Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Schamanenkind eine prähistorische Novelle Gehe niemals allein fort, denn im Alleinsein lauert die Gefahr. Die Dämmerung trübt die Sicht, aber sie trübt auch die Sicht der Beute. Doch selbst im Schutz des Dämmerlichts ist Raban nicht imstande, eine Rothirschkuh zu erlegen. Denn Raban wird von seinen Erinnerungen verfolgt. Er ist ein Ausgestoßener, der sich in den Gedanken an das verliert, was er Awa angetan hat. In seine Einsamkeit und Schuld versunken, bemerkt Raban nicht, dass im Unterholz noch ein anderer Jäger lauert. Eine Kreatur, wie sie Raban noch nie zuvor gesehen hat. Und so wird der Jäger zur Beute. In der Novelle "Schamanenkind" treffen die Welt der Mittelsteinzeit und düstere Fantastik aufeinander. Tauche ein in eine Zeit, in der Menschen noch jagten und sammelten, um ihr Überleben zu sichern, und in der das Alleinsein den Untergang bedeuten konnte.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 52
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
FÜR GERRIT,
DER SICH EINEN ROMAN ÜBER DIE STEINZEIT WÜNSCHTE UND JETZTNUR EINE NOVELLE BEKOMMT
Eine Inhaltswarnung findet sich auf Seite →.
PROLOG
Kapitel EINS
Kapitel ZWEI
Kapitel DREI
Kapitel VIER
Kapitel FÜNF
Kapitel SECHS
Kapitel SIEBEN
Kapitel ACHT
Kapitel NEUN
Kapitel ZEHN
Kapitel ELF
EPILOG
Gehe niemals allein fort, denn im Alleinsein lauert die Gefahr.
Der Schmerz kam in Schüben. Die Schreie folgten.
Germa versuchte ihre Gedanken auf ihre schweißnasse Hand zu lenken, mit der sie die ebenso schweißnasse Hand ihres liebsten Ber fest umklammerte. Doch ihr Geist wanderte stetig zurück zu dem Druck in ihrem Unterleib. Am Rande ihrer Wahrnehmung hörte Germa die Anweisungen, die ihre Mutter ihr ins Ohr hauchte. Sie solle hecheln und sie solle pressen. Germas Atem gehorchte. Ihr Unterleib gehorchte. Sie hechelte und presste, doch sie konnte sich nicht selbst entscheiden. Ihr Körper führte und sie folgte. Achte nicht auf die Schmerzen. Achte auf seine feuchten Finger und deine nassen Handflächen. Achte nicht auf den Schmerz, versuchte sie sich selbst einzureden. Doch es gelang ihr nicht, ihre Gedanken an ihre Hand zu heften, während ein kleiner Mensch aus einer Körperöffnung gepresst wurde, in die für gewöhnlich ein oder zwei Finger reinpassten.
Aus der Ferne hörte sie, wie ihr liebster Ber Dinge vor sich hinplapperte: „Du machst das großartig“ und „Ich liebe dich.“ Doch seine Stimme schien weit weg und wurde übertönt von ihren eigenen Schreien. Während Germa schrie, hatte sich über den Rest des Zeltplatzes eine knisternde Stille voller Erwartung gelegt. Die Gemeinschaft hockte schweigend vor dem Zelt. Schreie gegenüber der Stille. So lange, bis ein weiteres Geräusch sich dazu gesellte: das quäkende Wimmern eines Neugeborenen, das noch nicht gelernt hatte, richtig zu weinen. Der Schmerz verblasste. Müdigkeit überfiel Germa und sie bekam kaum mit, was geschah.
„Schau nur, Ber, du bist jetzt ein Papa.“ Germas Mutter, die nun eine Großmutter war, lächelte Ber an. Er erwiderte das Lächeln und beide weinten in ihrer vollkommenen Zufriedenheit. „Wir haben jetzt eine Tochter. Schau nur, wie hübsch sie ist.“
Etwas Warmes, Schweres, Wunderbares wurde auf Germas Brust gelegt. Die Anspannung fiel von ihr ab und sie ließ sich in die Felle unter sich sinken.
„Was ist denn mit ihrem Fuß?“, fragte Ber in die Entspannung hinein. Augenblicklich durchflutete Germa erneute Anspannung. Warum, was war denn mit ihrem Fuß?
Germas Mutter lachte und Ber, der nun ein Vater war, lachte genauso. Freudenausrufe, Heiterkeit. „Lob den Göttern und lob den Geistern des Sees.“
Germa betrachtete ihre Tochter zum ersten Mal. Sie war schleimig. Ihr dunkles Haar klebte an ihrer Kopfhaut. Die Tochter sah aus, als wäre sie durch einen viel zu engen Kaninchenbau gepresst worden – was im Grunde auch stimmte. Sie mache einen Eindruck, wie ihn jedes Neugeborene machte: irgendwie hässlich, irgendwie wundervoll. Nur ihr linker Fuß war anders. Viel dünner als andere Babyfüße. Es fehlte der Speck und, anstatt nach unten zu zeigen, machte der Fußknöchel einen Knick, sodass die Fußsohle nach innen schaute.
„Das ist ja ein Wunder. Du bist ein kleines Wunder.“ Es waren die ersten Worte, die Germa von sich gab. Ber küsste den abgeknickten Fuß. Die Großmutter seiner Tochter tat es ihm gleich. Sie ließen jedes einzelne Mitglied ihrer Gemeinschaft nacheinander in das Zelt. Sie alle küssten das Füßchen des Töchterleins, jubelten und weinten. Denn Germa hatte der Gemeinschaft eine Schamanin geboren.
Germa nannte ihr Töchterchen Senna. Senna wuchs auf mit Menschen, die jagten, die sammelten, die kleine nützliche Werkzeuge aus Stein schlugen und aus Geweihen schnitzen. Jeden Herbst suchte Sennas Gemeinschaft die weiten Flächen auf, in deren Erde Haselsträucher wuchsen und in deren Seen Fische lebten. Und jedes Mal, bevor sie ihre Zelte aufschlugen, legte Germa für ihre Tochter einen Stein an den Fuß eines Haselstrauchs. Als es mehr Steine waren, als Senna mit ihren Händen und Füßen zählen konnte – sie musste sogar die Hände und Füße von Ber mitzählen –, sollte Germa nie wieder die Haselnusssträucher sehen. Dafür sollte Senna selbst Mutter werden, sie sollte die Geschichte der Gemeinschaft in sich tragen, sie sollte hören, was die Sterne sagten, und sie sollte Zwiesprache mit den Göttern und Geistern halten.
Die Dämmerung trübt die Sicht, aber sie trübt auch die Sicht der Beute.
Der hohe Ton einer gespannten Sehne eines Bogens drang an Rabans Ohr. So leise, dass nur er es hören konnte. Die Herbstluft zog in sein Gewand und an seinen Beinen herauf. Die schwarz gekräuselten Haare stellten sich auf.
Groß und weit spannte sich der Himmel mit seiner gesamten Wucht über ihm. Am Boden umgab ihn die Ebene in ihrer Unendlichkeit. Sie war mit Haselsträuchern gespickt. Nicht dafür gedacht, um sich vor seinen Feinden zu verstecken, aber zu unübersichtlich, um Gefahren erkennen zu können.
Getier kroch wie der Nebel durch das Wurzelwerk. Knackende Äste und sich im Wind wiegende Gräser umgaben Raban. Überall kroch das Leben umher und doch hatte sich Raban noch nie so einsam gefühlt.
Die Ebene aus Haselstrauchwerk dehnte sich in alle Winkel des Seins aus. Hinter jedem Strauch kam ein weiterer Strauch. Ihre bloße Menge machten Raban bedeutungslos. Ohne die Gemeinschaft flatterte er wie ein Haselblatt in den unendlichen Weiten, die ihm nichts entgegengebrachte als Gleichgültigkeit und Gefahr.
Zu diesem Zeitpunkt wusste Raban noch nicht, was hinter ihm lauerte. Er war ein Gefangener seiner Gedanken und hörte nicht, dass er nicht allein war.
Gehe niemals allein fort, denn im Alleinsein lauert die Gefahr.
Eine Rothirschkuh brach durch das Gebüsch.
Raban richtete den Pfeil auf das Tier. Er wollte schießen, doch seine Hand ließ die Sehne nicht los. Der Pfeil zitterte. Der große Jäger, der sonst all seinen Zorn und seinen Stolz in das Töten von Tieren schmetterte, konnte dieses Mal nicht schießen. Tränen quollen aus seinen Augen und verschleierten seine Sicht.
Die Tränen rollten sein Gesicht herunter, vermengten sich mit dem Nebel und der Traurigkeit. Raban fühlte sich nicht nur einsam, sondern er war es auch.
Die Rothirschkuh starrte wachsam in die Haselsträucher hinein. Sie zupfte die Kräuter vom Boden. Ihre Ohren zuckten. Auch sie bemerkte nicht, dass ein Jäger lauerte. Genau wie Raban, der nicht bemerkte, dass er selbst die Beute war.