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Europas Musterschüler war England bekanntlich nie. Hinter dem schönen Schein von sattgrünem Rasen, vornehmen Palästen und süßem Gebäck findet sich landauf, landab so manche Überraschung. Wussten Sie zum Beispiel, dass Engländer einmal im Jahr große Käselaibe einen Hang herunterrollen? Dass sie mit einem Pfannkuchen in der Pfanne Straßen entlanglaufen? Und dass Big Ben zwar zuverlässig die Stunde schlägt, Engländer aber trotzdem Uhrzeiten nur als Richtwerte verstehen? Dasselbe gilt für rote Ampeln: Wer als Fußgänger auf Grün wartet, droht definitiv zu vereinsamen. In 55 Kapiteln bekommen Sie in diesem Buch Einblicke in die skurrilen Eigenarten einer Inselnation, in die Geheimnisse des dortigen Alltags. Sie erfahren, warum hier so vieles erfunden wurde – die Eisenbahn, die Ampel oder das IPA -, aber das meiste auch wieder vor die Hunde ging. Und sie werden lesen, was die Queen zum Mittag trinkt und warum andere lieber in Fish & Chips versinken. Eine humorvolle Liebeserklärung an die versteckten Eigenarten eines Landes, das vielleicht gerade durch sie so sympathisch geworden ist
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Seitenzahl: 191
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Michael Pohl ist Reisejournalist, Zeitungsdesigner und Großbritannienexperte und gondelt sowohl in diesen Funktionen als auch ganz privat immer wieder durch die Welt. Meist ist er irgendwo jenseits des Ärmelkanals anzutreffen, wo er selbst gelebt hat und wo er seit Jahren für Reportagen und Bücher Land, Leute und das politische Geschehen beobachtet.
Michael Pohl schreibt für mehrere Tageszeitungen und Onlineauftritte. Als Buchautor befasst er sich vor allem mit den Britischen Inseln.
MICHAEL POHL
Was Sie dachten
NIEMALS
über
ENGLAND
wissen zu wollen
55 vereinigte Einblickein ein Königreich
© Conbook Medien GmbH, Neuss, 2022
Alle Rechte vorbehalten.
www.conbook-verlag.de
Textredaktion: Kanut Kirches, Köln
Einbandgestaltung: Weiß-Freiburg GmbH, Grafik und Buchgestaltung unter Verwendung der Motive von Zryzner/Shutterstock.com und neil langan/Shutterstock.com
Satz: Röser MEDIA, Karlsruhe
Druck und Verarbeitung: Multiprint, Bulgarien
eBook by Roeser-Medienhaus.de
ISBN: 9783958893504
893344 01 22 9
Die in diesem Buch dargestellten Zusammenhänge, Erlebnisse und Thesen entstammen den Erfahrungen und/oder der Fantasie des Autors und/oder geben seine Sicht der Ereignisse wieder. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Unternehmen oder Institutionen sowie deren Handlungen und Ansichten sind rein zufällig. Die genannten Fakten wurden mit größtmöglicher Sorgfalt recherchiert, eine Garantie für Richtigkeit und Vollständigkeit können aber weder der Verlag noch der Autor übernehmen. Lesermeinungen gerne an [email protected].
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Vorwort
1. Sorry, ich bin Engländer
2. Engländer sind handzahm
3. Engländer reden nur übers Wetter
4. Engländer brauchen immer einen englischen Pub
5. England könnte die Ampeln auch abschaffen
6. Engländer beschweren sich nie
7. Engländer lieben es morgens deftig
8. Engländer nuscheln sich durchs Land
9. Engländer wollen sich nicht ausweisen
10. Engländer sind der Nabel der Welt – glauben sie
11. Engländer mögen schales Bier
12. Engländer lieben es anspruchslos
13. Engländer sind süchtig nach Outdoor-Essen
14. Engländer sind königstreu
15. Engländer rauchen und rauchen und rauchen
16. Engländer sind abhängig von Chips und Pommes
17. Engländer schweigen sich in der U-Bahn an
18. Engländer machen gern frei
19. Engländer sind Nationalisten
20. Die Uhren der Engländer gehen anders
21. Engländer wetten auf alles
22. Engländer lieben Jogginghosen
23. Engländer stehen auf Underdogs
24. Engländern ist alles recht
25. Was Engländer auf den Tisch bringen, ist … anders
26. Von wegen Oxford – Engländer verstehen ihre eigene Sprache nicht
– Warum Sie immer wieder nach England reisen sollten
27. Engländer halten die Erinnerung wach
28. Engländer sollten besser nie krank werden
29. Engländer hängen am Beutel
30. Engländer müssen sich zwanghaft anstellen
31. Engländer pflegen seltsame Bräuche
32. Engländer lieben hohe Strafen
33. Engländer rasten vor der Hochzeit aus
34. Engländer sprechen nur Englisch
35. Engländer nehmen nichts mehr für bare Münze
36. Engländer meinen es nicht so
37. Für Engländer ist der Zug abgefahren
38. Engländer wollen gedrillt werden
39. Engländer frieren nicht
40. Engländer arbeiten gegen den Klimawandel. Nicht.
41. Wenn Engländer trinken, dann trinken sie
42. U-Bahn fahren ist für Engländer eine Herausforderung
43. Engländer träumen von der großen eigenen Welt
44. Engländer lieben Nadelstreifen
45. Im Bad ist der Engländer Anachronist
46. In England geht man zum Essen ins Theater
47. Viele Engländer haben kein Zuhause
48. Engländer haben es nicht so mit der Uhrzeit
49. Im Pub sind Engländer Chauvinisten
50. Engländer sehen sich links im Recht
51. Engländer lieben nicht nur Last Christmas
52. Engländern muss alles aufgemalt werden
53. Engländer spielen Brennball mit Teepause
54. Engländer prügeln sich gern
55. Engländer haben eine weibliche Seite
Nachwort
Alles so schön geordnet in England? Autos fahren stets links, die Pubs füllen jedes Glas bis an den Rand, Big Ben schlägt die Zeit, komme, was wolle, die Post wird im Auftrag des Königshauses geliefert, und der Ärmelkanal ist die wichtigste aller Grenzen – nämlich die zum Rest Europas.
Aber was macht diese schöne feste Ordnung aus den Menschen? Möglicherweise entlädt sich der ganze Frust darüber ja in absonderlichen Bräuchen. Wo sonst rollen Menschen aus rein sportlichen Gründen einen großen Käselaib einen Hang hinab und rennen ihm hinterher? Oder laufen mit Pfannkuchen in der Bratpfanne durch ein Dorf um die Wette? Feiern einen Menschen, der vor Jahrhunderten mal das Parlament in Westminster in die Luft jagen wollte? Und wer genau hinsieht, merkt, dass der stille Protest sogar bereits an jeder einzelnen Fußgängerampel beginnt. Denn dort gehen viele Engländer absichtlich bei Rot. Soll man sich von einem elektrischen Licht vorschreiben lassen, was man zu tun und zu lassen hat? Das hat ja schließlich über Jahrzehnte selbst die EU nicht geschafft.
Die Engländer, eine Nation der wohlbeherrschten, stets vorbildlichen Zeitgenossen? Vergessen Sie es!
Aber was ist so schlimm daran? Nichts! Meist sind es ja genau die kleinen Skurrilitäten, die den Charme einer Nation ausmachen. Es sind die verborgenen Eigenarten, von denen außerhalb des Landes nie jemand etwas erfährt. Das ist auch in England nicht anders.
Dieses Buch soll Sie keineswegs dazu animieren, niemals dorthin zu reisen, auch wenn Sie es vielleicht gerade deswegen gekauft haben, weil Sie im Buchladen nicht so genau aufs Kleingedruckte geschaut haben. Im Gegenteil: Engländer sind überaus sympathische Menschen, vielleicht mit der einen oder anderen Besonderheit. Aber ist das nicht bei jedem Menschen so, ganz egal, woher er kommt? Wie in jeder guten Ehe schleichen sich mit der Zeit Angewohnheiten ein, die Außenstehende beim ersten Anblick vielleicht eher verstören – ohne die aber eine Beziehung um einiges langweiliger wäre.
Und bevor Sie auf den nächsten Seiten beginnen zu stutzen: Dieses Buch erzählt über England, es ist aber auch oft von Großbritannien die Rede und manchmal auch vom Vereinigten Königreich – das ist keine Ungenauigkeit, sondern Absicht. Es geht im Kern um Engländer, doch oft lässt sich das in Großbritannien (zu dem auch Wales und Schottland gehören) nicht so einfach herunterbrechen, und manches Thema bezieht sich schlichtweg auf die ganze Nation – das Vereinigte Königreich, das neben Großbritannien auch noch Nordirland umfasst. Wie gesagt: alles schön geordnet auf der Insel.
Michael Pohl
SORRY, ICH BINENGLÄNDER
Es ist bezeichnend, dass der in Ehrfurcht gealterte Song Hard to Say I’m Sorry von einer Band mit dem Namen Chicago gesungen wurde. Vor allem aber von einer Gruppe, die aus den USA stammt. Niemals wäre eine englische Band oder eine mit dem Namen einer britischen Stadt auf solch einen Refrain gekommen. Schließlich fällt es Engländern alles andere als schwer, sich zu entschuldigen. Denn sie tun dies von frühester Kindheit an, Tag für Tag, ihr Leben lang. »Sorry« dürfte das mit Abstand meist genutzte Wort im englischen Alltag sein, gefolgt von der etwas höflicheren Form »excuse me«.
Der Spaß beginnt meist schon am Bahnhof, in der U-Bahn oder im Bus. Für irgendetwas entschuldigen sich die Betreiber des Nahverkehrs immer, und sei es nur für eventuell entstandene Unannehmlichkeiten. Das müssen gar nicht mal Verspätungen oder Zugausfälle sein. »Inconveniences« sind schon Gleisverlegungen, rote Ampeln oder Signale – oder zu häufige Nennungen des Wortes »Inconvenience«. Man entschuldigt sich in England für alles, fürs Anrempeln, für eine Frage, fürs Zuspätkommen oder auch einfach nur fürs pünktliche Erscheinen. Oder dafür, dass man sich gerade für nichts entschuldigen kann.
Eine Umfrage ergab vor einigen Jahren, dass sich Briten durchschnittlich achtmal pro Tag entschuldigen. Jeder achte tut dies sogar bis zu 20-mal täglich. 36 Prozent der Briten entschuldigen sich selbst für Dinge, die sie gar nicht zu verantworten haben, sondern andere. Damit liegen sie international mit an der Spitze. Eine andere Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov untersuchte die Unterschiede zwischen Briten und Amerikanern beim Entschuldigen. Das Ergebnis: Auf zehn amerikanische Sorrys kommen 15 britische. Dieselbe Umfrage ergab allerdings auch manche Gemeinsamkeit: Knapp drei Viertel der Menschen aus beiden Ländern würden sich dafür entschuldigen, jemanden zu unterbrechen. Eine andere Umfrage zählte viermal so viele Sorrys im britischen Englisch verglichen mit dem der Amerikaner.
GWR, ein Eisenbahnbetreiber, wurde 2018 in der New York Times vorgerechnet, sich im Schnitt 110-mal am Tag zu entschuldigen – und damit an der Spitze der britischen Eisenbahnbetreiber zu stehen. Die bringen es insgesamt auf mehr als 450.000 Entschuldigungen pro Jahr, wie die Website sorryfortheinconvenience.co.uk gezählt hat. Wer in England etwas auf sich hält, entschuldigt sich – besser einmal zu viel als zu wenig.
Die Sozialanthropologin Kate Fox wagte vor Jahren für ihr Buch Watching the English ein Experiment: Sie rempelte absichtlich Hunderte Menschen in englischen Städten an und ermutigte Kollegen, dasselbe in anderen Ländern zu tun. Das Ergebnis: Rund 80 Prozent der englischen Probanden entschuldigten sich dafür, dass sie angerempelt wurden. Dabei waren ja gar nicht sie schuld, sondern Fox. Menschen aus anderen Ländern taten dies deutlich weniger oft.
Die Wahrheit liegt allerdings, wie so oft, im Ungenauen. Während »Entschuldigung« in vielen Ländern ernst gemeint ist und aus ganzem Herzen eine Form der Reue darstellt, ist »sorry« in England zu einer Art geflügeltem Wort geworden. Es wird eher beiläufig, mehr reflexartig verwendet. Briten mögen sich oft entschuldigen – dass sie reuiger sind, bedeutet dies keinesfalls.
ENGLÄNDERSIND HANDZAHM
Wenn die Corona-Krise eine These untermauert hat, dann diese: Engländer nehmen es nicht so genau mit dem Händewaschen – eine steile Behauptung? Dann gehen Sie mal in England auf eine öffentliche Toilette und beobachten, wie viele Besucher nach dem eigentlichen Geschäft am Waschbecken einen Halt einlegen. Egal wo, egal wann: Die Zahl hält sich in Grenzen. Das erklärt vielleicht ein bisschen den steilen Anstieg der Corona-Fälle im Frühjahr 2020, bei denen Großbritannien in rasantem Tempo den damaligen europäischen Spitzenreiter Italien einholte.
Eine Studie wollte bereits einige Jahre vor der Pandemie Licht ins Dunkel dieser heiklen Hygieneangelegenheit bringen. Gefragt wurden damals Nutzer von Autobahnraststätten in Großbritannien, ob sie ihre Hände nach dem Aufsuchen der Toiletten gewaschen hatten. Fast alle – 99 Prozent – gaben an, dies getan zu haben. Elektronische Sensoren aber belegten, dass tatsächlich lediglich 32 Prozent der Männer und 64 Prozent der Frauen ihre Hände gewaschen hatten. Viele tun es wie selbstverständlich nicht – aber niemand würde es zugeben.
Das ist umso dramatischer, wenn man eine weitere Studie aus dem Jahr 2010 hinzuzieht: Damals wurden die Hände von Pendlern in öffentlichen Verkehrsmitteln auf Fäkalkeime untersucht – in 28 Prozent der Fälle wurden die Initiatoren der Studie fündig. Das erklärt vielleicht eine weitere Zahl: In Großbritannien gibt es Jahr für Jahr mehr als eine Million Lebensmittelvergiftungen. Wissenschaftler glauben, dass etwa ein Drittel der Fälle von Magen-Darm-Erkrankungen durch die Beachtung grundlegender Händehygiene verhindert werden könnte. Das hätte nicht nur einen gesundheitlichen Vorteil, sondern auch einen ökonomischen. Studien zufolge kostet die britische Wirtschaft der Ausfall von Mitarbeitern durch Lebensmittelvergiftungen jährlich rund 1,5 Milliarden Pfund. Und viele Briten hätten womöglich mehr von ihren Urlauben: Bereits 2003 stellten Forscher fest, dass Briten viel öfter unter Durchfall auf Reisen leiden als andere Europäer sowie Australier und Amerikaner.
Nun ist Händeschütteln unter Engländern nicht weit verbreitet – aber es genügt im Zweifelsfall eine Türklinke, um Keime in Windeseile weiterzureichen. Angesprochen auf die – wissenschaftlich belegte – mangelnde Handhygiene werden Briten indes ungern. Lediglich der Drang zum Desinfektionsmittel hat während der Corona-Pandemie zumindest ein wenig daran ändern können.
Welchen Effekt konsequentes Händewaschen in Großbritannien aber letztlich hätte, ist nicht ganz sicher – denn spätestens beim Händetrocknen kommt ein weiterer kritischer Punkt zum Tragen. Es gibt fast im gesamten Land keinerlei Papierhandtücher auf öffentlichen Toiletten, sondern Lufttrockner, vor allem jene eines ehemals britischen Staubsaugerherstellers, der seinen Sitz in Brexit-Zeiten kurzerhand nach Singapur verlagerte, nicht ohne zuvor noch mal massiv die Anti-EU-Kampagne zu unterstützen. Händetrockner aber, das finden Wissenschaftler in immer neuen Studien heraus, sind regelrecht Bakterienschleudern. Forscher der University of Leeds etwa stellten 2014 fest, dass Händetrockner 27-mal mehr Bakterien im Raum verteilten als Papierhandtücher. Der Grund ist simpel: Besucher von Toiletten waschen sich nicht richtig die Hände, die Lufttrockner verteilen die noch auf den Händen vorhandenen Keime großflächig im Raum – oder im Händetrockner selbst.
Wahrscheinlich sagen sich deswegen so viele Briten: besser gar nicht die Hände waschen.
Harte Fakten
So nachlässig Engländer beim Toilettenbesuch sein mögen – in Restaurants legen sie Wert auf höchste Transparenz. Seit 2008 gibt es das Food Hygiene Rating, bei dem sich lebensmittelverarbeitende Betriebe nicht nur einer regelmäßigen Prüfung unterziehen müssen – sie sind auch noch angehalten, das Ergebnis auf einem großen grünen Aufkleber an der Tür zu präsentieren. Die Betriebe werden anhand unterschiedlicher Hygienevorschriften von 0 (dringend Verbesserungen notwendig) bis 5 (sehr gut) eingestuft. Das Ergebnis ist verblüffend: Im ganzen Land gibt es überwiegend Bewertungen von 4 und 5 – denn wer weniger Punkte erhält, ist im eigenen Interesse darauf bedacht, nachzubessern und eine Nachprüfung zu erbitten. Andernfalls drohen die Gäste auszubleiben.
ENGLÄNDER REDENNUR ÜBERS WETTER
Die ganze Wucht des englischen Wortschatzes zeigt sich bei Konversationen übers Wetter. Eigentlich kennt der englische Alltag nur zwei Zustände – entweder es regnet (weniger oft als manche behaupten) oder es regnet nicht (selten dann, wenn man es wirklich braucht). Aber für Engländer sind die Nuancen entscheidend. So kann es zum Beispiel »chilly« sein, also kühl (was es irgendwann am Tag meistens ist), es kann »drizzle« geben (Nieselregen, auch nicht wirklich selten), es regnet mitunter »cats and dogs«, wie der Brite sagt, also in Strömen. Oder aber es ist auf der anderen Seite »unbearably hot«, also unerträglich heiß. Was meist bei Temperaturen ab 20 Grad der Fall ist. Viel entscheidender aber ist: Früher oder später kommt es bei einer Konversation zwischen zwei beliebigen Engländern zwangsläufig zu diesem Thema. Das Wetter ist mit großem Abstand Lieblingsgespräch auf der Insel – und sei es nur in Form der Standardfloskel: »Lovely day, isn’t it?«
Eine Studie enthüllte im Jahr 2018, dass Briten vier Monate ihres Lebens damit verbringen, übers Wetter zu reden. An einem typischen Tag kommen sie im Durchschnitt dreimal auf dieses Thema, gab die Mehrheit der 2.000 Befragten an. Darüber hinaus posten Erwachsene wöchentlich im Schnitt sechs Kommentare in sozialen Medien, die einen Wetterbezug haben. Elf Minuten pro Woche verbringen sie damit, den Wetterbericht entweder im Fernsehen, in einer App oder im Internet zu checken. Laut Umfrage reden dreimal mehr Menschen beim Smalltalk über dieses Thema als über eine aktuelle TV-Sendung oder ein Sportevent. Ein Viertel der Befragten gab sogar zu, davon besessen zu sein, über das Wetter zu reden.
Das ganze Gerede über Sonne, Regen und aufziehende Gewitter hat in der Regel nur einen Haken: Es stimmt selten, was morgens über den Verlauf des Tages herumphilosophiert wird. In vielen Ecken Englands ändert sich das Wetter derart schnell, dass ein kurzes Regenband die schönste Wettervorhersage zunichtemachen kann. Und es auch regelmäßig tut. Dazu kommt ein gewisses Spektrum in der Einschätzung von Wind, Temperaturen und Regenmengen. Während 10 Grad im Norden des Landes durchaus als Sommertag gewertet werden können, holt man im Süden dann mitunter bereits die Daunenjacke aus dem Schrank. Die BBC glänzt im Sommer meist bereits ab 20 Grad mit Hitzewarnungen und rät, das Haus keinesfalls ohne Wasserflasche zu verlassen. Auch dies wird dann sehr schnell zum Smalltalk-Thema – und das Frühstücksfernsehen füllt ganze Sendungen damit.
Die Briten und das Wetter? Die wohl glücklichste Beziehung, die man sich auf Erden vorstellen kann. Das könnte vor allem einen Hintergrund haben: Es gibt abseits vom Wetter unendlich viele Tabuthemen. So reden Engländer beim Smalltalk unter keinen Umständen über Politik. Sie sprechen keine Themen an, die das Gegenüber in irgendeiner Weise verletzten könnten – Familienstand, Vergangenheit, Krankheiten, geschlechtliche Gesinnung und vieles mehr. Und auch der Beruf ist zumindest anfangs tabu. Thematisiert wird er eigentlich nur, wenn es sich durch eine ungeschickte Bemerkung nicht mehr vermeiden lässt. Wer mit dem Wetter durch ist, hangelt sich bestenfalls noch zum Fernsehprogramm des Vorabends, zur jüngsten Netflix-Serie oder irgendeinem Sporttermin, sei es Tennis, Rugby, Cricket oder Fußball. Niemals aber artet ein solches Gespräch in grundlegenden Debatten über das große Ganze aus. Stellen Sie sich das mal in einer deutschen Eckkneipe vor, in der mitunter tagtäglich das politische System Deutschlands neu erfunden wird.
Vielleicht aber wäre so ein kleines bisschen Politik an Englands Tresen manchmal auch nicht ganz so schlecht. Der Brexit etwa war Thema in sozialen Medien, im Fernsehen und in Tageszeitungen. Aber im Pub um die Ecke? Da lief in den entscheidenden Monaten meist eher das aktuelle Premier-League-Spiel. Was die »Leave«-Kampagne log, erreichte die Barhocker oft nicht. Was die »Remainer« vergebens an Fakten an den Mann zu bringen versuchten, prallte spätestens an den Eingangstüren der Pubs ab. Das politische System in England – es könnte durch ein bisschen inhaltlich qualifizierteren Smalltalk vielleicht ganz anders aussehen.
Aber
Nebel und Regen sind die Synonyme für das englische Wetter. Und wahrscheinlich wäre der englische Rasen auch bei Weitem nicht so schön grün, wenn ihn 365 Tage im Jahr die Sonne braten würde. Doch das vermeintlich schlechte Wetter in England ist eine Legende. Genau genommen ist es im Schnitt sogar besser als in Deutschland. So gibt es im Vereinigten Königreich durchschnittlich 153 Regentage im Jahr, wobei die als solche definiert sind, an denen in irgendeiner Weise Niederschlag von mehr als einem Millimeter fällt. Das muss kein Dauerregen sein. In Deutschland sind es laut Statistik je nach Region zwischen 160 und 260 Regentage jährlich.
ENGLÄNDER BRAUCHENIMMER EINEN ENGLISCHENPUB
Der Pub, so heißt es, sei das Wohnzimmer der Engländer. Genau genommen ist er aber viel mehr: nämlich zugleich eine Art Ferienwohnung. Denn: Egal, wohin auf der Welt ein Engländer reist – der Pub ist schon dort. Manchmal hat man den Eindruck, das halbe Land habe früher oder später die eigene Insel verlassen, um irgendwo auf dem Globus eine typisch englische Kneipe zu eröffnen. Und die andere Hälfte reist im Urlaub hinterher, um dort zumindest die Abende zu verbringen. Mitunter auch mehr Zeit des Tages.
Paul, ein Freund von mir aus Südengland, fand kürzlich während einer Reise nach Teneriffa mit einem beneidenswerten Gespür gleich drei englische Pubs in einem einzigen Ort, in denen er abwechselnd an jedem einzelnen Abend anzutreffen war. In einem pflegte er sogar zu speisen – Fish and Chips. Laura, eine Freundin aus London, sah vor Jahren bei einem Kurztrip nach Rom weder das Kolosseum noch den Petersdom; dafür aber schaffte sie gleich vier Pubs. »My home is my castle«, sagt der Deutsche dem Briten als Sprichwort nach. In Wahrheit ist das Zuhause der Briten aber etwas ganz anderes: der Pub.
Statistiken rüttelten insofern vor Jahren eine ganze Nation wach: Innerhalb von nur zehn Jahren soll die Zahl der Pubs in Großbritannien um fast ein Viertel gesunken sein – auf inzwischen rund 48.000 in Großbritannien, davon allein 40.000 in England. Obwohl Kneipen immer voll sind und auch gute Geschäfte machen, schlossen viele kleine Pubs für immer die Türen. Viel wurde seitdem diskutiert und geforscht, woran das Kneipensterben bei ungebremstem Durst wohl liegen möge. Am Rauchverbot, mutmaßten einige. Denn seit der Einführung eines Gesetzes im Jahr 2006, das Rauchen am Arbeitsplatz – also auch in Kneipen – untersagt, ging die Zahl der Pubs spürbar zurück. Allerdings fiel Großbritannien zur selben Zeit auch ganz unabhängig vom Rauchen in eine Rezession, die Arbeitslosigkeit stieg, die Menschen hatten schlichtweg weniger Geld zum Vertrinken. Genauso wenig hatte offenbar vier Jahre zuvor der Fall der Sperrstunde in England eine Auswirkung auf den Umsatz der Branche. Bis zum 1. November 2002 mussten Kneipen in England konsequent um 23 Uhr schließen. Eine Uhrzeit, die sich allerdings in den Köpfen vieler Pub-Besucher so eingebrannt hat, dass sich etliche bis heute daran halten. Und bis 23 Uhr tapfer ein Pint nach dem anderen bestellen.
Dazu kommt ein weiteres Phänomen: Kneipen machten zwar in Reihe dicht – der Umsatz der Branche aber sank seitdem nicht. Britische Pubs steuerten im Jahr 2018 ganze 23,1 Milliarden Pfund Umsatz zur britischen Wirtschaft bei. Auch die Zahl der Beschäftigten sank nicht, sondern stieg sogar leicht. Allein: Die Briten trinken nicht mehr im kleinen Gasthaus um die Ecke. Es zieht sie in die großen Ketten, in denen es bis spät abends zu essen gibt, in denen neben einem Dutzend oder mehr Sorten Bier auch Cocktails, Longdrinks und Shots ausgeschenkt werden, wie in England die kurzen hochprozentigen Drinks heißen. Die Pub-Ketten sind die Gewinner einer veränderten Branche.
Während der Corona-Krise offenbarte sich in Großbritannien einmal mehr die große Liebe einer Nation zum Pub. Im ganzen Land waren, wie fast überall auf der Welt, Geschäfte und Schulen geschlossen, Flugzeuge blieben am Boden, Innenstädte waren verwaist, Intensivstationen hoffnungslos überfüllt. Aber worüber diskutierten viele Medien teils über Wochen? Über die Forderung von Wirten, endlich wieder ihre Pubs öffnen zu dürfen. Dabei warnten Wissenschaftler prompt: Der Pub sei genau das Umfeld, das das Virus zur Verbreitung benötige – enge Räumen, in denen viel gelacht und geredet werde. Der Independent zitierte einen Wissenschaftler mit einer ernüchternden Aussage: »Wenn Sie mich fragen, ob ich eher in einem Flugzeug fliegen oder in einen Pub gehen würde – ich würde eher das Flugzeug wählen.« In mehreren Städten, unter anderem in Preston und Aberdeen, machten Experten Pubs im Sommer 2020 für eine erneute Zunahme der Corona-Fälle verantwortlich. So oder so: Um zu einem guten Pub zu kommen, könnten Engländer eigentlich ein Leben lang im eigenen Land trinken, ohne nach Teneriffa, Rom oder in andere Orte reisen zu müssen. Die University of Waterloo in Kanada stellte 2016 die Ergebnisse eines Projekts vor, das die kürzeste Verbindung zwischen allen 24.727 damals im Kneipenverzeichnis Pub Galore gelisteten Gasthäusern aufzeigte. Demnach lassen sie sich allesamt bei einer 45.495 Kilometer langen Tour besuchen. Ein weiter Weg – sogar mehr als der Umfang der Erde (40.074 Kilometer). Der durchschnittliche Abstand zwischen jedem Pub ist der Untersuchung zufolge zu Fuß eine Stunde – es gibt demnach aber auch Trockenphasen. Die längste ist eine 435 Kilometer lange Strecke zwischen Durness und Shetland, zu Fuß beziehungsweise mit dem Schiff rund 50 Stunden. Wobei man aber auch auf dem Wasser nicht trocken bleiben muss: Auf zwei der im längsten Pub Crawl der Welt enthaltenen Fähren gibt es Alkohol zu trinken.
Die Universität betonte, dass das britische Pub-Problem als »Mittel zur Entwicklung und Erprobung von allgemeinen Optimierungsmethoden« verwendet worden sei, die breite Anwendung in Wissenschaft, Industrie und Handel fänden. Man habe nicht die Zahl der Wanderkneipenliebhaber erhöhen wollen. Ob das wohl geklappt hat?
Gut zu wissen
Dank Fernsehserien wie Inspektor Barnaby oder Lewis schwärmen viele vom kleinen englischen Pub um die Ecke. Doch: Die meisten gehören großen Ketten, oft traditionellen Brauereien oder Unternehmen, die daraus entstanden sind. Oft gleichen sich Einrichtung, Speisekarte und Konzept in den einzelnen Häusern, wobei viele Betreiber Wert auf einen individuellen Anstrich legen. Greene King aus Suffolk etwa unterhält in Großbritannien insgesamt 3.100 Pubs und Restaurants, Punch Pubs 1.300 Kneipen, JD Wetherspoon fast 900. Der größte Betreiber ist die Ei Group mit insgesamt 5.000 Pubs im ganzen Land.
ENGLAND KÖNNTEDIE AMPELN AUCHABSCHAFFEN
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