Was wäre, wenn ich damals...? - Julika Szabó - E-Book
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Was wäre, wenn ich damals...? E-Book

Julika Szabó

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Beschreibung

Sommerurlaub mit vier Kindern kann verdammt anstrengend sein, das erlebt Eva gerade. Dabei ist sie froh, dass ihr Mann Jan überhaupt mitkommen konnte. Doch der Urlaub gibt ihr auch Zeit, über ihr bisheriges Leben nachzudenken. Was wäre, wenn sie damals mit dem kreativen Tom zusammengeblieben wäre? Würde sie dann mit Tom am Strand sitzen, Sandburgen bauen und ihren älteren Kindern beim Surfen zusehen? Oder wäre sie kinderlos geblieben und würde mit Tom um die Welt fliegen? Auf magische Weise erhält Eva die Chance zurück zu reisen und eine Antwort zu finden.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

26. Januar 1994

4.

27. Januar 1994

02. Februar 1994

5.

6. April 1994

14. April 1994

29. April 1994

3. Mai 1994

6.

30. Mai 1994

15. Juni 1994

20. Juni 1994

25. Juni 1994

26. Juni 1994

7.

8. August 1994

03. Oktober 1994

10. Oktober 1994

8.

17. Oktober 1994

28. Oktober 1994

14. November 1994

15. November 1994

22. November 1994

9.

21. Dezember 1994

24. Juni 1995

10.

11.

12.

13.

Epilog

Impressum

Was wäre, wenn ich damals …?

Ein kurzer Roman über das Schreiben und das Leben

von

Julika Szabó

Das Meer

lächelt in der Ferne.

Zähne aus Schaum,

Lippen aus Himmel.

(Federico García Lorca)

1.

»Ahhhh, tut das gut!« Der feine Sand rieselt sanft und warm über meine geschundenen Füße. Luise legt eine Schaufel nach.

Ein lauter Schrei der Entzückung tönt über den Strand.

»Da, da, Dscheep.«

Ein kleines Kind in einem roten T-Shirt läuft auf den orangefarbenen Jeep der holländischen Reddingsbrigade zu. Ben? Wo ist Ben? Gerade saß mein Jüngster noch neben mir und buddelte friedlich im Sand.

Meine Thalassotherapie findet ein jähes Ende, ich sprinte los, um Ben rechtzeitig aus der Fahrrinne zu reißen. Im gleichen Moment macht der Jeep eine Vollbremsung, wirbelt eine Tonne Sand auf und dreht sich im Kreis. Hysterisch schreie ich auf und drücke meinen Jüngsten fest an mich.

»Niss passiert, Mami, Jeep snell.«

Genau das. Verdammt schnell.

Jan, der die ersten Surfversuche von Jonas und Lukas mit dem Handy filmen wollte, kommt wenige Sekunden später angerannt.

»Mama, Eis.« Ben scheint offenbar keinen bleibenden Schaden davon getragen zu haben, die Basisinstinkte funktionieren einwandfrei.

»Ja, Mama, ich will auch ein Eis.« Luise nutzt jede Gelegenheit, um ihren Schokoladeneisspeicher aufzufüllen, egal bei welcher Witterung.

Mein Puls rast, ich unternehme nicht einmal den leisesten Versuch, zu protestieren.

»Dein Job«, sage ich und drücke Jan sein Portemonnaie in die Hand. »Und lasst euch Zeit!« Jan nimmt Ben an die Hand und geht mit ihm Richtung Strandpavillon, neben ihm Luise, die ein Rad nach dem anderen schlägt.

Ich rolle mich in meine Ausgangsposition vor der Strandmuschel zurück und atme tief ein. Und wieder aus. Und ein. Und aus …

Ein Flugzeug teilt den Himmel mit seiner Spur in zwei Hälften, während vereinzelte Schäfchenwolken parallel dazu genau in die entgegengesetzte Richtung ziehen. Ansonsten nur blau, nichts als blau. Ich bohre die Zehen in den Sand, alldieweil ich Jonas und Lukas bei ihren ersten Versuchen mit den Surfbrettern zusehe. Um die beiden sorge ich mich nicht, sie schwimmen wie Fische. Beruhigt atme ich durch.

Eine freie Minute, ohne Kindergeschrei, Schokoladensauce auf dem frischgewaschenen T-Shirt, aufgeschürfte Knie oder eingeschlagene Zähne.

Ich liebe meine Kinder mehr als alles andere auf der Welt, jedes auf seine Art. Doch an manchen Tagen ist mir alles zu viel.

So wie heute.

Urlaub.

Sollte man sich im Urlaub nicht erholen? Schon vor dem Frühstück bin ich mit dem Fahrrad los, um einzukaufen. Dann als ich zurückkam, habe ich eine Extraladung Wäsche gewaschen, weil Ben wieder alles eingesaut hat. Um überhaupt ins Badezimmer zu gelangen, musste ich mir erst einmal eine Schneise schlagen.

Unausgepackte Strandtaschen, ein Haufen feuchter Handtücher, leere Wasserflaschen und Kekspackungen. Schnorchel und Flossen auf dem Wohnzimmertisch, dazu ein paar leere Teller mit Resten diverser Zwischenmahlzeiten.

Eigentlich genau wie zu Hause. Nur mit Sand.

Und dabei sind wir doch erst zwei Tage hier. Wie wird es erst in vier Wochen sein, wenn wir unser Urlaubsdomizil wieder verlassen müssen? Mir graut schon jetzt vor diesem Tag.

Doch bei all dem Chaos ist endlich Urlaub. Kein Weckerklingeln um 5.30 Uhr, kein Geschrei oder Streit wegen blockiertem Badezimmer und vergessenen Hausaufgaben.

Angekommen.

Sonne, Wind, Meer und ein paar kleine Ruheinseln, wie dieser Moment.

Hier auf Texel.

Ich liebe diese Insel. Es ist schon mehr als fünfzehn Jahre her, seit Jan und ich das erste Mal mit vollgepackten Fahrrädern die Fähre vom Festland nahmen. Was war das Leben doch unkompliziert! Wir sind losgeradelt, waren von morgens bis abends unterwegs und haben uns dann in unser Zelt in den Dünen gekuschelt. Heute gleicht jeder Familienurlaub einer monatelang vorzubereitenden und minutiös zu planenden Dschungelexpedition. Zahnspange für Jonas, die Allergiemedikamente für Lukas, Luises Schokomüsli, ohne das sie nicht überleben würde. Und natürlich die Komplettausrüstung für Ben. Alles in mehrfacher Ausführung für alle Zwischenfälle und Eventualitäten.

Eigentlich geht es mir ja bestens. Ich habe alles, was man sich nur wünschen kann. Eine große, lebendige und meistens gesunde Familie, einen fürsorglichen Mann, genug Geld, um sich keine Sorgen machen zu müssen.

Was will man mehr?

Dennoch überkommt ES mich an manchen Tagen.

Ein seltsames, unbestimmtes Gefühl. An diesen Tagen, an denen man nur ferngesteuert und fremdbestimmt wird. Immer weiter läuft und läuft in einem kleinen Hamsterrad. Wenn ich von der Schule zum Balletttraining und wieder zurück zur Schule und zum Basketballtraining fahre und plötzlich irgendwo stehe und nicht mehr weiß, wie ich dort hingekommen bin.

Da schleicht ES sich klammheimlich ein. Das Gefühl, dass das nicht alles gewesen sein kann. Das Gefühl, dass alles anders sein könnte, wenn, ja wenn ich damals, an einem einzelnen Tag etwas anders gemacht hätte.

Doch egal, wie lange ich darüber nachgrübele: Ich habe ich nicht die geringste Ahnung, welcher Tag meines bisherigen, recht unspektakulären Lebens das gewesen sein könnte.

Ja, was wäre, wenn?

Ein Signalton lässt mich von meinen Gedanken hochschrecken. Typisch Jan, nicht mal hier am Strand kann er sein Smartphone ausschalten. Bestimmt wieder die Kanzlei, maule ich in mich hinein, während ich in den Taschen seines Rucksacks herumwühle.

Fehlanzeige, sein Handy ist nicht da. Natürlich nicht, er würde niemals ohne Handy ein Eis essen gehen, es könnte ja ein wichtiger Mandant anrufen.

Dann muss es meins gewesen sein. Nach längerem Kramen finde ich es endlich in den Tiefen meiner Strandtasche.

Eine Nachricht von Jule.

Es gibt doch noch Traumprinzen. Habe einen kennengelernt. Tom. Drehbuchregisseur. Blond, blauäugig, fliege mit ihm am WE zum Dreh nach London.

Gruß und Kuss Jule.

Typisch Jule. Meldet sich monatelang nicht, um mich dann mal eben mit einer Kurznachricht über die neuesten Eroberungen auf dem Laufenden zu halten.

Jule.

Meine allerbeste Freundin seit Studienzeiten. Jule hat alles, was ich nicht habe. Und umgekehrt. Sie ist groß, blond, ihre Figur weist Modelqualitäten auf. Dazu ist sie blitzgescheit, ohne arrogant zu sein, eine seltene Mischung. Ich habe sie oft beneidet für die Selbstsicherheit, mit der sie durch ihr Leben schreitet und sich in einer männerdominierten Welt der Gesellschaftsrechtsanwälte und Insolvenzverwalter durchgesetzt hat. Sie jongliert mit Gesellschaften und Firmenvermögen in Millionenhöhe so selbstverständlich, wie ich Kartoffelsuppe mit Würstchen koche. Jule und ich wohnen nur knappe dreißig Kilometer voneinander entfernt, doch uns trennen Welten.

Sie lebt mitten in der Stadt in einem Penthouse und arbeitet in einer Großkanzlei. Die meiste Zeit ist sie aber zu irgendwelchen Verhandlungen unterwegs, wegen Transaktionen, Restrukturierungen und Dingen, deren Namen ich kaum aussprechen kann und fünf Minuten, nachdem sie mir davon erzählt hat, wieder vergessen habe.

Nur ein einziges Mal habe ich Jule in ihrem Büro besucht. Damals hatte ich nur zwei Kinder im Schlepptau.

Lukas, der damals eigentlich ein umgängliches und pflegeleichtes Kleinkind war, weigerte sich partout, in den gläsernen Fahrstuhl des Hochhauses einzusteigen, und brüllte eine Viertelstunde lang wie am Spieß, bis ich aufgab.

Ich nahm ihn und Jonas an die Hand und stiefelte dann hochschwanger mit Luise die Treppen hoch, bis wir nach einer gefühlten Stunde mit hochroten Köpfen und klatschnass geschwitzt im 12. Stock ankamen. Die grandiose Aussicht auf die Stadt konnten wir nur einen kurzen Moment lang genießen, weil Jule zu ihrem nächsten Termin musste.

Jan und ich hingegen leben mittlerweile in einer Kleinstadt, schon fast auf dem platten Land und fühlen uns dort nach all den Jahren in der Stadt richtig wohl.

Die Kanzlei läuft seit dem Umzug viel besser als früher, weil er der einzige Scheidungsspezialist vor Ort ist.

Manchmal bereue ich, dass ich mein Referendariat nach der Geburt von Jonas nicht wieder aufgenommen habe. So einen Job wie Jule hätte ich gar nicht gewollt, denn er ist mit Kindern schwer vereinbar. Und ich wollte immer Kinder haben, genau wie Jan. Vier, um genau zu sein.

Aber ich hätte mir durchaus vorstellen können, Staatsanwältin zu werden. Dann wäre ich abgesichert und könnte, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus wären, wieder arbeiten. Oder ich wäre auch Anwältin geworden und könnte in der Kanzlei mitarbeiten.

Derzeit beschränkt sich meine Unterstützung auf das Bügeln seiner Hemden, die Zubereitung von drei überwiegend vollwertigen Mahlzeiten am Tag und das gelegentliche Umdekorieren der Büroräume.

An manchen Tagen wird mir mulmig bei dem Gedanken, dass Jan etwas passieren könnte. Allein mit vier Kindern wäre ich vermutlich vollkommen aufgeschmissen, ohne Beruf, eigene Rente, ohne Sicherheit.

Als Jonas geboren wurde, war es das Natürlichste auf der Welt, mit ihm zu Hause zu bleiben. Ich hatte kein Bedürfnis, etwas anderes zu tun, als dieses Wunder den ganzen Tag anzusehen und mich mit ihm zu beschäftigen.

Und in der Folgezeit hatte sich alles einfach so ergeben. Jan und ich waren uns immer einig, dass wir eine große Familie haben wollten. Aber wir hatten keine Vorstellung davon, was es für einen Kraftaufwand bedeutet, selbst in Zeiten, wo alles rundläuft. Und wenn dann noch Dreitagefieber, Windpocken oder ein Magen-Darm-Virus umhergingen, war es unmöglich auch nur an Arbeit zu denken.

Die Kinder brauchen mich so sehr wie ich sie. Unsere traditionelle Rollenverteilung habe ich nie hinterfragt. Jan hat mich nie zu etwas gedrängt, weder in die eine noch in die andere Richtung. Mit vier Kindern ist es sehr schwierig, einer geregelten Arbeit nachzugehen, es sei denn, man heißt Wonder Woman.

Jule ist das komplette Gegenteil von mir. Sie hat sich nie treiben lassen oder in den Tag hinein gelebt. Und wenn doch, dann ist sie nach einem klitzekleinen Schlenker blitzschnell zu ihrem Weg zurückgekehrt. Bereits in ihrem ersten Semester plante sie, in welcher Kanzlei sie ihre Karriere beginnen würde, in welchen Ländern sie arbeiten und wie viel Geld sie an ihrem vierzigsten Geburtstag verdienen wollte. Und nach dem, was ich am Rande von ihr aufschnappe, hat sie diese Ziele längst mehr als erreicht.

In ihr Privatleben hat sie bei weitem nicht so viel Energie gesteckt. Jule ist selten wirklich allein, aber ihre Beziehungen überdauern meistens keinen Winter.

Ich muss mich unbedingt sofort nach dem Urlaub mit ihr treffen und schicke ihr eine kurze Antwort.

Bin gespannt. Müssen uns unbedingt bald wieder treffen. Kuss Eva.

Nur wenige Sekunden später kommt ein grinsendes Emoji mit ihrer Rückantwort.

Dazu hast du auch allen Grund. Muss jetzt weg. Auf bald. Jule

2.

Exakt um 3.37 Uhr in der Früh wache ich auf.

Mein Herz rast, mir ist schlecht. Waren das die Muscheln von gestern Abend? Oder der Genever, den ich hinterher getrunken habe, um die Muscheln schwimmen zu lassen? Vermutlich beides.

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Langsam werde ich ruhiger, doch die Übelkeit bleibt. Jetzt bloß nicht bewegen. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.

Und dabei hatte ich so schön von früher geträumt.

Von alten Studienzeiten in Köln. Als ich von Party zu Party hüpfte, anstatt juristische Hausarbeiten zu schreiben oder für Klausuren zu pauken. Viel besser, als in der staubigen Universitätsbibliothek dicke Kommentare von links nach rechts zu schieben, um am Ende doch nicht die richtige Lösung zu finden für die Frage, wer wem wie viel Schadenersatz zahlen muss.

Gemeinsam mit einer Freundin, die an der Kunstakademie studierte, war ich zu einer Vernissage eingeladen. Die Bilder interessierten mich nicht, es war vielmehr eine willkommene Gelegenheit, umsonst zu Sekt und wohldekorierten Häppchen zu kommen. Ich lästerte mit Sabine über die abgrundtief hässlichen Bilder und Collagen, die mich an meine ersten künstlerischen Versuche im Kindergarten erinnerten, als plötzlich jemand hinter einer besonders scheußlichen Skulptur hervorstürzte und eine Banane aus seinem wehenden Mantel hervorzauberte. Er hielt sie mir wie ein Mikrofon vor den Mund: »Also, erst einmal herzlichen Glückwunsch! Sie sind nicht nur die 783. Besucherin dieser phänomenalen Ausstellung, sie sind auch bislang die aufregendste, jedenfalls der letzten fünfundzwanzig Minuten. Was ist Ihr Statement dazu?«

Unverschämt, das war das Erste, was mir in den Sinn kam. Er sieht unverschämt gut aus. Keine Ahnung, was ich geantwortet habe, aber ich erinnere mich genau an Toms hypnotisierenden Blick.

Und so nahm das Elend seinen Lauf.

Sabine meinte im Nachhinein, ich wäre völlig weggetreten gewesen. Hätte sie stehen gelassen und wäre mit diesem Mistkerl abgezogen. Und da hatte sie vermutlich Recht. Obwohl damals noch nicht abschließend feststand, was für ein Mistkerl Tom tatsächlich war. Sabine war noch monatelang sauer auf mich, weil ich mit ihrem Portemonnaie und Fahrradschlüssel in der Tasche auf und davon war und sie die drei Kilometer zu ihrer WG bei Schneeregen zu Fuß gehen musste.

Mist, schon wieder kommen mir die verdammten Muscheln hoch.

Nie wieder, schwöre ich.

Nie wieder Muscheln und nie wieder Alkohol.

Neben mir schnarcht Jan den Schlaf der Gerechten. Ohne Licht zu machen, quäle ich mich hoch und tapse in die Küche.

Komisch, dass ich auf einmal wieder von damals träume, und dann auch noch so real.

Während ich die Küchenschränke nach etwas Magenfreundlichem durchsuche, fällt mir ein, was mich die ganze Zeit irritiert hat.

Die SMS von Jule.

Tom.

Der gleiche Name.

Tom.

Drehbuchregisseur.

Dreh.

London.

Das kann doch nicht wahr sein. Der Tom, der mir soeben meinem Traum versüßt hat, verbrachte seine Zeit damit, Kabel zu tragen und sich Regisseur zu nennen. Ohne jemals einen Film gedreht zu haben. Das Einzige, was er zu dieser Zeit inszenierte, war sich selbst. Bereits bei unserem ersten Treffen verkündete er, dass er Regisseur sei. Derzeit noch im Kleinen, doch bald würde er ganz groß raus kommen. Und mit spätestens fünfunddreißig wolle er in London leben und überall auf der Welt zu Hause sein.

Tom, Dreh, London.

Unmöglich. Das kann kein Zufall sein.

Wo ist denn bloß mein verfluchtes Handy? Ich durchwühle unsere Strandtaschen, die nach einem langen Tag mal wieder nicht ausgepackt wurden. Irgendwo zwischen feuchten Handtüchern, Wasserflaschen finde ich es.

Was hatte Jule geschrieben? Blond, blauäugig.

Nicht sehr vielsagend, aber trotzdem. Könnte es sein, dass Jule meinem Tom von damals über den Weg gelaufen ist? Sie hätte ihn doch erkennen müssen.

Aber nein, die beiden sind sich damals überhaupt nicht begegnet.

Einige Wochen, bevor ich Tom kennenlernte, hatte ich Jule unter Tränen zum Flughafen begleitet. Sie hatte einen Volltreffer gelandet und Stipendium an der Law School in Chicago bekommen. Ein Jahr lang war sie weg und mit ihr meine restliche Motivation fürs Jurastudium. Deshalb zog ich mit Sabine und nicht mit ihr um die Häuser.

Das Rumoren in meinem Magen holt mich hartnäckig in die Gegenwart zurück. Im Küchenschrank finde ich eine alte Packung Fencheltee, der könnte helfen. Ich lasse das Leitungswasser erst einige Zeit laufen, bevor ich den Wasserkocher befülle und einschalte.

Plötzlich steht Jan neben mir. Ich zucke zusammen, durch das Sprudeln des Wasserkochers habe ich ihn nicht kommen hören.

»Was ist los mit dir? Kannst du nicht mehr schlafen?«

»Zu viel Fisch«, murmele ich. »Und zu viel Genever.«

Ich weiß genau, was jetzt kommen wird.

»Fisch muss schwimmen«, sprechen wir beide fast synchron.

Da ist sie wieder, die Vertrautheit und der gemeinsame Humor. Nach über sechzehn Jahren kennen Jan und ich uns in- und auswendig. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir beide das Gleiche denken. Vermutlich tun wir das auch, wir sind uns beide so ähnlich. Die gleichen Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte. Der gleiche Lebensplan. Und irgendwie haben wir auch das gleiche Temperament. Wie langweilig. Und spießig.

Wie wäre ein Leben mit Tom verlaufen, dem wilden, kreativen Tom, wenn ich damals …?

Ja, was hätte ich damals eigentlich anders machen müssen? Was wäre, wenn ich damals einfach nichts getan hätte?

Würde ich jetzt mit Tom hier in der kleinen Ferienhausküche stehen, Tee kochen und über den Sinn des Lebens nachdenken, während unsere vier Kinder friedlich in ihren Bettchen schlummern?

Oder wäre ich kinderlos und würde nach einem anstrengenden Drehtag mit Tom in einem Schnellimbiss in Soho sitzen oder auf Manolo Blahniks zu einem Fest in den Docks tänzeln?

3.

Müde, müde, immer nur müde.

Mittlerweile kenne ich kaum noch einen anderen Zustand. Mit jedem weiteren Kind hat sich die Zahl der Stunden, die ich schlafe, reduziert. Meistens macht es mir nicht viel aus. Doch an manchen Tagen bin ich so müde, dass ich nicht einmal mehr weiß, was meine Lieblingsfarbe ist oder ob ich Hunde oder Katzen mag.

Heute weht ein frischer Wind, so dass ich mich mit einem Berg Fleece-Jacken in unsere Strandmuschel verkrümele. Jan spielt mit Jonas und Lukas Fußball, während Ben mit seinem kleinen Plastikbagger eine Baugrube für eine neue Sandburg aushebt und dabei lautstark vor sich hin brummt.

Luise ist immer in Bewegung. Ihr scheint die Kälte nichts auszumachen, seit Stunden tänzelt sie den langen Sandstrand entlang, um SIE zu finden: die perfekteste und allerschönste Muschel der ganzen Insel.

Auch jetzt kniet sie wieder völlig versunken im Sand, prüft und begutachtet mit dem Expertenblick langjähriger Muschelsammlerinnenerfahrung, um die Exemplare, die ausgemustert werden, wieder behutsam in den Sand zu legen.

Luise, mein Engel. Alle meine Kinder sind Wunschkinder, aber Luise ist etwas Besonderes, nicht nur, weil sie das einzige Mädchen ist.

---ENDE DER LESEPROBE---