We hunt the Flame - Hafsah Faizal - E-Book

We hunt the Flame E-Book

Hafsah Faizal

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Beschreibung

+++ TikTok made me buy it +++  »Ich bin besessen von dieser Geschichte!« Kerri Maniscalco, Spiegel-Bestsellerautorin von Kingdom of the Wicked Der Fantasy-Roman »We hunt the Flame« ist der erste Band von Hafsah Faizals preisgekrönter slow burn Romantasy-Dilogie. Sie ist eine tödliche Jägerin, er der Prinz des Todes: Menschen lebten, weil sie tötete. Menschen starben, weil er lebte. Die Jägerin Zafira kann nur als Mann verkleidet im verfluchten Wald des Arz ihr Volk beschützen. Wird sie als Frau entlarvt, droht ihr Verbannung oder Schlimmeres. Als Prinz des Todes ist es Nasirs Aufgabe, alle zu vernichten, die töricht genug sind, sich seinem tyrannischen Vater zu widersetzen. Niemals darf er Mitgefühl zeigen, denn sonst wird er selbst zum Opfer des grausamen Königs. Gegen ihren Willen sind Zafira und Nasir Legenden im Königreich Arawiya. Als sich ein Krieg zusammenbraut und der Arz mit jedem Tag näher rückt und das Land in Schatten hüllt, bricht Zafira zu einer gefahrvollen Suche auf. Ein verlorenes Artefakt könnte den Fluch des Arz brechen. Doch auch Nasir wird auf eine ganz ähnliche Mission geschickt. Sein Auftrag: das Artefakt finden – und Zafira töten. Young Adult Fantasy, die nicht nur TikTok im Sturm erobert hat Der New York Times-Bestseller »We hunt the Flame« wurde vom TIMES Magazine unter die Top 100 der besten Fantasy-Bücher aller Zeiten gewählt. Mit ihrer romantischen Fantasy um eine arabisch inspirierte Welt begeistert die amerikanische Bestseller-Autorin Hafsah Faizal Millionen Leser*innen. Besonders die Fans von Rebecca Yarros oder Jennifer L. Armentrout werden Zafira und Nasir lieben. Auch Band 2 der enemies-to-lovers New Adult-Dilogie, »We free the Stars«, ist auf Deutsch erhältlich. Mehr von der Nummer 1-New York Times-Bestsellerautorin Hafsah Faizal erwartet dich in: - We hunt the Flame (Die Reiche von Arawiya 1) - We free the Stars (Die Reiche von Arawiya 2) - A Tempest of Tea (Blood and Tea 1) - A Steeping in Blood. A Tempest of Tea 2 (Blood and Tea 2)

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Seitenzahl: 700

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Hafsah Faizal

We Hunt the Flame

Die Reiche von Arawiya 1

Aus dem amerikanischen Englisch von Bastian Ludwig

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Menschen lebten, weil sie tötete. Menschen starben, weil er lebte.

Um ihr Volk zu schützen, begibt sich die Jägerin Zafira, als Mann verkleidet, in den verfluchten Wald des Arz. Wird sie entlarvt, droht ihr Verbannung oder Schlimmeres. Nasir ist der Prinz des Todes, der alle vernichtet, die töricht genug sind, sich seinem tyrannischen Vater zu widersetzen. Niemals darf er Mitgefühl zeigen, denn sonst wird er selbst zum Opfer seines grausamen Vaters. Als Zafira sich auf die Suche nach einem verlorenen Artefakt begibt, das den Fluch des Waldes stoppen soll, wird Nasir auf eine ähnliche Mission geschickt: das Artefakt finden und Zafira töten.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Charakterillustration Zafira

Charakterillustration Nasir

Karte des Reichs Arawiya

Widmung

Motto

Erster Akt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Zweiter Akt

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Dritter Akt

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Epilog

Danksagungen

Glossar

Für meine Mutter,

die mein Herz formte,

und meinen Vater,

der es zu Stahl härtete.

 

Liebe ist etwas für Kinder, sprach das Mädchen.

Der Tod ist etwas für Narren, sprach der Schatten.

Die Finsternis ist meine Bestimmung, sprach der Junge.

Treue ist mein Verhängnis, sprach der Adler.

Leid ist unser Schicksal, sprach die Schönheit.

Wie sehr sie alle doch irrten.

 

Erster Akt

Silbern wie die Mondsichel

Kapitel 1

Menschen lebten, weil sie tötete. Und wenn es dafür nötig war, dem Arz sogar dort zu trotzen, wo die Sonne sich nicht hinwagte, dann sollte es eben so sein.

An den vereinzelten guten Tagen dachte Zafira bint Iskandar, sie sei tapferer als die Sonne selbst. Meist konnte sie es jedoch kaum erwarten, dass der in ewige Dunkelheit gehüllte Arz wieder hinter ihr lag und sie sich in der Sicherheit ihres Kalifats befand, trotz des daama Schnees und allem.

Heute war einer dieser Tage, ungeachtet des Geweihs, das sich rau an ihre Hände schmiegte. Sie trat aus dem gefängnisgleichen Wald heraus und redete sich ein, ihr erleichtertes Seufzen sei dem Umstand geschuldet, dass ihre Aufgabe vollendet war, und nicht etwa dem, dass die Furcht, die ihr Herz umklammert hatte, es nun endlich wieder freigab. Die morgendliche Sonne hauchte ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange.

Ebenfalls marhaba, du Feigling.

Im Kalifat Demenhur schien die Sonne stets fahl, weil sie nicht mit dem Schnee umzugehen wusste, der doch eigentlich Sand hätte sein sollen.

Vor Zafira erstreckte sich der weiße Ozean weich und unberührt und schenkte ihr – obgleich ihre Zehen taub wurden und die kalte Luft sie in die Nase zwickte – in ihrem Alleinsein einen Moment der Zufriedenheit. Wäre sie wieder unter Menschen, wäre der vorbei, denn in einem Kalifat, in dem eine Frau stets Gefahr lief, dass ihre Taten sich gegen sie richteten, war es nicht einfach, sich als Mann auszugeben. Nicht, wenn man die Rundungen einer Frau hatte, und auch die Stimme und den Gang.

Zafira zerrte den toten Hirsch weiter, das warme, dampfende Blut färbte den Schnee hinter ihr in ein unheimliches Rot, als sie mit einem Mal ein unheilvolles Gefühl überkam. Es schien in der Luft zu liegen, in der Stille der Erde und im Flüstern der Bäume.

Nein, da ist nichts. Verfolgungswahn neigte dazu, genau dann zu Besuch zu kommen, wenn er am wenigsten erwünscht war. Wegen der bevorstehenden Hochzeit gingen mit ihr die Gefühle durch, das war alles.

Sukkar stand an dem morschen Pfosten, an dem sie ihn festgebunden hatte, und wieherte leise. Durch seine beinahe weiße Pferdedecke war er von der Umgebung kaum zu unterscheiden. Während sich Zafira eilte, den Hirsch an seinem Sattel festzubinden, blieb der Hengst ruhig und still stehen und verhielt sich so süß, wie der Name es versprach, den sie ihm gegeben hatte.

»Da hatten wir doch heute eine erfolgreiche Jagd, meinst du nicht?«, sagte sie zu ihm, nachdem sie sich in den Sattel geschwungen hatte, dabei hatte er ihr ja gar nicht geholfen. Der Hengst reagierte nicht auf die Bemerkung, zu beschäftigt war er damit, zum Arz zu starren, als befürchtete er, dass dort jeden Augenblick ein Ifrit herausspringen und ihn mit Haut und Haaren verschlingen könnte.

»Feigling«, sagte Zafira mit einem Lächeln auf den vor Kälte immer tauber werdenden Lippen. Jedoch gab es niemanden, dem im Angesicht dieses Waldes nicht angst und bange wurde. In ganz Arawiya fürchtete sich das Volk vor dem Arz, der in jedem einzelnen der fünf Kalifate des Reichs wucherte. Diesen Fluch teilten die Arawiyaner seit jenen Tagen, in denen das Land seiner Magie beraubt worden war. Zafiras Baba hatte ihr beigebracht, dass der Arz in vielerlei Hinsicht ein gewöhnlicher Wald war, und er hatte ihr Wege gezeigt, wie sie ihn zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Außerdem hatte er ihr den Glauben vermittelt, den Wald zähmen zu können – doch das war ein Irrtum gewesen. Niemand vermochte das. Babas Tod hatte das bewiesen.

Zafira lenkte Sukkar von den Bäumen weg und immer tiefer nach Demenhur hinein. Der Arz aber war ein Ort, der stets einen abschließenden Blick verlangte, also hielt sie doch noch einmal inne und wandte sich um.

Der Arz blickte zurück. Atmete. Seine skeletthaften Bäume streckten Zafira ihre knorrigen Finger aus wabernden Schatten heraus entgegen.

Manche munkelten, der Wald verschlinge Menschen wie Geier die Toten. Dennoch kehrte Zafira zurück, Tag für Tag, Jagd für Jagd. Sie war sich bewusst, dass jeder wagemutige Vorstoß in den Arz ihr letzter sein konnte, und wenngleich sie beteuerte, sich vor wenig zu ängstigen, so war es doch ihre allergrößte Furcht, sich dort zu verirren. Allerdings war da auch etwas in ihr, das die Besuche in den Tiefen der Finsternis genoss. Sie hasste den Arz. Sie hasste ihn so sehr, dass sie sich nach ihm sehnte.

»Akhh, wir haben ja jeden Tag reichlich Zeit, den daama Arz zu begaffen«, sagte sie zu Sukkar mit einem Schaudern in der Stimme. »Wir müssen wegen der Hochzeit schnell zurück, ansonsten reißt uns Yasmine den Kopf ab.«

Nicht, dass das Sukkar irgendwie geschert hätte. Zafira schnalzte mit der Zunge und trieb ihn weiter voran. Die Anspannung löste sich aus seinen strammen Muskeln, je größer der Abstand zwischen ihnen und dem Arz wurde. Das änderte sich, als mit einem Mal eine andere Präsenz schwer in der Luft lag.

Die feinen Härchen in Zafiras Nacken stellten sich auf, und vorsichtig warf sie einen Blick über die Schulter. Der Arz schien sie mit angehaltenem Atem anzustarren. Aber nein, wessen Anwesenheit auch immer sie da spürte, er befand sich nicht im Wald, sondern hier in Demenhur, und er schlich auf beinahe so leisen Sohlen, wie sie selbst es vermochte.

Aber nur beinahe.

Wenn es etwas gab, das Zafira mehr fürchtete, als sich im Arz zu verirren, dann von jemandem überrascht zu werden, der entdecken könnte, dass sie in Wahrheit kein Jäger, sondern eine Jägerin war, ein Mädchen von siebzehn Jahren, das sich unter dem dicken Kapuzenumhang ihres Vaters verbarg, wann immer es zur Jagd auszog. Dann würde man sie ausstoßen, ihre Verdienste verspotten, ihre Identität auf brutalste Weise ans Licht der Öffentlichkeit zerren. Mit festem Griff umklammerte dieser Gedanke ihr Herz, das nun ein wenig schneller hämmerte.

Sie wandte Sukkar in Richtung des Arz und gab ihm einen leichten Tritt mit den Fersen, um gegen seine Zögerlichkeit anzukämpfen, als der Wind einen Laut zu ihr wehte, eine Stimme wohl, die einen Befehl gab, der nicht recht zu verstehen war.

»Yalla!«, sagte Zafira voller Anspannung, um ihren Hengst anzutreiben.

Er schüttelte die Mähne und galoppierte ohne Murren los. Je näher sie dem Wald kamen, desto finsterer wurde die Umgebung. War es nicht komisch, dass sich Zafira beim ersten Anzeichen einer tödlichen Gefahr entschied, ins Unbekannte zu flüchten?

Die Kälte zwickte ihr im Gesicht. Ein schwarzer Schemen nahte von rechts, dann ein zweiter von links. Pferde. Sie biss sich auf die Lippen und ließ Sukkar seitlich ausscheren. Gerade noch konnte sie sich wegducken, als etwas in Richtung ihres Kopfes schwang.

»Qif!«, brüllte jemand, doch was für eine Närrin wäre sie gewesen, dieser Aufforderung nachzukommen und anzuhalten?

Sie dachte noch darüber nach, als Sukkar mit einem Mal wie angewurzelt stehen blieb, sodass sie in ihrem Sattel einen heftigen Ruck nach vorn machte. Sie waren am Rand des Arz, und Zafira wurde eiskalt bewusst, dass ihr Hengst sich noch nie so nah an den Wald herangewagt hatte. Der Geruch von Holz und Moder stach ihr in der Nase.

»Laa. Laa. Nicht jetzt, du Feigling«, zischelte sie.

Sukkar warf den Kopf zur Seite, rührte sich jedoch nicht.

Zafira starrte in die stille Finsternis, und ihr stockte der Atem. Der Arz war kein Ort, dem man unbedacht den Rücken zuwandte – kein Ort, dem man arglos und unbesonnen und …

Mit einem Fluch auf den Lippen lenkte sie Sukkar herum.

Der Wind wehte kalt und rau und ließ ein lautes Heulen ertönen. Zafira spürte den Atem des Arz im Nacken. Und dort standen sie, nur wenige Schritte vor ihr, zwei Pferde, die bedrohlich schnaubten. Ihre Pferdedecken waren schwarz wie der nächtliche Himmel, ihre kraftvollen Leiber waren in einen Kettenpanzer gehüllt. Schlachtrösser.

Sicherlich im benachbarten Kalifat Sarasin gezüchtet. Oder vielleicht doch in Sultansruhe? Das war schwer zu sagen, hatte doch Sultan Ghameq den Kalifen von Sarasin erst kürzlich kaltblütig ermorden lassen und dadurch unrechtmäßig die Kontrolle über dessen Ländereien und Streitkräfte erlangt. Dabei hatte er dafür eigentlich gar keine Verwendung, schließlich beherrschte er doch ganz Arawiya, und die Sultansgarde stand stets auf Abruf für ihn bereit. Zafira hatte das nie begriffen. Die Kalifen hatten die Aufgabe, im Reich das Gleichgewicht zu wahren. Warum nur hatte der Sultan einen von ihnen umbringen lassen?

Die Männer auf den Pferden hatten muskulöse Oberarme und strenge Gesichtszüge. Ihre Haut zeigte die Farbe von Menschen, denen ein Leben unter der Sonne nicht fremd war, ein Leben mit der Ebbe und der Flut der Wüste, nach dem sich auch Zafira sehnte.

»Yalla, Jäger!«, sagte der größere der Reiter, als wäre sie ein Stück Vieh, das man hüten müsste, dann erhob er seinen Säbel.

Wenn Zafira bisher noch irgendwelche Zweifel gehegt hatte, woher die beiden stammten, hatte sein Akzent diese zerstreut. Ihr schnürte sich die Kehle zu. Von tratschenden Demenhunen verfolgt zu werden, war eine Sache – von Sarasinen angegriffen zu werden, eine ganz andere.

Zafira senkte den Kopf, damit ihre Kapuze mehr von ihrem Gesicht verbarg. Sie bot der Finsternis die Stirn, sie erjagte Kaninchen und Wild. Einer Klinge hatte sie sich jedoch noch nie gegenübergesehen.

Doch trotz ihrer Übermacht blieben die Reiter auf Abstand. Sogar sie waren vom Arz eingeschüchtert.

»Wohin?«, brummte Zafira, wobei sie das Fauchen des Windes zu übertönen suchte. Menschen warteten darauf, dass sie ihnen Nahrung brachte, und eine Braut, so schön wie der Mond, dass sie ihr Lebewohl wünschte. Warum nur widerfährt mir all das?

»Zum Sultan«, entgegnete der kleinere Reiter. »Er will mit dir sprechen.«

Zum Sultan? Mächtiger Himmel! Dieser Mann hatte mehr Finger von Händen geschnitten als Haare von seinem Kopf. Es hieß, einst sei er ein gütiger Herrscher gewesen, doch Zafira konnte das nur schwer glauben. Er stammte gebürtig aus Sarasin, und Sarasinen, das hatte man ihr ihr gesamtes Leben lang eingeschärft, wurden mit nichts als Schlechtheit im Herzen geboren.

Erneut flackerte Panik in ihr auf, doch dann sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Würde der Sultan mich sehen wollen, hätte er mir, wie es die Höflichkeit gebietet, einen Brief geschickt und nicht seine Laufhunde. Ich bin kein Verbrecher.«

Den kleinen Reiter erzürnte es sichtlich, mit einem Hund verglichen zu werden, doch ehe er etwas sagen konnte, erhob der andere seinen Säbel leicht und ließ sein Pferd ein paar Schritte auf Zafira zugehen. »Das ist keine Bitte.« Er machte eine Pause, als wäre ihm bewusst geworden, dass es ihm seine Angst vor dem Arz unmöglich machen würde, noch weiter nach vorn zu kommen, dann fügte er hinzu: »Yalla. Komm jetzt!«

Nein. Es musste doch einen Ausweg geben. Zafira schürzte die Lippen, als ihr eine Idee kam. Wenn Sarasinen für noch etwas anderes als ihre Barbarei bekannt waren, dann war es ihr Stolz.

Sie flüsterte Sukkar einige beruhigende Worte zu, und ihr treuer Hengst wich einen Schritt zurück, vielleicht aus Angst vor den Reitern, vielleicht auch wegen der Schlachtrösser, mächtig und einschüchternd. Nie war er dem Arz so nahe gewesen, doch Zafira würde ihm noch weit mehr zumuten müssen. Sie warf den beiden Männern ein schiefes Grinsen zu, das ihre von der Kälte gefrorenen Lippen aufspringen ließ. »Dann kommt doch und holt mich.«

»Es gibt hier nichts, wohin du fliehen kannst.«

»Du vergisst, Sarasine, der Arz ist mein zweites Zuhause.«

Sie wappnete sich für das Kommende, streichelte Sukkars Mähne und lenkte ihn dann in die Finsternis, die sie sogleich vollkommen verschlang. Wie gerne hätte sie doch geleugnet, dass sie sich vom Wald herzlich willkommen geheißen fühlte und dass sie sein freudiges Flüstern wie ein Summen in ihren Adern spürte.

Dunkle Bäume standen gespenstisch und starr da, scharfkantige Blätter glänzten. Hinter sich hörte sie das Brüllen der Sarasinen, die trotz aller Furcht zum Galopp ansetzten und die Verfolgung aufnahmen. Ja, Stolz war ein gefährlich Ding.

Unter Sukkars Hufen knackten Zweige, und Zafira konnte kaum noch etwas sehen. Bis auf sein panisches Atmen war ihr Hengst zum Glück leise, als sie mit hämmerndem Herzen nach den Reitern lauschte, doch wo eben noch lauter Hufschlag zu hören gewesen war, dröhnte ihr nun nichts als Stille entgegen.

Die Sarasinen waren weg.

Dieses eine Mal wusste Zafira die erschreckende, unberechenbare Fremdartigkeit des Arz zu schätzen, war er es doch, der die Männer hatte verschwinden lassen. Die beiden Sarasinen konnten schon weit entfernt sein, ohne das auch nur zu begreifen. Das war der Grund, warum so viele, die den Arz betraten, nie wieder zurückkehrten: Sie fanden den Rückweg nicht mehr.

Ein leises Fauchen erklang im Osten, und sie und Sukkar erstarrten. Zafira sah wenig mehr als die weiße Pferdedecke ihres Hengsts, doch in den vielen Jahren, die sie den Arz nun besuchte, war ihr Gehör schärfer geworden als die schärfste Klinge. Hier im Arz sah sie mit den Ohren. Schritte hallten, und es wurde immer kälter.

»Zeit, nach Hause zu gehen«, murmelte sie, und Sukkar erzitterte, als er sich langsam nach vorn schob. Ihre Hand führte ihn, so wie sie von dem rauschenden Flüstern in ihrem Herzen geführt wurde, das nur zufrieden schien, wenn sie sich bewegte.

Urplötzlich verschwand die Finsternis, und über sich erblickte Zafira den blauen Himmel und in der Ferne die flimmernde Sonne. Sie verspürte eine gähnende Leere, als ihr die Kälte in die Nase stach, versetzt mit dem Geruch von Metall und einem Hauch Bernstein.

Den Sarasinen war, wie es schien, kein solches Glück vergönnt gewesen. Wie viel Zeit wohl vergangen war, seit Zafira und ihre Gegner in den Arz geritten waren? Ihrem Gefühl nach konnten es nicht mehr als zwanzig Minuten gewesen sein, doch der Sonnenstand behauptete, dass mindestens eine Stunde verstrichen war.

Zafira wollte nicht wissen, ob der Sultan tatsächlich nach ihr hatte schicken lassen, und falls ja, aus welchem Grund. Sukkar schnaubte unter ihr, als wäre ihm wie stets bewusst, was sie gerade dachte, und als wollte er ihr sagen: alles zu seiner Zeit.

Wo zuvor die Schlachtrösser gestanden hatten, schien der Schnee nun unberührt und … Zafira riss an Sukkars Zügeln.

Dort, inmitten der weißen Ebene, stand eine Frau.

Über ihren schlanken Schultern hing ein schwerer Umhang in Grau, nein, von glänzendem Silber war er, und darunter trug sie ein wallendes Kleid. Unter ihrer Kapuze war Haar zu sehen, so weiß wie Schnee. Ihre Lippen waren scharlachrot.

Zafira hätte schwören können, dass diese Fremde vor einem Augenblick noch nicht dort gestanden hatte. Ihr Herz begann ihr in der Brust zu galoppieren.

Der Arz kann einen trägen Geist verderben.

»Wer hätte gedacht, dass du so geschwind zu töten vermagst«, sagte die Frau mit seidenweicher Stimme.

Zafira war verblüfft. Konnte der Arz seine Trugbilder nun etwa auch sprechen lassen?

»Ich bin kein Meuchler, ich wollte ihnen nur aus dem Weg gehen«, verteidigte sie sich, ehe ihr bewusst wurde, dass man sich lieber nicht mit einer Sinnestäuschung unterhalten sollte. Sie hatte diese Männer nicht umgebracht – oder etwa doch?

»Sehr klug.« Die Fremde machte eine kurze Pause, dann lächelte sie, während eine Böe ihren Umhang flattern ließ. »Du bist wahrhaftig mit gesundem Geist und in einem Stück wieder aus dem Wald zurückgekehrt.« Sie ließ den Blick aus dunklen Augen über den Rand des Arz schweifen und betrachtete die Bäume mit einer Mischung aus Ehrfurcht und – mächtiger Himmel! – Bewunderung. Kurz schwankte sie, doch sofort fing sie sich wieder. Sie wirkte zugleich wirklich und unwirklich. »Er ähnelt Sharr, findest du nicht auch?«, sagte sie, dann schüttelte sie den Kopf, wobei sie jede Bewegung ganz bewusst auszuführen schien.

Die Erwähnung von Sharr ließ Zafira die Haut kribbeln.

»Oh, was für eine dumme Frage«, sprach die Frau weiter. »Du hast die Insel ja noch nie besucht.«

Existierst du wirklich?, wollte Zafira fragen, stattdessen entschied sie sich für: »Wer bist du?«

»Sag mir, weswegen jagst du?«, antwortete die Frau mit einer Gegenfrage, die nackten Hände verschränkt. Machte ihr die beißende Kälte denn gar nichts aus?

Zafira umfasste Sukkars Zügel fester. »Für mein Volk«, erklärte sie. »Um ihm Nahrung zu bringen.« Ihr Rücken schmerzte, und der Hirsch begann allmählich, übel zu riechen.

Die Fremde schnalzte mit der Zunge und runzelte die Stirn, und Sukkar erschauderte. »Niemand kann von solcher Redlichkeit, von solcher Reinheit sein.«

Zafira blinzelte, und mit einem Mal schien die Frau viel näher vor ihr zu stehen. Doch schon ein Blinzeln später, das Zafira trotz aller Bemühungen nicht verhindern konnte, stand sie wieder an derselben Stelle wie zuvor.

»Hörst du das Brüllen des Löwen? Beherzigst du seinen Ruf?«

Woher kommt diese Wahnsinnige nur?

»Die Schenke findest du auf dem Sooq, falls du noch mehr Arak trinken willst«, sagte Zafira, doch ihre übliche Unverblümtheit wurde von dem Gefühl der Enge in ihrer Kehle untergraben.

Die Frau lachte auf, ein klirrendes Lachen, das in der Luft zu erstarren schien. Im nächsten Moment drehte sich alles vor Zafiras Augen, und Schatten umhüllten den Schnee vor ihr. Schwarz blutete in das Weiß, und Ranken wickelten sich um Zafiras Knöchel.

»Meine liebe Jägerin, eine Frau wie ich muss nicht trinken.«

Jägerin. Die Zügel glitten Zafira aus den Händen. »Woher …?« Die Worte verendeten auf dem Weg über ihre Lippen.

Die Frau verzog ihren Mund zu einem Lächeln, und Zafira drehte sich das Herz im Leibe um. Es war die Art von Lächeln, die man auflegte, wenn einem die Geheimnisse eines Gegenübers voll und ganz offenlagen. Jene Art von Lächeln, die bedeutete, dass niemand mehr sicher war.

»Du wirst stets deinen Weg finden, Zafira bint Iskandar«, sagte die Frau und klang dabei beinahe traurig, wenngleich der Schimmer in ihren Augen etwas anderes ausdrückte. »Verirrt hättest du bleiben sollen, verfluchtes Kind.«

Ihr silberner Umhang blitzte auf, als sie herumwirbelte. Und als Zafira ein weiteres Mal geblinzelt hatte, war die Frau wie vom Erdboden verschluckt.

Zafira schlug das Herz bis zum Hals. Die Fremde hatte ihren Namen gekannt. Und dann dieses Lächeln. Keine Spur war mehr zu sehen von dem blutgleichen Schwarz oder dem silbernen Umhang, und der Schnee war völlig unberührt.

Gerade begannen die Krallen, die ihren Geist zu umklammern schienen, sich zu lösen, als Sukkar mit einem Mal losstürmte, noch ehe Zafira die Zügel wieder ergreifen konnte. Laut brüllend tastete sie danach, wobei es ihr nur mit Mühe gelang, aufrecht sitzen zu bleiben und nicht aus dem Sattel zu stürzen. Der Hengst beendete seinen wilden Ritt erst, als sie auf einer verschneiten Anhöhe angelangt waren.

Zafira richtete sich auf und stieß mehrere Flüche aus, sodass Sukkar den Kopf einzog und eingeschüchtert schnaubte. Ganz ruhig atmen und dann ergründen, was da eben geschehen ist. Erneut warf sie einen Blick zurück zum Wald, der in ewig währender Finsternis dalag, aber von der Frau fehlte jede Spur. Hatte sich Zafira die gesamte Begegnung etwa doch nur eingebildet?

Möglich war das durchaus. Sie kannte den Arz besser als die meisten, und darum wusste sie, dass niemand je all seine Geheimnisse kennen konnte. Wer auf seine Bosheit vertraute, riskierte einen qualvollen Tod.

Hörst du das Brüllen des Löwen?

Nein, es war kein Brüllen, das Zafira hörte. Etwas anderes winkte ihr da aus der Finsternis zu und versuchte, sie zu sich zu locken. Und mit jedem Besuch wurde es stärker. Als ob sich eine Faser ihres Herzens im Arz verfangen hätte und dieser nun versuchen würde, sie daran wieder zu sich zu ziehen.

Zafira atmete tief durch. Diese Frau war nur ihrem erschöpften Geist entsprungen, sonst nichts.

Und nun war sie spät dran. Mit einem Schnauben lenkte sie Sukkar herum. Sie musste sich schließlich noch ein Kleid anziehen und rechtzeitig auf einer Hochzeit erscheinen.

Kapitel 2

Menschen starben, weil er lebte. Und wenn das der einzige Weg war, sein Leben weiterzuführen, dann sollte es eben so sein.

Im benachbarten Kalifat Demenhur hatte drei Nächte zuvor ein heftiger Schneesturm getobt, und in Sarasin war es deswegen nun kühler als gewohnt. Die Mischung aus Wüstenhitze und launischer Kälte ließ Nasir die Zähne schlottern, und doch war er hier, weit weg von seinem Zuhause in Sultansruhe, dem kleinen Flecken Land, von dem aus der Sultan über die fünf Kalifate von Arawiya herrschte.

Wurde Nasir mit einem Auftrag nach Sarasin geschickt, erfüllte ihn das stets mit einer gewissen Wehmut. Zwar hatte er hier nie gelebt, doch war dies das Kalifat seiner Vorfahren, das ihm vertraut und fremd zugleich schien.

Dieses Mal war er nur aus einem einzigen Grund hergekommen … um einen Mord zu begehen.

In Leil, der Hauptstadt von Sarasin, wimmelte es von bewaffneten Männern mit azurblauen Turbanen. Und drei davon standen gerade am Eingangstor der von einer Mauer geschützten Stadt Wache. Statt eng anliegender Hosen trugen sie weit geschnittene Sirwals tief auf den Hüften, ihre lächerlich muskelbepackten Arme glitzerten bronzefarben. Der Wüstenwind wehte den moschusartigen Geruch heißen Sands und das Stimmengewirr von Kindern und ihren schimpfenden Eltern herbei.

Nasir musterte die Wächter und rutschte mit einem schweren Seufzen vom Rücken seiner Stute. Er hatte keinen Bedarf an einem Scharmützel mit einer Horde Männer von niederer Geburt.

»Wie es aussieht, werde ich einen kleinen Umweg machen müssen«, murmelte er, wobei er Afya die Flanke tätschelte. Die Stute nickte zustimmend, als er sie neben einem schläfrig dreinblickenden Kamel festband. Sie war das Pferd seiner Mutter gewesen und benannt nach der Schwester von Einst, die sie am liebsten gemocht hatte.

Nasir kletterte auf einen Stapel alter Holzkisten, sprang von dort entlang der vor der Stadtmauer gelegenen Gebäude von einer Markise zur anderen und balancierte über Steine, die aus deren Außenwänden herausragten, wobei ihm die Anweisungen, die ihm der Sultan gegeben hatte, im Kopf herumspukten. Die Stimme des Herrschers von Arawiya war für ihn wie eine Schlange, die sich leise in seine Adern schlich, um sein Herz mit ihrem Gift zu durchsetzen.

Nasir erklomm die Mauer und sprang oben angekommen mit geübter Eleganz auf das nächstgelegene Dach, wo er einem kunstvoll verzierten Teppich auswich, der in dessen Mitte lag und von juwelenbesetzten Kissen umrandet war.

Der weite Himmel über Sarasin war so trüb wie Nasirs Gedanken, die nur durch den fernen Lärm des Kamelrennens aufgehellt wurden, der ihm nun ans Ohr drang. Am Rennen selbst hatte er wenig Interesse. Allerdings würde ihm dieses Ereignis eine hervorragende Deckung bieten und ihm den Mann liefern, wegen dem er hier war.

Nasir sprang zum nächsten Dach und zuckte zusammen, als nur eine Handbreit vor seinem Gesicht eine Klinge in weitem Bogen nach unten sauste. Ein Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren wich mit einem Ächzen zurück und ließ einen ihrer beiden Säbel, mit denen sie bis eben offenbar fleißig geübt hatte, auf den staubigen Kalkstein fallen.

Die Klingen in Nasirs Handschuhen schienen ihn zu rufen, doch nichts konnte er nun weniger gebrauchen, als grundlos jemanden zu töten. Als ob deine Morde je einen Grund hätten.

Er legte sich einen Finger auf die Lippen, doch das Mädchen stand nur mit weit aufgerissenem Mund da und begaffte seine mit einer Kapuze versehene Kluft. Es war die Tracht eines Haschaschinen, eine geschichtete Gewandung in Schwarz, eingefasst von silbernen Bordüren. Die traditionelle graue Bauchbinde war mit einem breiten Ledergürtel umbunden, in dem kleine Dolche steckten und an dem die Scheide von Nasirs Säbel befestigt war. Die engen Ärmel endeten am geschmeidigen Leder von Handschuhen, in denen sich ausfahrbare Klingen verbargen. Sie waren in Pelusia gefertigt worden, dem Kalifat, das in der Konstruktion ausgefeilter Apparaturen ebenso fortschrittlich war wie in der Landwirtschaft. Es gab nichts Besseres.

»Haschaschine?«, flüsterte das Mädchen in einer Weise, die das Versprechen barg, dass seine Anwesenheit hier ihr Geheimnis bleiben würde. Um ihren Oberarm wand sich ein Armreif in Form einer Schlange, deren Augen aus eingelassenen blauen Juwelen bestanden.

Nein, wollte Nasir ihr erwidern. Ein Haschaschine führt ein ehrenwertes Leben.

Einst hatte es eine Zeit gegeben, da hatte ein Haschaschine nur seinen Tanz aufführen müssen, und schon waren Frevler zugrunde gegangen, Kaufleute zu Macht aufgestiegen und Herrscher zu Staub zerfallen. Sie waren Poeten des Tötens gewesen, die Ehre über alles gestellt hatten.

Doch diese Zeit war längst vergangen. Nasir lebte nicht, er existierte bloß. Und niemand begriff den Unterschied, bis er selbst sein Leben aushauchte.

Das Mädchen grinste. Für eine Sarasinin war sie zu hübsch und ihr Haar zu hell, doch die schneeköpfigen Demenhunen waren in dieser Gegend nicht selten anzutreffen, vor allem weibliche. Demenhurs Kalif war eine voreingenommene Krähe.

Wäre es ihm möglich gewesen, hätte er Frauen sogar für ihr zu hohes Alter verurteilt.

Die Kleine hob ihren Säbel auf und fuhr mit den Übungen fort, und das in so bemerkenswerter Weise, dass es ihr durchaus einen der gefragten Plätze in einer Haschaschinengilde hätte einbringen können, aber Nasir sagte nichts dazu. In seiner Welt war es besser, nicht zu viele Worte an andere zu verlieren, mochten sich doch an einer heute geschlossenen Bekanntschaft schon morgen die Maden laben.

Er huschte an dem Mädchen vorbei und machte einen Satz auf das nächste Dach, von wo aus er eine Ansammlung von Gebäuden aus lohfarbenem Stein überblicken konnte. Die Straßen waren leer, bis auf vereinzelte Kamele, die hier und da durch die Gegend gezogen wurden. Staubige Laternen hingen an den Dachtraufen, ihr Glas schon lange zersplittert und im Sand verschwunden.

An dieser Stelle endeten die Dächer, und Nasir sprang hinab auf den Sooq von Leil. Marktstände auf klapprigen Beinen standen überall auf dem Platz verteilt, zerfledderte Tücher in den verschiedensten Farben schützten die Ware vor der spärlichen Sonne. Der Gestank von Schweiß und Hitze hing in der Luft. Straßenkinder mit nackten Oberkörpern hockten unter Tischen, derweil sich ein Menschenpulk zwischen den Ständen hin und her schlängelte. Wie sehr hier doch das Leben pulsierte. Das war in diesem geschundenen Reich wahrlich nicht überall so.

Und um die Mittagszeit würde es hier sogar noch geschäftiger zugehen. Dann würde der würzige Duft von Muskatnuss und Sumak sich mit jenem von fleischgefüllten Murtabak mischen, mit dem die Händler die leeren Mägen der Arbeiter füllen würden, die an einem der schrecklichsten Orte Arawiyas nach Kohle und Mineralien schürften: den Höhlen von Leil.

Derzeit aber priesen sie noch andere Waren an: Stoffballen in fröhlichen Farben, die der trübe Himmel ihrer Strahlkraft beraubte; Gewürze in so vielen Farbtönen, dass man damit ein Gemälde zu Papyrus hätte bringen können; behauene Steinplatten mit komplizierten Mustern, bei denen Nasir nicht begriff, warum irgendjemand dafür einen solchen Aufwand betrieb.

Er schob sich an einer schnatternden Frauenschar vorbei und trat fast auf einen Salzhändler, der im Schneidersitz auf einem Teppich saß, umringt von Säcken mit seiner kostbaren Ware und auf der Schulter einen Falken, der seine Umgebung mit scharfen Augen beobachtete. Der wettergegerbte Mann blickte mit einem breiten Lächeln zu Nasir auf, offenbar begeistert von der Aussicht auf einen neuen Kunden. Dann aber erkannte er Nasirs Tracht, und das Funkeln in seinen Augen wandelte sich zu Furcht. Auch andere bemerkten nun, wer sich da unter ihnen befand. Eine Frau ließ sogar einen Beutel mit Getreide fallen, den sie gerade erworben hatte.

Nasir senkte den Kopf und beschleunigte seine Schritte. Er kam nah genug an einem Grüppchen vorbei, dass Geflüster sein Ohr streifte. Wäre er noch näher getreten, hätten die Leute es vielleicht sogar gewagt, ihn anzublicken. Sie wussten, wohin er unterwegs war, seine Gewandung verriet ihn. Als sich ein Beutel Dinare wie zufällig von seinem Gürtel löste und auf den Boden klimperte, wo der Sand den Glanz der silbernen Münzen dämpfte, tat er ganz arglos und lief weiter. Es war besser so. Es war besser, wenn Nasir in ihren Augen ebenso böse war wie Sultan Ghameq. Denn in vielerlei Hinsicht war er das. Vielleicht war er sogar noch schlimmer.

Allerdings war das Volk von Sarasin mittlerweile abgehärtet gegenüber einem Leben, das sich mit jedem Tag trostloser zeigte. Gerade erst war sein Kalif ermordet worden, und sein Sultan hatte das Land unrechtmäßig an sich gerissen. Dennoch schienen die Menschen nicht beunruhigter als zuvor.

Erhebt euch, befahl ihnen Nasir im Geiste. Leistet Widerstand. Kämpft.

Sogleich aber vernahm er eine spöttelnde Stimme in seinem Innersten: Nicht einmal du bietest doch dem Sultan die Stirn. Außerdem wurden diejenigen, die es wagten, sich zu widersetzen, letztendlich von Nasir umgebracht.

Endlich erreichte er die Gasse am anderen Ende des Sooqs. Ein Mädchen mit großen grauen Augen blinzelte ihm zu und humpelte dann in den Schatten. Hinter ihr wirbelte Staub auf. Eine Sandkatze duckte sich mit leisen Pfoten hinter einen Geröllhaufen und rollte den Schwanz zusammen. Die zerbröckelnden Steinwände waren von zerfetzten Papyrusblättern bedeckt, vollgekritzelt mit den Versen irgendeines hoffnungsvollen, romantischen Narren.

Nasirs Mutter hatte immer zu sagen gepflegt, ein Mensch ohne Hoffnung sei ein Leib ohne Seele. Und genau dies waren die Arawiyaner nun seit einem Jahrhundert, seit sie die Sechs Schwestern und mit ihnen die Magie verloren hatten, auf die das Reich doch so dringend angewiesen war. Und hier, wo der Sand verrußt war und der Himmel im ewigen Halbdunkel lag, gab es für niemanden Hoffnung, am wenigsten für Nasir.

Ein Wächter trat aus den Schatten, der Sand kratzte unter seinen Stiefeln. Nasir betrachtete sein gezogenes Schwert mit kühlem Gleichmut.

»Halt!«, sagte der Mann, wobei er erst seinen Brustkorb und dann seine Wampe aufplusterte. Wo bekommen diese Taugenichtse nur all das Essen her?

»Dafür ist es ein wenig zu spät«, entgegnete Nasir ruhig. Mit einer ruckartigen Bewegung des Handgelenks ließ er die Klinge aus seinem Handschuh fahren.

»Halt, habe ich gesagt«, wiederholte der Wächter. Er richtete sich zu voller Größe auf, ein wenig zu grün hinter den Ohren und zu begierig für eine Welt, die ihm noch früh genug den Boden unter den Füßen wegziehen würde.

Nasir würde ihm dieses Schicksal ersparen. Seine Klinge funkelte im Zwielicht. »Welch klägliche letzte Worte.«

Der Wächter riss die Augen auf. »Nein! Warte! Ich habe eine Schwester und …«

Nasir drehte sich einmal um die eigene Achse, um dem Schwert des Mannes auszuweichen, dann zog er ihm seine Klinge über die Kehle. Er schleifte den gurgelnden Leichnam in die Schatten, ehe er sich das Gewand glatt strich und wieder in die Gasse trat. Dort suchte er am grobkörnigen Stein der nächsten Wand nach Halt. Wenn ich hier fertig bin, bin ich ein alter Mann.

Nachdem er sich ein wenig gefangen hatte, kletterte er zu den Dächern nördlich des Sooqs empor und sprang von Terrasse zu Terrasse und von Dach zu Dach, bis er auf dem vornehmsten Kalksteingebäude der Stadt angekommen war, das alles in seiner Umgebung weit überragte. Es war das glanzvolle Stammhaus des Dar al-Fawda. Diese Gruppierung veranstaltete die Kamelrennen, und ihre Mitglieder gehörten zu den edleren unter all den zwielichtigen Gestalten, bei denen der verstorbene Kalif ein Auge zugedrückt hatte.

Die Dachterrasse des Gebäudes war weitläufig. Trennwände aus Gitterwerk und flauschige Kissen waren überall verteilt und lockerten mit ihren Farben das Einerlei des cremefarbenen Steins auf. Eine Dallahkanne und einige henkellose Tassen mit Kaffeesatz darin lagen umgekippt da. Laken und Seidenschals waren überall verstreut. Nasir wusste, was auf dieser Dachterrasse zu mancher Zeit vor sich ging, und er war froh, nicht zu zeitig hier aufgetaucht zu sein.

Er schob einen Haufen Seidenkissen beiseite und hockte sich an den Rand des Dachs. Der graue Himmel verriet nicht, welche Tageszeit es war, doch unten füllte sich das Wadi, in dem das Rennen stattfinden würde, allmählich mit Zuschauern.

Es waren vornehmlich Sarasinen mit dunklem Haar, olivfarbener Haut und verzagten Blicken. Sein Volk. Und außerdem Narren allesamt, wie sie herbeiströmten, um ihre Geldtruhen durch verfluchte Wetten auf die Kamele zu leeren.

Nasir machte ein abschätziges Geräusch und blickte zu den Zelten unter sich. Jeden Moment ist es so weit. Er tastete in den Falten seines Gewandes nach der Süßigkeit, die er am Abend zuvor aufgespart hatte, doch seine Finger fanden stattdessen die glatte Oberfläche einer Scheibe. Er fuhr mit dem Daumen über das Mosaik aus Kamelknochen, mit dem das flache Rund geschmückt war. In seinem Innern ruhte eine Sonnenuhr. Sie war vom Alter stumpf geworden, von Äderchen türkisfarbener Patina überzogen und ihr Glas schon lange zerbrochen. Einst hatte sie glänzend in der Handfläche der Sultana gelegen, und …

Jetzt ist nicht die Zeit, sich in Erinnerungen zu verlieren, Köter.

Nasir zuckte zusammen, als ihm die Stimme seines Vaters durch den Kopf hallte. Eilig ließ er von der Scheibe ab und holte das in ein gewachstes Tuch eingeschlagene Dattelküchlein hervor. Das waren die kleinen Dinge, durch die er sich für eine kurze Weile wie der Mensch fühlen konnte, als der er geboren worden war. Ein übrig gebliebenes Küchlein, das er sich für später aufgespart hatte, oder eine abgegriffene Sonnenuhr aus vergangenen Zeiten.

Wo war nur dieser verdammte Page? Kamele wurden von ihren Haltern zu den Startpositionen gezerrt, und Nasir musste dort unten sein, ehe die Menschenmenge zu einer unüberwindbaren Mauer angewachsen wäre. Er trommelte mit den Fingern auf das Gestein des Dachrandes, und cremefarbener Staub bedeckte seine Handschuhe.

Ich werde diesem Burschen den …

Eine im Boden der Dachterrasse eingelassene Falltür öffnete sich mit einem lauten Knarren, und Nasir fuhr herum, als ein Knabe mit knubbeligen Ellbogen daraus emporstieg. Eine Sandkatze miaute und schlängelte sich um die schmutzigen Füße des Kindes.

Nasir hob eine Augenbraue. »Du kommst spät.«

»Es … es tut mir leid. Ich bin nicht von Effendi Fawda weggekommen.« Die braune Haut des Pagen war schmutzverschmiert. Das Oberhaupt des Dar al-Fawda war kein ehrbarer Mann, doch wenn der Junge ihm mit dem Titel eines Effendi Respekt erweisen wollte, dann war das seine Sache.

»Alles ist bereit für dich«, sagte der Page, als hätte er eine enorme Aufgabe zu erfüllen, dabei sollte er Nasir lediglich helfen, den Mann zu finden, den er suchte.

Vermutlich hatte der Junge Angst vor Nasir, jedoch hatte er keine Angst davor, mit ihm zu sprechen, und das gefiel dem Haschaschinen. Deswegen wollte er dem Kleinen gern den Gefallen tun, auf dessen Pflichtbeflissenheit angemessen zu reagieren, also nickte er ihm zu und sagte: »Mein Shukur sei dir gewiss.«

Auf diesen Ausdruck des Danks hin schien der Page so überrascht, wie Nasir sich fühlte, und ehe ihn sein Stolz aufhalten konnte, reichte er dem Jungen das Dattelküchlein.

Ein Ächzen entfloh den rissigen Lippen des Burschen, als er das Geschenk vorsichtig entgegennahm und das gewachste Tuch mit ehrfürchtiger Miene auffaltete. Er schleckte den Zucker von seinen verdreckten Fingern, und Nasir verkrampfte der Magen. Für gewöhnlich erblickte er nur Blut, Tränen und Finsternis. Die Hoffnung, die in den Augen des Jungen lag, der Schmutz auf seinem Gesicht und seine hervorstehenden Knochen …

»Kannst du … mir einen weiteren Gefallen erweisen?«, fragte der Page.

So viel Selbstsicherheit verwunderte Nasir. Er und das Wörtchen »Gefallen« teilten sich für gewöhnlich nicht denselben Satz.

»Die Kinder, die bei den Rennen antreten müssen, sind Sklaven«, sprach der Junge weiter. »Kannst du sie befreien?«

Nasir blickte zum Wadi und den Kindern dort. Mit flacher Stimme sagte er ungerührt: »Wenn sie nicht bei den Rennen umkommen, dann eben anderswo.«

»Das meinst du nicht so«, entgegnete der Page nach einer längeren Pause, und Nasir war überrascht, im Blick des Kleinen Wut aufflammen zu sehen. Lass es brennen, Junge.

»Errettung ist etwas für närrische Helden, die es niemals geben wird. Kümmer dich um dich selbst und überlass die anderen ihrem Schicksal.«

Es war ein Rat, dem Nasir schon vor Jahren hätte folgen sollen. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab, sprang vom Rand des Dachs und kletterte flink und behände bis zum Boden hinab.

Wächter des Dar al-Fawda in Sirwals und schwarzen Turbanen lungerten in der Nähe herum. Die hohen Damen und Herren schlurften in schlichten, knöchellangen Thawbs und mit dicken Schnurrbärten vorbei. Nasir hatte nie nachvollziehen können, was irgendwer an Schnurrbärten fand, aber für die Männer hier galt, je größer, desto besser.

Er wartete im Schatten einer Dattelpalme ab, bis er sich mit gesenktem Haupt unter eine Gruppe Trunkenbolde mischen konnte, die auf dem Weg zum Rennen nah an ihm vorbeikamen. Sie passierten Buchmacher, die am Wegesrand auf Hockern saßen und von lärmenden Menschen Wetten entgegennahmen, die ihre kargen Einnahmen für den kurzlebigen Nervenkitzel des Glücksspiels opferten.

Weitere Kamele trotteten in das Wadi, daneben Kinder, in nichts gekleidet als staubige Sirwals. Nasirs Finger zuckten, als ein Mann einen weinenden Jungen mit einer Peitsche schlug. Das Kind rieb sich die immer röter werdende Schulter, seine Augen funkelten mordlüstern. Wo sonst als in Sarasin konnte sich der Wunsch nach Rache schon in so jungen Jahren ausbilden?

Kaum jemand protestierte dagegen, Kinder bei den Rennen einzusetzen, denn je leichter der Reiter, desto schneller das Kamel, und so fuhr man mit dieser Grausamkeit fort. Nasir kochte das Blut in den Adern, doch er hielt sich zurück.

Monster waren den Unschuldigen gegenüber zu nichts verpflichtet.

Als seine betrunkenen Weggefährten endlich bei der Menschenmenge an der Seitenlinie ankamen, machte Nasir sich heimlich davon. Der Gestank wäre ihm ohnehin bald zu viel geworden. Er schob sich an jubelnden Massen vorbei und umtänzelte Sandkatzen und Kinder, die nach Essensabfällen suchten.

Dann erreichte er die Zelte.

Die wenigen, in die er einen Blick warf, waren allesamt leer. Eingerichtet waren sie wie traditionelle Majlis mit Sitzgarnituren und Kissen, die überall auf dem Boden verstreut lagen, um dort Verhandlungen durchzuführen – oder intimere Zusammenkünfte. Die Markierung des Pagen, ein rotes Halstuch, das an einem Steinbrocken befestigt war, war wie versprochen neben dem siebten Zelt zu finden.

Nasir legte die Hand auf den Knauf seines Säbels.

Sein Ziel mochte jung oder schon im Greisenalter sein. Es konnte Kinder haben, die ihm in die leblosen Augen blicken und nach einer Seele schreien würden, die nie wieder zurückkehren würde. Und es hatte einen Namen, der auf einem Streifen Papyrus stand, den Nasir zusammengerollt in seiner Tasche verstaut hatte.

Nasir huschte ins Innere des Zeltes. Durch Risse in dessen beigen Wänden fielen totenbleiche Sonnenstrahlen, in denen Staub wirbelte. Auf einem Teppich, mit dem der Sand abgedeckt war, lagen überall Schriftrollen und Bücher verteilt. Ein grauhaariger Mann hatte sich darübergebeugt und schrieb im Licht einer Laterne.

Die jubelnden Rufe der Zuschauer wurden lauter, als das Rennen begann, und mischten sich mit dem Grunzen der Kamele und den Schreien der Kinder, die sie reiten mussten.

Der Mann rieb sich den Bart und murmelte vor sich hin.

Wie schon so oft fragte sich Nasir, wann er aufgehört hatte, die Menschen zu bedauern, die zu ermorden er geschickt wurde. Irgendwann hatte sein Herz schlicht aufgegeben, die Ungeheuerlichkeit seiner Taten wahrzunehmen, und das hatte rein gar nichts mit der Finsternis zu tun, die sich über das Reich gelegt hatte. Nein, es war sein eigenes Werk. Er selbst war es, der sein Herz zu einem schwarzen Klumpen hatte werden lassen, und sonst niemand.

Die konzentrierte Ruhe, die der Mann ausstrahlte, ließ Nasir dennoch zögern. Vielleicht sollte er den Alten von diesem unbemerkt niederstrecken. Da entdeckte er auf einigen der Schriftrollen Überschriften, die auf Safaitisch geschrieben waren, der Alten Zunge von Arawiya. Da war sogar ein Bericht über den Löwen der Nacht, einen Mann von geteiltem Geblüt, der es auf den Güldenen Thron des Reichs abgesehen und während seines schrecklichen Schwarzen Blutbads eine Schneise aus Tod und Verderben hinter sich hergezogen hatte, ehe man ihn schließlich zur Strecke gebracht hatte.

Ein Historiker. Der Alte Mann war ein Historiker. War dies der Grund, aus dem er sterben sollte?

Nasir vergrub seinen Stiefel tiefer im Sand, sodass dieser unter seinen Sohlen knirschte.

Der Mann blickte auf. »Ah, du bist da. Du hast ja lang genug gebraucht, um mich zu finden.«

Verwunderung wirbelte in Nasirs Brustkorb. Es kam nur selten vor, dass seine Zielperson mit ihm sprach, statt gegen ihn zu kämpfen. »Ich töte nur, wenn es mir befohlen wird. Ich bin schließlich kein Jäger.«

Der Mann lächelte. »Da hast du recht, mein guter Haschaschine, doch wenn der Kopf zu Boden fällt, muss ihm der Leib bald folgen. Du hast unseren Kalifen niedergestreckt, und da ich sein Ratgeber war, habe ich erwartet, dass es auch mich irgendwann treffen würde.«

Der Blick des Mannes füllte sich mit Wärme, weswegen Nasir sich rasch umsah, nur um zu begreifen, dass er selbst es war, dem diese Herzlichkeit galt. Es war wie die Dankbarkeit des Pagen auf der Dachterrasse, dieses Mal jedoch hundertfach schlimmer. Niemand sollte seinem Mörder mit Freundlichkeit begegnen.

»Owais Khit«, sagte Nasir leise. Es war der Name auf dem Papyrusstreifen in seiner Tasche. In seiner Stimme lag ein Hauch von Endgültigkeit, und beißender Hass vergrub seine Fangzähne in seinem Herzen.

Owais war wohl wegen der Kinder hier, die zur Teilnahme an den Rennen gezwungen wurden. Er wollte sich für ihre Befreiung einsetzen. Wie unglücklich es da war, dass er dieses weitere Ansinnen verfolgte. Eines, das nichts mit dem toten Kalifen zu tun hatte und das Nasir neugierig machte, wie verräterisch es auch sein mochte. Denn in Arawiya bedeutete Stärke, die nicht in treuer Hingabe zum Sultan ausgespielt wurde, den sicheren Tod.

Der Mann senkte den Kopf. »Der bin ich. Erledige es rasch, aber sei gewiss, dass dies nicht mit mir enden wird.«

»Du sprichst von Hochverrat. Deine ganze Arbeit ist Hochverrat.« Nasir hätte keine Nachsicht mit dem Alten zeigen dürfen. Er hätte ihn töten sollen, ehe er einen Blick in die braunen Augen des Mannes erhascht und Neugier ihn überwältigt hatte. Wie nur konnte das Studium der Geschichte Hochverrat sein?

»Und wer zieht einen Sultan zur Rechenschaft, der Hochverrat an seinen Untertanen begangen hat?«, fragte Owais. »Er hatte kein Recht, unseren Kalifen zu ermorden, wie grausam dieser auch gewesen sein mag. Er hatte kein Recht, uns unser Land zu nehmen und die sarasinische Armee unter seinen Befehl zu stellen. Wir sind eines von fünf Kalifaten unter seiner Herrschaft. Denk darüber nach, mein Junge. Mit fünf Kalifaten unter seiner Fuchtel und der Sultanswache zur steten Verfügung, wozu sollte er da noch eine Armee übernehmen müssen? Das Volk schweigt aus Angst, dass sich die Steuern erhöhen könnten. Für den Moment herrscht Frieden – doch wie lange noch? Bei meiner Arbeit ging es mir lediglich darum, zu erforschen, aus welchem Grund sich unser einst guter Sultan mit einem Mal zum Tyrannen wandelte. Hätte in ihm schon immer eine solch finstere Gesinnung geschlummert, hätte die Sultana ihn nie in unseren Schoß gebracht. Irgendetwas regt sich in den Schatten, mein Junge. Schon bald wird der Tod das geringste unserer Probleme sein.« Owais hob den Kopf und präsentierte seinen runzligen Hals. »Mach schnell. Und wisse, dass andere meine Arbeit fortsetzen werden. Und eines Tages wirst vielleicht sogar du zu ihnen gehören, und Arawiya wird in einstiger Herrlichkeit erblühen.«

Nein, so etwas war einem Jungen nicht möglich, dessen Hände von Blut benetzt waren und dessen Herz so finster war wie jenes, das ergründen zu wollen Owais behauptete. Was auch immer der Alte und seine Anhänger zu erreichen suchten, dem Vorhaben würde nur ein kurzes Leben vergönnt sein. Mit jedem Tag, der verging, nahm ihre Zahl ab – Nasir sorgte dafür.

Sein Säbel sang, als er ihn aus der Scheide zog. Owais atmete tief durch und wickelte sich seinen Turban um den Kopf. Der Glanz der Klinge spiegelte sich in seinen Augen, die glänzenden Kastanien gleich hinter faltigen Lidern lagen. Erneut huschte ein Lächeln über die Lippen des Mannes, und Nasir dachte daran, wie der Sultan ihm den gerollten Papyrusstreifen überreicht hatte. Er dachte an Owais’ Warnung und begriff, wie irrsinnig es war, jemanden zu töten, der doch nichts anderes getan hatte, als zu lesen.

Andererseits hatte er noch nie einen Auftrag unerledigt gelassen.

Owais stockte der Atem, als das Metall seine Haut berührte. Es war das Letzte, was er tat, ehe Nasir seinen Streich ausführte und Blut zu fließen begann. Irgendwo verloren Kinder ihren Vater und Enkelkinder den Menschen, den sie mehr liebten als alles andere.

Nasir holte eine Feder aus den Falten seines Gewandes hervor und drückte sie in das Blut. Sie blieb an Owais’ Brust kleben, die schwarze Fahne rot glänzend benetzt. Einem jeden, der dies erblicken würde, wäre sofort klar, wer den Historiker ermordet hatte, und dass Rache aussichtslos war.

Der Haschaschine in Nasir kniete nieder. Er schloss dem Alten die Augen und richtete ihm den Turban. »Finde deinen Frieden, Owais Khit min Sarasin.«

Dann füllte Nasir seine Lungen mit dem vertrauten Geruch von Blut, ehe er aus dem Zelt trat.

Er schlug die Zeltklappe auf und befestigte sie, sodass rasch jemand entdecken würde, was geschehen war. Es war die einzige milde Gabe, die er Owais’ Angehörigen zurücklassen konnte – ein Hinweis, der ihnen helfen würde, den Toten schnell zu bestatten. Niemand würde Nasir je als Verbündeten sehen, doch in Momenten wie diesen gab er sich manchmal dieser trügerischen Hoffnung hin.

Nein, die Menschen taten gut daran, ihn zu hassen, denn er hatte mehr Leben genommen, als er zählen konnte. Früher einmal hatte jede seiner Missetaten eine Bedeutung für ihn gehabt. Mittlerweile aber waren sie nichts als ein Streich seines Säbels und eine weitere dahingeschiedene Seele.

Für die Menschen war er nicht Nasir Ghameq, Kronprinz von Arawiya.

Nein, er war der Prinz des Todes.

Kapitel 3

In Demenhur standen Frauen wegen der Sechs Schwestern fortwährend am Pranger. Zafira trug dieses Wissen in sich wie eine Wunde, die niemals heilen konnte.

Dieses Wort, das die Fremde im silbernen Umhang verwendet hatte, Jägerin, war wie Salz in dieser Wunde gewesen, sodass frischer Schmerz Zafira durchfahren hatte. Stets war sie der Jäger gewesen. Stets hatte sie sich selbst als der Jäger bezeichnet. Und wenngleich sie davon überzeugt war, sich diese Frau nur eingebildet zu haben, war dieses Trugbild ihr doch eine Erinnerung daran, dass sie, egal, was sie tat, immerfort von allen Seiten angegriffen werden konnte, so wie die Sechs Schwestern von Einst, die ihre Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um daama Arawiya zur Blüte zu bringen, nun aber als Sinnbilder der Schande galten.

Wären die Schwestern Männer gewesen, gäbe es im Reich noch immer Magie. Wären die Schwestern Männer gewesen, wären die Kalifate nicht verflucht worden. Wären die Schwestern Männer gewesen, wäre alles noch so wie früher. Das zumindest predigte der Kalif von Demenhur.

Zafira war anderer Meinung.

Während sie und Sukkar den letzten Hügel hinter sich brachten, der zwischen dem Arz und ihrem Dorf lag, wünschte sie sich mehr als alles andere, einfach sie selbst sein zu können und dass Frauen nicht die unfähigen Wesen zu sein hätten, zu denen die Männer von Demenhur sie erklärten. Trost fand sie allein in dem Wissen, dass nicht in allen der fünf Kalifate dieselben grotesken Ansichten herrschten. In Zaram kämpften Frauen gleichberechtigt mit Männern in den Arenen, in Pelusia herrschte eine Kalifin, umgeben von ihren Neun Auserlesenen.

Zafira friemelte an ihrer Kapuze herum. Würde sie ihren Umhang und damit die Maskerade eines Mannes ablegen, hätte sie in Demenhur keinen Lobpreis zu erwarten. Ihre Leistungen würden zu einem Anlass für Schuldzuweisungen verkehrt werden, zu einer absurden Vorahnung auf ein bevorstehendes Elend.

Düstere Gedanken für den Tag einer Hochzeit.

Eine einsame Gestalt kam in Sicht, und für einen kurzen Moment verfiel Zafira in Panik, ehe sie das sanfte Gesicht und die sonnenhellen Locken erkannte. Deen. Eine von nur vier Seelen, die wussten, dass Zafira der Arzjäger von Demenhur war. Er stand dort und wartete, in der Hand eine Klinge, ungerührt vom kalten Wind.

Zafira stieg von Sukkar und gab Deen einen Schubser gegen die Schulter. »Eines Tages wirst du dich gemeinsam mit mir in die Finsternis wagen.«

Deen lächelte, den Blick auf den Arz gerichtet, als er seinen liebsten Satz sprach: »Aber heute ist nicht dieser Tag.« Schneeflocken hingen in seinen Locken. Seine Wangen mit den tiefen Grübchen waren von der Kälte rosig geworden, und sein grüner Mantel spannte sich über seine muskulösen Arme, die ihm seine Monate in der Armee beschert hatten. »Du warst eine ganze Weile unterwegs.« Er kräuselte die Nase. »Yasmine wird dir den Kopf abreißen.«

Zafira verzog den Mund. »Nicht, wenn sie den Hirsch sieht, den ich für das Hochzeitsmahl mitbringe.«

Deen und seine Schwester Yasmine teilten mit ihrem wie Bronze glänzenden Haar, den rundlichen Gesichtszügen und den warmen haselnussbraunen Augen dieselbe sanfte Schönheit. Deen war wunderschön, außen wie innen. Doch seit dem Tod seiner Eltern legte er stets ein Lächeln auf, das seine Qual kaum verbergen konnte und das Zafira verabscheute.

Im Moment entstellte eine tiefe Falte seine Stirn. Zafira wusste, dass er sie unter der Kapuze und dem Schal kaum sehen konnte, doch seine besorgte Miene verriet, dass er genug sah.

»Geht es dir gut?«, fragte er. »Irgendetwas ist im Arz vorgefallen, nicht wahr?«

»Nur ein kleiner Zwischenfall«, sagte sie, froh darüber, dass er sie so gut kannte. »Du weißt ja, wie es dort ist.«

Er brummte zustimmend, und sein Blick wanderte erneut zum dunklen Wald. »Er kommt näher, nicht wahr?«

Zafira musste darauf nicht antworten. Mit jedem Tag, der verstrich, kroch der Arz näher heran, durchbohrte ihre Grenzen mit Wurzeln wie Speeren und verschlang das Land. Während die meisten Demenhunen annahmen, eines Tages am endlosen Schnee zu krepieren, war es in Wirklichkeit nur eine Frage der Zeit, bis der Arz ihr Kalifat, nein, das gesamte Reich übernehmen und sie dem Flüstern der Albträume, den Monstern und der vollkommenen Finsternis ausliefern würde.

»Letzte Nacht habe ich geträumt, ich wäre auf Sharr«, sagte Deen völlig unvermittelt.

Seine Worte ließen Zafira erstarren. Sharr. Wie wahrscheinlich war es, den Namen dieses verfluchten Ortes zweimal an nur einem Morgen zu hören? Es war eine Insel des Bösen, ein Ort, vor dem inmitten der Nacht im Flackern einer Laterne gewarnt wurde. Eine Bedrohung, die nur deswegen fern schien, weil sie sich jenseits des Arz befand.

Die Insel war als Gefängnisfestung genutzt worden, ehe sie die Schwestern und die Magie gestohlen hatte. Nun war sie ein wilder Ort, dessen Oasen ungezähmt wucherten und der mithilfe des Arz nach Arawiya griff, jeder Baum ein weiterer Soldat in seiner Armee.

»In dem Gefängnis, das die Insel einst war?«, fragte Zafira.

Deen schüttelte abwesend den Kopf. »Ich war in einem gewaltigen Baum gefangen. Finsternis wie Rauch. Geflüster.« Er verzog das Gesicht und sah sie an. »So viel Geflüster, Zafira.«

Sie verriet ihm nichts von dem Flüstern, das sie jeden wachen Augenblick begleitete.

Deen seufzte. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber muss es mich denn von allen möglichen Tagen ausgerechnet heute heimsuchen?«

»Zumindest wirst du heute eine Ablenkung haben, mit der du diese Sache aus dem Kopf bekommst.« Zafira griff nach seiner Hand, und er legte seinen in einen Handschuh gehüllten kleinen Finger um ihren.

»Kühler Schnee in der Weite, wer hätte gedacht, dass du auch mal zuversichtlich sein kannst?«, neckte Deen.

Zafira lachte, und gemeinsam machten sie sich auf zum Dorf, wobei das Eis unter ihren Stiefeln knackte.

»Erinnerst du dich an Inaya?«, fragte Deen irgendwann.

»Die Tochter des dünnen Bäckers?«, hakte Zafira nach. Niemand in den westlichen Dörfern backte so fabelhaftes Brot wie der dünne Bäcker. Seine Tochter war ein stilles Mädchen mit wachem Blick und einer Haarpracht, so wild wie die Mähne eines Löwen.

Deen nickte. »Der Bäcker ist vor ein paar Tagen gestürzt, und es sieht nicht so aus, als ob er je wieder laufen kann. Seitdem munkelt man, dass sie die Zügel in die Hand nehmen wird.«

Zafira stand das Herz still.

»Die Männer des Za’eems kamen am Morgen zu ihr, als sie den Laden aufgemacht hat.« Deen hatte die Zähne fest zusammengepresst, und Zafira hätte seine Anspannung nur zu gerne mit ihren Fingern beiseitegewischt. »Ich war gerade dort und habe Häute an den alten Adib verkauft. Einer der Männer hat sie aus dem Haus gezerrt. Und ein anderer hat dann ihren Platz hinter dem Tresen eingenommen, vermutlich ein Mann, der noch nie in seinem Leben Teig geknetet hat.«

»Und Inaya wird dann in ein paar Tagen mit jemandem verheiratet, dem sie eine gute Frau sein wird«, beendete Zafira die Erzählung.

Deen murmelte bestätigend.

Dieser Za’eem führte nur ihr Dorf an, doch fast jedes Dorfoberhaupt war gleich. Sie alle hörten auf das Geschwafel des Kalifen, Geschwafel, dem der nutzlose Sultan ein Ende hätte bereiten müssen, wenn es ihn denn auch nur im Geringsten geschert hätte. Zafira verstand nicht, warum es überhaupt einen Sultan gab, wenn die Kalifen doch letztlich tun und lassen konnten, was sie wollten.

Und noch schlimmer war, dass auch die meisten Dorfbewohner, Männer wie Frauen, die verdorbenen Behauptungen der Oberen glaubten. Würden diese in ihrem verzweifelten Streben, irgendwem die Schuld für alles Übel der Welt zuzuschieben, erklären, den Dörflern stünde der Hungertod bevor, wenn eine Frau die Bäckerei übernähme, würde das kaum jemand hinterfragen. Aberglaube in seiner reinsten Form.

»Akhh, Deen, warum?« Zafira kam die Galle hoch, und Sukkar schnaubte zustimmend. »Und dann das andere Mädchen letzten Monat, das man dabei erwischt hat, wie es im Leeren Forst Holz schlug, was jeder daama Mann tut. Als ob die Bäume von den Händen einer Frau in irgendeiner Weise grausamer sterben würden.«

Deen warf ihr einen Blick zu. »Bist du besorgt?«

»Besorgt?« Zafira blaffte das Wort geradezu.

Deen lächelte. »Manchmal vergesse ich, dass du ganz anders bist als ich. Sei einfach vorsichtiger, ja?«

»Das bin ich immer«, versprach Zafira, als sie bei dem Haus ankamen, in dem er und seine Schwester lebten.

Deen nickte zur Tür. »Yasmine weiß noch nichts von der Bäckerstochter. Und heute scheint nicht der richtige Tag, ihr davon zu erzählen. Erst recht nicht, wenn dieser Esel von einem Za’eem zur Hochzeit kommt.«

Das stimmte. Yasmine würde den Za’eem eigenhändig in Stücke reißen.

Zafira reichte Sukkars Zügel an Deen, der mit dem Hengst davonzog, um sich um den Hirsch zu kümmern. Sie trottete derweil die beiden Stufen zur Tür hinauf, doch ehe sie klopfen konnte, wurde die windschiefe Tür bereits aufgerissen, und Yasmine stand vor ihr, das Gesicht voll Sorge und Zorn.

»Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?«, fragte Zafira trocken, dann trat sie ein.

Yasmines Miene verfinsterte sich noch weiter. »Und ob ich mich freue. Kharra, noch mehr könnte ich mich nur freuen, wenn du die Hochzeit ganz verpasst hättest.«

Zafira schnalzte mit der Zunge und erschauderte, als die Wärme des Feuers sie traf. »Wie schnippisch.«

»Es ist schon fast Mittag.« Yasmine presste ihre Lippen zusammen. Ganz anders als Deen war sie nie eine von der geduldigen Sorte gewesen.

»Sabar, Sabar. Ich habe einen guten Grund.« Zafira dachte an Inaya, die Tochter des Bäckers, die keine so freudige Hochzeit wie Yasmine erwartete. Sie zog ihre Kapuze zurück, schüttelte ihr dunkles Haar frei und rieb sich die Arme, um die Kälte zu vertreiben, die sich ihr tief in Mark und Bein festgesetzt hatte.

Baba hatte erzählt, dass es in Demenhur früher drückend heiß gewesen sei und dass das Kalifat einer Oase geglichen und Sand sich zu gewaltigen Dünen aufgetürmt habe. Das Vergnügen, sich im Schnee zu wälzen, sei einem nur einmal im Jahr vergönnt gewesen. Doch dann waren die Schneestürme gekommen und nie wieder verschwunden. Es war derselbe Tag gewesen, an dem die Demenhunen ebenso wie die Bewohner der anderen Kalifate die Magie verloren hatten, die einst von jedem der fünf Reichsminarette beherbergt worden war.

Die Welt davor hatte Zafira nie kennengelernt, in der Wasserschöpfer kühles Nass beschworen, Heiler die Verwundeten versorgten und Schmiede Metalle manipulierten. Nun war Magie so unwirklich wie eine Luftspiegelung, das Land lag in Trümmern, und der sich ausbreitende Arz machte alles immer schlimmer.

Jedes Kalifat war mit einem Fluch ganz eigener Art geschlagen: Demenhur mit Schnee, Sarasin mit Wüstwerdung, das einst fruchtbare Pelusia mit Bodenzerstörung, Zaram mit nicht zu bändigenden Sandmassen. Nur in Alderamin, dem Kalifat der Safin, war das Leben wie immer geblieben, und dort isolierte man sich eigensüchtig vom Rest des Reichs.

Zafira nahm die Schüssel Shorba, die Yasmine ihr anbot, und rührte in den weichen Linsen, während sie es sich vor dem Feuer gemütlich machte. Sie versuchte, den Schmerz in ihrer Brust zu vertreiben, der immer dann aufflammte, wenn sie an die Magie dachte, die sie nie erlebt hatte, und an den Sand, der nie zwischen ihren Fingern hindurchgerieselt war oder sie an den Fußsohlen gekitzelt hatte.

Yasmine setzte sich hin und schob sich ihr weites, knöchellanges Kleid unter die Oberschenkel. Es war schlicht und abgetragen, doch sie vermochte sogar in Lumpen zu strahlen. Zafira konnte sich kaum ausmalen, wie ihre Freundin wohl aussehen würde, wäre sie erst für die Hochzeit eingekleidet.

Mächtiger Himmel. Schon heute Abend war es so weit.

»Ich nehme an, du hast für deine Verspätung einen guten Grund«, sagte Yasmine, »aber jetzt ist erst mal Zeit für das Neueste aus der Gerüchteküche. Dreimal darfst du raten, was sich die Leute erzählen.«

»Ich glaube nicht, dass ich heute in der Stimmung dafür bin«, entgegnete Zafira, während Linsen auf ihrer Zunge zerschmolzen. Seit Wochen hatten sie sich auf diesen Tag vorbereitet, und doch war sie noch immer nicht bereit, Yasmine mit einem anderen zu sehen, mit dem wunderschönen Halbsarasinen Misk Khaldun. Dann würde sie nicht mehr einfach so herüberkommen und hier übernachten können, wenn die Einsamkeit in ihren eigenen vier Wänden zu bedrückend wurde, und sich nicht mehr an Yasmines Schulter kuscheln können wie ein Kind, das nicht wusste, wohin.

»Da gibt es Leute, die jede Nacht vom geheimnisvollen Jäger träumen, dabei machen sich diese armen Tröpfe gar keine Vorstellung, was für eine Langweilerin er im wahren Leben ist.«

»Ich bin keine Langweilerin.«

Yasmine ließ ein bellendes Lachen erklingen. »Manchmal schon.« Dann dämpfte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. »Meistens.«

Zafira blickte sie mürrisch an.

»Also schön, du alte Frau«, neckte Yasmine sie weiter, »dann erzähle ich es dir halt einfach. Die Leute behaupten, dass sich der Kalif im Haus von Selah aufhält. So nah bei uns!«

»Und das begeistert dich so?«, fragte Zafira verwundert. »Ich wüsste nicht, was daran gut sein soll.« Tatsächlich begann ihr erneut das Blut in den Adern zu kochen, als ihr das Gemurmel der Fremden im silbernen Umhang einmal mehr durch den Geist spukte. Jägerin