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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Denise von Schoenecker hatte sich in Sophienlust in ihr gemütliches Zimmer zurückgezogen. Sie tat das gern, wenn sie einmal wirklich ungestört sein und in Ruhe nachdenken wollte. Der Sommer neigte sich bereits seinem Ende zu, aber es war noch immer hochsommerlich warm. Nach den Wetterpropheten sollte es noch viele schöne Sonnentage geben. Darüber würden sich vor allem die Kinder freuen. Denise trat an eines der großen Fenster und sah hinaus. Noch standen die alten Laubbäume in ihrem vollen grünen Schmuck da. Kein gelbes Blatt war zu entdecken. Die Rosen dufteten mit dem Flox und den Levkojen um die Wette, und die weiten Rasenflächen leuchteten in einem saftigen frischen Grün. Obwohl der Anblick Denise vertraut war, beglückte sie die Schönheit des Parks von Sophienlust doch immer von Neuem. Aus der Ferne, von dort, wo sich die Spielplätze befanden, klang fröhliches Kinderlachen herüber. Sicher waren die kleineren Kinder im Sandkasten damit beschäftigt, kleine Sandkuchen zu backen. Denise war glücklich bei dem Gedanken, dass in Sophienlust schon so viele Kinder wieder das Lachen gelernt hatten. Es beglückte sie, dass sie selbst dazu vieles hatte beitragen können. Ganz sicher wäre die Großmutter ihres verstorbenen Mannes, Sophie von Wellentin, zufrieden mit ihrem Werk, könnte sie es heute sehen. Wurde doch Sophienlust mit Recht ringsum das Haus der glücklichen Kinder genannt. Denises Gedanken gingen für einen Augenblick ein paar Jahre zurück zu der Zeit, da sie, die kleine unbekannte Tänzerin, von der Familie ihres Mannes nicht anerkannt worden war. Heimlich hatte sie Dietmar von Wellentin geheiratet. Doch nur kurz hatte das Glück gedauert, das durch die Geburt ihres Sohnes Dominik seine Krönung gefunden hatte. Dann, nach dem Tod ihres Mannes, hatte sie eine harte Zeit durchstehen müssen.
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Denise von Schoenecker hatte sich in Sophienlust in ihr gemütliches Zimmer zurückgezogen. Sie tat das gern, wenn sie einmal wirklich ungestört sein und in Ruhe nachdenken wollte.
Der Sommer neigte sich bereits seinem Ende zu, aber es war noch immer hochsommerlich warm. Nach den Wetterpropheten sollte es noch viele schöne Sonnentage geben. Darüber würden sich vor allem die Kinder freuen.
Denise trat an eines der großen Fenster und sah hinaus.
Noch standen die alten Laubbäume in ihrem vollen grünen Schmuck da. Kein gelbes Blatt war zu entdecken. Die Rosen dufteten mit dem Flox und den Levkojen um die Wette, und die weiten Rasenflächen leuchteten in einem saftigen frischen Grün.
Obwohl der Anblick Denise vertraut war, beglückte sie die Schönheit des Parks von Sophienlust doch immer von Neuem. Aus der Ferne, von dort, wo sich die Spielplätze befanden, klang fröhliches Kinderlachen herüber. Sicher waren die kleineren Kinder im Sandkasten damit beschäftigt, kleine Sandkuchen zu backen.
Denise war glücklich bei dem Gedanken, dass in Sophienlust schon so viele Kinder wieder das Lachen gelernt hatten. Es beglückte sie, dass sie selbst dazu vieles hatte beitragen können. Ganz sicher wäre die Großmutter ihres verstorbenen Mannes, Sophie von Wellentin, zufrieden mit ihrem Werk, könnte sie es heute sehen. Wurde doch Sophienlust mit Recht ringsum das Haus der glücklichen Kinder genannt.
Denises Gedanken gingen für einen Augenblick ein paar Jahre zurück zu der Zeit, da sie, die kleine unbekannte Tänzerin, von der Familie ihres Mannes nicht anerkannt worden war. Heimlich hatte sie Dietmar von Wellentin geheiratet. Doch nur kurz hatte das Glück gedauert, das durch die Geburt ihres Sohnes Dominik seine Krönung gefunden hatte.
Dann, nach dem Tod ihres Mannes, hatte sie eine harte Zeit durchstehen müssen. Sie hatte den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn allein verdienen müssen. Damit war ihr nichts anderes übrig geblieben, als den kleinen Nick in ein Kinderheim zu geben. Doch dann hatte sie durch einen Zufall die Großmutter ihres verstorbenen Mannes kennengelernt. Sophie von Wellentin war eine kluge und gütige Frau gewesen. Sie war bemüht gewesen, das Unrecht, das Denise und ihrem kleinen Sohn widerfahren war, gutzumachen. Deshalb hatte sie ihren Urenkel Dominik von Wellentin zu ihrem Universalerben eingesetzt und zugleich den Wunsch geäußert, dass in Zukunft in Sophienlust Kinder leben sollten, die aus irgendeinem Grund die Elternliebe entbehren mussten oder in Not geraten waren. Da Dominik noch zu jung war, um sein Erbe selbst verwalten zu können, hatte Denise diese Aufgabe bis zur Großjährigkeit ihres Sohnes übernommen.
Während Denises Blick versonnen über die Gipfel der Bäume schweifte, dachte sie darüber nach, wie eigenartig manchmal die Wege des Schicksals waren. Damals, als sie auf der Schattenseite des Lebens gestanden hatte, hätte sie nicht für möglich gehalten, dass auch für sie wieder einmal die Sonne scheinen würde. Aber jetzt war sie eine glückliche Mutter und Ehefrau. Ihre zweite Ehe mit Alexander von Schoenecker war überaus glücklich geworden, und mit den Kindern aus Alexanders erster Ehe verband sie ein sehr inniges Verhältnis.
Ein Klopfen an der Tür riss Denise aus ihren Gedanken. Mechanisch strich sie sich das tiefdunkle Haar glatt und sah erwartungsvoll zur Tür.
Es war Frau Rennert, die Heimleiterin, die nach Denises freundlicher Aufforderung das Zimmer betrat. »Es ist Besuch da«, sagte sie, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Ich habe die Dame und ihren kleinen Sohn in das Biedermeierzimmer geführt. Die Dame möchte Sie unbedingt sprechen, Frau von Schoenecker. Es geht um ihren sechsjährigen Sohn Tobias.«
»Sie hat keinen Namen genannt?«
»Doch. Ihr Name ist Gracia Weyler.«
»Weyler?« Denise von Schoenecker sah interessiert auf. »Weyler«, sagte sie noch einmal nachdenklich. »Von den Weylers, die hier im süddeutschen Raum die großen Industriewerke haben?«
»Ich weiß es nicht, aber möglich ist es schon. Frau Weyler scheint eine ungewöhnliche Frau zu sein. Sie ist sehr schön und sehr elegant gekleidet. Allerdings macht sie einen etwas bedrückten Eindruck.«
»Nun«, sagte Denise mit einem feinen Lächeln, »bald werden wir mehr von ihr wissen. Bitte, lassen Sie doch in der Küche einen kleinen Imbiss zubereiten. Vielleicht etwas Tee und Gebäck.«
Während Denise die breite Treppe, die vom ersten Stock in die Halle hinabführte, hinabstieg, versuchte sie sich zu erinnern, was sie über die Familie Weyler gehört hatte. Es fiel ihr ein, dass die Familie schon oft Schlagzeilen gemacht hatte und der Name Weyler des Öfteren in den Zeitungen zu lesen war. Nicht nur, dass die Weylers sehr reich und mächtig waren, sie mussten auch sehr egozentrisch sein. Wenn Denise sich recht erinnerte, dann hatte der alte Markus Weyler drei Söhne und eine Tochter gehabt. Die Tochter, Marion Weyler, war zurzeit eine gefeierte Opernsängerin, die auf allen Bühnen der Welt zu Hause war. Der jüngste Sohn, Rolf Weyler, galt als Playboy und war ständig in irgendeine Affäre verwickelt. Denise forschte in ihrem Gedächtnis, was sie sonst noch über die Familie gehört hatte. Hatte sich nicht vor Jahren der eine Sohn mit seinem Vater entzweit und war ins Ausland gegangen? Dunkel erinnerte Denise sich daran. Es blieb ihr jedoch jetzt keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn sie hatte die Halle erreicht und steuerte nun auf das Biedermeierzimmer zu.
Denises erster Eindruck von der großen schlanken Frau, die an einem der Fenster stand, war, dass Gracia Weyler eine atemberaubende Schönheit war. Sie hatte eine vollkommene Figur, die durch die einfache, aber gerade deshalb sehr raffiniert wirkende Kleidung noch unterstrichen wurde. Das Gesicht war ein zartes Oval, in dem zwei dunkle Augen zu brennen schienen. Der Mund war voll, die Nase schmal und zierlich. Gekrönt wurde das alles von einem leuchtenden Haar, das in der Sonne wie flüssiges Gold anzusehen war.
Eine wahrhaft strahlende Erscheinung. Aber als Denise näher trat, sah sie, dass der erste Eindruck nicht ganz stimmte. Das schöne Gesicht wirkte bei näherer Betrachtung leidend. In den Augen schienen ungeweinte Tränen zu stehen, und um den Mund lag ein wehmütiger Zug. Doch als Gracia Weyler jetzt Denise mit einem kleinen Lächeln um den Mund ein paar Schritte entgegenkam, konnte man ahnen, wie bezaubernd diese Frau von Natur aus war.
»Ich bin so froh, Frau von Schoenecker, dass ich Sie persönlich sprechen kann. Ich befürchtete schon, dass ich Sie nicht erreichen würde. Ihr Kinderheim Sophienlust ist mir wärmstens empfohlen worden. Es handelt sich um meinen kleinen Stiefsohn Tobias.« Damit schob die Besucherin einen kleinen Buben, der dicht neben ihr stand, etwas näher an Denise heran.
Lächelnd beugte sich Denise zu dem kleinen blonden Buben hinab. »Guten Tag, Tobias.« Sie reichte ihm die Hand, die der Junge erst nach einem kleinen Zögern ergriff. Dabei sah er neugierig zu Denise empor. Sein Blick war ernst, forschend und nicht ganz ohne Misstrauen.
Denise lächelte, aber der Kleine erwiderte das Lächeln nicht. Er machte eine sehr artige und korrekte Verbeugung und trat dann wieder an die Seite seiner Stiefmutter.
»Tobias ist mitunter etwas schüchtern«, glaubte Gracia Weyler das Verhalten des Kindes entschuldigen zu müssen. »Er hat eine sehr schwere Zeit hinter sich. Eine sehr schwere Zeit«, wiederholte sie noch einmal.
Erst jetzt fiel Denise auf, dass Gracia Weyler wohl ein einwandfreies Deutsch sprach, aber so, als müsste sie bei jedem Wort, das sie aussprach, erst überlegen.
»Ich habe die letzten Jahre in Peru gelebt«, sagte die Besucherin in diesem Augenblick, als müsste sie eine Erklärung abgeben. »Wir haben zwar immer nur Deutsch gesprochen, mein Mann, die Kinder und ich, aber wenn man so lange im Ausland war, wird einem die Heimatsprache doch etwas fremd. Seltsamerweise spricht Tobias sehr viel fließender Deutsch als ich.«
Denise sah lächelnd zu dem Buben hinüber, der aber ihren Blick nicht bemerkte, denn er sah unverwandt zu seiner Stiefmutter empor. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den Denise sich nicht erklären konnte.
»Ich bin erst vor ein paar Tagen mit Tobias in Deutschland eingetroffen«, fuhr Gracia Weyler fort. »Ich will zu den Verwandten meines verstorbenen Mannes. Es war sein Wunsch, dass sein Sohn Tobias dort aufwächst. Mein Mann liebte seine Heimat. In Gedanken war er ständig hier in Deutschland sowie in Liechtentum bei seiner Familie.«
»Liechtentum ist ein großes Schloss. Es ist von einem breiten Wassergraben umgeben, auf dem es viele Schwäne gibt. Als Kind hat mein Papa die Schwäne immer gefüttert. Das werde ich auch tun. Ich freue mich schon darauf«, warf der kleine Tobias mit leuchtenden Augen ein. »Und Hunde gibt es auch in Liechtentum. Bitte, Mama, nimm mich doch gleich mit nach Liechtentum. Ich möchte nicht hierbleiben.«
Die Kinderstimme klang etwas herrisch, fast befehlend. Denise sah fragend zu Gracia Weyler hinüber, deren Augen jetzt etwas feucht schimmerten. »Das würde ich auch nur zu gern tun, Toby, aber leider muss ich erst einmal allein nach Liechtentum fahren.« Sie seufzte schwer. »Bei Gott, es wird mir nicht leicht, dich allein hierzulassen und mich von dir zu trennen.«
Gracia wollte den Buben zärtlich an sich ziehen, aber Tobias trat in diesem Augenblick einen Schritt zurück und sah zum Fenster hinaus. »Wohnen die Kinder hier?«, fragte er und deutete mit der Hand hinaus. Draußen, auf den weiten Rasenflächen, tobten ein paar Buben und Mädchen herum. Ihr Lachen und Jauchzen klang deutlich durch das offene Fenster herein.
»Möchtest du nicht mit den Kindern draußen spielen?«, fragte Denise freundlich. »Deine Mutter und ich haben noch einiges miteinander zu besprechen. Das wird für dich nur langweilig.«
»Lassen mich die Kinder denn mitspielen?«, fragte Tobias zweifelnd.
»Ganz sicher. Sage ihnen nur, dass dich Tante Isi schickt. Weißt du, so nennen mich die Kinder hier, und du darfst mich auch so nennen, wenn du bei uns bleibst. Ich glaube ganz sicher, dass es dir hier gefallen wird.«
Tobias sah zweifelnd zu Denise empor und kaute auf seiner Unterlippe. »Na ja«, stimmte er schließlich etwas gönnerhaft zu, »aber nur ein paar Tage. Dann will ich nach Liechtentum. Dort ist es ganz bestimmt noch viel schöner als hier. Papa hat mir viel von Liechtentum erzählt.«
»Natürlich, Toby, nur ein paar Tage brauchst du hierzubleiben. Dann hole ich dich ab, und wir fahren zusammen nach Liechtentum. Aber nun geh spielen«, sagte Gracia Weyler begütigend. Ihre Stimme klang sanft.
Doch Tobias blieb mit gekrauster Stirn unschlüssig mitten im Zimmer stehen. Es sah so aus, als würde er über etwas nachdenken oder auf etwas lauschen. Um seinen Mund lag dabei ein schmerzlicher und zugleich grüblerischer Zug.
Ein seltsames Kind, dachte Denise. Es macht einen bedrückten Eindruck, aber es soll ja auch in letzter Zeit Schweres durchgemacht haben. Ganz sicher ist der Junge darüber noch nicht hinweggekommen. Sein Vater, an dem er sehr gehangen zu haben scheint, ist also tot. Ist sein Vater Alexander Weyler, der vor Jahren nach einem Streit mit seinem Vater Deutschland verlassen hat? Ganz plötzlich war Denise der Name Alexander Weyler wieder eingefallen. Und jetzt erinnerte sie sich auch, dass der älteste Sohn des alten Weyler Andreas hieß.
Ohne noch ein Wort zu sagen, lief Tobias durch das Zimmer, öffnete die Tür und schloss sie wieder leise hinter sich.
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt allein sind«, sagte Denise.
»Sehr viel besser ist das«, stimmte Gracia Weyler ihr zu. »Ich hätte nur sehr ungern in Tobias’ Gegenwart über die traurigen Geschehnisse gesprochen, denn der Junge ist noch lange nicht über alles hinweg.« Tränen standen jetzt in den schönen dunklen Augen von Gracia Weyler. Es fiel ihr sichtlich schwer, sich zu fassen.
Schweigend saß Denise ihr gegenüber. Sie wartete, bis sich die junge Frau beruhigt hatte.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Gracia nach einiger Zeit mit einem rührenden Lächeln um den Mund, »aber es ist alles noch so frisch, dass es mir schwerfällt, darüber zu sprechen. Aber es muss wohl sein. Sicher ist Ihnen der Name Weyler ein Begriff und ebenso Schloss Liechtentum.«
»Wer kennt den Namen Weyler nicht?«, erwiderte Denise mit einem leichten Lächeln. »Und Schloss Liechtentum liegt ja nicht allzu weit von Sophienlust entfernt.«
»Das ist einer der Gründe, weshalb ich möchte, dass Tobias einige Tage hierbleibt. Es handelt sich wirklich nur um ein paar Tage. Mein verstorbener Mann hatte sich mit seiner Familie zerstritten. Er verließ Deutschland und arbeitete als freier Journalist in Peru. Wir wohnten zuletzt in der Nähe von Lima, und dort kam mein Mann bei dem schweren Erdbeben vor einem Jahr ums Leben.« Die Stimme der Besucherin war immer leiser geworden. Jetzt senkte Gracia den Kopf. Ihr Mund zitterte. »Auch mein kleiner Sohn Sebastian fand bei dem Erdbeben den Tod.«
Tiefes und echtes Mitleid erfasste Denise. Impulsiv legte sie ihre Hand auf die Hand Gracia Weylers. Ein Wort wäre ihr jetzt zu banal erschienen.
Gracia hob den Kopf und lächelte schwach. »Es ist sehr schwer, darüber hinwegzukommen. Mitunter glaube ich, dass es mir nie gelingen wird. Wie glücklich bin ich, dass mir wenigstens Tobias geblieben ist. Ich liebe ihn wie einen eigenen Sohn. Zuerst musste ich annehmen, dass auch er nicht mehr am Leben sei. Ich selbst war ebenfalls schwer verletzt und konnte mich in den ersten Wochen nach dem Erdbeben um nichts kümmern. Ich war lange bewusstlos und erholte mich danach nur schwer.« Sie verdeckte für einen Augenblick die Augen mit der Hand. »Die Bilder bedrängten mich Tag und Nacht. Sie werden verstehen, dass ich noch nicht darüber sprechen kann. Es ist alles noch viel zu frisch.«
»Das kann ich sehr gut verstehen«, sagte Denise mitleidig.
»Tobias befand sich zurzeit der stärksten Erdstöße gerade in Lima bei seinem Lehrer. Er bekam Klavierunterricht. Wahrscheinlich war das sein Glück. Die Leichen meines Mannes und meines kleinen Sohnes konnten nicht geborgen werden.«
Nach diesen Worten trat eine dumpfe Stille ein. Nach einiger Zeit hob Gracia Weyler den Kopf und wischte sich mit einem kleinen Spitzentaschentuch die Tränen aus den Augen. »Ich darf mich nicht an das Vergangene verlieren, ich muss an Tobias denken. Deshalb bin ich nach Deutschland gekommen. Ich will die Verwandten meines Mannes aufsuchen. Tobias hat ein Recht auf das große Weylersche Familienvermögen. Und auch ich, als Alexander Weylers zweite Frau, habe gewisse Rechte. Ich bin bereit, für unsere Rechte zu kämpfen. Aus den Erzählungen meines Mannes weiß ich, dass die Familie nicht erbaut darüber sein wird, ihr Vermögen mit Alexanders Sohn und seiner zweiten Frau teilen zu müssen. Das ist auch der Grund, weshalb ich zunächst einmal allein nach Liechtentum fahren möchte. Ich will die Familie darauf vorbereiten, dass Alexander einen Sohn hat, der erbberechtigt ist. Ich werde ganz gewiss nicht mit offenen Armen dort aufgenommen werden. Aber das macht mir nichts aus. Nur Tobias möchte ich das gern ersparen. Und deshalb möchte ich ihn gern für einige Tage, vielleicht auch für ein oder zwei Wochen, bei Ihnen lassen, Frau von Schoenecker. Viel Geld habe ich allerdings zurzeit nicht zur Verfügung. Die letzten Barmittel habe ich in diese Reise investiert.«
»Darüber machen Sie sich bitte keine Gedanken. Das Geld lassen wir erst einmal ganz aus dem Spiel. Wir nehmen hier auch Kinder auf, die vollkommen mittellos sind«, sagte Denise freundlich. »Sie können Tobias so lange bei uns lassen, wie es erforderlich ist.«
Gracia Weyler sah sie dankbar an. »Sie sind wirklich überaus liebenswürdig, und wenn ich mich schon von Tobias trennen muss, dann ist es für mich eine Beruhigung, dass ich ihn bei Ihnen in guten Händen weiß. Tobias war lange krank. Hinzu kam, dass er lange glaubte, dass keiner seiner Lieben die Erdbebenkatastrophe überlebt habe. Man hatte ihn in einem Waisenhaus untergebracht.«
»Der arme Junge«, sagte Denise mitleidig. »Wie schrecklich für ihn. Und was für ein Glück, dass er Sie noch hat und nicht vollkommen allein im Leben steht.«
»Es ist für uns beide ein Glück, denn auch ich habe sonst keinen Menschen mehr, der mir nahe steht. Wie ich Ihnen schon sagte, ist mir Tobias so lieb wie ein eigenes Kind. Sehen Sie, seine Mutter starb bei seiner Geburt. Er hat seine wirkliche Mutter also nie kennengelernt. Einige Monate nach ihrem Tod lernte Alexander mich kennen. Ich hatte gerade meinen Mann durch einen Unfall verloren, und mein kleiner Sohn war genauso alt wie Tobias. Wir heirateten bald darauf. Es wurde eine überaus glückliche Gemeinschaft. Unsere Söhne Tobias und Sebastian waren unser Ein und Alles, und sie nahmen an, dass sie richtige Geschwister seien und wir ihre leiblichen Eltern. Tobias erfuhr erst im Waisenhaus, dass ich nicht seine richtige Mutter bin. Es wäre jedoch besser gewesen, man hätte ihm das nicht gesagt. Er hat seitdem nicht mehr das herzliche Verhältnis zu mir wie früher.«
»Das wird sich gewiss wieder ändern, wenn das Kind richtig zur Ruhe kommt«, sagte Denise tröstend. Sie dachte dabei daran, dass das Kind vorhin der Liebkosung seiner Stiefmutter ausgewichen war. Es war schwer zu ergründen, was in einem so kleinen Buben vorging. Aber vielleicht lernte er unter den vielen Kindern wieder das Lachen.
»Ich hoffe, dass ich Tobias gleich hierlassen kann, denn ich möchte noch heute nach Liechtentum fahren. Ich weiß, dass mir eine schwere Zeit bevorsteht.« Sie seufzte schwer.
Denise sah sie mitleidig an. Tröstend sagte sie: »Die Verwandten Ihres verstorbenen Mannes sind sehr wohlhabend. Ich meine, Ihre und Tobias’ Zukunft müsste eigentlich gesichert sein.«
Wieder seufzte Gracia Weyler schwer. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Wenn es ums Geld geht, reagieren die Menschen oft ungewöhnlich. Sie müssen auch bedenken, es geht um sehr viel Geld. Es geht um Millionen. Aber Tobias ist ein Weyler.«
Bei ihren letzten Worten war Gracia Weyler aufgestanden. »Sie werden verstehen, Frau von Schoenecker, dass ich mich nicht lange hier aufhalten kann. Auch möchte ich den Abschied von Tobias nicht unnütz hinauszögern. Zwischen uns gibt es wohl im Augenblick nichts mehr zu besprechen?«
Auch Denise hatte sich erhoben. »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie wenigstens noch eine Tasse Tee mit mir trinken würden.«
Gracia hob abwehrend die Hände. »Nicht böse sein, wenn ich die Einladung für heute nicht annehme. Ich bin voller Unruhe, aber wenn ich alles für Tobias und mich geregelt habe, komme ich wieder. Dann nehme ich ihre Einladung gern an.«
»Dann kann ich also nichts für Sie tun, als Ihnen Glück zu wünschen.«
»Das kann ich gebrauchen«, sagte Gracia Weyler liebenswürdig, während sie bereits zur Tür ging.
Denise folgte ihr rasch. Die beiden Damen durchquerten die große Halle und traten aus dem Portal.
Am Fuß der Freitreppe stand ein etwas schäbig aussehender kleiner Fiat. Gracia Weyler deutete mit der Hand nach unten. »Ich habe ihn für meinen Aufenthalt in Deutschland gemietet. Es war das billigste Auto, das ich auftreiben konnte.« Das Lächeln, das bei ihren Worten um ihren Mund spielte, war etwas bitter und wehmütig. »Es ist schwer, wenn man plötzlich vor dem Nichts steht. Besonders dann, wenn man nie finanzielle Nöte kannte.«
In den schönen Augen der Besucherin schimmerten schon wieder Tränen, und Denises Herz zog sich voller Mitgefühl schmerzhaft zusammen. Um die junge Frau auf andere Gedanken zu bringen, deutete sie auf die Kinder, die noch immer auf den Rasenflächen herumtollten. Tobias war unter ihnen.
»Unser Schulbus hat gerade unsere schulfähigen Kinder nach Hause gebracht. Wie ich sehe, hat Tobias sich bereits mit ihnen angefreundet.«