die Entfernung kaum mehr zu sehen war. Sogar Shelbys riesiges Bett wirkte winzig in dem großen Raum. Nur die späteren Anbauten schienen normale Ausmaße zu haben. Wie schon in ihrer alten Wohnung konnte man sich auch hier im Bad kaum umdrehen, und die Küche war ein schmaler Schlauch, der außen an das Haus geklatscht worden war.

Als die Sonne als orangeroter Ball im Westen versank, machten Susan und Neil sich auf den Heimweg. Zuvor hatte Susan Shelby noch das Versprechen abgenommen, sie am nächsten Morgen in die Kirche zu begleiten. »So lernst du gleich die Gemeinde kennen. Willkommen in Hendersonville.«

Shelby hielt das für eine gute Idee, und sie vereinbarten, sich dort zu treffen. Sie winkte ihren Freunden zum Abschied und kehrte ins Haus zurück, um in ihre Joggingkleidung zu schlüpfen. Das heißt, falls sie sie finden würde. Obwohl das Heben und Schleppen den ganzen Tag sie ziemlich ausgelaugt hatte, wollte Shelby nicht auf ihre gewohnte Joggingrunde vor dem Abendessen verzichten. Wenn sie es nur einmal ausließ, bestand die Gefahr, dass sie ganz damit aufhörte, und das hätte ihr nicht gut getan. Shelby war groß und kräftig und neigte zu Übergewicht, wenn sie nicht ständig Sport trieb und auf ihr Essen achtete. Das tägliche Laufpensum war ihr in den letzten Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. Ganz gleich, was sie tagsüber alles an körperlicher Betätigung haben mochte, es ging ihr erst dann richtig gut, wenn sie kurz vor dem Dunkelwerden noch eine Runde joggte.

An ihrem ersten Abend beschloss sie, die Strecke zwischen den Apartmentgebäuden auf der anderen Seite der Bahngleise zu testen. Eine schöne ebene Strecke über kleine Nebenstraßen, die geradewegs wieder auf die Straße zu ihrem Haus zurückführte. Doch schon nach der Hälfte musste sie stehen bleiben und sich keuchend auf ihren Oberschenkeln abstützen. Erstaunt blickte sie auf ein winziges Stück Rasen vor einem der Dutzend gleich aussehenden Erkerfenster in dem Gebäude vor ihr. In Reih und Glied war dort eine Stinktierfamilie aus Keramik aufgestellt, die größte Figur halb lebensgroß, die übrigen um einiges kleiner. Die Stinktierjungen machten gerade Anstalten, unter Aufsicht des Muttertiers in einen Keramikpool zu hüpfen. Eines der Jungen stand auf einem Sprungbrett, und zwei andere warteten, dass sie an die Reihe kamen. Shelby musste schmunzeln, als sie sich aufrichtete und langsam weiterlief. Diese kleine Stadt gefiel ihr immer besser.

Nach dem Essen verbrachte sie den Rest des Abends damit, die Küche zu putzen, die schwarzen Krusten zwischen den kunterbunt gemischten Keramikfliesen abzukratzen und auch noch den letzten Porzellanbelag aus dem Spülbecken zu scheuern, wo bereits blankes Metall durchschimmerte. Dann packte sie ihre Küchenutensilien, das Geschirr und die elektrischen Geräte aus. Toaster, Mikrowelle, Getreidemühle, Mixer, Wasserkocher, Kaffeemaschine – die vielen Maschinen fanden gar keinen Platz auf der kleinen Küchentheke. Sie würde die wichtigsten auswählen und den Rest in den Schränken verstauen müssen. Da in der Küche noch kein Fernsehanschluss war, steckte sie ihr kleines Radio an und summte die Melodien mit, während sie arbeitete. Langsam kam das Haus in der Dunkelheit zur Ruhe. Ihr Zuhause. Diese beiden Worte wollten Shelby nicht mehr aus dem Kopf gehen, und sie musste lächeln. Hier konnte sie den Rest ihres Lebens verbringen.

Es war bereits ziemlich spät, als die Erschöpfung sie übermannte und sie endgültig die Musik ausschaltete. Mit einem Schlag breitete sich Stille aus, als wären die Klänge von einer anderen Dimension aufgesaugt und die Leere von einem dichteren Medium als Luft angefüllt worden. Shelby knipste die Lichter im Erdgeschoss aus und tastete sich im trüben Schein eines Wandleuchters, der von oben nur unzulänglich die Treppe beleuchtete, die staubigen Stufen hinauf.

Das war jetzt also ihr Zuhause. Der Gedanke erfüllte sie mit Wärme, und sie seufzte zufrieden. Sie ging zur Schlafzimmertür, griff nach dem Türknauf und erstarrte angesichts dessen, was sie im Zimmer erblickte.

Auf dem Kaminsims stand eine brennende Kerze. Sie hatte keine Kerze angemacht – ihre Notration an Kerzen war unten in einer Küchenschublade aufgeräumt –, und diese sah auch nicht so aus, als würde sie von ihr stammen. Sie war schmutziggelb und steckte in einem kurzen Zinnhalter mit gebogenem Griff. Shelby hatte den Kerzenhalter noch nie gesehen, aber da stand er, und die Kerze warf ihren Lichtschein auf den Kamin.

In dem Moment nahm Shelby aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. In dem Halbschatten neben der Kerze stand ein großer dunkelhaariger Mann und kratzte sich.

2

Shelby stieß einen Schrei aus und wollte schon aus dem Zimmer stürmen, als ihr auffiel, dass der Mann keine Anstalten machte, auf sie zu reagieren. Er war sich ihrer Anwesenheit offensichtlich nicht bewusst, denn er zog gerade seinen Hemdzipfel aus der Hose und murmelte dabei halblaut vor sich hin. Shelbys Herz flatterte in ihrer Brust wie ein sterbender Fisch an Land, beruhigte sich aber langsam, als ihr klar wurde, dass der Mann sie nicht bedrohte. Er schien nicht einmal ihren Schrei gehört zu haben. War einer von den Umzugsleuten zurückgeblieben? Aber sie hatte den Mann noch nie gesehen. Nein, der hier wirkte ganz und gar nicht so verschlampt und ungesund wie diese Burschen.

Shelby holte tief Luft und nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Hallo, Sie da.«

Wieder keine Reaktion. Sie hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte.

»He.« Keine Antwort. »Mister.« Er hatte das Gesicht von ihr abgewandt. Konnte er vielleicht nicht hören? Unentschlossen trat sie von einem Bein aufs andere. Sie wusste nicht, ob sie davonlaufen oder näher treten sollte. War er ein Landstreicher, der nicht ganz richtig im Kopf und noch dazu taub war?

Aber selbst für einen Obdachlosen trug er merkwürdige Kleidung. Sie war ungewohnt und fremdartig. Sein weißes Hemd hatte keinen Kragen, und am Bund seiner formlosen kohlengrauen Hosen baumelten Hosenträger. Jetzt knöpfte der Mann sein Hemd auf, und als er es auszog, konnte Shelby ein gemurmeltes »Verdammte Viecher« vernehmen. Zwischen seinen Zähnen steckte der Stumpen einer Zigarre. Von der anderen Seite des Zimmers drang schwacher Tabakgeruch bis zu Shelby herüber, als der Mann sein Hemd hinter sich auf den Boden fallen ließ, den breiten Bund seiner Hose umschlug und sich an den roten Stellen dort kratzte. Er drehte sich fast zu ihr um, als er versuchte, auch noch die Pusteln am Rücken zu erreichen. »Ah.« Vor Wonne stöhnend, schloss er die Augen, als die Erleichterung über den nachlassenden Juckreiz den Schmerz überwog.

Der Mann hatte struppiges, über die Ohren fallendes Haar, und auf seinem schlanken Oberkörper waren einige tiefe Narben zu sehen. Eine verlief als diagonaler dünner weißer Strich über seinen rechten Unterarm, in seiner linken Armbeuge konnte Shelby eine knotige Brandnarbe erkennen, und an seinem linken Schulterblatt prangte eine hässliche dunkelrote Schnittwunde.

»He!«

Er achtete nicht auf sie, sondern kratzte sich weiter ungeniert an seiner Hüfte. Ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, murmelte er irgendetwas über die Unverschämtheit vor sich hin, dass man gezwungen war, auf dem Boden zu schlafen und sich dabei diese Parasiten einzufangen.

»He! Sie da!« Shelby machte einen Schritt ins Schlafzimmer und schaltete das elektrische Licht an.

Wie ein Spuk verschwand der hoch gewachsene Mann in einer Nebelschwade und verlor sich in den Schatten unter der Decke. Ebenso die Kerze.

Für einen langen schwebenden Augenblick empfand Shelby nichts anderes als Überraschung. So als hätte ein Zauberkünstler auf der Bühne einen Trick vollführt, den sie jetzt beklatschen müsste. Aber dann wurde ihr klar, dass gerade eben ein ausgewachsener Mann vor ihren Augen in einer Rauchwolke verschwunden war. Und das war kein Trick.

Sie stieß einen Schrei aus und stürmte aus dem Zimmer in Richtung Treppe, wo sie sich mit beiden Händen am Treppengeländer festhielt. Einen Moment lang verharrte sie am obersten Treppenpfosten, die Füße fast in der Luft, ehe sie Halt auf einer Stufe fand. Den Pfosten umklammernd, warf sie einen scheuen Blick zurück in das Zimmer. Was hatte sie dort nur gesehen?

O Gott, hatte sie Wahnvorstellungen? War das ein Geist gewesen? Was von beiden war schlimmer? Shelbys Füße verspürten immer noch den Impuls zu fliehen, aber sie hielt sich weiter in dem störrischen Wunsch an dem Treppenpfosten fest, ihr Haus nicht jetzt schon aufzugeben.

Sie musste eine Entscheidung treffen. Wollte sie davonlaufen? Ein Haus wie dieses war immer ihr Traum gewesen. Angst griff mit eiserner Faust nach ihrem Herzen, dessen schnelle Schläge kaum zu spüren waren. Ihr Atem ging flach und hastig. Sie musste sich zusammenreißen, nicht auf der Stelle die Treppe hinunterzulaufen. Erneut warf sie einen vorsichtigen Blick auf die Tür des Zimmers, dem sie gerade entflohen war. War sie so feige und würde es zulassen, dass ein Mann, der gar nicht existierte – nicht existieren konnte –, sie davon abhielt, ihren Traum zu realisieren? Es gab nur eine mögliche Antwort darauf, auch wenn ihr Herz wie ein ängstlicher Vogel flatterte und ihr Kopf vor Angst ganz leer war.

Die einzig mögliche Antwort lautete: nein! Zu gehen war keine Alternative. Dazu hatte sie sich dieses Haus zu sehr gewünscht.

Aber jetzt musste sie diesen Treppenpfosten, den sie mit beiden Armen umschlungen hielt, erst einmal loslassen. Gut, ich lasse jetzt los. Eine Hand löste sich von dem Holz, und als kein Gespenst »Buh!« hinter ihr rief, ließ sie auch mit der anderen Hand los. Mit wackligen Knien kehrte Shelby in ihr Schlafzimmer zurück. Der gläserne Schirm der Wandlampe war sauber und weiß und von allen toten Insekten gereinigt. Jeder Winkel des Raums wurde ausgestrahlt und enthüllte ihr, dass hier weder tote noch lebende Männer anwesend waren. Vorsichtig machte sie einen Schritt in das Zimmer.

»Mister?«

Keine Antwort.

Lauter und mit wachsendem Selbstvertrauen – auf jeden Fall mit weniger Angst – rief sie: »Hallo? Sind Sie noch da?«

Wieder keine Antwort.

Es war offensichtlich, dass sie ihn mit ihren Rufen nicht von dorther zurückholen würde, wohin er verschwunden war. Das war gut und schlecht zugleich. Die Aussicht, von diesem Geist überrascht zu werden, wann immer es ihm beliebte, behagte Shelby gar nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie keinerlei Einfluss auf sein Kommen und Gehen hatte. Allerdings schien es so auch nicht sehr wahrscheinlich, dass sie ihn aus Versehen in ihre Welt holen könnte.

»Mister, ich werde jetzt ein Bad nehmen. Nur damit Sie Bescheid wissen.« Rückwärts aus dem Zimmer gehend, sah sie in jeder Ecke nach, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Dann war sie endlich im Bad. Merkwürdigerweise fühlte sie sich hier weitaus stärker auf ureigenem Territorium, vielleicht, weil es moderner als das übrige Haus war. Einen Moment lang zögerte Shelby, ehe sie begann, sich auszuziehen. Das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden, kroch ihren Rücken hinauf. Kopfschüttelnd ermahnte sie sich, nicht so kindisch zu reagieren. Dieser Mann hatte sie vorher nicht gehört und auch nicht im Mindesten wahrgenommen. Also konnte er sie jetzt auch nicht sehen.

Und außerdem, wenn er ein Geist war, dann war er schon längst tot. Shelby fröstelte.

In dieser Nacht gab es keine weiteren Erscheinungen, und auch nicht am nächsten Morgen, als sie sich für die Kirche fertig machte. Shelby war froh, mit Susan verabredet zu sein. Sie musste unbedingt über ihr Erlebnis sprechen, und Susan war die Einzige, der sie sich anvertrauen konnte. Alle anderen hätten sie für verrückt erklärt, nur Susan besaß genügend Fantasie und konnte sie vielleicht verstehen. Shelby nahm die Hausschlüssel und ging zur Tür.

Die Fahrt bis zur Kirche dauerte nicht lange. Keine Fahrt innerhalb von Hendersonville dauerte lange. Shelbys neue Heimat war eine nette kleine Ortschaft mit einer Hauptstraße, der Main Street, die zwischen gutbürgerlichen Wohnvierteln verlief, in denen auch einige historische Bauten lagen, die der Grund für ihren Umzug gewesen waren. Diese wenigen Baulichkeiten, die wie ihr Haus aus dem späten 18. Jahrhundert stammten, waren meist hinter Bürogebäuden und modernen Häusern versteckt, sodass man oft völlig überraschend über diese Inseln der Vergangenheit stolperte. So befand sich hinter einem Gebäude an der Main Street, in dem ein Barbiersalon untergebracht war (fast selbst schon so etwas wie ein historisches Relikt), ein seit langem vergessener Friedhof, dessen Grabsteine allesamt umgestürzt waren. Zum Glück hatte man ihn entdeckt und hergerichtet. In dem Viertel, in dem Susan wohnte, stand ein kleines Plantagenhaus, das äußerst sehenswert und fast so alt wie Shelbys Haus war. Und im nächsten Block lag hinter einem Maschendrahtzaun die letzte Ruhestätte der Familie, die es erbaut hatte. Ein merkwürdiger Anblick inmitten moderner Wohnhäuser, aber so etwas war hier an allen Ecken und Enden zu finden. Überall waren zwischen großzügigen Ranch-Häusern mit Hollywoodschaukeln, Autostellplätzen und ebenerdigen Swimmingpools Sklaven, Siedlerfamilien und Indianer begraben.

Shelbys Ziel, die dominante Methodistenkirche, erhob sich an einer Ecke der Main Street auf einer kleinen Anhöhe und überragte einen Lebensmittelladen, die Junior-Highschool, ein billiges Warenhaus und ein Familienrestaurant. Ihr hoher weißer Kirchturm war meilenweit zu sehen, und ihre rote, weiß eingefasste Ziegelfassade erweckte den Eindruck von Stabilität und Dauer, was Shelby sehr gefiel.

Sie traf Susan auf dem Parkplatz, und gemeinsam gesellten sie sich zu der Gemeinde in dem riesigen weißen Altarraum. Hohe Bleiglasfenster spendeten ein bläuliches Licht, das beruhigte und Frieden ausstrahlte. Langsam fiel die Anspannung der letzten Nacht von Shelby ab.

Sie fanden zwei Plätze in einer der hinteren Bankreihen, und während sie darauf warteten, dass der Gottesdienst begann, grüßte Susan ringsum Bekannte und stellte ihnen Shelby vor. Seit ihrer Kindheit war sie nicht mehr in einer Kirche gewesen, erst wieder bei der Beerdigung ihrer Eltern. Es mutete sie daher seltsam an, so viele Menschen zu sehen, die offensichtlich jede Woche hierher kamen. Shelby hatte gedacht, dass es längst unmodern geworden sei, in die Kirche zu gehen, und von Susan hätte sie das am wenigsten geglaubt.

Eine Frau in der Reihe vor ihr drehte sich um und streckte ihr die Hand entgegen. Shelby ergriff sie und erwartete, dass die Frau sich vorstellte. Stattdessen bekam sie zu hören: »Das ist die Bankreihe meiner Familie.« Die kleine ältere Frau lächelte dabei und deutete auf die Bank, auf der sie saß. Shelby blieb nichts anderes übrig, als zu nicken und das Lächeln zu erwidern. Sie hatte keine Ahnung, was die Frau damit hatte sagen wollen.

»Tatsächlich?« Shelby fragte sich, ob diese Kirche vielleicht Bankreihen an ihre Gemeindemitglieder verkaufte. In ihrem Eifer, gut mit ihren neuen Nachbarn auszukommen, befürchtete sie, sie und Susan könnten sich unabsichtlich auf den Platz eines anderen gesetzt haben.

Aber in dem Moment drehte Susan sich um, während die Frau in ihrer Erklärung fortfuhr: »Ja, tatsächlich. Meine Familie lebt seit hundertdreißig Jahren in dieser Stadt und geht hier zur Kirche. Ungefähr, aber auf ein paar Jahre mehr oder weniger kommt es ja nicht an.« Mit einem bestätigenden Nicken drehte sie sich wieder nach vorne. Das war offenbar alles, was sie Shelby hatte sagen wollen. Die Frau hatte nicht einmal ihren Namen genannt. Shelby blickte verwirrt auf den kurzen grauen Haarschopf. Sie hätte der Frau gern zur Kontinuität ihrer Familie gratuliert, hätte ihre eigene Familie in Middle Tennessee nicht auf eine noch längere Tradition zurückgeblickt.

»Zugereiste Nordstaatler«, murmelte Shelby.

Susan schnaubte und konnte sich kaum halten vor Lachen.

Nach dem Gottesdienst überredete Shelby ihre Freundin, mit ihr in das Restaurant gegenüber zum Mittagessen zu gehen, sie müsse ihr was erzählen. Aber der Sonntag war ein ausgesprochen schlechter Tag, um auswärts zu essen, denn das Restaurant war gesteckt voll. Shelby stöhnte, als sie die Menschentraube hinter der Tür sah, die auf freie Tische wartete. Immer neue Gäste strömten in ihrem Sonntagsstaat herein und kämpften um die beste Position im Gang. Kinder brüllten und spielten mit den Luftballons, die mit bunten Bändern an die Registrierkasse gebunden waren, bis sich schließlich ein paar lösten, an die Decke schwebten und die Eltern der Kindern diese zur Ruhe mahnten. Aber die Wartenden wurden überraschend zügig auf die freien Tische verteilt, und bald hatten Susan und Shelby ihre Plätze in der Nichtraucherzone eingenommen.

»Du meine Güte, du hast mir gar nicht gesagt, dass es in Hendersonville am Sonntag so zugeht.«

Susan zuckte mit den Schultern. »Samstags ist es genauso, und dazu kommt noch, dass alles, was im Umkreis von zwanzig Meilen nur im Entferntesten Ähnlichkeit mit einem Boot hat, draußen auf dem See herumschippert, wenn am Wochenende die Sonne scheint. Und auch am Freitag, wenn alle schon mittags aufhören zu arbeiten. Ich warne dich, du brauchst gar nicht erst zu versuchen Freitagmittag irgendwo etwas zu essen aufzutreiben. Nur wenn das Wetter wirklich scheußlich ist, könntest du Glück haben.«

»Großer Gott.«

Susan kicherte. »Vielleicht hättest du doch besser nach Brentwood ziehen sollen.«

»Genau, nach Brentwood. Als ob ich mir das leisten könnte«, erwiderte Shelby.

»Du hast genügend geerbt, um dir eine beträchtliche Anzahlung auf ein staatliches Anwesen mit einem richtigen Zaun aus Schmiedeeisen zu leisten.«

»Ja, und dann würde ich den Rest meines Lebens in einem großen leeren Haus verbringen müssen, weil ich kein Geld mehr hätte, um mir Möbel zu kaufen. Ich bin mit meinem Haus zufrieden. Außerdem, wenn es dir in Hendersonville gefällt, werde ich mich hier auch wohl fühlen.«

»Ich hatte keine andere Wahl. Ich bin hier geboren«, entgegnete Susan und lächelte wie eine Sphinx.

Eine müde, gestresste Kellnerin kam an ihren Tisch, um ihre Bestellung aufzunehmen. Als sie sich wieder außer Hörweite befand, setzte Shelby ihr Gespräch fort. »Also, nun bin ich jedenfalls hier, und jetzt bleibe ich auch.«

»Wie schön für dich.« Susan kniff die Augen zusammen. »Ich bin froh, dass du diese Entscheidung getroffen hast, und das trotz der Schwierigkeiten, hier am Wochenende etwas Essbares aufzutreiben.«

Shelby musste lachen, lehnte sich zurück und legte einen Arm über den Rücken des daneben stehenden Stuhls. Sie zögerte kurz, ehe sie fragte: »Sag mal, Susan, glaubst du an Geister?«

Susan gab ihr nicht gleich eine Antwort. »Dann hast du den Kerl also gesehen?«, sagte sie schließlich und beugte sich grinsend zu ihr vor.

Shelby blinzelte ungläubig. »Wie bitte?«

»Den Geist. In deinem Haus. Als ich noch ein Kind war, waren jede Menge Geschichten über das Haus in Umlauf. Es hieß, dass es dort spuke. In den Siebzigern hat eine Familie dort gewohnt, die ganz überraschend eines Tages ausgezogen ist und alle ihre Sachen zurückgelassen hat. Keiner weiß, warum, aber man sagt, dass sie verjagt wurde.«

Shelby beugte sich jetzt ebenfalls zu ihrer Freundin vor und zischte: »Du hast davon gewusst? Und du hast es nicht für nötig gefunden, es mir zu erzählen, bevor ich das Haus gekauft habe?«

»Ich habe nicht daran geglaubt.« Susan hob die Hand in einer beschwörenden Geste. »Ich habe so etwas tatsächlich nicht für möglich gehalten, das heißt, bis gestern, da habe ich es irgendwie gespürt, weißt du. Aber da war es schon zu spät, noch etwas zu sagen, und so habe ich meinen Mund gehalten. Dann gibt es ihn also wirklich? Dort spukt es tatsächlich? Und du hast den Geist gesehen?« Sie bekam ganz große Augen wie ein Kind.

»Ja, ich habe ihn gesehen.«

»Im Ernst?«

»Mein voller Ernst. Er ist im Haus. Was weißt du über ihn?«

Susan zog die Schultern hoch. »Eigentlich nichts, nur, dass es ihn gibt. Und dass er die Leute erschreckt. Er gibt Geräusche von sich. Es heißt, er spricht mit sich selbst.« Wieder grinste sie. »Du hast ihn also tatsächlich gesehen? Ehrenwort?«

»Er war im Schlafzimmer. Er ist ziemlich groß, über einsachtzig, würde ich sagen, hat dunkle Haare und raucht Zigarren, und den Rauch kann man riechen. Es war wirklich unheimlich.«

Susan fing wie ein Schulmädchen zu kichern an. »Das ist ja unglaublich! Sieht er wenigstens gut aus?«

Shelby lachte kurz, aber als sie ernsthaft nachdachte, trat ein Lächeln auf ihr Gesicht, das nicht mehr verschwinden wollte. »Ja, um nicht zu sagen, umwerfend.«

»Du veralberst mich nicht?«

»Nein. Er hat irgendetwas an sich. Sehr viel Würde. Und er ist stark. Nicht der muskelbepackte Typ, aber richtig kräftig. Und er hat sehr breite Schultern. So breit«, sagte sie schließlich nach einigem Nachdenken.

»Ist er gut gebaut?«

»O ja!«, antwortete Shelby und nickte. »Ein Kasten von einem Mann. Alles an seinem Platz.« Und dabei hielt sie den Daumen in die Höhe.

Susan musste schallend lachen, doch dann verfielen sie beide in nachdenkliches Schweigen.

»Wie schön für dich, Shel«, sagte Susan nach einer Weile und zwinkerte ihr zu.

»Das ist doch albern«, erwiderte Shelby, genoss aber das befreiende Lachen, das ihr half, den Schock der vergangenen Nacht langsam zu überwinden. Kichernd fügte sie hinzu: »Ich habe leider keine Ahnung, wie das jetzt weitergehen soll. Ich meine, wie soll ich reagieren, wenn er irgendetwas macht? Wenn er auf mich losgeht?«

»Gespenster gehen nicht auf Menschen los.« Susan schob diese Vorstellung energisch beiseite.

»Du hast gesagt, du glaubst nicht an Gespenster.«

»Was können sie denn schon tun? Im schlimmsten Fall erschrecken sie dich zu Tode.«

»Das hat er schon fast geschafft. Ich hätte mir vor Angst beinahe ins Hemd gemacht, als er da plötzlich vor mir auftauchte und wieder verschwand.«

»Direkt vor deinen Augen?«

»Ja, und dann hat er sich in einer Rauchwolke aufgelöst. Puff.«

»Vielleicht ist er ja für immer fort.«

Shelby schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.« Sie nahm ein Päckchen mit Zucker aus dem Keramikhalter auf dem Tisch und knickte den oberen Rand ein. »Was hat er denn getan? Ich meine, was hat er diesen anderen Leuten angetan? Ist er auf jemanden losgegangen?«

Susan zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er ab und zu mal aufgetaucht ist. Manche hier im Ort behaupten auch, sie hätten Licht im Schlafzimmer gesehen, obwohl schon lange niemand mehr dort wohnte. Mir selbst ist nur zu Ohren gekommen, dass er sprechen soll. Aber er verrückt keine Dinge, er setzt nichts in Brand …«

»In Brand? Gespenster legen Brände?«

»Ich sagte doch, er macht es nicht. So wie ich es mir vorstelle, ist er einfach da. Als ob er warten würde, auf irgendwas, auf irgendwen.«

»Weiß man, wie er heißt?«

Susan schüttelte den Kopf. »Nein, und keiner weiß, wer er ist oder warum er da ist. Oder wie lange er dort schon spukt. Ich würde sagen, die letzten vierzig Jahre. Jedenfalls glaube ich, dass seitdem Geschichten über ihn auf dem Schulhof die Runde machen. Aber die meisten Leute halten ihn für eine Erfindung wie diesen Serienkiller mit dem Fleischerhaken.«

Shelby beugte sich über den Tisch. »Welcher Serienkiller mit dem Fleischerhaken?«

»Hast du noch nichts davon gehört? Ich dachte, das wüsste jeder.«

»Hier läuft ein Serienkiller mit einem Fleischerhaken frei herum?«

»Nein, das ist doch nur eine Geschichte.«

»Du hältst das nur für eine Geschichte. Du hast ja auch geglaubt, dass der Geist bloß eine Erfindung ist. Was ist jetzt mit diesem Serienmörder und seinem Fleischerhaken?«

»Nichts.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher.«

Shelby verstummte und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Misstrauisch betrachtete sie Susan. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.

Als Shelby nachmittags heimkam, erwartete sie das Haus, in tiefes Schweigen gehüllt. »Hallo!«, rief sie, und das Haus erwachte zum Leben. Das Klappern ihrer Absätze, das von den Wänden widerhallte, vertrieb die Stille vollends.

Ja, hier war sie zu Hause. Wenn sie sich keiner Sache sicher war, aber das wusste sie. Als ob es ihr bestimmt wäre, hier zu leben. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Dann machte sie sich weiter ans Auspacken und versuchte sich so einzurichten, wie es in ihrer alten Wohnung ausgesehen hatte. Aber das Bücherregal samt Inhalt, das in Nashville groß und imposant gewirkt hatte, stand nun klein und verloren in ihrem riesigen neuen Arbeitszimmer. Ein alter Küchentisch diente ihr als Arbeitsplatz für ihren Computer, und ein kleiner rollbarer Aktenschrank ersetzte die Schubladen. Ein Bücherschrank und ein Schreibtischstuhl vervollständigten das karge Mobiliar. Shelby stand in der Tür und überlegte seufzend, ob sie lieber einen Orientteppich oder doch einen mit einem Band eingefassten Sisalteppich für das Zimmer kaufen sollte. Aber bei den Ausmaßen musste sie sich entweder für einen ganz großen oder mehrere kleine entscheiden

Langsam spürte Shelby, wie die Stille sich das Haus zurückeroberte. Ein unangenehmes Gefühl. Es würde aber noch eine Woche dauern, bis sie den Fernsehanschluss bekam, und so war der kleine Radioapparat im Erdgeschoss ihre einzige Quelle der Zerstreuung. Sie wollte schon nach unten gehen, um die Stille mit etwas Musik zu vertreiben, blieb dann aber doch am Treppenabsatz stehen. Ihr war nämlich ein Gedanke gekommen. War die Ursache dieses bedrückenden Schweigens tatsächlich nur das Fehlen von Geräuschen? Fehlte überhaupt irgendetwas? Und warum fühlte sich die Luft so schwer an? Wieso war es so schwierig, Atem zu holen, so als würde die Atmosphäre in diesem Zimmer schwer auf ihre Brust drücken?

Sie ging ins Schlafzimmer hinüber. In der Mitte des Raums blieb sie stehen. Hier war das Gefühl am stärksten. In diesem Zimmer war ihr der Geist erschienen, und sie konnte ihn immer noch spüren. Zumindest dachte sie das. Hier verspürte sie ein vages Gefühl von Energie, das sonst nirgendwo im Haus anzutreffen war.

»Hallo?«

Keine Antwort. Natürlich nicht. Das hatte sie ja bereits ausprobiert. Trotzdem schloss sie die Augen und konzentrierte sich. Sie wusste seinen Namen nicht, aber sie versuchte sich den Mann vorzustellen. Groß, muskulös, mit langen, schlaksigen Gliedmaßen, struppigem schwarzem Haar und der gesunden Bräune eines Farmers, die sich auf Kopf und Gesicht beschränkte und sich scharf als brauner Halbkreis im Nacken von der Blässe seines Körpers abhob, der wahrscheinlich noch keinen Tag in seinem Leben die Sonne gesehen hatte. In ihrer Erinnerung hatte der Mann dunkelblaue Augen, und Bartstoppeln hatten sein Kinn bläulich schimmern lassen. Er mochte um die dreißig sein. War er zum Zeitpunkt seines Todes noch so jung gewesen? Was genau war es, was sie da gesehen hatte?

Tief und gleichmäßig atmend, konzentrierte Shelby sich auf sein Bild und versuchte, es Realität werden zu lassen. Immer wieder flüsterte sie: »Komm zu mir.« Immer wieder, bis ihr Gemurmel sich zu sinnentleerten Silben abgeschliffen hatte. In dem Moment blickte sie auf.

Immer noch nichts, nur dieses vage Gefühl. Sie schaute sich um, konnte aber nirgendwo ein Gespenst sehen.

Es war schon spät, und sie brauchte ihren Schlaf. Während Shelby sich auszog und ins Bett ging, fragte sie sich, ob sie sich die Gestalt in dem Leinenhemd, den Wollhosen und den Hosenträgern vielleicht nur eingebildet hatte. Schon möglich. Leichte Enttäuschung breitete sich in ihr aus, ohne dass sie sich erklären konnte, warum.

In der folgenden Woche hatte Shelby alle Hände voll zu tun und vergaß den geheimnisvoll verschwundenen Mann fast ganz. Jeden Abend brachte sie Manuskripte mit nach Hause, die sie lesen oder redigieren musste. Das war die einzige Möglichkeit, ihr enormes Arbeitspensum zu bewältigen. Und je mehr sie sich an die Geräusche und sonstigen Eigenarten des Hauses gewöhnte, desto stärker trat der Gedanke in den Hintergrund, es könnten hier tatsächlich merkwürdige Dinge vor sich gehen. Jeden Tag putzte Shelby eine weitere Ecke und richtete sich allmählich in ihrem neuen Zuhause ein. Bald kannte sie jeden Winkel ihres Hauses und musste feststellen, dass es tatsächlich aus Backsteinen, Holz und Mörtel erbaut und kein Luftschloss war, in dem irgendwelche Geister hausten. Möglicherweise lag der Erscheinung ein starkes, an romantische Wunschvorstellungen gekoppeltes Gefühl zugrunde. Oder sie hatte sich den Geist in einem Augenblick der Erschöpfung nur eingebildet.

Der Herbst neigte sich rasch seinem Ende zu, überall in der Nachbarschaft verblassten die bunten Blätter der Ahornbäume und Eichen. Eines Tages fegte ein starker Wind die Bäume kahl, und der Boden war übersät von verrottendem graubraunem Laub. Je kälter es wurde, je grauer und winterlicher der Himmel sich präsentierte, desto dankbarer war Shelby für ihre dicken Ziegelmauern. Und noch dankbarer war sie für die Heizungsrohre in jedem Zimmer. In der festen Absicht, ihre Kamine häufig zu benutzen, bestellte sie mehrere Klafter Holz, die sie an der Westseite des Hauses aufschichtete. Wozu hatte sie denn die vier Kamine?

Anfang Dezember sorgte ein Sturm für Stromausfall, gerade als Shelby von der Arbeit nach Hause kam. Im ganzen Viertel gingen die Lichter aus, sogar in den Apartments auf der anderen Seite der Bahngleise. Shelby musste sich im Mondlicht ihren Weg bis zur Haustür suchen. Der Wind peitschte durch die kahlen Bäume und bog die Kiefern in alle Richtungen. Die Kälte drang in Shelbys Kleider, und ihr Haar flatterte um ihr Gesicht. Sie stemmte sich gegen den Wind und kämpfte sich bis zu ihrer Tür. Im Vorraum drückte sie mehrmals auf den oberen und den unteren Lichtschalter, aber nichts tat sich. Sie seufzte. Auch ihr Haus war ohne Strom. Da sie die Heizung immer erst anschaltete, wenn sie heimkam, waren die Zimmer eisig kalt. Sie würde Holz holen und im Kamin Feuer machen müssen. Sie war sich nur noch nicht sicher, wie sie es bewerkstelligen sollte, darüber ihr Abendessen heiß zu machen. Während sie das Holz ins Haus trug, ging sie im Geist den Inhalt ihrer Küchenschränke durch und überlegte, was sie essen könnte.

Die Würstchen, die Shelby auf einem improvisierten Drahtgestell über dem Kamin im Esszimmer grillte, gelangen ihr recht gut. Sie schmeckten sogar ausgezeichnet auf den schon etwas altbackenen Maisbrötchen, die sie in einer Eisenpfanne röstete. Großzügig würzte sie die Hot Dogs mit Ketchup, Senf und Mayonnaise, hockte sich im Schneidersitz auf den Fußboden und vertiefte sich im Schein einer Kerze in ein Manuskript. Sie kam sich vor wie bei einem Picknick. Die Elektrizitätswerke waren verständigt, sodass sie nichts weiter zu tun hatte, als irgendwann Kerze und Manuskript nach oben zu tragen und dort weiterzuarbeiten, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Im Schlafzimmerkamin entfachte sie ein Feuer und machte es sich mit dem Manuskript im Bett bequem. Es war so friedlich hier. Die Welt schien weit entrückt. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, als sie endlich ihre Arbeit beiseite legte, noch ein Holzscheit ins Feuer schob und die Kerze löschte.

Die Glut im Kamin spendete noch etwas Licht und Wärme, als Shelby unter die vielen Decken schlüpfte, die sie vor der Kälte schützen sollten. Sie hoffte, trotz des Stromausfalls gut schlafen zu können.

Aber übermüdet, wie sie war, wollte sich der Schlaf einfach nicht einstellen. Sie legte sich auf den Rücken und starrte auf die flackernden Schatten an der unregelmäßig gestrichenen Zimmerdecke. Sie schloss die Augen, aber hinter ihren zuckenden Lidern tanzten die Lichter weiter, bis sie die Augen wieder aufschlug.

Plötzlich verdichteten sich die tanzenden Schatten an der Decke zu einem einzigen. Shelbys Puls fing zu rasen an. Sie hatte Angst und konnte sich nicht überwinden, genauer hinzusehen. Vielleicht verschwand der Schatten ja, wenn sie weiter an die Decke starrte, und existierte nur in ihrer Einbildung. Sie hatte schließlich Wochen gebraucht, sich davon zu überzeugen, dass alles nur Einbildung gewesen war. Aber der Schatten blieb. Und sie wusste, was es war. Shelby zwang sich, den Kopf zu drehen und endlich hinzusehen.

Er saß in dem Schaukelstuhl neben dem Kamin, kaum mehr als eine Silhouette, die sich vor dem Lichtschein abzeichnete, aber sie erkannte seine schlanke, hoch gewachsene Gestalt sofort. Und dann hörte sie ihn leise vor sich hin murmeln.

»Blut … überall Blut.« Erregt knetete er seine Hände und rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Gott möge mir helfen, aber ich ertrage dieses Sterben nicht mehr«, stöhnte er gequält. Seine Hand zitterte, als er sich die Augen zuhielt.

Shelby holte tief Luft und setzte zum Sprechen an, aber es kam nichts heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie musste sich erst mehrmals räuspern. Schließlich schaffte sie es, ihn zu fragen: »Wer sind Sie?« Innerlich zitternd wie Espenlaub, wagte sie einen weiteren Vorstoß. »Wie heißen Sie?«

Der Mann gab ihr keine Antwort. Erst nach einer Weile sprach er wieder. »Lügen, nichts als Lügen.« Er hatte eine weiche, tiefe Stimme.

Shelby rutschte an das Fußende des Bettes. Dieser Mann atmete. Er war nicht tot. Er war real und greifbar. Er musste sich sogar räuspern, um durch den Kummer zu dringen, der sich ihm auf die Stimme schlug. Shelby beugte sich vor, um ihn besser zu sehen. Ihr Herz raste. Was tat sie da? Sie hätte besser um ihr Leben laufen oder wenigstens an ihre geistige Gesundheit denken sollen. Stattdessen kniete sie da und hielt sich an dem Bettpfosten fest, der zwischen ihr und diesem Mann stand. Aber er hatte etwas an sich, das sie nicht losließ. Irgendetwas in seiner Stimme berührte ihr Herz. Jeder weitere Gedanke an Flucht schwand, als ihr klar wurde, dass sie diese arme, verzweifelte Seele nicht allein lassen konnte.

Der Mann griff nach der Kerze, die auf dem kleinen Tisch stand und die ihn überallhin zu begleiten schien. Er bückte sich, um sie im Kamin anzustecken. Mit einer Hand griff er in die Innentasche seiner Jacke und holte eine Zigarre heraus, die er an der Kerze anzündete. Der flackernde Lichtschein auf seinem Gesicht enthüllte einen Zweitagebart, gerötete Haut und einen dunklen Streifen – Schlamm, vielleicht aber auch Blut – auf seiner Nase. Er hatte tatsächlich dunkelblaue Augen in der Farbe des Himmels an einem klaren Winterabend kurz nach Sonnenuntergang. Seine Jacke, die doppelreihig geknöpfte graue Uniformjacke eines Offiziers der Konföderierten, stand vorne offen und hing schief an seinem Oberkörper. Sie war zerrissen und voller Löcher, die Metallknöpfe waren stumpf, einige fehlten. Unter seinem schmutzigen, ebenfalls zerrissenen weißen Hemd kam fleckige Unterwäsche zum Vorschein.

Shelby lief ein kalter Schauder über den Rücken. Ein Soldat der Konföderierten. Dieser Geist spukte hier schon länger als vierzig Jahre. »Ein Geist aus dem Bürgerkrieg«, entfuhr es ihr.

Er schien sie auch jetzt nicht zu hören, sondern starrte weiter zu Boden und zog so fest an seiner Zigarre, dass der Tabakrauch Shelby in die Nase stieg. Schließlich blickte er wieder hoch, und einen Moment lang sah es so aus, als würde sein leerer Blick ein vages Ziel in der Ferne suchen. »Der Tod hätte sie nicht treffen dürfen«, murmelte er, dann starrte er wieder zu Boden. Unbändiger Schmerz sprach aus seinen Augen, die verdächtig glitzerten. Erneut zog er an seiner Zigarre, ehe er sich seufzend an die Stirn fasste. »O Mary, meine liebste Mary Beth.« Traurig ließ er den Kopf hängen. »Ich kann nicht einmal erahnen, was mein Herz verloren hat. Ich werde es nie erfahren.« Die Stimme versagte ihm. Shelby wurde überwältigt von Mitleid. Was fühlte er? Sehnsucht? Kummer? »Ob sie überhaupt um mich getrauert hätte?«

Was für eine seltsame Frage.

Wieder verlor sich sein Blick in der Ferne, aber da war nichts, das seinen Kummer gelindert hätte. Dann kein Wort mehr und kein Hinweis, weshalb er so leiden musste.

Shelby glitt aus dem Bett, kniete sich daneben hin und streckte zögernd den Arm nach dem Mann aus. Ihre Hand kam schließlich auf einem festen Knie zu liegen, dessen Kniescheibe und Muskeln sie deutlich unter den schweren Wollhosen spürte.

Kaum hatte sie ihn berührt, löste sich das Bein auf. Wie ein bröckelnder Zuckerhut schmolz der ganze Mann in Sekundenschnelle dahin und kräuselte sich als nebliger Rauch über Shelby und dem Schaukelstuhl.

Entsetzt zog sie die Hand zurück. Feiner weißer Rauch