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Tegel, Anfang des 19. Jahrhunderts - Hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, im Wald stehe eine Eiche, die schon seit Jahrhunderten ihre Wurzeln in den Boden schlägt. Besorgte Eltern erzählen ihren verliebten Kindern, eine Spukgestalt würde im Geäst hausen. Sie erhoffen sich wohl, dass die Schauergeschichte die verdorbene Jugend davon abhält, sich nachts allein aus dem Haus zu schleichen. Der Müllerssohn Benjamin hat nicht viel übrig für solche Märchen. Ein Streit schwelt zwischen ihm und seinem Bruder Jakob. Mit dem Tod des Vaters droht dieser Streit zu platzen. Doch alles ändert sich, als Jakob plötzlich verschwindet. Benjamins Träume werden dunkler. Stets drängen sich Gedanken an Magdalena in seinen Kopf. Woher kommt plötzlich diese Besessenheit? Welche Geheimnisse versuchte der Müller, mit ins Grab zu nehmen? Und ist da nicht ein Flüstern, das durch die Wände der Mühle zischt? Langsam schält sich heraus, dass die Schauergeschichten vielleicht mehr als nur Geschichten sind.
"Was im Dunkeln Schatten wirft" ist eine Novelle, die auf der düsteren Folklore aus Tegel beruht - über tief verwurzelten Hass, verbotenes Verlangen und eine Schuld, die auf unser aller Schultern lastet.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
von Josefine Lyda
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© 2025 Josefine Lyda
Covergestaltung: Josefine Lyda | basierend auf “Head of a Veiled Woman” von Anders Zorn, siehe auch Bildquellenverzeichnis. Buchsatz: Josefine Lyda | erstellt dem Bilderarchiv von Canva Pty Ltd. und gemeinfreien Bildern, siehe auch Bildquellenverzeichnis.
Dieses Buch wurde von der Autorin selbst veröffentlicht (Self-publishing)
Adresse: Josefine Lyda, c/o IP-Management #43128, Ludwig-Erhard-Straße 18, 20459 Hamburg
E-Mail: [email protected]
Ich wandle still den Waldespfad,Es dunkelt die Nacht herein.Im Grunde rauscht ein Mühlenrad,Der Grillen Lied fällt ein.
Wie liegt so tief, wie liegt so weitDie Welt im Mondesduft!Die Stimme der WaldeinsamkeitIn Windessäuseln ruft:
Wirf ab dein bang erträumtes Weh,Wirf ab die falsche Lust!Sie schmelzen hin wie Märzenschnee,Und öde bleibt die Brust.
Blick auf, wohin der Zorn entbrennt,wo er glimmend heiß erwacht;wenn der Müller nur den Totschlag kennt,mahlt die Mühle auch bei Nacht!
Die ersten drei Strophen sind aus „Mondlied“ von Paul Heyse. Die letzte Strophe wurde von der Autorin neu formuliert.
Ich sammle Blicke wie aufgeweckte Burschen Schmetterlinge sammeln. Ich sammle den Blick meines Bruders, der mit unterdrückter Wut gefüllt ist. Jakob vergräbt sich in seinem Hass. Seine Zähne mahlen ihn wie die Wassermühle das Mehl mahlt. Die Wut wird zu feinen Splittern zerrieben. Sie dringt tief in Jakobs Seele ein.
Ich sammle Magdalenas Blick. Ich kann nicht erkennen, was ihre Augen mir sagen wollen. Ein Blick über die Schulter, der nicht verrät, ob er mir Sehnsucht, Verlangen oder Hass entgegenbringen soll.
Ich sammle die Blicke, steche eine Nadel durch sie hindurch und befestige sie in meinem Schaukasten aus Vorstellungen und Träumen.
Der Blick meines Vaters ist verschlossen. Seine Augen sind verschlossen. Denn er ist tot und wird mir nie wieder einen Blick zuwerfen.
Der Boden der Kirche ist uneben. Ich kann nicht sagen, wie viele Füße schon vor mir über diese Steine gelaufen sind. Ob meine Vorgänger gemerkt haben, dass sie mit jedem Schritt Furchen in den Stein getreten haben. Sie haben die Schriftzüge auf den Bodenplatten abgenutzt und ihre Spuren im Stein hinterlassen. Ich setze einen Schritt vor den anderen, wie es schon unzählige Seelen vor mir getan haben, und wie es weitere unzählige Seelen nach mir tun werden. Unsere Schritte tragen uns über den Boden, nicht wissend, wie jeder von ihnen Spuren zurücklässt.
Ich trage meinen besten Gehrock, der sich faltenfrei an mich legt. Natürlich könnte man meinen, dass jedes meiner Kleidungsstücke mit Mehl bepudert ist, dass sich das Mehl federleicht auf meine Kleidung setzt und so unbemerkt Spuren hinterlässt – so wie ich unbemerkt Spuren auf dem Kirchenboden hinterlasse. Doch meine Kleidung ist tiefschwarz. Denn ich betreibe die Mühle nicht, ich verwalte sie.
Ich stelle Gesellen ein, ich schicke sie fort. Ich schließe Verträge mit den Mühlgästen und setze mich mit der Mühlengerechtigkeit auseinander. Genauso wie mein Vater es tat, der nun tot aufgebahrt am Ende des Kirchenschiffs liegt.
Der Boden der Kirche ist uneben. Ich weiß nicht, ob es die schiefen Steine im Boden sind, die mich ins Wanken bringen, oder die unausweichliche Wahrheit, die mich nun zu überrollen droht: Mein Vater liegt dort tot am Ende des Kirchenschiffs. Wenn er in der Erde liegt, werden Maden seine Augen fressen.
Ich beuge mich über das leblose Gesicht meines Vaters. Sein Kopf ist blass. Er sieht aus wie eine Totenmaske, nur dass es keine Maske ist, sondern echte tote Haut, die über sein Gesicht gespannt ist. Ich streiche über seine Wange. Sie fühlt sich an wie ein Stück Leder mit Watte unterfüttert. Ich weine, doch meine Tränen sind ausdruckslos. Ich trage ein starres Gesicht, über das Wasser läuft.
Mir wird bewusst, was ich schon viel früher hätte wissen müssen: Ob mein Vater hier liegt oder zu Hause in seinem Krankenbett – es macht keinen Unterschied. In dem letzten Jahr seiner Krankheit kamen aus seinem Mund keine Worte der Liebe und es werden auch jetzt keine Worte der Liebe aus seinem Mund kommen. Ist sein Körper erst jetzt tot, war sein Geist es schon seit einem Jahr.
Der Boden der Kirche ist uneben. Ich setze mich neben meinem jüngeren Bruder auf die Kirchenbank. Sein Kiefer arbeitet, er reibt seine Zahnreihen gegeneinander, sonst bewegt er sich nicht. Er trägt das Gesicht eines Mannes, der seine Wut nicht preisgeben will. Die gleiche Kälte umweht ihn, wie sie jeden Menschen umweht, der versucht seine Aggression in sich hineinzufressen. Ich denke: Wenn mein Vater in der Erde liegt, fressen Maden seine Augen in sich hinein, so wie Jakob seine Wut in sich hineinfrisst.
Die Trauernden gehen nacheinander vor, sie wetzen den Steinboden weiter ab, ohne dass jemand dies bemerken würde. Selbstverständlich bemitleiden sie uns nur zum Schein, um ihre Frömmigkeit zu zeigen. Schließlich trauert man nicht wahrhaftig um meinen Vater, denn er war – so wie ich – betrügerisch und machthungrig, mit dem Teufel im Bunde und bösartig, wie es alle Müllermeister sind. Ich betrachte meine behandschuhten Finger, wie sie die Krempe meines Filzhutes befühlen. Es sind die Hände eines Unschuldslamms, das von der Dorfgemeinschaftzum Sündenbock erkoren wurde.
Im Gang zwischen den Kirchenbänken sind weitere Schritte zu hören. Ein Gewand raschelt. Es ummantelt ein Beinpaar, es gleitet an ihnen entlang. Nur dieses Rascheln ist zu hören, von Stoff, der über zarte Beine streicht. Magdalena schreitet nach vorne. Ihr Kleid hüllt sie in tiefe Schwärze. Ein Schleier aus Spitze bedeckt ihr Haar, er umschließt ihr Gesicht. Selbst durch den Spitzenschleier kann ich sehen, dass Magdalena weint. Ihre Augen sind mit dicken Tränensäcken versehen. Der Schleier verbirgt nicht, wie verquollen und rot ihre Augen sind. Herzenswasser läuft ihr aus Augen und aus Nase.
Das Erste, was ich bei diesem Anblick fühle, ist, wie meine Tränen einen eigenen Ausdruck erhalten. Sie wandeln sich. Sind sie zuvor ausdruckslose Wassertropfen gewesen, die mein starres Gesicht hinunterlaufen, werden sie nun zu den Kristallschatten echter Schwermut. Ich sehe Magdalena trauern und kann dadurch die Tiefe meiner eigenen Empfindsamkeit spüren.
Erst kommen die Gefühle, dann die Gedanken dazu. Nachdem der erste Schub der Einfühlsamkeit abnimmt, drängt sich mir eine Frage auf: Warum weint Magdalena um meinen Vater? Soweit ich weiß, sind ihre Schicksale nicht miteinander verwoben. Ihre Leben überlappten sich zu keinem Zeitpunkt. Sie kam nicht in die Mühle und wir kamen nicht in das vornehme Krämerhaus ihres Vaters.
Ich bin nicht der Einzige, der Magdalena an den Kirchenbänken entlang schweben sieht. Verstohlene Blicke schauen ihr hinterher und ich bin mir sicher, dass Gedanken durch die Köpfe schwirren, die auf heiligem Boden keinen Platz haben. Ich weiß es, weil ich selbst diese Gedanken über Magdalena hege.
Obwohl ihr – unerklärlicherweise – die Trauer ins Gesicht geschrieben steht und ihr die unanständigen Blicke hinterhergeworfen werden, geht sie aufrecht zum offenen Sarg. Sie strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. Es quillt über und läuft an den Seiten heraus. Sie trägt ihre Trauer offen vor sich her. Nur einen Moment, einen kurzen Augenblick, einem Mosaikteil im großen Ganzen ihrer Anmut, lässt sie ihre Hülle der Selbstachtung fallen. Sie dreht sich um, sie sieht mir direkt in die Augen.
Ich weiß nicht, was ihr Blick mir sagen soll, doch er soll mir etwas sagen. Ist es Mitleid? Hass? Liebe? Meine Finger zittern. Was auch immer in ihrem Blick ist, es wird mich nicht mehr loslassen.
Beim Leichenschmaus im Wirtshaus thront Jakobs Kälte immer noch in seinem Herzen – selbstredend nur, wenn ich in seiner Nähe bin. Stehe ich abseits, blüht er auf. Er wird Frühling. Er bedankt sich herzlich, klopft auf Schultern, er lacht über alte Geschichten.
Ich stehe viel abseits während der Trauerfeier, wie an allen anderen Tagen auch. Erst nachdem ich vier Bier getrunken habe, kann ich Jakob ansprechen. Mein Rachen schmeckt nach Hopfen. Bitter und abgestanden.
Mein Bruder plauscht gerade mit einem der Waschweiber, einer grobschlächtigen Frau, die zu viel Seifenlauge an ihre Finger bekommen hat. Sie bemerken mich nicht und sprechen weiter, als könnte ich sie nicht hören.
„Ich habe mich immer gefragt“, redet sie auf ihn ein. Sie heißt Elisabeth und auf mich hat sie bisher nie so eingeredet. „Wie es denn sein kann, dass so ein Teufelskerl – Gott sei seiner Seele gnädig – wie er zwei Söhne haben kann und der eine ist genau das gleiche Schlitzohr wie der Vater selbst. Aber der Zweite ist ehrenwert und tugendhaft.“
„Hör mir auf. Nur weil Benjamin etwas vom Rechnungswesen versteht, ist er nicht mit dem Teufel im Bunde.“ Jakob lacht und nimmt einen Schluck aus seinem Bierkrug.
„Ach, ich verstehe nichts von dem, was er macht. Da kann er doch leicht ein, zwei Zahlen vertauschen und die Mühlgäste erhalten viel weniger von ihrem Mehl als ihnen zusteht. Wer sagt mir denn, dass der Benjamin nicht auch ein wenig von dem Mehl für sich behält.“ Sie schaut verschwörerisch in Jakobs Gesicht. „Es ist doch keine Arbeit, was er da tut. Mit Papier und Federkiel. Die echte Arbeit überlässt er doch seinem Bruder.“
Jakob lacht zustimmend, sieht dabei den Schaum seines Bieres an. Elisabeth fährt fort: „Aber, dass der Müller – Gott sei ihm gnädig – ein Teufelskerl war, das kann ich ja schon an den Gästen hier erkennen. Was habt Ihr denn da für Trauernde zum Leichenschmaus geladen?“
„Aber, Elisabeth“, sagt Jakob übertrieben mahnend. „Ich hoffe, Euch fallen keine schlechten Worte über die frommen Trauergäste ein.“
„Mir ist nicht entgangen, dass die Tochter vom Krämer, diese Magdalena hier ist. Was will sie hier? Ist sie auf Männerfang?“
„Männerfang? Oh, Betti, Betti. Was habt Ihr denn schon wieder aufgeschnappt? Ich würde vorschlagen, Ihr erzählt mir alles. Aber leise, damit niemand mitbekommt, dass ich einer guten Geschichte nicht widerstehen kann.“
„Vielleicht kann euer kleiner Plausch warten?“, wage ich zu sprechen. Meine Stimme lallt, das Bier tut seine Arbeit.
„Ach, Benjamin, natürlich kann der warten. Elisabeth, bleibt genau hier stehen, ich bin gleich wieder für Euch da. Davon will ich nichts verpassen.“ Jakob wendet sich nun mir zu.
„Was gibt es denn?“, sagt er freundlich, weil Elisabeth noch in Hörweite ist.
Ich weiß nicht, wie ich das Gespräch beginnen soll. Ich weiß nicht, wie man fragt, warum jemand so zornerfüllt ist. Daher sage ich: „Es wird nicht mehr so sein wie früher, jetzt, wo Vater verstorben ist.“
Jakob nimmt mich beiseite. Seine Stimme wird schneidend. „Hast du deshalb mein Gespräch unterbrochen? Um mir zu sagen, dass sich jetzt alles ändern wird?“
Ich presse meine Lippen zusammen. Jakob interessiert es kein Stück, was das Waschweib Elisabeth über Magdalena zu berichten hat. Es werden die üblichen Floskeln darüber sein, welcher Herr letzte Nacht aus Magdalenas Fenster geklettert sein soll. Jakob stört es nicht, dass ich Elisabeth unterbrochen habe. Ihn stört, dass ich ihn aus seiner Selbstdarstellung gerissen habe.
„Weißt du was, Benjamin? Für mich wird sich nichts ändern. Für mich wird alles bleiben, wie es ist.“ Es ist offensichtlich, wie er versucht seine Wut zu unterdrücken und diesen Satz ganz nebenbei zu sagen.
Ich nehme einen großen Schluck Bier, bevor ich meine Frage stelle: „Woher kommt diese Wut auf mich?“
Jakob fährt mit seiner Zuge über seine Zähne, ehe er antwortet: „Ich denke, schon allein aus dem Grund, dass du mir diese Frage stellst, bin ich wütend. Nein, Benjamin, warte – ich bin zornig. Wirklich aufgebläht vom Zorn.“
Ich zucke zusammen. Ich habe erwartet, dass er mir sagt, alles sei bestens, dass er seine Wut weiter in sich hineinfrisst, wie die Maden nun Vaters Augen in sich hineinfressen. „Ich verstehe nicht –“
„Selbstverständlich verstehst du nicht. Weil du einfach nicht begreifst, was passiert. Du hast dich so in deinen Gedanken verkrochen, dass du nicht im Stande bist, zu erraten, was um dich herum passiert.“
Ich schnaube. Denn ich merke sehr wohl was passiert. Ich bemerke Jakobs Anspannung, die sich löst, sobald ich nicht mehr in seinem Sichtfeld bin. Ich bemerke, wie er abends mit Mehl in den Haaren ins Bett fällt, wie er sich seine schwieligen Hände reibt, während ich Rechnungen unterzeichne.
„Du kauerst in deiner Schreibstube und legst mit Briefen fleißig unserem Vater die Worte in dem Mund. Aber wann hast du denn die Mühle das letzte Mal von innen gesehen? Hast du einmal gefühlt, wie sehr ein Rücken schmerzen kann? Weißt du überhaupt etwas von dem Mühlenhandwerk?“
Ich stolpere über die Unwahrheiten, die aus dem Mund meines Bruders strömen. „Selbstverständlich, bevor Vater krank wurde, war ich genauso ein Geselle wie du. Das weißt du, ich habe genauso geschuftet wie jeder andere Geselle.“
„Und trotzdem merkst du nicht, wie es mit der Mühle bergab geht, seitdem du sie leitest. Ich weiß nicht in welchem Fieberwahn Vater war, als er dich zum Erben machte. Er hätte sehen müssen, welch ungeeignetes Geschöpf du bist.“
„Ich bin mit dem Mühlwesen bestens vertraut.“ Meine Stimme bleibt ruhig, denn ich bin ruhig. Ich kenne das Kaufmannswesen, ich kenne das Erbpachtrecht, ich weiß von der Mühlengerechtigkeit und verwahre die Verträge über das Mühlenregal. Erst viel zu spät bemerke ich – diesmal kann mein Bruder mir vorwerfen, dass ich es nicht rechtzeitig bemerken würde – welche Stimme da aus meinem Bruder spricht. Es ist der Neid und ich kann es ihm nicht verübeln. Es ist nur ein vergifteter Ausdruck der Anerkennung.
„Du kennst dich vielleicht mit Zahlen und Buchstaben aus“, zischt Jakob. „Aber nicht mit der echten Arbeit. Du weißt nicht, was deine Hände tun müssen, damit die Steine und Zahnräder sich bewegen. Und glaub mir, Vater war zwar nicht beliebt in Tegel. Aber er verstand, was er tat, und nun müssen wir alle mit ansehen, wie ein Korinthenzähler unsere Mühle in den Dreck zieht.“
Jakob spricht wie einer, dem etwas weggenommen wurde, was ihm nie gehört hatte. Er benimmt sich wie ein großes Kind. Und ich muss zugeben, dass es das ist, was die Leute im Dorf an Jakob mögen. Diese kindliche Freude, dieses Glitzern in den Augen, dass er ihnen entgegenbringt. Das Lachen, das den anderen Menschen vorbehalten ist, so wie mir nun sein wahres Gesicht gezeigt wird: Zornerfüllter Hass und Neid.
„Ich habe mir das Erbrecht nicht erdacht. Ich befolge es nur“, versuche ich zu erklären. „Ich bin der Ältere von uns beiden, daher erbe ich die Mühlengerechtigkeit.“
„Ich pfeife auf das Erbrecht. Wir alle wissen doch, dass es nicht du bist, der in Tegel der Müllermeister sein sollte.“ Er beugt sich vor, direkt an mein Ohr. „Aber pass gut auf. Ich weiß schon, wie ich das bekomme, was mir zusteht.“
Ich sehe ihn an und schweige, wie ich immer schweige. Der Moment zerbricht erst, als sich der Bauer Jenke zu uns stellt. Vielleicht hat er das böse Blut gerochen und will schlichten, vielleicht will er sich nur im Antlitz des schönen Jakob sonnen. Seine Nase ist Rot vom Bier. „Mein Beileid, ihr wackeren Müllersbrüder. Mein Beileid.“ In der Sekunde als der Bauer Jenke zu uns tritt, setzt Jakob wieder sein Lächeln auf.
„Wie herzlich von dir“, sagt Jakob. „Ich weiß dein Beileid zu schätzen.“
„Selbstredend! Auch wenn euer Vater mich das ein oder andere Mal übers Ohr gehauen hat.“
„Ehre unter Gaunern, pflegte er zu sagen“, scherzt Jakob und Bauer Jenke lacht mit.
„Ich wollte natürlich nicht darüber sprechen, was für ein Halunke euer Vater war. Warum ich eigentlich mit dir sprechen wollte, Jakob, ich hab’ es endlich wiedergefunden. Ich meine das Buch. Du weißt doch, ich habe gesucht und gesucht und am Ende hat’s das schusselige Frauenzimmer verlegt.“ Er hält meinem Bruder ein Büchlein hin. „Teil eins und zwei in einem Band. Als kleiner Trost gegen die Trauer. Und natürlich, weil ich dir beweisen will, wie Recht ich hab’“ Bauer Jenke zwinkert mit seinen verklärten Bier-Augen.
„Goethes Faust!“ Jakob lächelt anerkennend. „Das kann ich doch nicht annehmen.“
„Und ob, nur weil ich dir zeigen will, dass Tegel eben doch bei Goethe erwähnt wird.“ Er zeigt auf zwei der Verse auf dem vergilbten Papier:
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel.
Wir sind so klug, und dennoch spukts in Tegel.
Die Abenddämmerung zieht ein. Das Rotkehlchen ist der letzte Sänger des Abends. Es sitzt selbst im Winter auf der Fensterbank. Sein roter Punkt auf der Brust ist das einzig Farbenfrohe in dem wolkenverhangenen Grau des letzten Tageslichts.
Nur das Flackern des Kerzenlichts kann in seinem zuckenden Tanz meine Schreibstube noch erleuchten. Es wirft Schatten von Monstern an die Wand, die eigentlich nur Gegenstände meines Alltags sind. Das Kerzenlicht verwandelt den Alltag zu Schatten aus Angstgestalten. In der Dunkelheit wird die Freundlichkeit des Tages schnell vergessen. Die Kerzenflamme biegt sich umher und ich bilde mir ein, dass es von einem Luftzug herrührt. Dabei ist das Fenster verschlossen.
Es ist still, nur das Rotkehlchen singt sein Klagelied, von einer vergangenen Liebe und dem schmerzhaft vermissten Frühling. Der Kerzenschimmer tanzt dazu. Er ruckelt, die Flamme zittert. Diesmal spüre ich eindeutig einen Luftzug. Ein Pfeifen von Windstößen hallt durch den Raum und die Kerze erlischt. Ich bin in der Dunkelheit und kann fühlen, dass die kalte Luft durch die Ritzen der Tür dringt.
Dann leuchtet der Türschlitz auf. Jemand hat im Flur Licht gemacht. Ich rufe meine Hausdame. Sie antwortet mit einem unüberhörbaren Schweigen.
Ein Schatten bewegt sich an dem Türspalt, wo doch gerade noch Licht hindurchgefallen ist. Dort wo das Licht die Luft berührt, kann ich Staub emporsteigen sehen. Dort, wo der Schatten liegt, bleibt es schwarz. Der Schatten tritt von einem Fuß auf den anderen. Er ist ungeduldig – zu ungeduldig, um eine Spukerscheinung zu sein.
Ich öffne die Tür. Erst erkenne ich nur das verträumte Licht der Kerzen im Flur. Erst einen Wimpernschlag später, sehe ich, dass ein Kind vor mir steht.
„Dorothea? Dorothea, warum ist da ein Kind in meinem Flur?“
Dorothea, meine Hausdame, antwortet wieder nicht.
Ich sehe auf das Kind herab. Unter seinen Augen haben sich bereits Falten gebildet, seine Haut erinnert mich an den Schnee des letzten Jahres. Das Kind lebt, aber die Augen sehen wie der Tod aus.
„Das Fräulein holt Kuchen aus der Speisekammer.“
Ich starre das Kind an.
„Das Fräulein hat mich hineingelassen. Ich sagte ihr ‚Ich habe eine Nachricht für den Herren.‘ Dann hat sie gesagt: ‚Geh hinauf, der Herr ist in seiner Schreibstube‘ und ‚In der Kammer ist noch Kuchen. Ich hole dir welchen‘“ An der Jacke des Kindes ist ein Brandfleck, als hätte jemand seine Pfeife auf ihm ausgekippt. Falten ziehen sich durch sein Gesicht wie durch eine Landkarte. Ich habe das Kind noch nie zuvor gesehen – es muss eines dieser Wichte sein, die im Sommer und Herbst auf den Feldern helfen und im Winter durch die Dörfer ziehen, um nach Brot zu betteln. „Gnädiger Herr, ich bin nur hier, um eine Nachricht zu überbringen.“
„Eine Nachricht? Von wem?“
„Ich darf es nicht sagen, werter Herr. Ich soll nur sagen“ Das Kind überlegt. „Euer Schicksal wartet heute um Mitternacht auf euch an der Dicken Marie.“
Die Dicke Marie ist ein knorriger Baum, der schon am Rand unseres Dorfes stand, als unsere Großeltern noch nicht geboren waren. Die Dicke Marie steht am Rand von Tegel, wächst jedes Jahr ein bisschen mehr. Liebende treffen sich bei ihr im Schutz der Dunkelheit. Ich meine mich an Geschichten zu erinnern, die von Mund zu Ohr geflüstert wurden. Da sind ferne Gedanken über besorge Eltern, die ihren verliebten Kindern erzählen, ein Geist würde in der Dicken Marie hausen. Sie erhofften sich wohl, dass die Schauergeschichten ausreichten, um die verdorbene Jugend davon abzuhalten nachts allein aus dem Haus zu schleichen. Denn die Eltern wissen genau, was ihre Kinder tun, haben sie es doch früher genauso getan.
Das Kind redet weiter: „Ja, das ist es, was ich sagen soll: Euer Schicksal wartet heute um Mitternacht auf euch an der Dicken Marie.“
In meinem Kopf geht Magdalena durch die Kirche. Sie sieht mich an, ich weiß ihren Blick nicht einzuordnen. War es Hass, Liebe? Oder war es das Wissen, dass unsere Schicksale miteinander verwoben sind. „War es eine Frau, die dich beauftragt hat? Dunkles Haar, schneeweißes Gesicht? In Schwarz gekleidet?“
„Ich soll nur sagen, dass euer Schicksal auf euch um Mitternacht an der Dicken Marie wartet.“ Die Stimme des Kindes ist weit entfernt. Ich weiß nicht, ob das Kind noch dort steht oder nicht. Mein Schicksal, scheint es mir, würde mich in sich hineinziehen und nie wieder herauslassen. Es schlägt sich über mir zusammen wie die Wellen über einen Ertrinkenden. Das Schicksal wartet auf mich. Das Kind verschwimmt vor meinen Augen, der Gesang des Rotkehlchens wird lauter.
„Es tut mir ja so schrecklich leid, wir haben keinen Kuchen mehr“, ruft meine Hausdame in den Flur hinein.
Stille. Das Rotkehlchen verharrt. Die Welt wird wieder in ihre alten Bahnen gelenkt.
„Aber ich sehe auch gerade, das Kindchen ist ohnehin nicht mehr da.“
Ich schaue mich um, verwundert, verblüfft. Das Kind ist tatsächlich nicht mehr da. Mit dem Rufen meiner Hausdame war es verschwunden.
Der Nebel wallt auf. Es ist der Nebel, in dem sich stehlende Kinder verstecken, wenn der Winter kommt und es keine Arbeit mehr auf den Feldern gibt. Meine Laterne strahlt in den Nebel hinein. Sie lässt ihn aufleuchten. Aber aufleuchtender Nebel spendet keine Sicht.
Ich laufe den Weg vor der Mühle entlang, verlasse das bestellte Land und wende mich dem Wald zu. Der Nebel kriecht aus den Eingeweiden des Waldes und zieht sich über den Boden wie nach mir greifende Finger. Die Laterne strengt sich an, sie steckt all ihr Können in ihr Licht hinein, doch das Licht bleibt nutzlos. Ich zucke mit den Schultern – ich muss ohnehin nicht sehen können, denn mein Kopf ist voll von Magdalena. Magdalena, wie sie sich zu mir umdreht. Selbst hinter dem Schleier versteckt durchdringt mich ihr Blick. Ich weiß, dass die Nachricht von ihr sein muss. Unsere Schicksale sind miteinander verwoben, das weiß ich nun.
Ich stehe an der Dicken Marie, sie wächst dort allein zwischen den Nadelgehölzen. Ihre faltige Rinde erinnert mich an das Gesicht des Bettelkindes. Die Eiche steht dort allein zwischen den Nadelbäumen, genauso allein wie ich hier stehe. Die Nacht umweht mich. Wenn Magdalena das Kind beauftragt haben sollte, ist sie zumindest jetzt nicht hier. Nur die einsame Eiche, die ihre Wurzeln in den Boden drängt, sich in den letzten hundert Jahren nicht bewegt hat und sich auch in den kommenden hundert Jahren nicht bewegen wird.
Ich denke – oder ich bilde mir ein – wieder das Rascheln von Magdalenas Kleid zu hören. Wie es über ihre Beine streicht. In meinem Kopf ziehe ich sie an mich, spüre ihre Haut, wie momentan nur ihr Kleid ihre Haut spüren kann. Eine Gestalt huscht in den letzten Ecken meines Sichtfeldes an mir vorbei. Ich drehe mich um, doch mein Auge vermag es nicht, die Gestalt zu packen. „Ist da jemand?“, rufe ich in den Nebel hinein. Es raunt ein Rascheln zurück. In meinem Kopf schaut sich Magdalena unter ihrem schwarzen Schleier nach mir um. Vor meinen Augen vermischen sich Trugbilder und Wirklichkeit. „Magdalena? Bist du hier?“
Die alte Eiche mit der faltigen Rinde ragt über mich hinaus. In jeder Falte der Rinde ist eine Geschichte versteckt, von Liebenden, die sich an dieser Eiche trafen, die sich Worte in die Ohren säuselten und sich ihre Liebe auf dem schroffen Waldboden gestanden. Sie wurden erwachsen, heirateten, bekamen Kinder, verschieden in den Minen und im Kindbett. Sie alle liebten, sie alle sind nun tot.
Ich drücke meine Hand gegen die Stirn. Woher kommen diese düsteren Gedanken? Ehe ich mich wieder fassen kann, kommt ein Geräusch aus dem Nebel.
Wieder ist da das Bild von Fingern, die aus dem Nebel nach mir greifen. Magdalena steht im Nebel und sehnt sich nach meiner Berührung, nach meinen Lippen. Sie führt und ich folge. Sie duftet nach Verlangen und nach Sehnsucht. Oder bin ich es, der danach duftet? Dringt das Verlangen wie Schweiß aus meinen Poren?
Ich will dem Rascheln aus dem Nebel folgen. So kehre ich der Eiche, in der die Geschichten der Liebenden schlafen, meinen Rücken zu. Meine Gedanken strecken sich nach Magdalena aus. Hinter mir fühle ich, wie die Eiche emporwächst, wie sie droht, wie sie ihren Schatten auf mich fallen lässt, wie ein Tyrann schwebt sie hoch über mir.
Etwas fällt. Ist es der Schatten? Etwas landet auf meinem Rücken, etwas saugt sich fest, drückt mich nach unten. Mir wird schwarz vor Augen. Die Welt wankt, sie wabert. Doch bevor ich zu Boden falle, kann ich mich fangen. Die Welt steht wieder still. Nur scheint etwas in mir entfacht worden zu sein. Ein Glimmen, ein Schrei. „Magdalena?“, rufe ich in die dicken Nebelschwaden hinein. Schatten wandern. Aber Magdalena sehe ich nicht. Nur in mir das Glimmen.
Ein Schrei: „Magdalena?“ Ich rufe so laut, dass ich erwache. Mein Atem geht schwer, als würde etwas auf meiner Brust hocken. Ich blinzle in die Dunkelheit hinein.
Ich bin nicht im Wald.
Ich war nie im Wald.
Ich liege in meinem Bett umgeben von schweißnassen Laken.
Der Druck auf meiner Brust wird stärker. Wenn dieses Gewicht mich nicht immer tiefer in mein Federbett drücken würde, würde ich vor Entsetzen quieken. Der Druck auf der Brust kommt mit einer angsterfüllten Erkenntnis: Ich bin nicht allein in meinem Zimmer. Auf meiner Brust hockt der schattenhafte Umriss einer Frau. Eine Dame in schwarzem Kleid und Schleier zeichnet sich im Mondlicht ab.
„Magdalena?“ Dieses Mal schreie ich nicht. Es ist ein Seufzer voller gestillter Sehnsucht.
Magdalena legt einen behandschuhten Finger auf meine Lippen. Deutet an, ich solle leise sein. Und tatsächlich: Die Wände sind dünn. Im Nebenraum kann ich Jakobs Schnarchen hören. Sein röchelnder Atem dringt durch die Wände und verhallt in der Nacht. Wenn wir ihn nicht wecken wollen, müssen wir leise sein.
Magdalenas Handschuh fährt über meine Lippen. Das Leder ist glatt und weich. Ich kann mir nur vorstellen, wie ihre nackte Haut sich auf meinen Lippen anfühlen würde. Sie drückt mich nieder und ich lasse mich von ihr niederdrücken. Ihr Körper umarmt mich. Durch meine Nachtkleider hindurch kann ich erahnen, wo ihre Wollsocken noch ihre Beine umschließen, wo die Wollsocken aufhören und wo ihre Körpermitte mich berührt.
Ich weiß nicht, wie Magdalena in mein Zimmer gekommen ist, ich weiß nur, dass unsere Schicksale an der alten Eiche miteinander verschmolzen sind. Mir wird in diesem Augenblick zwischen Mondlicht und Bettlaken bewusst, dass alles, was ich wollte, genau jetzt passiert.
Sie streichelt über meine Brust. Ihre Handschuhe wandern über meine Nachtkleider. Schwarzes Leder über weißes Leinen. Sie beugt sich runter zu mir, ihr Atem streichelt meine Wange. „Was hast du angestellt, mein lieber Benjamin?“, flüstert sie. „Ich sollte doch gar nicht hier sein, weißt du?“
Ich will ihr sagen, dass es keinen anderen Ort gibt, an dem sie jetzt sein sollte; außer hier auf meiner Brust in der Umarmung aus Schwermut. Doch etwas hält die Worte in mir fest. Die Worte formen sich in meinem Kopf und bleiben irgendwo zwischen Herz und Kehle stecken.
Ihr Gewicht wandert nun von meiner Brust auf meine Beine, sie lastet auf meinen Knien, drückt meine Kniescheiben zur Seite.
„Ich sollte nun gehen, mein Schöner“, sagt sie, bleibt aber auf meinen Knien sitzen.
Die Angst, sie ziehen zu lassen, drückt stärker als die Angst etwas Falsches zu sagen. „Geh nicht“, presse ich hervor.
„Ich muss.“
„Aber unser Schicksal.“
„Es ist nur ein Traum. Du schläfst nur. Nichts von dem ist in der Wirklichkeit. Und schon gar nicht der Glaube, unser Schicksal sei im Guten miteinander verknüpft.“
Die Sehnsucht lastet nun schwerer auf mir, als Magdalenas Körper es jemals könnte. Mit aller Kraft, die in mir liegt, wage ich es zu fragen: „Gibst du mir, bevor du gehst, einen Kuss?“
„Nur einen. Aber du wirst ihn wieder vergessen, wenn der Traum vorbei ist.“ Sie hebt den Schleier, der schwärzer ist als die Nacht. Ihre Augen blitzen auf. Sie sehen aus wie der Nebel im Wald. Ihr Mund öffnet sich, so wie ein Türspalt, durch den man Geheimnisse belauschen kann. Ihre spitzen Zähne schimmern im Mondlicht. Sie beugt sich zu mir herunter. Dabei trägt sie ein solches Selbstbewusstsein in sich, wie es nur Menschen haben können, die in der Nacht, mitten in deiner verletzlichsten Stunde, auf dir sitzen und dich erdrücken.
Bevor sie mir einen Kuss geben kann, stammle ich: „Deine Augen – deine – deine Zähne.“ Stammeln ist die einzige Ausdrucksweise, die mir noch bleibt. Ich habe keine Angst, dass Magdalena mich verlässt. Ich habe Angst vor Magdalena selbst. Und doch fühle ich zur gleichen Zeit, wie dieselbe Angst mich zu ihr hinzieht.
Ich will nach ihr greifen, doch sie weicht von mir. Sie gleitet vom Bett. Ich steige ihr hinterher, greife nach ihrem Schleier. „Nur ein Kuss, ich vergesse ihn ohnehin wieder.“
„Bettel nicht. Du solltest nicht genießen, was wir hier tun.“
„Genießt du es nicht?“
„Ich genieße es zu sehr.“ Sie schluckt. „Benjamin, warum warst du heute Nacht im Wald?“
„Es war ein Traum, mehr war es nicht.“
„Ich sollte nicht hier sein. Und doch muss ich hier sein.“ Sie wendet sich zur Tür.
„Ist das hier auch nur ein Traum?“
Sie antwortet nicht.
„Magdalena? Ist das hier nur ein Traum?“ Meine Stimme ist heiser, als wäre ich erst jetzt erwacht. Meine Zuneigung zu Magdalena und meine Angst vor ihr prallen in mir aufeinander. Zuneigung und Angst vermengen sich. In mir fühle ich wieder dieses Glimmen. Ich kann dieses Brodeln in mir nicht einordnen. Ist es nun Angst oder ist es Liebe, was da in mir wächst? Das Gemisch aus Unerklärlichem baut sich schnell und rasend auf. Meine Emotionen wollen sich nicht ineinanderfügen, also werden sie zu Wut.
Die Wut kocht über. Meine Sicht verschließt sich. Ist es Magdalena, die ich dort sehe, verschwommen durch meine Augen voller Schlaf? Oder ist es Jakob, der in seinem Neid versunken im Türrahmen steht?
Eine wohlbekannte Stimme hallt durch den Raum. „Mit wem hast du dich unterhalten?“ Jakob muss wach geworden sein und steht nun in der Tür.
„Ich habe mich mit niemandem unterhalten.“
„Doch, du hast mit jemandem Gesprochen. Ich habe gehört, wie du nach Magdalena gerufen hast.“ Er trägt Erheiterung in seiner Stimme. „Hast du von Magdalena geträumt? Hast du deiner rechten Hand gezeigt, was für ein starkes Mannsbild in dir wohnt?“ Er prustet vor Lachen. Mir wird schmerzlich bewusst, dass Magdalena sich nie in meiner Schlafstube aufgehalten hat. Die ganze Zeit über hat Jakob dort gestanden. Ich setze mich auf die Bettkante, reibe mit Zeigefinger und Daumen an meinem Nasenbein.
Jakobs Lachen stoppt abrupt. Seine Stimme klingt plötzlich hell und freundlich. Fast, als sei er tatsächlich interessiert. „Hast du dich in deinem Traum an der alten Eiche umhergetrieben?“ Nein, da ist kein Spott in seiner Stimme.
„Wie bitte? – Woher?“
„Sag‘s schon. Warst du heute Nacht dort?“
„Das ist kein Spaß mehr! Woher weißt du, dass ich heute Nacht dort war?“
„Ich weiß es ja gar nicht. Aber so wie du dich ausdrückst, musst du wohl dort gewesen sein.“
„Ja, Herr Gott, ich war bei der Eiche. Aber nur im Traum. Wie kannst du davon wissen? Habe ich im Schlaf gesprochen? Hast du mich beobachtet wie ein Lüstling? Deinen eigenen Bruder?“
Jakob gluckst als Antwort und erwidert: „Lass mich dich ansehen.“ Er reißt mit einem Schwefelholz am Türrahmen. Das Zimmer wird in das bekannte Gelb des Feuers getaucht. Schwarze Schatten, gelbes Licht, das an der Oberfläche meines Gesichts kratz.
„Du siehst mitgenommen aus. Fahrig. Dann ist er also schon hier.“ Ich schlage gegen seine Hand, die mir das Schwefelholz ins Gesicht hält. „Verdammt, fahr zu Hölle mit deinen geheimnisvollen Nachrichten! Natürlich bin ich fahrig, wenn mein eigener Bruder mich in der Nacht beobachtet.“
„Sicher, ich gehe gleich wieder schlafen. Leg dich auch hin. Schlaf ein letztes Mal in Frieden, denn jetzt wird sich alles ändern, Benjamin.“ Er lacht wieder, diesmal nicht vor Belustigung. Diesmal ist pure Bosheit in seiner Stimme. „Dass du von Träumen heimgesucht wirst, ist der natürliche Lauf der Dinge. Sieh die kommenden angsterfüllten Nächte einfach als Naturgesetz. Aber dass du in deine Träume ausgerechnet die kleine Magdalena einbaust, verwundert mich.“
Mir ist bewusst, dass es der Neid ist, der da aus Jakob spricht. Er macht Witze aus seinem inneren Konflikt. Ich will ihm sagen, dass es keinen Konflikt gibt. Für Jakob liegt es nahe, dass es einen geben müsste. Er sieht zwei Brüder, der eine schuftet sich den Rücken kaputt, während der andere die Mühle erbt. Dennoch ist hier kein Konflikt gegeben. Der Ältere erbt immer die Mühle. Es ist klar geregelt, deutlich definiert. Ein Konflikt kann nicht entstehen, wenn wir uns an Regeln halten, die uns auferlegt wurden. Konflikte entstehen, wenn jemand die Entscheidungsmacht hat. Nur können weder Jakob noch ich entscheiden. Wir können uns nur unserem Schicksal fügen. Das alles will ich sagen, doch ich bleibe stumm.
Jakob verlässt nicht meine Schlafstube. Stattdessen scherzt er weiter über mich. „Träumt er von Magdalena. Der heiligen Jungfrau Magdalena. Ich habe gehört, sie legt sich für dich hin, wenn du ihr nur eine hübsche Blume mitbringst.“
Das Glimmen kommt wieder. Es ist nur der Neid, sage ich mir. Jedoch helfen meine milden Gedanken nicht, mich ruhig zu stimmen.
„Ich habe gehört, du kannst an ihr Fenster klopfen und sie schaut nicht einmal nach, wer dort steht, sie macht einfach auf und legt sich hin, für jeden, der da kommen mag.“
Es brodelt. Es schäumt.
„Sie hat Glück, dass ihre Mutter genau so eine Hure ist. Wenn das meine Tochter wäre, ich hätte sie schon längst vom Hof gejagt. So eine Schande ist sie für ganz Tegel.“
Mein Kiefer mahlt.
„Nun bin ich ja schon wach. Vielleicht sollte ich mal nachsehen gehen, was dran ist an den Gerüchten.“
Mein Nacken knackt.
„Ich bin mir sicher, sie sehnt sich nach ein paar starken Armen. Aber dass ausgerechnet du dir Hoffnungen bei ihr machst? Sogar Magdalena weiß, dass du ein fauler Nichtsnutz bist, der sich hinter seinen Zetteln versteckt und hübschen Frauen hinterher gafft. Nicht einmal die heilige Jungfrau Magdalena würde für dich die Beine spreizen.“
Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich bin wütend, ich bin ein Sturm, der den Wald verbrennt. Ich stelle mir vor, wie ich den Kerzenhalter packe, das Metall ist kühl, die Verzierungen schneiden in meine Haut. Ich stelle mir vor, wie ich den Kerzenhalter durch die Luft fahren lasse. Ich stelle mir vor, wie ich den Luftzug an meinem Ohr spüre. Ich stelle mir vor, wie der Kerzenhalter auf Jakobs Schädel einschlägt, wie die Knochen meines Bruders zermahlt werden. Das eine Auge verquollen vom Schlag, das andere reglos in die Luft starrend. Die Wut kocht über. Das Schwefelholz erlischt. Heute Nacht würde die Mühle mahlen.
Josefine Lyda, geboren 1995 in Hannover, lebt und arbeitet im Raum Potsdam/Berlin. Literarisch ist Josefine Lyda in der düsteren Phantastik und im Horror zu Hause, wagt jedoch auch immer wieder Ausflüge in angrenzende Genres.
© Gerrit Lühring
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Diese Geschichte beinhaltet:
Sexistische Sprache
Darstellung von Depressionen
Sexuelle Handlungen, bei denen es nicht um Zuneigung oder gegenseitigen Lustgewinn geht, sondern um Machtausübung
Explizite Darstellung von Mord
Darstellung von Insekten, insbesondere Maden