Was war, ist wahr - Tobias Kaestli - E-Book

Was war, ist wahr E-Book

Tobias Kaestli

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Beschreibung

Was der Autor aus seinem Leben erzählt, ist sowohl individuell als auch allgemein, sowohl persönlich-privat als auch Teil der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Geschichte enthält familiär bedingte Züge und ist doch vor allem zeitbedingt; sie ist typisch für einen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen und in günstigen Umständen aufgewachsenen Schweizer, der die Spannung zwischen der eigenen Privilegiertheit und der Armut und Not anderer Menschen spürt. Der Ausbruch aus dem bürgerlichen Milieu führt während des Studiums in der Zeit der Achtundsechziger Bewegung ins linksradikale Lager. Aufenthalte in Paris, London, Kalifornien und Ghana eröffnen eine neue, differenziertere Sicht auf die Welt.

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Seitenzahl: 716

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Tobias Kaestli

Was war, ist wahr

Erinnerungen, Teil I

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Was war, ist wahr

Das Böse liegt hinter uns – und wo bleibt das Gute?

Immer wieder Krieg – was ist dagegen zu tun?

Kritik und Ideologie – ist das eine ohne das andere zu haben?

Geschichten und Geschichte – kann man sagen, was wirklich ist?

Unsicherer Kurs – ist Selbstverwaltung ein erstrebenswertes Ziel?

VI. Die Substanz wird erkennbar – warum trotzdem immer diese Erschütterungen?

Impressum neobooks

Was war, ist wahr

Tobias Kaestli

Was war, ist wahr

Erinnerungen, Teil I

Erlebtes und Erinnertes

Das 20. Jahrhundert war ein «Zeitalter der Extreme», wie der englische Historiker Eric Hobsbawm sagte. Vor allem die erste Hälfte hatte es in sich: Zwei Weltkriege, Spanische Grippe, beispiellose rassistische Verbrechen, Weltwirtschaftskrise, blutige Diktaturen, Abwurf zweier Atombomben über Japan. Von solchen Ereignissen waren meine Eltern geprägt. Ich wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, also in einer Zeit, die mit grossen Hoffnungen begann: Die UNO-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sollten die internationalen Beziehungen auf eine gerechte Basis stellen und damit die Welt sicherer machen; der Sicherheitsrat der UNO sollte dafür garantieren. Doch schon bald entstanden neue Spannungen, die als Kalter Krieg bezeichnet wurden; der eiserne Vorhang zwischen Ost und West wurde heruntergelassen. Und immer wieder gab es auch «heisse» Kriege. Was war die Ursache? Die menschliche Unzulänglichkeit, der Neid der Besitzlosen, die fortdauernde Ungerechtigkeit, der offensichtliche Widerspruch zwischen der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Realität und den immer differenzierter und verbindlicher formulierten Menschenrechtsdeklarationen?

Die Wirtschaft boomte, jedenfalls in den westlichen Ländern des Nordens, aber die ehemaligen Kolonien, die nach und nach ihre politische Unabhängigkeit errungen hatten, wurden weiterhin von den Industriestaaten ausgebeutet und, wenn sie rebellierten, mit Waffengewalt in das System zurückgezwungen, das die Armen darnieder hielt und die Reichen noch reicher werden liess. Dagegen rebellierte eine kritische Jugend, zu der ich mich zählte. Schuld an dem ganzen Elend war der Kapitalismus, fanden wir, weshalb es nach unserer Meinung nicht genügte, auf politischer Ebene neue Regeln zu etablieren; das Wirtschaftssystem musste umgebaut werden. Wir waren Weltverbesserer voller Optimismus und voller Illusionen; gewaltige Frustrationen waren unausweichlich.

Als junger Student erkannte ich nur die Lügen und Vorurteile der anderen und übersah die eigene Beschränktheit und Unredlichkeit. Veränderte sich dies mit der Zeit? Lernte ich aus meinen Erfahrungen? Verhielt ich mich angemessen oder hieb ich voll daneben? Ich habe versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden, die eigene Entwicklung und die der Gesellschaft, in der ich lebte, in den Blick zu kriegen. Habe ich dadurch mehr Klarheit gewonnen? Habe ich mich der Wahrheit angenähert?

Das Bedürfnis, aus meinem Leben zu erzählen, teile ich mit vielen anderen. Alle Menschen, nicht nur die prominenten, haben ein Recht auf ihre Autobiographie. Das eigene Leben sprachlich zu umgreifen, ist allerdings ein komplexes Problem, genau besehen eigentlich ein unmögliches Unterfangen. Denn etwas zu erzählen, bedeutet, den Anfang eines Fadens zu finden und diesem Faden zu folgen bis ans Ende, wo das Ganze überblickbar wird und einen Sinn ergibt. Doch das Leben ist nicht so, meines jedenfalls nicht, denn selbst wenn ich einen Lebensplan gehabt hätte, was ich nie hatte, hätten mich die äusseren Umstände, die zufälligen Begegnungen, die unvorhersehbaren Ereignisse vom Kurs abgebracht. Und weiterhin gibt es diese Abweichungen, so dass ich nicht weiss, wo ich am Ende landen werde. Es kommt dazu, dass ich schon immer zerspalten war und gleichzeitig verschiedenen Fäden folgte, die sich gegenseitig umschlangen. Mein Leben ist eher ein Gewirr als ein «ausgeklügelt Buch». Deshalb gerate ich beim Schreiben in ein Dilemma: Erzähle ich mein Leben in einem einzigen Spannungsbogen, mache ich es zum Roman und entferne mich weit von der Wahrheit. Beschreibe ich dagegen vor allem das zufällige Chaos, verheddere ich mich in zusammenhanglosen Details, die in ihrer Zufälligkeit keine Wahrheit enthüllen. Ich habe versucht, die Mitte zu halten, so dass das Gewirr spürbar bleibt, gleichzeitig aber ein paar Grundmuster sichtbar werden.

Autobiographien werden auch als Memoiren bezeichnet, weil sie sich auf die subjektive Erinnerung stützen. Erinnerungen sind kein direktes Abbild des wirklich Erlebten, der erlebten Wirklichkeit, sondern sie sind Erinnerungen an Erinnertes. Erinnerung baut auf Erinnerung auf, und jede neue Erinnerungsstufe ist eine Anpassung der Erinnerung an das, was mir gegenwärtig mehr Befriedigung als Schmerz verschafft. Das Gedächtnis verbirgt gnädig die unangenehmen Teile des Erinnerten und schmückt die angenehmen aus. Zudem ist es in der Lage, meinem Tun und Lassen nachträglich Sinn zu verleihen. Deshalb ist das, was ich hier aufzuschreiben gedenke, nicht identisch mit dem, was sich wirklich in meinem Leben abgespielt hat. Die Wahrheit dessen, was war, bleibt letztlich verborgen im Unbestimmten.

Seit meinem 16. Lebensjahr schreibe ich Tagebuch. Manchmal alle paar Tage, manchmal auch nur alle paar Wochen halte ich fest, was ich erlebe, welche Bücher ich lese, worüber ich nachdenke, mit wem ich worüber rede. Es sind teilweise nur kurze Notizen, oft aber auch längere Aufsätze. Insgesamt sind sie Zeugnisse einer sich ständig verändernden Weltanschauung. Was aber fange ich mit der tagebuchlosen Kindezeit an? Die Erinnerungen daran scheinen besonders präzis und detailreich zu sein. Sind sie deswegen auch wahr? Ich kann es nicht überprüfen; deshalb lasse ich es bei ein paar wenigen Hinweisen auf erstmalige und besonders starke Eindrücke bewenden und widme mich vor allem der «Zeit mit Tagebuch». Dabei ist mir bewusst, dass ich auch im Tagebuch keine direkte Abbildung des wirklich Erlebten finde, denn im Moment des Notierens ist das Erlebte auch schon Erinnerung geworden. Aber die zeitlich nahe am Erlebten formulierten Texte sind frischer und weniger stark verfälscht als die späteren Erinnerungen. Mancher Selbsttäuschung bin ich auf die Spur gekommen, indem ich das Erinnerte mit dem konfrontierte, was in meinen Tagebüchern steht.

Weit zurückreichende Erinnerungen vermischen sich unwillkürlich und unauflösbar mit späteren Erkenntnissen, die ich aus dem allgemeinen kulturellen Wissen übernommen habe. Alle Menschen, die anderen Menschen zuhören und sie zu verstehen versuchen, die vielleicht auch noch Zeitungen und Bücher lesen, ins Kino und ins Theater gehen, im Internet surfen und Radio hören, verfügen über ein derartiges Wissen. Aus ihm kristallisiert sich die persönliche Weltanschauung heraus, und diese bestimmt, wie ich die Welt sehe und erlebe und wie ich das Erlebte werte. Ich mache mir ein Bild von der Welt, bedingt durch mein Selbst, durch die Voraussetzungen, die ich mitbringe; das Bild verändert wiederum das Selbst, worauf sich mein Bild von der Welt erneut verändert. Diese Hin-und-her-Bewegung geht immer weiter. Deshalb denke ich heute von anderen Voraussetzungen aus als damals, im «Sommer meines Lebens», den ich noch einmal Revue passieren lasse. Auch durch den Rückgriff auf die Tagebücher kann ich die aktuelle Weltanschauung nicht ganz ausschalten, weshalb sich Vergangenheit und Gegenwart durchmischen. In einer Autobiographie gilt es, dies so weit wie möglich sichtbar zu machen.

Was ich aus meinem Leben erzähle, ist sowohl individuell als auch allgemein, sowohl persönlich-privat als auch Teil der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Meine Lebensgeschichte enthält familiär bedingte Züge und ist doch vor allem zeitbedingt; sie ist typisch für einen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen und in günstigen Umständen aufgewachsenen Schweizer, der die Spannung zwischen der eigenen Privilegiertheit und der Armut und Not anderer Menschen spürt.

Das Böse liegt hinter uns – und wo bleibt das Gute?

Landleben und Leben in der Stadt

Ich war ein Nachkriegskind, doch die Zeit des Zweiten Weltkriegs reichte bis in meine Kinderzeit hinein, denn die Güterknappheit hielt noch eine Weil an. Die Lebensweise, die sich meine Eltern in den Kriegsjahren angewöhnt hatten, konnten sie nicht so rasch abstreifen. Das wusste ich damals noch nicht, denn so wie es war, war es für mich selbstverständlich: Wenn es sehr kalt war, genügte die Kohleheizung in unserer Wohnung nicht. Mama legte mir einen Seelenwärmer um die Brust, eine Art Gilet aus Wolle, und zog mir einen engen Pullover über den Kopf, so dass ich mich wie in eine Rüstung eingezwängt fühlte, denn die mit feiner Holzwolle gestreckte «Kriegswolle» machte das Kleidungsstück hart wie ein Brett. Wir assen einfache Mahlzeiten, Brot mit wenig Butter und selbstgemachter Konfitüre, Hafer- und Griessbrei, Apfelkompott, Kartoffeln, Hörnli, Gemüse, Suppe, ab und zu ein wenig Fleisch. Es war die Fortsetzung der Knappheit, wie sie in den Kriegsjahren geherrscht hatte. Die Schränke meiner Mutter waren voll von Einmachgläsern, beiseitegelegtem Silberpapier, Packpapier und gebrauchten Schnüren. Nichts, was noch brauchbar war, wurde weggeworfen. Im Hinterhof stand das Velo des Nachbarn, dessen Räder mit an die Felgen gebundenen Korkzapfen versehen waren. Es erinnerte daran, dass die Luftreifen aus Gummi während des Krieges kaum noch erhältlich oder sehr teuer gewesen waren.

Unausgesprochen lasteten schwierige Erlebnisse meiner Eltern auf unserem Familienleben. Es gab einen sechs Jahre älteren Bruder, der einen anderen Nachnamen hatte als ich. Mit ihrem ersten Mann hatte meine Mutter in Ägypten gelebt und war 1940 als Witwe mit dem eben erst zur Welt gekommenen Hans-Adam in die Schweiz zurückgekehrt. Hier heiratete sie meinen Vater; er war schon über 40 Jahre alt. Vor dem Krieg hatte er in Frankreich gearbeitet, dann nach Ausbruch des Krieges im engen Kandertal im Berner Oberland, wo er eine Kohlegrube leitete. Hilde zog mit Hans-Adam zu ihm, gebar ihm eine Tochter, meine Schwester Elisabeth. Unmittelbar nach Kriegsende zogen sie zu viert nach Biel, wo ich ein Jahr später geboren wurde.

Meine Mutter war promovierte Philologin, hatte aber nach eigenem Bekunden nichts dagegen, sich auf die Rolle als Hausfrau und Mutter zu beschränken. Sie kochte sparsam, achtete aber darauf, dass wir drei Kinder gesundes Essen bekamen. Allmählich wurde der Speiseplan vielfältiger. Eine wichtige Neuerung war die Joghurtmaschine. Den dünnen, sauren Joghurt assen wir mit Rohzucker oder mit Melasse gesüsst. Wir mussten Rüblisaft trinken, und im Winter jeden Morgen einen Löffel Lebertran herunterwürgen.

Wir wohnten am Schüssquai in einem soliden Haus im dritten Stock. Vor dem Haus war eine Strasse mit wenig Verkehr, die dem Schüsskanal entlangführte. Dort spielten wir mit dem Gummiball, warfen ihn hoch in die Luft und riefen «Uri» oder « Schwyz» oder «Unterwalden» oder «Luzern» oder «Zürich» oder «Bern» ... Jedes Kind war ein Kanton, und wenn sein Kantonsname aufgerufen wurde, musste es den Ball auffangen. Manchmal flog er über das gusseiserne Geländer in den Kanal und schwamm davon. Wir rannten hinterher, und die Schnellsten und Mutigsten kletterten die Ufermauer hinunter und fischten ihn heraus. Wir waren eine kleine Kinderbande; Kurt war unser Anführer. Er war sechs Jahre älter als ich und gab den Ton an. «Locker laufen», befahl er, und sogleich rannten wir mit hängenden und schlenkernden Armen herum. Oder er band uns an eine Wäscheleine und unternahm mit uns Klettertouren beim Pavillon Felseneck.

Mein Grossvater, Notar Werner Wyss, kaufte 1949 ein Ferienhäuschen in Magglingen, liess es im Grundbuch auf den Namen meiner Mutter eintragen. Wenige Jahre danach starb er. Das Häuschen war das Geschenk an uns; dort verbrachten wir die ganze Sommerzeit und viele Wochenenden. Heute wohne ich zusammen mit meiner Frau Annemarie in diesem inzwischen renovierten und erweiterten Haus. Wir haben zudem eine kleine Wohnung in Biel. Diese komfortable Wohnsituation entspricht dem Muster aus meiner Kindheit, das einerseits von den Erfahrungen der ländlichen Sommerfrische auf dem Berg, andererseits vom Leben unten in der Stadt geprägt war.

Es ist eine weit entfernte Zeit, und was wir erlebten und in uns aufnahmen, unterscheidet sich in manchem stark von dem, was heute unsere Enkelkinder erleben und wie sie spielen, denn sie sind beeinflusst von einer virtuellen Welt, die via Handys und Computer auf sie eindringt. Andererseits ist vieles auch gleichgeblieben. Oft staune ich darüber, wie kleine Kinder sich in ihrem kindlich-spontanen Wesen ähnlich sind und mich an meine eigene Kindheit erinnern.

Die Einschränkungen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit gerieten allmählich in Vergessenheit. Papa verdiente mehr Geld und erhöhte das Haushaltgeld für Mama, so dass sie einen neuen Staubsauger und eine kleine Waschmaschine anschaffen konnte. Den grossen, holzbefeuerten Kessel in der Waschküche benutzte sie nicht mehr; der elektrisch angetriebene Hoover wirbelte die Wäsche automatisch herum, bis sie sauber war. Der Ofen in der Küche musste nicht mehr mit Holz vorgeheizt werden; es gab jetzt eine Gasfackel, welche die darüber geschichtete Kohle anzündete.

Die grosse Veränderung kam im Jahr 1956. Wir verliessen das Plänke-Quartier und zogen ins Madretsch-Quartier. Die Wohnung in einem neuen Mehrfamilienhaus war grösser, und das Haus hatte eine zentrale Ölheizung. Ein Radio mit eingebautem Plattenspieler stand neuerdings neben dem Esstisch. Einen Fernseher gab es nicht; dieses Wunderding konnte ich nur ab und zu im Nachbarhaus bei meinem Freund Röbi Nordmann geniessen.

1956 war der Aufstand in Ungarn, der von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde. Ich war zehn Jahre alt. Meine Eltern machten ein ernstes Gesicht und versuchten, die schlimmen Nachrichten von uns fernzuhalten. Das erwies sich als unmöglich, weil überall darüber gesprochen wurde. Wir stellten in der Schule kleine Fähnchen in den ungarischen Farben her und verkauften sie. Der Erlös kam der Ungarnhilfe zugute. Es wurde eine Schweigeminute zum Gedenken an die mutigen Kämpfer für die Freiheit angekündigt. Meine Mutter nahm mich mit auf die Strasse, damit ich sehen konnte, was Solidarität bedeutet. Tatsächlich standen zum festgelegten Zeitpunkt alle Passanten auf den Trottoirs still und alle Fahrzeuge auf den Strassen hielten an. Vom Kirchturm läuteten die Glocken; es war ein feierlicher Moment. Da knatterte ein klappriger Kleinlastwagen heran. Ich winkte dem Fahrer zu, bedeutete ihm anzuhalten. Er tat es, und ich kam mir ein wenig als Freiheitsheld vor. Von nun an wusste ich, dass es einen freien Westen gab, zu dem die Schweiz gehörte, und einen unterdrückten Osten, zu dem das unglückliche Ungarn gehörte. So blinzelte ich über die bisherige Begrenzung hinaus und fühlte mich umso geborgener in meiner Heimat.

Meine Kindheit und Jugend war voller Hingabe – an die eigenen Gefühle, an die Liebe zu den Eltern und zu den Geschwistern, an die Schönheit der Welt, an den Kummer über Missgeschicke, später auch die an die pubertäre Auflehnung gegen den Vater und gleichzeitig an das drängende Gefühl der erwachenden Libido. Nach und nach empfand ich eine zunehmende Distanz gegenüber der Welt. Oft war ich unglücklich, schwankte zwischen Unsicherheit und Überheblichkeit, gewöhnte mir einen gewissen Zynismus an. Das war wohl eine Reaktion darauf, dass ich von meinem Vater oft in kränkender Art zurechtgewiesen wurde. So kam es mir jedenfalls vor, und eine besonders krasse Zurechtweisung ist mir im Gedächtnis geblieben. Es geschah, als Papa, Mama, meine beiden Geschwister und ich nach Luzern fuhren, um das neu eröffnete Verkehrshaus der Schweiz zu besuchen. Ich war 13 Jahre alt und voller Tatendrang. Als der Zug langsam in den Bahnhof Luzern einfuhr, öffnete ich die Waggontür, und noch bevor der Wagen stillstand, sprang ich auf den Perron. Wollte ich mir meine sportlichen Fähigkeiten beweisen, oder geschah es aus blosser Freude an der Bewegung oder aus Vorfreude auf das Verkehrshaus? Jedenfalls tat ich damit etwas Verbotenes. Papa bemerkte es, stieg mit verzerrtem Gesicht aus dem Zug, stürzte auf mich zu und knallte mir seinen Spazierstock auf den Hintern. Nicht genug damit, er eilte danach zum Kondukteur und rief ihm zu: Zeigen Sie diesen Jungen an, er ist vom Zug gesprungen! Der Kondukteur war ein wenig verwirrt und stotterte etwas von «nicht erlaubt», ohne die Sache allzu ernst zu nehmen. Mama versuchte zu beschwichtigen, was Papa nur noch mehr aufbrachte. Bruder und Schwester schauten beiseite, weil ihnen Papas Auftritt vor all den vorbeiströmenden Passagieren peinlich war. Ich war gedemütigt und voller Hass.

Gymnasium mit Goethe, Hochhuth und Brecht

Im gleichen Jahr trat ich in die Sexta des städtischen Gymnasiums ein. In der Sekundarschule hatte ich mich oft gelangweilt. War der Unterricht jetzt spannender? Im Nachvollzug der Gedanken überragender Geister sollten wir Gymnasiastinnen und Gymnasiasten uns zu guten und tüchtigen Menschen formen. «Edel sei der Mensch, hilfreich und gut», wie Goethe sagte. Dem Rektor, Dr. Heinrich Ryffel, galten die antiken Autoren immer noch als vorbildlich, und er hielt es für wichtig, sie in der Originalsprache lesen zu können. Dass es die Möglichkeit gab, eine Maturitätsprüfung ohne alte Sprachen, dafür mit mehr Mathematik, Chemie und Physik zu absolvieren, hielt er für einen Fehler. In der Quarta entschied ich mich für diesen «minderwertigen» Bildungsgang, weil ich mir vorstellte, später an der ETH zu studieren und danach das Baugeschäft meines Vaters zu übernehmen. Doch dann wurde mir bewusst, dass dieser Plan eher dem Wunsch meines Vaters als meinem eigenen entsprach. Meine Vorlieben galten der Literatur und der Geschichte. Mit Hilfe eines Einführungsbüchleins in die Schriften von Livius begann ich heimlich meinen Rückstand in Latein aufzuholen und gestand schliesslich meinem Vater, dass ich von der Realabteilung in die Literarabteilung übertreten wolle. Er versuchte, mich davon abzubringen, wobei er harsche Worte der Missbilligung äusserte. Dank der Fürsprache meiner Mutter gab er zähneknirschend nach, verhehlte aber nicht seine grosse Enttäuschung.

Viele meiner Mitschüler in der Realabteilung waren erst in der Quarta ans Gymnasium Biel gekommen und hatten vorher eine Sekundarschule ausserhalb der Stadt besucht. In der Literarabteilung dagegen waren fast alle schon in die Sexta eingetreten, hatten also das Untergymnasium durchlaufen und dort schon mit dem Lehrmittel «Roma antiqua» gearbeitet. Hier herrschte ein etwas elitärer Geist. Es gab keine grundsätzlichen Bedenken gegenüber der gymnasialen Ausbildung, während in der Realabteilung Vorbehalte immer spürbar waren. Jean-Pierre Wolf, der von der Sekundarschule Bözingen herkam, war der Meinung, der gymnasiale Unterricht sei allzu theoretisch, allzu praxisfern. Bildung sei tätige Auseinandersetzung mit der Welt; nur in der praktischen Betätigung könne man die Erfahrungen machen, durch die das theoretisch Gelernte erst konkret werde. Ich fand, er sei halt doch eher ein Sekundarschüler als ein richtiger Gymnasiast, denn mich selbst zog es weg von der Alltagserfahrung hin zu «höheren Sphären». Erst viel später, als Jean-Pierre und ich an der Uni Bern studierten und im gleichen linken Grüppchen aktiv waren, teilte ich seine Auffassung.

Als Gymnasiast wurde ich dazu angeleitet, mir das anzueignen, was man Bildung nennt. Im Literaturunterricht fand ich in verdichteter Art das, was sich mir im individuellen und im gesellschaftlichen Leben nur undeutlich offenbarte: die komplexen Beziehungsgeflechte zwischen unterschiedlichen Menschen, die Möglichkeit der Liebe trotz des Machtgefälles, die Lust am Schönen, die Trauer über Verluste. Im Geschichtsunterricht lernte ich, dass der Rückgriff auf die Vergangenheit zur Erklärung der Gegenwart beitragen kann. Im Biologie-, Chemie- und Physikunterricht bekam ich eine Ahnung von den Gesetzmässigkeiten der Natur. Schule ist Musse, sagte Dr. Heinrich Spinner, Theorie ist Gesamtschau. Natur und Lebenswelt lassen sich nicht nur als flüchtig wahrzunehmende Phänomene erleben, sie können intensiv beobachtet, benannt und schliesslich auch verstanden werden. Er war ein Schöngeist, tief interessiert an Literatur und Kunst, offen aber auch für die Erkenntnisse der Naturwissenschaft. Doch in der Literarabteilung galten Sprache, Literatur, Musik und Kunst als das eigentliche Bildungsgut; Mathematik, Physik und Chemie wurden nur nebenbei gelernt; es galt fast als anstössig, wenn sich eine oder einer von uns dafür interessierte.

Die Antike hatte – ausser für Rektor Ryffel – nicht mehr den hohen Stellenwert wie früher. Wichtiger war die deutsche Klassik mit Goethe und Schiller. «Nehmt hin die Welt!, rief Zeus von seinen Höhen / Den Menschen zu. Nehmt, sie soll euer sein! / Euch schenk ich sie zum Erb’ und ew’gen Lehen – / Doch teilt euch brüderlich darein!» Im Unterricht von Dr. Heinz Schafroth lernte ich die erhabenen Worte Schillers auswendig. Wir führten ein paar Szenen aus «Wallenstein» auf. Schillers Pathos faszinierte mich; Goethe blieb mir fremd. Heute ist es umgekehrt: Goethe schätze und bewundere ich; über Schiller würde ich lachen, fände ich seinen Lebenslauf nicht so überaus tragisch.

Schafroth machte uns wohl eher aus Pflichtgefühl denn aus echter Begeisterung mit Goethe und Schiller bekannt; wichtiger waren ihm die neuere und neuste deutsche Literatur: Kafka, Trakl, Brecht, Schnurre, Eich, Aichinger. Als «Der Stellvertreter» von Rolf Hochhuth hohe Wellen warf, befassten wir uns auch damit. Es ging um den kirchlichen Antisemitismus und um die Frage der Schuld der katholischen Kirche. Mit dem Stellvertreter war Papst Pius XII. gemeint, der zum Holocaust geschwiegen hatte. Im Februar 1964 wurde das Stück am Stadttheater Bern aufgeführt. Schaftroth bereitete uns darauf vor und organisierte den Theaterbesuch für die ganze Klasse. Ich hatte vorher das Stück gelesen. Stärker als der blosse Text beeindruckte mich die Darstellung auf der Bühne. Auf der Rückreise nach Biel sass ich mit meinem Schulfreund Andrea im gleichen Zugsabteil. Er äusserte sich kritisch: «Zu viel Effekthascherei, stellenweise allzu grobschlächtig», befand er.

«Da magst du Recht haben», meinte ich, «und dennoch finde ich das Stück sehenswert.»

«Sicher regt es zum Nachdenken an. Man könnte es aber auch auf subtilere Weise tun.»

«Warum soll es auf subtile Weise geschehen, wenn es um so krasse Dinge geht?»

«Weil sonst viele Leute gar nicht hinschauen, von Vereinfachung reden und daran erinnern, dass in der Realität alles viel komplexer und differenzierter abläuft.»

«Ich finde das Stück sehr differenziert. Ich habe begriffen, dass dieses schreckliche Kapitel der Geschichte unsere ganze heutige Geisteshaltung erklärt. Das Geschehen war komplex, aber in den Grundzügen doch auch ganz einfach: Entscheiden wir uns für das Menschliche oder für das Unmenschliche?»

«Was ist menschlich, was unmenschlich? Oft ist es nicht so einfach, das herauszufinden.»

«Im Moment des Geschehens vielleicht nicht, aber in der Rückschau klärt sich die Sache. Deshalb muss der Stückeschreiber eine klare Sprache sprechen, denn vielleicht können wir für die Zukunft etwas daraus lernen.»

«Klare Sprache und plumpe Sprache sind nicht dasselbe. Hochhuth ist nicht nur plump, sondern auch pathetisch.»

Andrea war ein ausgezeichneter Cellist, spielte sein Instrument differenziert, klar und weder plump noch übermässig pathetisch. Woher kam seine Aversion gegen das Stück? «Es geht doch um etwas ungeheuer Wichtiges», sagte ich, «und Hochhuth ist es gelungen, dies dem Publikum deutlich vor Augen zu führen.»

«Ja schon», lenkte er ein. «Aber wenn der Arzt im Stück sagt, er verbrenne jeden Tag 9000 Menschen und Gott greife nicht ein, dann ist das fast ein wenig lächerlich. Wenn ein Mensch derart pervertiert ist, dass er so handeln kann, dann denkt er sicher nicht an Gott.»

«Der Arzt spottet über den Jesuitenpater Riccardo, der sich selbst opfert und damit im Geiste Jesu zu handeln glaubt. Der Auschwitz-Arzt, der Menschen als Versuchskaninchen missbraucht, und der Priester, der sich einem christlichen Ideal verpflichtet fühlt, stehen einander direkt gegenüber. Das ist doch eine grandiose Theaterszene, auch wenn es sie im wirklichen Leben so nicht gegeben haben dürfte.»

«Ja, das fand ich auch grossartig, aber das Gerede von Gott, der nicht eingreift, fand ich irgendwie deplatziert. Wer glaubt denn heute noch an einen Gott, der das Steuerruder fest in der Hand hält, wie es im Stück heisst?»

Der Dialog steht nicht so in meinem Tagebuch; das Thema, über das wir sprachen, ist nur kurz angedeutet. Ich habe eine Rekonstruktion versucht und möglicherweise das Original verfehlt. Sicher ist aber, dass wir über Gott nachdachten. Ob lenkend oder nicht, er war uns längst nicht mehr selbstverständlich. Umso wichtiger fand ich es, die Probleme ernst zu nehmen, die uns Hochhuth so eindringlich vorführte. Das abgrundtief Böse, das mit der Naziherrschaft in die Welt gekommen war, schien mir das Wichtigste in der ganzen Geschichte seit den Anfängen der Menschheit zu sein, etwas, das wir nie vergessen durften. Wenn der Zweck der gymnasialen Bildung war, uns zum Guten, Schönen und Wahren hinzuführen, dann mussten wir uns auch der Gefahr des Bösen, Hässlichen und Unwahren bewusst werden. Unsere Lehrerinnen und Lehrer vermittelten uns eine Haltung, wonach Demokratie gut und Rassenwahn schlecht war. So etwas wie die Diktatur Hitlers dürfe es nie mehr geben, meinten sie. Bevor ich Hochhuths Stück gesehen hatte, war ich überzeugt gewesen, so etwas könne es nie mehr geben, denn wir lebten in einer zivilisierten, geordneten Welt, in der das Leben jedes Menschen geachtet wurde und in dem man sich keinesfalls von einem brüllenden politischen Führer verhetzen liess. Hochhuths Stück führte mir vor Augen, wie schwierig es unter Umständen war, das Überhandnehmen des Bösen zu verhindern.

In der gleichen Zeit, in der wir uns mit Hochhuth befassten, bereiteten wir unter Schafroths Anleitung die Aufführung des Brecht-Stücks «Furcht und Elend des Dritten Reiches» vor. Darin geht es um die Veränderungen im deutschen Alltag seit der Machtergreifung der Nazis. Im Théâtre de Poche spielten wir grobe SA-Leute, ängstliche Richter, verwirrte Schulmänner, zynische SS-Offiziere, anpasserische Hausfrauen, irregeleitete Kinder. Nur eine Rolle kam im Stück nicht vor: die des heldenhaften Widerstandskämpfers. Ich übernahm die Rolle eines SA-Schlägers und eines SS-Offiziers und spürte, wie verführerisch die Hingabe an den Hass und die Ausübung rücksichtsloser Macht sein können.

Das Theater faszinierte mich. Es war eine Möglichkeit, die eigene Welt zu erweitern. Ich erinnere mich an das Gefühl, das mich ergriff, als ich im Théâtre de Poche erstmals auf der Bühne stand. Wir hatten die Brecht-Texte zuerst für uns allein auswendig gelernt und dann im Schulzimmer wechselweise gesprochen. Jetzt also Bühnenprobe. Während des Wartens auf unseren Regisseur waren wir nicht untätig. Schnellen Schrittes gingen wir auf der Bühne hin und her und rund herum, und dabei kam mir das geflügelte Wort von den «Brettern, die die Welt bedeuten» in den Sinn, ohne zu wissen, dass es aus Schillers Gedicht «An die Freunde» stammt. Dort heisst es: «Sehn wir doch das Grosse aller Zeiten / Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, / Sinnvoll still an uns vorübergehn.» Schiller, der Historiker, Theaterautor und Schauspieltheoretiker erfasste mit seinen Versen die Sicht des Zuschauers im Theater oder des Beobachters der Weltgeschichte. Beim Herumgehen auf der Bühne empfand ich indessen etwas anderes, nämlich die Möglichkeit, selbst tätig zu werden, selbst etwas darzustellen, selbst die Welt zu gestalten. Das Theater packte mich. «Furcht und Elend des Dritten Reichs» war nur ein Anfang.

Am Premierenabend standen am Eingang zum Theaterkeller Mitglieder der Organisation der Kommunisten der Schweiz (OKS) und verteilten Flugblätter, auf denen sie dem Publikum nicht viel mehr mitteilten als die bekannte Tatsache, dass Brecht ein Kommunist gewesen sei. Ich empfand die Flugblattaktion als Versuch, unsere Aufführung den Zielen des Kommunismus nutzbar zu machen. «In unserer ‘jugendlichen Unschuld’ hatten wir bei unserer Aufführung nicht an Politik gedacht», notierte ich im Tagebuch. Unser Deutschlehrer und Regisseur verbot den jungen Kommunisten, bei der nächsten Aufführung ihre Flugblätter noch einmal zu verteilen. Sie kamen wieder. Schafroth forderte uns auf, sie zu packen und in den Brunnen gleich gegenüber dem Eingang zum Kellertheater zu werfen. Auf dem Brunnenstock aus dem 16. Jahrhundert war sinnigerweise ein sitzender Engel zu sehen, der ein unschuldiges Lämmchen in den Armen hält und vor dem Zugriff des dahinterstehenden roten Teufels schützt. Die meisten von uns ignorierten Schafroths Aufforderung, aber ein paar besonders eifrige Mitschüler jagten in langen Sprüngen die Kellertreppe empor, ergriffen einen der Flugblattverteiler und warfen ihn in den Brunnentrog. Das fand ich etwas kindisch und nicht sehr überlegt, aber auch nicht allzu schlimm. Schafroth bekam in den folgenden Tagen mehrere Telegramme, Briefe und Telefonanrufe von empörten Linken. Konrad Aeschbacher schrieb ihm: «Gratuliere zum sichtlichen Erfolg deiner Brecht-Interpretation. Im Nazi-Deutschland begann der Gesinnungsterror auch mit Keilereien. Sieg Heil!» Das war stark, und als ich es vernahm, wurde mir ein wenig unbehaglich. Jean-Pierre Wolf, der schon vorher empört gewesen war über die Brunnen-Aktion, stellte sich vor der nächsten Aufführung auf eine Bank in der Garderobe und hielt eine Ansprache: Wir sollten alle zugeben, dass wir aus einem emotionalen Antikommunismus heraus gehandelt hätten. Die Leute hätten das Recht gehabt, Flugblätter zu verteilen. Man dürfe ihnen diese Freiheit nicht nehmen. Ich rief ihm zu, ob er denn meine, dass diejenigen, deren erklärtes Ziel es sei, die bestehende Ordnung zu zerstören, den Schutz dieser Ordnung für sich in Anspruch nehmen könnten. Er ignorierte den Einwand. Da griffen ihn Jürg Spiess und Max Benguerel mit heftigen Worten an. Er sei ein Demagoge und versuche, den Widerstand gegen den Kommunismus zu untergraben. Er gab zurück: Sie seien Rechtsextremisten. «Es gibt Regeln, die man einhalten muss, und die Kommunisten halten sich nicht daran», sagte Jürg. «Nein, nein», rief Hans Renfer, «die bestehende Ordnung kann ich auch nicht einfach so akzeptieren. Ich muss festhalten, dass es mit unserer Verwaltung schlecht bestellt ist. Allzu vieles ist faul in unserem Staat; eine Änderung von Grund auf tut not.» Einige stimmten zu, andere verwahrten sich gegen solche Ansichten. Es wurde immer lauter in der Garderobe, die Argumente verwirrten sich und etwas Unheimliches brach sich Bahn, eine triebhafte Lust, auf dem Gewohnten, dem Ordentlichen und dem Schicklichen herumzutrampeln, sich zu gebärden, als stünde eine Revolution unmittelbar bevor. Ich erschrak und mochte mich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen.

Der dickliche junge Flugblattverteiler war mir, als ihn meine Schulkameraden gepackt und in den Brunnen geworfen hatten, hilflos und ängstlich vorgekommen. Er hatte mir leidgetan, denn er hatte etwas Gutes tun wollen, und wurde von uns als Feind behandelt. Andererseits fand ich, der Kommunismus sei eine üble Sache, auf die man sich keinesfalls einlassen dürfe. Doch worauf stützte sich diese Auffassung? Noch hatte ich mich nie ernsthaft mit den Grundlagen des Kommunismus auseinandergesetzt. Im Wesentlichen glaubte ich, was ich in den bürgerlichen Zeitungen las, im Radio hörte, von unseren Lehrern vernahm. Unreif war ich und keineswegs reif oder maturus, obwohl ich in Kürze das Gymnasium mit der Maturitätsprüfung abschliessen sollte.

Romantik und Realismus

Der Schulabgang, stellte ich mir vor, würde die grosse Befreiung sein. In den Sommerferien schrieb ich das Drehbuch zu einem Film, mit dem Titel «Le club du savoir vivre». Darin ging es um die durch Liebesdinge entfesselten Gefühle und Gedanken, die nach Verwirklichung drängten. In Beatrix hatte ich mich verliebt. Als sie mich in Magglingen besuchte, waren wir nahe daran, miteinander zu schlafen. Wir taten es nicht. Ob sie es wollte, wie gross ihre Hemmungen waren, weiss ich nicht. Ich weiss aber, dass ich plötzlich unsicher wurde, ob ich sie wirklich liebe, denn die Liebe zu einer Frau hielt ich für etwas sehr Grosses, Wichtiges, Absolutes, es musste alles stimmen, um sich ganz der Liebe hingeben zu können.

Ich las Romane von Hermann Hesse, den «Heinrich von Ofterdingen» von Novalis, den Grünen Heinrich von Gottfried Keller und die von Aniela Jaffé herausgegebene Autobiografie «Erinnerungen, Träume, Gedanken» von C. G. Jung. In jedem Menschen steckt zutiefst innen seine eigentliche Persönlichkeit, glaubte ich; sie ist versteckt und muss sich herausbilden, und zwar vorzugsweise im Zusammenspiel mit einer geliebten Frau. Da ich unsicher war, wie mein eigentliches Ich beschaffen sei, wusste ich auch nicht, welche Frau wirklich zu mir passte. Beatrix war meine erste ernsthafte Jugendliebe. Daran erinnere ich mich, aber Genaueres über meine Beziehung weiss ich nicht mehr. Da finde ich Briefe von ihr. Es sei schön, mir gehören zu dürfen, schreibt sie. Ich schreibe ins Tagebuch: «Wenn wir heiraten, dann ist es gut, wenn du mir gehören willst. Es ist ideal, wenn du dich mir unterordnest und dich meinem Einfluss aussetzt, auch wenn es falsch ist. Dann dürfen und müssen wir so ganz zusammengehören.» – Es ist mir peinlich, wenn ich das heute lese. Aber es war wohl so, und deshalb ist es wahr. Ich war noch sehr jung, 17-jährig, befangen in der Vorstellung, dass Mann und Frau eins werden wollen, wobei der Mann der Bestimmende ist, und dass dies durch eine Heirat besiegelt werden muss.

Es war ein schneearmer und sonnenreicher Winter. Einmal lag ich auf einer Bergwiese und träumte von mir selbst. Als ich den Traum aufschrieb, schilderte ich das beinahe mystische Ereignis in der distanzierenden Er-Form: «Er hatte die Augen immer noch geschlossen. Er spürte, wie ihn die Sonne warm beschien, und er wusste, dass die Schneeberge ringsherum weiss unter einem strahlend blauen Himmel lagen. Trotzdem sollte sein Traum Wirklichkeit sein. Er hatte es sich vorgestellt, wie sie oben am Hügel auftauchen, erstaunt stillstehen und dann zu ihm herunterkommen würde, nicht sehr schnell, aber auch nicht zu langsam. Im Moment, da sie sich neben ihm auf das gelbe, harte Gras setzte, hörte er es rascheln, und ohne die Augen zu öffnen, wusste er, dass sie es war. Er wusste genau, dass er sich richtig verhalten würde. Das erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl. Er erlebte das vollkommene Glück als Wirklichkeit. Nun begann sie zu singen, jauchzend, und er fiel ein, und es ergab sich ein wunderbares Zusammenklingen. Die beiden Stimmen spielten durcheinander, miteinander und gegeneinander. Sie sangen immer schneller, bis es in ein grosses Rauschen überging. Unvermittelt brachen sie ab, genau miteinander, und er musste an sich halten, um nicht zu weinen. Er öffnete die Augen und sah, was er schon gewusst hatte: dass sie lächelte. Er setzte sich auf und sprach mit ihr. Sie vermochte ihm vollends zu zeigen, dass alles, was er sah, dachte, träumte, eine Einheit war. Er wusste, dass er jetzt für immer im vollkommenen Glück leben konnte. – Er wehrte sich noch eine Zeitlang aufzuwachen und stand dann seufzend auf.»

In mir war eine neue, überspannte Vorstellung erwacht. Ich sehnte mich nach der Geliebten, mit der ich in vollkommener Harmonie zusammen sein könnte. Sie gehört mir und ich gehöre ihr; keines muss sich dem anderen unterordnen, weil beide das Gleiche wollen. Voraussetzung ist, dass sie ihre innere Wahrheit gefunden haben und darin übereinstimmen. Wo zwei Wesen zusammenfinden, die beide die gleiche Wahrheit besitzen, stellt sich das Glück ein. Das war mein Traum. Novalis’ blaue Blume spielte unversehens mit hinein. Als Kind war mir die Geschichte des Heinrich von Ofterdingen erzählt worden, und ich rätselte immer wieder, was denn die blaue Blum bedeute, wo sie zu finden sei. Als ich nun den Roman selbst las, berührte mich das Sonett, das der Geschichte vorangestellt ist:

Du hast in mir den edeln Trieb erregt

Tief ins Gemüt der weiten Welt zu schauen;

Mit deiner Hand ergriff mich ein Vertrauen,

Das sicher mich durch alle Stürme trägt.

Mit Ahndungen hast du das Kind gepflegt,

Und zogst mit ihm durch fabelhafte Auen;

Hast, als Urbild zartgesinnter Frauen,

Des Jünglings Herz zum höchsten Schwung bewegt.

Was fesselt mich an irdische Beschwerden?

Ist nicht mein Herz und Leben ewig Dein?

Und schirmt mich Deine Liebe nicht auf Erden?

Ich darf für Dich der edlen Kunst mich weihn;

Denn du, Geliebte, willst die Muse werden,

Und stiller Schutzgeist meiner Dichtung sein.

Die schwärmerische Sprache drang in mich ein und bestimmte meine Vorstellung der Liebe zwischen Mann und Frau. Liebe ist Entrücktheit, Verschmelzung, Aufgehoben-Sein im Ganzen. So empfand ich es, wenn ich mich in einer Art Dämmerzustand befand. Im Wachzustand war ich voller Skepsis. Ich zweifelte daran, dass sich Mann und Frau so begegnen können, dass sie sich gegenseitig in ihrem Innersten erkennen. In Wirklichkeit war es doch so, dass sie sich falsche Vorstellungen von ihrem Gegenüber machen, dass sie sich in ein Phantasiegebilde verlieben. Irgendwann folgt unfehlbar die Ernüchterung. Was ich von meinen Eltern zu sehen bekam, entsprach jedenfalls nicht meinen romantischen Vorstellungen. Papa war nervös und überarbeitet. Mama versuchte sich abzugrenzen, weil sie es sonst nicht aushielt mit ihm. Er spürte die Distanz und provozierte sie, um Nähe zu erzwingen. Einmal sagte sie: «Sei doch nicht so ein Ekel!» Das verletzte ihn tief. Er verbarg die Wunde. Plötzlich aber brach es aus ihm heraus. Er schrie, weinte, und polterte mit den Fäusten auf den Tisch. Den verstörenden Vorgang schilderte ich im Tagebuch und suchte nach einer Erklärung. Papa habe eine überhöhte Meinung von sich, glaubte ich, und wenn er kritisiert werde, sei es ihm unerträglich. Er könne sich nicht selbst anschauen, habe keine Distanz zu sich selbst. «Ich glaube, wenn ich einen anderen Weg einschlage als Papa, wenn ich versuche, den Überblick nicht zu verlieren, ist es, weil ich nicht werden will wie er. Ich möchte nicht, dass ich es nicht ertragen kann, meine Fehler zu sehen. Doch die Gefahr, zu werden wie er, besteht durchaus. Als Kind weinte ich oft, weil ich mich zu wichtig nahm und glaubte, nur leben zu können, wenn ich als lieb und gut betrachtet würde.»

Innerlich stark, kritisch gegenüber mir und den anderen, gewappnet für den Kampf ums Dasein wollte ich werden. Wo sollte da die Liebe zwischen Mann und Frau noch Platz haben? Ich bin der deine und du die meine, oder umgekehrt, hatten wir in unseren pubertären Liebesbriefen geschrieben. Das war falsch. Ein Mann und eine Frau können auf Dauer nur zusammenleben, wenn beide eigenständig bleiben, ihre innere Wahrheit hüten und pflegen, sich in der Zuneigung zum anderen nicht selbst verlieren. Da war ich mir sicher. Und doch blieb die romantische Vorstellung einer allumfassenden Liebe, in der alles verschmilzt und zur harmonischen Einheit wird. Es war eine Sehnsucht, die nicht gestillt werden konnte.

Beatrix, «meine erste Erfahrung», wie ich sie später kennzeichnete, ging mit dem American Field Service für ein Jahr in die USA. Wir tauschten Briefe aus. Als sie zurückkam, war meine Liebe zu ihr erloschen. Ich hatte ein Auge auf Christine geworfen, die ein Jahr älter war als ich. Als ich ihr zufällig an der Eingangstüre zur Musikschule begegnete, zuckte ich innerlich zusammen, grüsste nur wie nebenbei und blickte ihr dabei tief in die Augen. Da sah ich oder glaubte zu sehen, wie sich ihre Pupillen weiteten und wieder verengten. Nun war ich vollends in sie verliebt und fest überzeugt, sie hege das gleiche Gefühl für mich. Wir trafen uns hie und da, gingen zusammen ins Kino. Einmal besuchte ich sie, als sie zuhause bei ihren Eltern krank im Bett lag. Mit ihrem Vater sprach ich so, als wäre er mein künftiger Schwiegervater. Christine blieb zurückhaltend.

Von der Wahrheit

Im September 1965 ging meine Schulzeit zu Ende. Mit einer Ausnahme bestanden alle Absolventinnen und Absolventen des deutschsprachigen Gymnasiums die Maturitätsprüfung. Es folgte ein feierlicher Akt im grossen Saal des Farelhauses. Rektor Hans Utz händigte uns in alphabetischer Reihenfolge die Zeugnisse aus. Lobend erwähnte er Lilly Spring, die in allen Fächern Bestnoten erzielt hatte. Mein Zeugnis war gut, aber nicht sehr gut. Jedenfalls eröffnete es mir die Möglichkeit, jede beliebige Studienrichtung einzuschlagen. Der Rektor verlas eine Liste mit den Angaben, die wir zu unseren Studien- und Berufsabsichten hatten machen müssen. Ich hatte angegeben, ich wolle Astronomie studieren. Das war ein wenig aus der Luft gegriffen, aber es klang interessant.

Es war Tradition, dass an den Maturitätsfeiern eine bekannte Persönlichkeit eine Rede hielt. Unser Festredner war Arnold Kübler, der Gründer und Redaktor der Kulturzeitschrift «DU», bekannt auch als Verfasser der «Öppi»-Romane. Er war klein und hatte ein seltsam entstelltes Gesicht, und doch vermochte er uns vom ersten Moment an für sich einzunehmen. In jungen Jahren war er Schauspieler gewesen, hatte auf die Theaterschminke allergisch reagiert, worauf ihm ein Arzt die Furunkel mit dem Skalpell aufgeschnitten und die Wunden danach ungenügend versorgt hatte. Die Narben zogen die Haut zusammen und liessen tiefe Gräben entstehen, die sich, während er redete, lustig in die Länge und in die Breite verzogen. Ich lauschte seinen Worten und war mit allem, was er sagte, vollkommen einverstanden. Wir sollten uns nicht fragen, meinte er, welches Studium uns später ein hohes Einkommen ermögliche; vielmehr sollten wir herausfinden, auf welchem Weg wir zu dem gelangen konnten, was uns wirklich am Herzen liege, denn nur so könnten wir unser Glück finden.

Die Astronomie war also ein Luftgespinst, und im Grunde genommen wusste ich, dass ich Phil. I studieren wollte, vorzugsweise Deutsch und Geschichte, denn im Studium der Sprache und der Literatur und in der Aneignung der Vergangenheit hoffte ich der Wahrheit und dem guten Leben auf die Spur zu kommen. Ich wollte aber nicht den Eindruck erwecken, dass ich mich bloss aus Trotz gegen Papa, der ein derartiges Studium als eine Form von Hochstapelei ansah, so entschied. Deshalb zögerte ich meinen Entscheid hinaus, tat so, als ob ich nicht wüsste, was ich wollte. Mama schickte mich zu einem Berufsberater. Der befragte mich eingehend und empfahl mir das Jus-Studium, was nicht ganz abwegig war, denn mein Grossvater mütterlicherseits war Notar gewesen. Ich diskutierte darüber mit Christoph, dem ältesten Sohn von Mamas Freundin Marianne Steinlin, der ein begeisterter Jus-Student war. Alles spreche für diese Studienrichtung, sagte er, denn das Zusammenleben in einer Gesellschaft setze voraus, dass es Regeln gebe, an die sich alle halten müssten, was aber nur möglich sei, wenn diese Regeln im Konfliktfall von Fachleuten, den Juristen, interpretiert und nach Bedarf weiterentwickelt würden. Dagegen setzte ich die Meinung, wir Menschen brauchten weniger Vorschriften und mehr Freiheit, denn nur so könne sich unsere Kreativität, unser Drang nach Wahrheit und unser Wille, Gutes zu tun, voll entwickeln.

Mein Wunsch stand fest, und Mama wusste es. Aber würde Papa einwilligen? Würde er mir ein Studium bezahlen, das er missbilligte? In den Wochen bis zum Semesterbeginn an der Uni Bern vermied ich die Auseinandersetzung mit ihm. Wahrscheinlich hatte es ihm Mama verraten, aber er sagte nichts. Ich lenkte mich ab mit Spielereien. Immer noch lockte es mich, einen Film zu machen. Ich fragte Jürg Spiess, der eine Super-8-Kamera besass, ob er mithelfen würde. Er sagte zu. Es war ein Non-sense-Film mit dem Titel «Il protagonista». Peter Meyer spielte die Hauptrolle, Jean-Pierre Wolf sorgte für die Slap-stick-Einlagen, Jürg bediente die Kamera, ich führte Regie. Eigentlich tat ich nur so als ob; der Film bestand weitgehend aus Improvisationen. Peter Meyer besorgte den Schnitt und war sehr stolz auf das Ergebnis, das wir an einer Kunstvernissage in der Galerie von Silvia Steiner vorführten. Weil das Filmmaterial alt und verdorben war, hatten die Bilder einen Grünstich. Wir behaupteten, wir hätten mit chemischen Substanzen gearbeitet, um einen Verfremdungseffekt zu erzielen. Im «Bieler Tagblatt» erhielten wir eine wohlwollende Kritik, in der das Experiment mit der grünlichen Verfärbung speziell lobend erwähnt wurde. Als Peter später unter dem Namen E. Y. Meyer als Schriftsteller bekannt wurde, besass er den Film immer noch und zeigte ihn während einer seiner Lesungen im «Zähringer» in Bern.

Wie gesagt, der Film war eine Spielerei, eine Ablenkung. Doch mir schien, ich sollte, bevor ich mein Universitätsstudium begann, mehr Klarheit darüber gewinnen, was meinen «Drang nach Wahrheit» ausmachte. Eigentlich hatte ich doch die klassischen Bildungsideale längst über Bord geworfen; das Gute, das Wahre und das Schöne waren mir verdächtig. Ich glaubte nur noch an das Nützliche. Und doch steckte der Idealismus tief in mir, und dem wollte ich auf die Spur kommen. Ich las Platons «Apologie», die grosse Verteidigungsrede des Sokrates vor dem athenischen Volksgericht. Er war angeklagt, ein Verderber der Jugend zu sein und die vom Staat angenommenen Götter abzulehnen. Dies entspreche nicht der Wahrheit, sagte Sokrates zu seinen Richtern, und er wolle der Unwahrheit der Anklage die schlichte Wahrheit entgegensetzen. Er sei kein Weiser, sondern ein Fragender, und er wisse wohl, dass er die Menschen, die er untersuche und bei denen er sehr wenig Wissen gefunden habe, verärgert und sich dadurch viele Feinde gemacht habe. Aber es sei nun mal seine Aufgabe, nach der Wahrheit zu suchen, und es sei eine wichtige Aufgabe. Dass er damit die Jugend verderbe, sei eine blosse Behauptung. Auch dazu wolle er die Wahrheit herausfinden. Das nun folgende Frage- und Antwortspiel zwischen Sokrates und seinem Ankläger Melitos gibt Platon so wieder: Wer ist es denn, der die Jugend besser macht, statt sie zu verderben, fragt Sokrates. Die Richter sind es, sagt Melitos. Alle oder nur einige, will Sokrates wissen. Alle, sagt Melitos, und ausserdem auch die Männer des Rates und letztlich alle Athener. Alle Athener also machen sie gut und edel, nur er, Sokrates verdirbt sie? Melitos bestätigt es. Sokrates konstatiert: Bestens steht es um die Jugend, wenn einer allein sie verdirbt, die andern alle aber sie zum Guten fördern. Er will nun wissen, in welcher Art er die Jugend verdirbt. Statt Melitos antworten zu lassen, gibt er selbst die Antwort: Offenbar indem ich lehre, nicht an die Götter zu glauben, sondern an allerlei Neues, Daimonisches. Ja, sagt Melitos, du glaubst nicht an die Götter. Sokrates widerspricht: Der Daimon selbst ist göttlich oder stammt zumindest von Göttern ab. Also kann ich nicht ganz gottlos sein.

Der Dialog, wie ihn Platon aufgeschrieben hat, kam mir konstruiert vor. Überzeugend daran schien mir nur, dass Sokrates sagt, er sei nicht im Besitz der Wahrheit, er suche aber danach, und das allein sei wertvoll. Doch ist es echte Wahrheitssuche, wenn Sokrates immerfort Suggestivfragen stellt und die Antworten bekommt, die er will, die seiner Argumentation dienen? Hätten nicht seine Gegner vielleicht genauso gute Argumente? Man kann alles immer von unterschiedlichen Seiten her betrachten, dachte ich, und deshalb gibt es unterschiedliche Wahrheiten.

Noch problematischer als sein Wahrheitsbegriff kam mir Sokrates’ Daimon vor. Er schildert ihn als etwas Göttliches, das uns mahnt, bei der Wahrheit zu bleiben. Bei welcher Wahrheit? Sokrates’ Daimon war für mich nichts anderes als das, was wir das Gewissen nennen, und das Gewissen bildet sich durch Erziehung und gesellschaftliche Zwänge. Nur daran glaubte ich, nicht aber an eine göttliche Stimme, die uns leitet. Seit meinem 16. Lebensjahr wollte ich ein Naturalist sein, das heisst, ich sah meine Erkenntnismöglichkeit auf Natur und Gesellschaft beschränkt, glaubte an nichts Übernatürliches, verzichtete auf Gott. Was ich im Biologie-Unterricht über den Darwinismus gehört hatte, genügte mir: Es geht ums Leben und Überleben, um den Kampf ums Dasein. Wer sich den Verhältnissen anpasst, überlebt, wer dazu nicht imstande ist, geht unter. So war ich nicht nur Naturalist, sondern auch Sozialdarwinist. Die Erkenntnisse der Verhaltensforscher Bernhard Grzimek und Konrad Lorentz übertrug ich von den Tieren auf die Menschen. Diese verstand ich besser, wenn ich das Verhalten jener verstand. Damit war ich weit entfernt von Sokrates und von der Ideenlehre Platons.

Allerdings war mein Denken wenig gefestigt. Auch später noch, als ich im Marxismus Halt zu finden glaubte, schwankte ich hin und her zwischen dem Glauben an die Wirkung von etwas Transzendentem auf uns Menschen und dem puren Naturalismus, zwischen Idealismus und Materialismus. Und damals, als ich die Apologie des Sokrates las, war ich trotz aller Skepsis versucht, auch eine andere Lesart zuzulassen. Die Künstlichkeit des Dialogs verstand ich dann nicht als Fehler des Sokrates, sondern sah dahinter den eigentlichen Autor, nämlich Platon, der etwas demonstrieren will. Und auch der Daimon kam mir nicht ganz so abwegig vor, wenn ich ihn als göttliche Mahnung verstand, nicht von der Wahrheit abzuweichen. Denn das Wahre und das Gute gehören zusammen. Beides lässt sich nicht vom Nützlichen ableiten oder als Leitlinie für nützliches Verhalten zurechtbiegen; sie sind absolut. Dem Wahren und Guten ist das Schöne beigesellt, dem sich, wie Schiller in der Nänie» sagt, Menschen und Götter unterwerfen sollten.

Die lieben Bücher

Kurz vor dem Beginn meines ersten Studiensemesters standen mir zwei unterschiedliche Existenzweisen deutlich vor Augen: «Wie die Ameise getrieben vom Naturgesetz ein Leben lang emsig arbeitet, kann auch der Mensch ins Leben eintauchen, entweder ohne zu wissen, dass er gar nicht frei ist, oder in einsichtiger Unterwerfung unter das Naturgesetz. Die andere Möglichkeit ist, dass er nicht eintaucht, sondern darüber schwebt und Erkenntnisse gewinnt.» Mich lockte die zweite Möglichkeit. Warum? Weil ich mich daran erinnerte, dass ich, als ich etwa 16 Jahre alt war, das Gefühl hatte, endlich zu erwachen. Mir schien, ich erkenne nun meine Umwelt, es werde mir bewusst, was menschliches Leben ist, wie der Mensch in der Welt steht, durch welche Kräfte die Gesellschaft zusammengehalten wird. Mir schien, alles hänge mit allem zusammen, und diese Einsicht machte mich glücklich. In der Schule aber erlebte ich das Gegenteil: Alles wurde zerteilt, jedes Fach stand für sich, das Dazwischenliegende blieb dunkel. Als Gymnasiast musste ich mich behaupten, die Lehrer und Lehrerinnen benoteten unsere Leistung, und die Noten gaben an, ob ich besser oder schlechter als die anderen war. Das Glücksgefühl, das aus der Erkenntnis der Zusammenhänge und aus dem Erleben des Gemeinsamen erwächst, wurde durch den öden Schulalltag verdrängt. Jetzt, da die Schulzeit zu Ende war, wollte ich es zurückholen.

Ich beschloss, keine Karriere im Sinn von materiellem Gewinn anzustreben, sondern mich auf den Weg zunehmender Erkenntnis zu begeben. Allerdings musste ich selbstkritisch feststellen, dass meine Möglichkeiten begrenzt waren, denn oft war ich zu faul, eine Sache zu Ende zu denken, oder auch einfach unfähig dazu. So tröstete ich mich damit, dass man sowieso nie endgültige Antworten finden könne. «Je weiter man sieht, desto komplizierter wird alles. Man sollte sich trotzdem immer anstrengen», notierte ich und versuchte mich so für ein intensives Studium zu motivieren. Denn ich wollte nicht wie Goethes Faust am Ende sagen müssen: «Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!» Nein, ich gedachte, klüger zu werden, und meinte, wenn ich nur wolle, würde mir das auch gelingen. So wurde ich ein Büchernarr. Das Bücherlesen ist aber eine einsame Angelegenheit, und die andere Komponente des Glücks, die Gemeinsamkeit, litt darunter.

Das ganze Wissen war in den Büchern, glaubte ich, und diese waren dank der Erfindung des Taschenbuchs wohlfeil zu haben. Zeitweise arbeitete ich in der Taschenbuchhandlung Lüthi. Die Filialleiterin, Fräulein Mohr, hatte eine Aushilfe gesucht; Peter Meyer hatte sich gemeldet und den Job bekommen. Als er einen besseren fand, schlug er mich als seinen Nachfolger vor. Die Buchhandlung war mir von meinen häufigen Besuchen her vertraut. Immer wieder hatte es mich hingezogen zu den rororo-, dtv- und Fischer-Taschenbüchern, den Reclam-Bändchen, den englischen Penguin Books, den französischen Que sais-je? und den Livres de Poche. In einem nicht besonders grossen Raum im Erdgeschoss eines modernen Gebäudes waren sie untergebracht, ringsum von grossen Glasscheiben umgeben, so dass der Raum hell und aufklärend wirkte. Auf niedrigen Gestellen standen gut greifbar die Objekte meiner Begierde. Jetzt durfte ich also als Verkäufer statt als Kunde mit ihnen umgehen. Als ich eintrat, um mich dem blonden Fräulein Mohr als Nachfolger von Peter zu präsentieren, war sie gerade dabei, die bunten Bändchen der edition suhrkamp zu tätscheln, wie sie sagte, damit sie wieder in eine gerade Reihe zu stehen kamen. Wo zwischen ihnen eine Lücke klaffte, holte sie aus der Schublade unterhalb des Büchergestells Ersatzbändchen hervor und ordnete sie an der richtigen Stelle ein. Die Umschläge waren so nummeriert und gefärbt, dass sie, wenn die einzelnen Bändchen vollständig und fortlaufend eingeordnet waren, die Farbabfolge des Regenbogens ergaben. Das sah hübsch aus, und darauf legte Fräulein Mohr grossen Wert. Auf weitere Instruktionen verzichtete sie, bat mich einfach, allfällige Kunden zu bedienen, derweil sie kurz ins Lager im ersten Stock hinaufgehe. Ein erster Kunde trat ein. Es war ein Gymnasiast, der nach den Gedichten von Walther von der Vogelweide fragte. Ich hatte keine Mühe, das Büchlein aus der Reihe «Exempla classica» im Fischer Verlag zu finden. Der Schüler bezahlte mit einer Zehnernote. Der Preis von 4 Franken 35 Rappen war auf der Innenseite des Buchdeckels mit Bleistift angeschrieben, und diesen Betrag tippte ich in die Kasse ein, aber die Schublade mit dem Wechselgeld öffnete sich nicht. Fräulein Mohr hörte meine Hilferufe nicht, so dass ich 5 Franken und 65 Rappen aus meinem eigenen Portemonnaie hervorklauben und dem Kunden aushändigen musste. Als Fräulein Mohr endlich wieder ins Verkaufslokal trat und ich ihr das Problem schilderte, entschuldigte sie sich für das Versäumnis und erklärte mir die genaue Funktionsweise der Kasse. Zudem wies sie mich an, jedes verkaufte Buch in eine Verkaufsliste einzutragen, damit sie es nachbestellen könne. Das alles war nicht schwierig, und die Zahl der Kundinnen und Kunden hielt sich in Grenzen, so dass ich genug Zeit hatte, zwischendurch irgendein Büchlein aus einem Gestell zu ziehen und darin zu lesen. Wenn ich es wieder einordnete, tätschelte ich die Buchrücken, bis alle wieder genau auf der gleichen Linie standen.

Eines Tages trat Beatrix in die Buchhandlung. Überschwänglich begrüsste sie mich. Sie habe gehört, dass ich hier arbeite. Was sie denn für ein Buch haben möchte, fragte ich. Sie sei nicht wegen der Bücher gekommen, sondern wegen mir, sagte sie. Jetzt wurde mir ein wenig unbehaglich. Ich hatte gemeint, sie habe begriffen, dass es zwischen uns zu Ende sei. Doch offensichtlich wollte sie mehr als eine unverbindliche Konversation. Ich blieb distanziert, begann von dem Buch zu reden, in dem ich gerade gelesen hatte. Sie fragte, wie es mir gehe, was ich am Wochenende vorhabe. Darauf ging ich nicht ein, war froh, als ein Kunde eintrat, den ich sofort nach seinen Wünschen befragte. Beatrix liess ich stehen. Sie versuchte noch einmal, ein Gespräch anzuknüpfen, und als ich darauf nicht einging, verliess sie mit kurzen schnellen Schritten den Laden. Ich schaute ihr nach, hatte Bedauern mit ihr und auch ein wenig ein schlechtes Gewissen. Aber was sollte ich tun? Ich liebte Christine und nicht sie, und ich wusste, dass sie sich mit Peter Meyer eingelassen hatte, wobei ich nicht ausschloss, dass sie weniger an Peter interessiert war als er an ihr. Bald vergass ich die Episode wieder. Ich sollte Beatrix nie wiedersehen.

Ein Gewinn meiner Tätigkeit in der Buchhandlung bestand darin, dass ich nicht nur ein wenig Geld verdiente und Zeit hatte zum Lesen, sondern auch das Recht hatte, Bücher zu einem reduzierten Preis zu kaufen. Das nutzte ich aus, nahm viel mehr Bücher mit, als ich zu lesen imstande war, ging dabei sehr unsystematisch vor, griff nach einem klassischen literarischen Text, dann wieder nach etwas Modernem, manchmal versuchte ich mich an soziologischen, geschichtstheoretischen oder philosophischen Texten. Längst nicht alle las ich bis zum Ende; was mich langweilte oder was ich nicht verstand, legte ich beiseite. Auch was zuhause bei meinen Eltern herumlag, las ich zu einem guten Teil, theologische Literatur und Belletristik, die meiner Mutter gehörten, oder ökonomische und soziologische Abhandlungen, die mein Vater bestellt hatte, obwohl er kaum je die Zeit fand, sie zu lesen. Inzwischen hatte ich mich mit Papa geeinigt; er akzeptierte meine Studienwahl, und als das Semester begann, händigte er mir den Betrag für die Einschreibegebühr und ein Taschengeld aus.

Jeden Tag fuhr ich mit dem Zug von Biel nach Bern an die Uni. Im Zug traf ich andere Studierende. Jean-Pierre Wolf hatte sich an der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät eingeschrieben. Ich hatte gerade die «Dynamische Gesellschaft» von Richard Fritz Behrendt gelesen, und im Zug diskutierte ich mit Jean-Pierre darüber. Er äusserte sich ziemlich abwertend über Behrendt, der ein bürgerlicher Soziologe sei und davon ausgehe, dass es Klassengegensätze nicht mehr gebe oder dass sie jedenfalls keine wesentliche Rolle spielten. Linke, gesellschaftskritische Ansätze seien viel interessanter. «Ich bin froh», sagte er, «dass Behrendt von der Uni Bern weg ist und wir jetzt Urs Jaeggi haben.»

«Du kannst doch nicht einfach Teile der heutigen Soziologie von vornherein abschreiben und dich nur auf linke Soziologen einlassen», erwiderte ich.

«Warum nicht? Alles können wir sowieso nicht wissen. Wir müssen uns entscheiden, was uns wichtig ist. Ich bin parteilich, ich gehöre zur Linken.»

«Das finde ich ein wenig borniert. Als Studenten müssen wir doch offen sein, uns mit möglichst vielen Theorien auseinandersetzen.»

«Sicher, aber irgendwo müssen wir auch eine eigene Haltung haben. Es gibt keine allgemeingültige Wahrheit, aber aus meiner Perspektive, von dem her, was ich voraussetze, kann ich entscheiden, was ich gut und was ich schlecht finde. Und dass von bürgerlicher Seite aus immer wieder Lügen in die Welt gesetzt werden, die dazu dienen, gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu kaschieren oder zu rechtfertigen, scheint mir offensichtlich.»

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Was Jean-Pierre sagte, imponierte mir einerseits, andererseits verursachte es mir Unbehagen. Ich versicherte mich meiner Meinung, indem ich ins Tagebuch schrieb: «Man sollte sich die Fähigkeit, zu fragen und sich nicht festzulegen, immer bewahren. Nur so kann man vermeiden, in eine Einbahnstrasse zu geraten. Armand Gatti sieht das Leben so: zuerst mehrspurig, dann durch gesellschaftliche Konventionen immer mehr verstümmelt, bis es eine Einbahnstrasse ist. Das mehrspurige Leben ist vielleicht mühsamer. Doch der Verzicht auf die Leitplanken, die Offenheit gegenüber allem, bringt einen grossen Reichtum in mein Leben. So lebt der Künstler. Das künstlerische Schaffen hilft ihm, dieses Leben zu bewältigen.»

War es mein heimlicher Wunsch, Künstler zu werden, so wie der französische Schriftsteller, Theater- und Filmregisseur Armand Gatti? Nein. Ich fand lediglich, die Künstler seien die interessanteren Menschen; mit ihnen wollte ich mich auseinandersetzen, ohne mich mit ihnen zu identifizieren. Nachdem ich Pasolinis Film «Il Vangelo secondo Matteo» gesehen hatte, dachte ich darüber nach, welche Absichten er als Regisseur hatte. Gleichzeitig fasziniert und abgestossen davon, wie er Christentum und Kommunismus miteinander verquickte, fühlte ich mich zur Frage angeregt, was eigentlich die Botschaft der Evangelien sei. «Pasolini zeigt liebevoll einzelne Menschen», notierte ich, «doch die Liebe zum Menschen muss zurückstehen hinter einem Fanatismus, der durch eine Revolution absolute Ansprüche befriedigen will. Jesus sagt: ‘Ich bringe das Schwert und nicht den Frieden.’ Er ruft zur Revolution auf. Als er stirbt, stürzen Mauern ein. So hat der Kommunist Pasolini das Evangelium verfilmt. Hat er damit die Botschaft des Rabbi Jesus anschaulich gemacht oder doch eher seine kommunistischen Ideen? Oder ging es ihm darum, die Bibel zu entlarven, die eben nicht nur eine Botschaft der Liebe ist? Gehört das Christentum in die Kategorie eines gewalttätigen Fanatismus, wie es der Kommunismus in der Zeit der Russischen Revolution war? Oder hat Pasolini die Bibel falsch verstanden? Oder wird sie von der heutigen Kirche falsch ausgelegt? Durch den Film habe ich zum ersten Mal vernommen, dass Jesus das Volk in demagogischer Art auf die Pharisäer hetzte. Diese Seite von Jesus wird von der Kirche verschwiegen, denn jetzt ist sie es, welche die bestehende Ordnung aufrechterhalten will.» – Solche Notizen verfasste ich zuhauf, und unmittelbar danach hatte ich jeweils das beglückende Gefühl, ich hätte etwas Wichtiges gelernt oder etwas diffus Gewusstes sei mir klarer geworden. Später kamen mir meine Erkenntnisse dann jeweils banal vor.

Universität

An meinem ersten Tag an der Uni band ich mir eine Krawatte um, weil ich meinte, das gehöre sich so für einen Studenten. Ich musste dann feststellen, dass die meisten Kommilitonen in Hemd und Pullover herumgingen. Die Studentinnen trugen hübsche Röcke oder Jupes und Blusen, ihre Haare waren toupiert. Unter einander war das förmliche «Sie» nicht mehr üblich; man duzte sich. Die Professoren aber hielten an den alten Formen fest, erschienen in Anzug und Krawatte, liessen sich mit ihrem Titel ansprechen und sprachen ihrerseits die Studentinnen mit Fräulein und die Studenten mit Herr Soundso an. Ihre Vorlesungen und Seminare kündigten sie auf handgeschriebenen Zetteln an, die im Kasten in der Eingangshalle des Hauptgebäudes der Uni mit Reissnägeln befestigt waren. Die Studierenden konnten auswählen, welche Lehrveranstaltung sie besuchen wollten; die Studienfreiheit war fast absolut. Die Universität war ähnlich strukturiert wie einst die katholische Kirche. Die Inhaber eines Lehrstuhls, die Ordinarien, standen zuoberst in der Hierarchie. Weiter unten tummelten sich Honorarprofessoren, Privatdozenten, Lehrbeauftragte, Oberassistenten, Assistenten und Hilfsassistenten. Auf allen Stufen gab es, mit wenigen Ausnahmen, keine Frauen. Die Ordinarien nahmen an den Fakultätssitzungen teil, die von einem Dekan geleitet wurden. Das Leitungsgremium der Gesamtuniversität war der Senat, dessen Vorsitzender der jährlich wechselnde Rektor war. Die Universität verstand sich als alma mater, als Nährmutter aller Wissensdurstigen, und als autonome Gelehrtenrepublik, die sich gegen staatliche Eingriffe möglichst zu schützen versuchte. Ich war stolz, zu dieser Institution gehören zu dürfen. Noch bildeten die Angehörigen der Universität eine gesellschaftliche Elite, noch zelebrierten die farbentragenden Verbindungen die alte Burschenherrlichkeit. Am Dies acadmicus erschienen die Dekane und der Rektor im Talar und die Verbindungsstudenten im Vollwichs, das heisst in Stiefeln und weissen Hosen, mit Paradeschläger, Käpi und Schärpe in den Verbindungsfarben. Das fand ich lächerlich; es wäre mir nie eingefallen, da mitzumachen. Ansonsten freute ich mich auf das Studentenleben, versprach mir viel davon.

Zu Beginn meines Studiums suchte ich mein Wissen eher zu verbreitern als zu vertiefen. Neben den Vorlesungen und Proseminaren, die zum normalen Studiengang gehörten, besuchte ich auch die Vorträge zu fächerübergreifenden Themen, die unter dem Titel Studium generale angeboten wurden. Es war der Versuch, das zu tun, was ich am Gymnasium vermisst hatte, nämlich die Lücken zwischen den verschiedenen Fachgebieten zu füllen. Besonders interessant fand ich einen Vortrag unter dem Titel «Die Auffassung vom Menschen aus der Sicht der modernen Biologie». Referent war der berühmte Basler Forscher Adolf Portmann. Den «ewigen Menschen» gebe es nicht mehr, sagte er; der Gedanke der Evolution werde in der Biologie allgemein anerkannt. Die Wissenschaft habe vor dem Menschen nicht Halt gemacht, so dass heute erwogen werde, ihn künstlich zu verändern, damit er besser in die Umwelt passe, die er selbst geschaffen habe. Durch genetische Eingriffe sollten Menschen mit wünschenswerten Eigenschaften gezüchtet werden. Das sei notwendig, sagten gewisse Utopisten, weil sich die menschliche Rasse verschlechtert habe. Schuld daran sei das Christentum, das sich mit seiner Lehre, wonach jedes menschliche Leben erhaltenswert sei, der natürlichen Auslese entgegengestellt habe. Deshalb brauche es den Menschen aus der Retorte. Portmann warnte vor solchen gut gemeinten Absichten. Genetische Experimente seien beim aktuellen Stand der Kenntnisse unverantwortlich. Der Mensch habe schon viel Unheil angerichtet mit seinen Eingriffen in die Natur, deren Folgen er nicht abschätzen konnte. Portmann sprach von der Möglichkeit, ein Ei ausserhalb des Mutterleibs zu befruchten und auch reifen zu lassen. «Was tun wir mit dem ‘Produkt’, wenn das Experiment missglückt?», fragte er. Der Naturwissenschaftler, der zunächst nur die faszinierenden neuen Möglichkeiten sehe, brauche die Hilfe der Philosophie.