We Were Liars. Solange wir lügen. Lügner-Reihe 1 (Auf TikTok gefeierter New-York-Times-Bestseller!) - E. Lockhart - E-Book + Hörbuch

We Were Liars. Solange wir lügen. Lügner-Reihe 1 (Auf TikTok gefeierter New-York-Times-Bestseller!) Hörbuch

E. Lockhart

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Beschreibung

Der auf TikTok gefeierte New-York-Times-Bestseller! Die Wahrheit kann schmerzen, aber Lügen können alles zerstören. Cadence Sinclair Eastman weiß, dass ihre Familie etwas vor ihr verbirgt. Jeden Sommer verbringen die Sinclairs auf ihrer Privatinsel mit den luxuriösen Häusern vor der Küste Massachusetts. Doch vor zwei Jahren ist etwas passiert, woran sich Cadence nicht erinnern kann und worüber niemand mit ihr spricht. Auch nicht Gat, der Außenseiter, der Cadence auf eine Weise berührt hat, die ihr den Atem raubt, und der seit zwei Jahren auf keine ihrer Nachrichten reagiert … Ab Herbst 2022 ebenfalls erhältlich: »Family of Liars. Wie wir Lügner wurden« Die heiß ersehnte Vorgeschichte zu »We Were Liars«! »Unglaublich spannend, atemberaubend schön und hochintelligent. We Were Liars ist absolut unvergesslich.« John Green, Autor von »Das Schicksal ist ein mieser Verräter« ***Eine Szene aus "We Were Liars"*** Wir schauten zum Himmel. So viele Sterne. Es sah aus wie ein Fest, eine große geheime Party, die unsere Galaxie feierte, nachdem die Menschen ins Bett gebracht worden waren. Ich war froh, dass Gat nicht über Sternbilder schwafelte oder irgendeinen Blödsinn über Sternschnuppen und die Erfüllung von Wünschen erzählte. Aber ich wusste auch nicht, was ich von seinem Schweigen halten sollte. »Darf ich deine Hand halten?«, fragte er. Ich legte meine Hand in seine. »Das Weltall kommt mir gerade so riesig vor«, sagte er zu mir. »Ich brauche etwas zum Festhalten.«

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Zeit:5 Std. 24 min

Sprecher:Viola Müller

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2022Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2015, 2017, 2022 Ravensburger Verlag GmbHDie Originalausgabe erschien 2014unter dem Titel »We Were Liars«bei Delacorte Press, New YorkText copyright © 2014 by E. LockhartAdditional text copyright © 2017 by E. LockhartAll rights reserved. Published in the United States by Ember,an imprint of Random House Children’s Books,a division of Penguin Random House LLC,New York. Originally published in hardcover in the United Statesby Delacorte Press, an imprint of Random House Children’s Books,New York, in 2014.Ember and the E colophon are registered trademarks ofPenguin Random House LLC.Lektorat: Linda BorchertKolektorat: Franziska JaekelUmschlaggestaltung unter Verwendung von Fotos von Adobe Stock(© Inga Av, © STUDIOTAURUS/Stocksy, © New Africa, © ChristosGeorghiou) sowie eines Designs von © Penguin Random House LLCKarte: © 2014 by Abigail DakerAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51154-9ravensburger.com

Für Daniel

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Herzlich willkommen

1

HERZLICH WILLKOMMEN BEI den wunderschönen Sinclairs.

Niemand von uns ist ein Verbrecher.

Niemand ein Abhängiger.

Niemand ein Versager.

Wir Sinclairs sind athletisch, groß und gut aussehend. Wir sind Demokraten aus dem alten Geldadel. Unser Lächeln ist breit, unser Kinn markant und unsere Tennisaufschläge sind aggressiv.

Es spielt keine Rolle, wenn eine Scheidung unser Herz zerreißt, sodass es nur noch widerwillig schlägt. Es spielt keine Rolle, wenn das Geld auf Treuhandkonten knapp wird, wenn Kreditkartenrechnungen unbezahlt auf der Küchenanrichte liegen bleiben. Es spielt keine Rolle, wenn auf dem Nachttisch eine Sammlung von Tablettenschachteln steht.

Es spielt keine Rolle, wenn jemand von uns hoffnungslos, hoffnungslos verliebt ist.

So verliebt,

dass hoffnungslos verzweifelte Maßnahmen

ergriffen werden müssen.

Wir sind Sinclairs.

Niemand ist schwach.

Niemand hat Unrecht.

Wir wohnen, zumindest in den Sommermonaten, auf einer Privatinsel vor der Küste von Massachusetts.

Vielleicht ist das schon alles, was ihr wissen müsst.

2

MEIN VOLLSTÄNDIGER NAME ist Cadence Sinclair Eastman.

Ich wohne zusammen mit Mum und drei Hunden in Burlington, Vermont.

Ich bin fast achtzehn.

Ich besitze nicht viel mehr als einen gut genutzten Bibliotheksausweis, obwohl ich in einem prachtvollen Haus voller teurer, nutzloser Dinge wohne.

Früher war ich blond, aber jetzt sind meine Haare schwarz.

Früher war ich stark, aber jetzt bin ich schwach.

Früher war ich hübsch, aber jetzt sehe ich krank aus.

Seit meinem Unfall leide ich an Migräne.

Schwachköpfe kann ich nicht leiden.

Ich mag es, wenn etwas mehrere Bedeutungen hat.

An etwas leiden, jemanden nicht leiden können.

Das Wort bedeutet in beiden Fällen fast dasselbe, aber eben nur fast.

Leiden.

Man könnte sagen, dass es ertragen heißt, aber auch das trifft es nicht genau.

Meine Geschichte beginnt vor dem Unfall.

In dem Sommer, als ich fünfzehn Jahre alt war, ist mein Vater mit irgendeiner Frau abgehauen, die er mehr liebte als uns.

Dad ist ein halbwegs erfolgreicher Professor für Militärgeschichte. Damals habe ich ihn vergöttert. Er trug Tweedjacken. Er war schlank. Er trank seinen Tee mit Milch. Er mochte Brettspiele und ließ mich gewinnen, er mochte Boote und brachte mir das Kajakfahren bei, er mochte Fahrräder, Bücher und Museen.

Hunde mochte er nie, und die Tatsache, dass unsere Golden Retriever auf den Sofas schlafen durften und er jeden Morgen fünf Kilometer mit ihnen spazieren ging, war ein Beweis dafür, wie sehr er meine Mutter liebte. Meine Großeltern mochte er auch nicht, und die Tatsache, dass er trotzdem jeden Sommer in Windemere House auf Beechwood Island verbrachte, wo er Aufsätze über längst ausgefochtene Schlachten schrieb und sich zu jeder Mahlzeit für die Verwandten ein Lächeln abrang, war ein Beweis dafür, wie sehr er sowohl Mum als auch mich liebte.

In jenem Juni, Sommer Fünfzehn, verkündete Dad, dass er uns verlassen werde, und zwei Tage später ging er fort. Er sagte meiner Mutter, dass er kein Sinclair sei und dass er auch nicht länger versuchen wolle, so zu tun. Er wolle nicht mehr lächeln, nicht mehr lügen, kein Teil dieser wunderschönen Familie in ihren wunderschönen Häusern sein.

Wolle nicht. Wolle nicht. Würde nicht.

Er hatte den Umzugswagen bereits bestellt. Er hatte auch schon ein Haus gemietet. Mein Vater verstaute einen letzten Koffer auf der Rückbank des Mercedes (er ließ Mum mit dem Saab sitzen) und startete den Motor.

Dann zog er eine Pistole und schoss mir in die Brust. Ich stand gerade auf dem Rasen und ich fiel. Die Einschussstelle klaffte weit auseinander und mein Herz rollte aus meinem Brustkorb ins Blumenbeet. In rhythmischen Stößen quoll Blut aus meiner offenen Wunde,

aus meinen Augen,

meinen Ohren,

meinem Mund.

Es schmeckte nach Salz und Versagen. Hellrot tränkte meine Scham, nicht geliebt zu werden, das Gras vor unserem Haus, die gepflasterte Auffahrt, die Stufen zur Veranda. Mein Herz zuckte zwischen den Pfingstrosen wie eine Forelle.

Mum blaffte mich an. Sie sagte, dass ich mich zusammenreißen soll.

Benimm dich normal, sagte sie. Sofort, sagte sie.

Weil du es bist. Weil du es kannst.

Mach keinen Aufstand, sagte sie. Atme und setz dich.

Ich tat, was sie verlangte.

Sie war alles, was ich noch hatte.

Als Dad den Hügel hinunterfuhr, reckten Mum und ich unser markantes Kinn nach oben. Dann gingen wir ins Haus und warfen all seine Geschenke in den Müll: Schmuck, Kleider, Bücher, alles Mögliche. In den folgenden Tagen beseitigten wir die Sofas und Sessel, die meine Eltern zusammen gekauft hatten. Wir schmissen das Hochzeitsgeschirr, das Tafelsilber, die Fotos weg.

Wir schafften uns neue Möbel an. Engagierten einen Innenausstatter. Gaben eine Bestellung für Tafelsilber bei Tiffany’s auf. Verbrachten einen Tag in verschiedenen Kunstgalerien und kauften Gemälde, um mit ihnen die leeren Stellen an den Wänden zu verdecken.

Wir beauftragten Großvaters Anwalt, damit er Mums Vermögen in Sicherheit brachte.

Dann packten wir unsere Taschen und fuhren nach Beechwood Island.

3

PENNY, CARRIE UND Bess sind die Töchter von Tipper und Harris Sinclair. Harris kam mit einundzwanzig Jahren nach seinem Harvardstudium zu Geld und vermehrte sein Vermögen mit Geschäften, die zu verstehen ich mir nie die Mühe gemacht habe. Er erbte Häuser und Grundstücke. Er traf kluge Entscheidungen an der Börse. Er heiratete Tipper und überließ ihr die Herrschaft in Küche und Garten. Er behängte sie mit Perlen und stellte sie auf Segelbooten zur Schau. Ihr schien das zu gefallen.

Großvaters einziger Misserfolg war, dass er nie einen Sohn bekam. Aber was machte das schon. Die Sinclairtöchter waren braun gebrannt und wunderschön. Sie waren groß, fröhlich und reich wie Prinzessinnen aus einem Märchen. Sie waren in ganz Boston, Harvard und auf Martha’s Vineyard für ihre Kaschmircardigans und ihre grandiosen Partys bekannt. Sie waren wie gemacht für Legenden. Wie gemacht für Prinzen und Eliteschulen, teuren Schmuck und prachtvolle Häuser.

Großvater und Tipper liebten ihre Töchter so sehr, dass sie nicht einmal sagen konnten, welche von ihnen sie am liebsten hatten. Manchmal war es Carrie, dann Penny, dann Bess, dann wieder Carrie. Auf drei sensationelle Hochzeiten mit Lachs und Harfenmusik folgten hübsche hellblonde Enkel und süße blonde Hunde. Niemand hätte stolzer sein können auf seine umwerfenden amerikanischen Mädchen, als Tipper und Harris es waren.

Auf ihrer felsigen Privatinsel bauten sie drei neue Häuser und gaben jedem einen Namen: Windemere für Penny, Red Gate für Carrie und Cuddledown für Bess.

Ich bin die älteste der Sinclairenkel. Erbin der Insel, des Vermögens und der Erwartungen.

Na ja, vielleicht.

4

ICH, JOHNNY, MIRREN und Gat. Gat, Mirren, Johnny und ich.

Die Familie nennt uns vier die Lügner und wahrscheinlich verdienen wir das auch. Wir haben alle im Herbst Geburtstag und sind praktisch gleich alt. Und in all den Sommern auf der Insel haben wir immer irgendwie für Ärger gesorgt.

Gat kam zum ersten Mal nach Beechwood, als wir acht waren. Sommer Acht nannten wir das.

Davor waren Mirren, Johnny und ich noch nicht die Lügner. Wir waren einfach nur ein Cousin und zwei Cousinen, und Johnny ging uns auf die Nerven, weil er nicht gern mit Mädchen spielte.

Johnny. Er ist Energie, Einsatz und Bissigkeit. Damals hat er immer unsere Barbies erhängt oder mit seinen Legopistolen auf uns geschossen.

Mirren. Sie ist Freundlichkeit, Neugier und Anmut. Damals verbrachte sie ganze Nachmittage mit Taft und den Zwillingen planschend am großen Strand, während ich Bilder auf Millimeterpapier zeichnete oder in der Hängematte unter dem Vordach von Clairmont lag und las.

Dann kam Gat, um den Sommer mit uns zu verbringen.

Tante Carries Mann verließ sie, als sie mit Johnnys Bruder Will schwanger war. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist. Die Familie redet nie darüber. Im Sommer Acht war Will ein Baby und Carrie hatte schon etwas mit Ed angefangen.

Ed war Kunsthändler und vergötterte die Kinder. Das war alles, was wir über ihn gehört hatten, als Carrie verkündete, dass sie ihn zusammen mit Johnny und dem Baby nach Beechwood bringen würde.

Sie waren die Letzten, die in diesem Sommer auf die Insel kamen, und wir warteten alle am Steg darauf, dass das Boot anlegte. Großvater hob mich hoch, damit ich Johnny zuwinken konnte, der eine orangefarbene Schwimmweste trug und uns über den Bug hinweg etwas zurief.

Oma Tipper stand direkt neben uns. Sie drehte sich einen Moment lang vom Boot weg, fasste in ihre Tasche und holte einen Pfefferminzbonbon heraus. Sie wickelte ihn aus und steckte ihn sich in den Mund.

Als sie wieder zum Boot schaute, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ich kniff die Augen zusammen, wollte sehen, was sie sah.

Carrie stieg als Erste aus. Sie hatte Will auf dem Arm, der in einer gelben Babyschwimmweste steckte, aus der nicht viel mehr als sein weißblonder Haarschopf hervorlugte. Sein bloßer Anblick löste eine Welle der Entzückung aus. Diese Weste hatten wir alle als Babys getragen. Die Haare. Wie wundervoll, dass dieser kleine Junge, den wir noch gar nicht kannten, ganz eindeutig ein Sinclair war.

Johnny sprang vom Boot und warf seine Weste auf den Steg. Als Erstes rannte er zu Mirren und verpasste ihr einen Tritt. Dann trat er mich. Danach waren die Zwillinge an der Reihe. Schließlich baute er sich vor unseren Großeltern auf. »Schön, euch wiederzusehen, Großmutter und Großvater. Ich freue mich auf einen tollen Sommer.«

Tipper umarmte ihn. »Bestimmt hat deine Mutter dir aufgetragen, das zu sagen, hab ich Recht?«

»Ja«, antwortete Johnny. »Und ich soll auch sagen, dass es schön ist, euch wiederzusehen.«

»Fein gemacht.«

»Kann ich jetzt gehen?«

Tipper küsste seine sommersprossenübersäte Wange. »Geh nur.«

Ed war nach Johnny aus dem Motorboot gestiegen und stehen geblieben, um den Angestellten beim Ausladen zu helfen. Er war groß und schlank. Seine Haut war sehr dunkel: indische Herkunft, wie wir später erfuhren. Er hatte eine Brille mit schwarzem Rahmen und trug ein elegantes Großstadtoutfit, einen Leinenanzug mit gestreiftem Hemd. Seine Hose war von der Reise zerknittert.

Großvater setzte mich ab.

Oma Tippers Mund war nur noch ein schmaler Strich. Dann setzte sie ein Lächeln auf und ging auf Ed zu.

»Sie müssen Ed sein. Was für eine schöne Überraschung.«

Er gab ihr die Hand. »Hat Carrie Ihnen nicht gesagt, dass wir kommen?«

»Natürlich hat sie das.«

Ed schaute unsere weiße, weiße Familie an. »Wo ist Gat?«, fragte er Carrie.

Sie riefen nach ihm und Gat kletterte aus der Bootskabine, während er gleichzeitig versuchte, seine Schwimmweste zu öffnen.

»Mutter, Vater«, sagte Carrie, »Wir haben Eds Neffen mitgebracht, damit er mit Johnny spielen kann. Das ist Gat Patil.«

Großvater streckte seine Hand aus und tätschelte Gats Kopf. »Hallo, junger Mann.«

»Hallo.«

»Sein Vater ist gestorben, dieses Jahr erst«, erklärte Carrie. »Er und Johnny sind beste Freunde. Für Eds Schwester ist es eine große Entlastung, wenn wir uns ein paar Wochen um ihn kümmern. Alles klar, Gat? Hier wird es Grillpartys geben, und du kannst schwimmen gehen, so wie wir es besprochen haben. In Ordnung?«

Aber Gat antwortete nicht. Er schaute mich an.

Er hatte eine ausgeprägte Nase und schöne Lippen. Dunkelbraune Haut, schwarze gewellte Haare. Sein Körper strotzte vor Energie. Gat wirkte wie eine gespannte Feder. Als würde er auf etwas warten. Er war Einkehr und Begeisterung. Ehrgeiz und starker Kaffee. Ich hätte ihn ewig anschauen können.

Unsere Blicke trafen sich.

Ich drehte mich um und rannte weg.

Gat lief mir hinterher. Ich hörte seine Schritte auf den Bohlenwegen, die sich quer über die Insel zogen.

Ich rannte weiter. Er lief mir weiter hinterher.

Johnny jagte Gat nach. Und Mirren jagte Johnny nach.

Die Erwachsenen blieben auf dem Steg und unterhielten sich, sie hatten einen Kreis um Ed gebildet und äußerten ihr Entzücken über Baby Will. Die Kleinen machten, was Kleine eben so machen.

Wir vier hielten erst am kleinen Strand vor Cuddledown an. Es ist ein schmales Sandstück, das zu beiden Seiten von hohen Felsen gesäumt wird. Damals wurde es von niemandem großartig genutzt. Am großen Strand gab es weicheren Sand und nicht so viel Seegras.

Mirren zog ihre Schuhe aus, der Rest von uns folgte ihrem Beispiel. Wir warfen Steine ins Wasser. Für uns existierte nur der Moment.

Ich schrieb unsere Namen in den Sand.

Cadence, Mirren, Johnny und Gat.

Gat, Johnny, Mirren und Cadence.

So fing es mit uns an.

JOHNNY BETTELTE, DASS Gat länger bleiben dürfe.

Er bekam, was er wollte.

Im nächsten Jahr bettelte er darum, dass Gat den ganzen Sommer kommen dürfe.

Gat kam.

Johnny war ihr ältester Enkelsohn. Meine Großeltern schlugen ihm fast nie eine Bitte ab.

5

IM SOMMER VIERZEHN fuhren Gat und ich allein mit dem kleinen Motorboot aufs Meer. Gleich nach dem Frühstück. Bess hatte Mirren dazu verdonnert, mit den Zwillingen und Taft Tennis zu spielen. Johnny hatte in dem Jahr zu trainieren begonnen und drehte seine Runden um die Insel. Gat fand mich in der Küche von Clairmont und fragte, ob ich mit dem Boot rausfahren wolle.

»Eigentlich nicht.« Ich wollte mit meinem Buch zurück ins Bett.

»Bitte.« Gat sagte fast nie Bitte.

»Fahr allein raus.«

»Ich kann mir das Boot nicht einfach ausleihen«, sagte er. »Das fühlt sich nicht richtig an.«

»Natürlich kannst du es dir ausleihen.«

»Nicht ohne einen von euch.«

Das Ganze war lächerlich. »Wo willst du denn hin?«, fragte ich.

»Ich will einfach nur von der Insel runter. Manchmal halte ich es hier nicht aus.«

Ich konnte mir damals nicht vorstellen, was er hier nicht aushielt, aber ich sagte in Ordnung.

Wir fuhren in unseren Badesachen und Windjacken raus. Nach einer Weile stellte Gat den Motor ab. Wir saßen da, aßen Pistazien und atmeten die salzige Luft. Die Sonnenstrahlen brachen sich im Wasser.

»Lass uns schwimmen gehen«, schlug ich vor.

Gat sprang und ich hinterher, aber das Wasser war so viel kälter als direkt am Strand, es verschlug uns den Atem. Die Sonne versteckte sich hinter einer Wolke. Wir lachten panisch und riefen, dass es die blödeste Idee aller Zeiten gewesen war, ins Wasser zu gehen. Was hatten wir uns bloß dabei gedacht? Jeder wusste, dass es vor der Küste Haie gab.

Himmel, fang bloß nicht von den Haien an! Wir drängelten und schubsten, und jeder versuchte, als Erster hinten am Boot auf die Leiter zu kommen.

Nach einer Minute lehnte sich Gat zurück und ließ mir den Vortritt. »Nicht weil du ein Mädchen bist, sondern weil ich ein guter Mensch bin«, sagte er.

»Danke.« Ich streckte ihm die Zunge raus.

»Aber falls mir ein Hai die Beine abbeißt, musst du eine geschliffene Rede darüber schreiben, wie unglaublich ich war, versprochen?«

»Abgemacht«, sagte ich. »Gatwick Matthew Patil war eine unglaublich köstliche Mahlzeit.«

Irgendwie war es wahnsinnig komisch, dass uns so kalt war. Wir hatten keine Handtücher. Wir kuschelten uns zusammen unter eine Fleecedecke, die wir hinter den Sitzen gefunden hatten. Unsere nackten Schultern berührten sich, unsere kalten Füße lagen übereinander.

»Das machen wir nur, damit uns schnell wieder warm wird«, sagte Gat. »Glaub nicht, dass ich dich hübsch finde oder so.«

»Ich weiß, dass du mich nicht hübsch findest.«

»Du ziehst die ganze Decke zu dir.«

»Entschuldigung.«

Pause.

»Doch, ich finde dich hübsch, Cady«, sagte Gat. »Ich hab es nicht so gemeint. Wann bist du überhaupt so hübsch geworden? Das ist verwirrend.«

»Ich sehe aus wie immer.«

»Du hast dich seit letztem Jahr verändert. Das bringt mich aus dem Konzept.«

»Du hast ein Konzept?«

Er nickte ernst.

»Das ist das Blödeste, was ich je gehört habe. Was für ein Konzept?«

»Durch meine Rüstung dringt nichts hindurch. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«

Ich musste lachen. »Nein.«

»Mist. Ich dachte, es funktioniert.«

Wir wechselten das Thema und sprachen darüber, dass wir die Kleinen am Nachmittag nach Edgartown ins Kino mitnehmen könnten, über Haie und ob sie wirklich Menschen fraßen und über das Computerspiel Pflanzen gegen Zombies.

Dann fuhren wir zurück zur Insel.

Bald darauf begann Gat, mir Bücher auszuleihen, traf mich am frühen Abend immer am kleinen Strand und spürte mich auf, wenn ich mit den Hunden auf dem Rasen vor Windemere lag.

Wir liefen gemeinsam den Weg um die Insel, Gat vorneweg, ich hinterher. Wir unterhielten uns über Bücher oder erfanden Fantasiewelten. Manchmal drehten wir mehrere Runden, immer am Ufer entlang, bis wir Hunger bekamen oder uns langweilig wurde.

Der Weg wurde von dunkelrosa Dünenrosen gesäumt. Sie dufteten zart und süß.

Eines Tages betrachtete ich Gat, der mit einem Buch in der Hängematte vor Clairmont lag, und er schien, na ja, zu mir zu gehören. Als wäre er mein ganz besonderer Mensch.

Ich legte mich neben ihn in die Hängematte, schweigend. Ich nahm ihm den Kugelschreiber aus der Hand − er las immer mit Kugelschreiber – und schrieb auf seinen linken Handrücken Gat und auf seinen rechten Handrücken Cadence.

Er nahm mir den Kuli ab. Schrieb Gat auf meinen linken Handrücken und Cadence auf meinen rechten.

Ich spreche nicht von Schicksal. Ich glaube nicht an Vorsehung oder Seelenverwandtschaft oder Übersinnliches. Ich will bloß sagen, dass wir einander verstanden. Ganz und gar.

Aber wir waren erst vierzehn. Ich hatte noch nie einen Jungen geküsst, obwohl sich das im kommenden Schuljahr ändern sollte, und irgendwie haben wir es nie Liebe genannt.

6

IM SOMMER FÜNFZEHN kam ich eine Woche später als die anderen. Dad hatte uns verlassen und Mum und ich mussten die ganzen Einkäufe erledigen, den Innenausstatter aufsuchen und was sonst noch alles.

Johnny und Mirren begrüßten uns am Steg mit geröteten Wangen und voller Pläne für den Sommer. Sie wollten ein Familientennisturnier ausrichten und hatten Eisrezepte mit Lesezeichen markiert. Wir würden segeln gehen und am Lagerfeuer sitzen.

Die Kleinen wuselten wie immer um uns herum und johlten. Die Tanten lächelten ihr sprödes Lächeln. Nach dem üblichen Ankunftstrubel versammelten sich alle zu einem Cocktail in Clairmont.

Ich lief nach Red Gate, um Gat zu suchen. Red Gate ist viel kleiner als Clairmont, aber oben gibt es trotzdem vier Schlafzimmer. Dort wohnten Johnny, Gat und Will mit Tante Carrie – plus Ed, wenn er da war, was aber nicht allzu oft vorkam.

Ich ging zur Küchentür und schaute durch das Fliegengitter. Gat sah mich nicht. Er stand neben der Arbeitsplatte und trug ein verschlissenes graues T-Shirt und Jeans. Seine Schultern waren breiter, als ich sie in Erinnerung hatte.

Er band eine getrocknete Blume los, die kopfüber an einer Schleife am Fenster über der Spüle hing. Es war eine zarte rosafarbene Dünenrose, wahrscheinlich vom Uferweg der Insel.

Gat, mein Gat. Er hatte mir eine Rose von unserem Lieblingsspazierweg gepflückt. Er hatte sie zum Trocknen aufgehängt und auf meine Ankunft gewartet, um sie mir zu geben.

Inzwischen hatte ich den einen oder anderen unwichtigen Jungen geküsst.

Ich hatte meinen Dad verloren.

Ich war aus einem Haus voller Tränen und Lügen hier auf diese Insel gekommen

und ich sah Gat

und ich sah die Rose in seiner Hand

und in diesem Augenblick, mit dem Sonnenlicht, das durch das Fenster auf ihn schien,

den Äpfeln auf der Küchenarbeitsplatte,

dem Geruch nach Holz und Meer,

nannte ich es Liebe.

Es war Liebe, und sie traf mich so unerwartet, dass ich mich gegen die Fliegengittertür lehnen musste, um mich aufrecht zu halten. Ich wollte ihn berühren, als wäre er ein Häschen, ein Kätzchen, etwas, das so besonders und weich war, dass man nicht die Finger davon lassen konnte. Das Universum war gut, weil er darin war. Ich liebte das Loch in seiner Jeans und den Schmutz an seinen nackten Füßen und die Krusten an seinen Ellenbogen und die Narbe, die sich durch seine linke Augenbraue zog.

Gat, mein Gat.

Während ich dort stand und ihn anstarrte, steckte er die Rose in einen Briefumschlag. Er suchte nach einem Kugelschreiber, schob Schubladen auf und zu, fand einen in seiner Tasche.

Mir war nicht klar, dass er eine Adresse schrieb, bis er eine Rolle Briefmarken aus einer Küchenschublade zog.

Gat klebte die Briefmarke auf. Er schrieb den Absender auf den Umschlag.

Der Brief war nicht für mich.

Ich trat von der Tür weg, bevor er mich entdecken konnte, und rannte zum Uferweg. Ich blickte auf zum Abendhimmel, allein.

Ich riss alle Blüten von einem einzelnen jämmerlichen Rosenbusch und warf sie nacheinander in das aufgewühlte Meer.

7

AN DIESEM ABEND erzählte mir Johnny von einer New Yorker Freundin. Sie hieß Raquel. Johnny hatte sie sogar schon getroffen. Er lebt in New York, genau wie Gat, aber er wohnt mit Carrie und Ed in der Innenstadt, während Gat mit seiner Mum im Norden von Manhattan wohnt. Johnny sagte, dass Raquel eine Tänzerin sei und schwarze Kleider tragen würde.

Mirrens Bruder Taft erzählte mir, dass Gat ein Päckchen mit selbst gemachten Brownies von Raquel bekommen hatte. Liberty und Bonnie erzählten mir, dass auf Gats Handy Bilder von ihr waren.

Gat erwähnte sie mit keinem Wort, aber er konnte mir kaum in die Augen schauen.

In dieser Nacht weinte ich, biss mir in die Finger und trank Wein, den ich aus der Speisekammer von Clairmont geschmuggelt hatte. Ich wirbelte in die Luft, tobte und riss die Sterne vom Himmel, und alles drehte sich und ich musste kotzen.

Ich schlug meine Faust gegen die Duschwand. Ich wusch die Scham und die Wut mit kaltem, kaltem Wasser von mir ab. Dann lag ich zitternd wie ein ausgesetzter Hund in meinem Bett und fror bis auf die Knochen.

Am nächsten Morgen und auch an allen darauffolgenden Tagen benahm ich mich normal. Ich reckte mein markantes Kinn entschlossen nach oben.

Wir segelten und machten Lagerfeuer. Ich gewann das Tennisturnier.

Wir löffelten schüsselweise Eis und lagen in der Sonne.

An einem Abend trafen wir uns zu viert unten am kleinen Strand zu einem Picknick. Wir aßen gedünstete Venusmuscheln, Kartoffeln und Mais. Das Essen war von den Angestellten vorbereitet worden. Ich wusste nicht, wie sie hießen.

Johnny und Mirren trugen das Essen in Edelstahlbehältern nach unten. Wir saßen um das flackernde Lagerfeuer, Butter tropfte in den Sand. Gat machte ein dreistöckiges Cracker-Marshmallow-Schoko-Sandwich für uns. Ich schaute auf seine vom Feuer beschienenen Hände und wie die Marshmallows an dem langen Stock entlangrutschten. Auf seinen Handrücken standen nicht mehr unsere Namen, sondern die Titel von Büchern, die er lesen wollte.

In dieser Nacht stand auf der Linken: Das Sein und. Auf der Rechten: das Nichts.

Ich hatte auch etwas auf meine Hände geschrieben. Ein Zitat, das mir gefiel. Auf der Linken: Lebe. Auf der Rechten: im Jetzt.

»Wollt ihr wissen, was ich gerade denke?«, fragte Gat.

»Ja«, sagte ich.

»Nein«, sagte Johnny.

»Ich frage mich, wie euer Großvater behaupten kann, ihm gehöre diese Insel. Ich meine, nicht rechtlich gesehen, sondern grundsätzlich.«

»Fang jetzt bloß nicht mit den Sünden der Pilgerväter an«, stöhnte Johnny.

»Mache ich nicht. Aber wie kann man behaupten, dass Land irgendjemandem gehört?« Gat machte eine ausholende Geste zum Strand, zum Meer, zum Himmel.

Mirren zuckte mit den Schultern. »Leute kaufen und verkaufen die ganze Zeit Land.«

»Können wir nicht über Sex oder Mordfälle reden?«, fragte Johnny.

Gat ignorierte ihn. »Vielleicht sollte Land überhaupt niemandem gehören. Oder vielleicht sollte es Beschränkungen dafür geben, was jemand besitzen darf.« Er beugte sich nach vorn. »Als ich im Winter mit anderen freiwilligen Helfern in Indien war, haben wir Toiletten gebaut. Wir haben sie gebaut, weil die Leute in diesem Dorf keine hatten.«

»Wir wissen, dass du in Indien warst«, sagte Johnny. »Das hast du uns nämlich schon ungefähr tausendmal erzählt.«

Und genau das liebe ich an Gat: Er ist so enthusiastisch, so unermüdlich an der Welt interessiert, dass er gar nicht auf die Idee kommt, andere Leute könnte vielleicht langweilen, was er erzählt. Sogar wenn sie es ihm direkt ins Gesicht sagen. Er lässt uns nicht so einfach davonkommen. Er will uns zum Denken anregen – selbst wenn uns nicht nach Denken ist.

Gat stocherte in der Glut. »Ich finde, wir sollten darüber reden. Nicht jeder besitzt eine Privatinsel. Manche Leute arbeiten auf einer. Manche arbeiten in Fabriken. Manche haben keine Arbeit. Manche haben kein Essen.«

»Jetzt hör aber auf«, sagte Mirren.

»Ja, am besten gleich für immer«, sagte Johnny.

»Hier auf Beechwood haben wir eine verzerrte Sicht auf die Menschheit«, sagte Gat. »Ich glaube nicht, dass euch das klar ist.«

»Klappe«, sagte ich. »Wenn du die Klappe hältst, bekommst du mehr Schokolade.«

Gat hielt die Klappe, aber er verzog das Gesicht. Plötzlich stand er auf, nahm einen Stein und warf ihn, so weit er konnte. Er zog sein Sweatshirt aus, kickte die Schuhe weg und lief in Jeans ins Meer.

Wütend.

Ich schaute auf seine muskulösen Schultern im Mondlicht. Als er ins Meer sprang, sprühte Gischt auf. Er tauchte unter, und ich dachte: Wenn ich ihm jetzt nicht folge, hat dieses Mädchen, diese Raquel, ihn. Wenn ich ihm jetzt nicht folge, geht er weg. Von den Lügnern, von der Insel, von unserer Familie, von mir.

Ich zog schnell den Pulli aus und lief Gat in meinem Kleid nach. Ich stürzte mich ins Meer und schwamm raus. Dorthin, wo er auf dem Rücken trieb. Seine nassen Haare waren aus dem Gesicht gestrichen, sodass man die dünne Narbe in seiner Augenbraue sehen konnte.

Ich griff nach seinem Arm. »Gat.«

Er erschrak und stellte sich ins hüfthohe Wasser.

»Entschuldigung«, flüsterte ich.

»Sag mir nicht, dass ich die Klappe halten soll, Cady. Ich habe das noch nie zu dir gesagt.«

»Ich weiß.«

Er schwieg.

»Bitte halt nicht die Klappe«, sagte ich.

Ich spürte, wie sein Blick über meinen Körper wanderte, der sich unter dem nassen Kleid abzeichnete. »Ich weiß, dass ich zu viel rede«, sagte er. »Und immer alles politisiere.«

»Ich mag es, wenn du redest«, sagte ich, weil es stimmte. Wenn ich mir die Zeit nahm und ihm zuhörte, mochte ich es.

»Es ist einfach so, dass mich das alles …« Er zögerte. »Ich finde, dass viele Dinge auf der Welt völlig verkorkst sind.«

»Ja.«

»Vielleicht sollte ich …«, Gat nahm meine Hände und drehte sie, bis er die Worte auf meinen Handrücken lesen konnte, »im Jetzt leben, statt die ganze Zeit für etwas zu kämpfen.«

Meine nasse Hand lag in seiner nassen Hand.

Ich zitterte.

Früher hatten wir uns ständig an den Händen gehalten, aber diesen Sommer hatte er mich noch nicht ein Mal berührt.

»Es ist gut, dass du die Welt so siehst, wie du es tust«, sagte ich.

Gat ließ meine Hand los und glitt zurück ins Wasser. »Johnny will nichts davon hören. Und ich langweile dich und Mirren.«

Ich betrachtete sein Profil. Er war nicht nur Gat. Er war Einkehr und Begeisterung. Ehrgeiz und starker Kaffee. Das alles sah ich in seinen braunen Augen, seiner weichen Haut, seiner nach vorn geschobenen Unterlippe. Und tief in seinem Inneren lauerte diese unglaubliche Energie.

»Ich verrate dir ein Geheimnis«, flüsterte ich.

»Ja?«

Ich streckte die Hand aus und berührte wieder seinen Arm. Er zog ihn nicht zurück. »Wenn wir zu dir sagen: Halt die Klappe, Gat, meinen wir das überhaupt nicht so.«

»Nein?«

»Wir wollen damit eigentlich sagen, dass wir dich mögen. Du erinnerst uns daran, was für egoistische Idioten wir sind. Und ein egoistischer Idiot bist du definitiv nicht.«

Er schlug die Augen nieder und lächelte. »Und das meinst du jetzt auch so, wie du es sagst, Cady?«

»Ja«, antwortete ich. Ich ließ meine Finger seinen ausgestreckten Arm hinunterwandern, der im Wasser trieb.

»Unglaublich, dass ihr im Wasser seid!« Johnny stand mit hochgerollten Jeans bis zu den Knöcheln im Meer. »Es ist das Eismeer. Meine Zehen sterben gleich ab.«

»Wenn man erst mal drin ist, ist es schön«, rief Gat zurück.

»Ernsthaft?«

»Sei kein Feigling!«, rief Gat. »Sei ein Mann und komm rein.«

Johnny lachte und stürmte ins Wasser, und Mirren rannte ihm hinterher.

Und es war – unglaublich.

Die Nacht, die über uns heraufzog. Das Rauschen des Meeres. Das Kreischen der Möwen.

8

IN DIESER NACHT konnte ich nicht gut schlafen.

Nach Mitternacht hörte ich ihn meinen Namen rufen.

Ich schaute aus dem Fenster. Gat lag ausgestreckt auf dem Bohlenweg, der nach Windemere führt. Alle fünf Golden Retriever hatten sich zu ihm gelegt: Bosh, Grendel, Poppy, Prinz Philip und Fatima. Ihre wedelnden Schwänze klopften auf die Bohlen. Im Mondlicht sahen sie blau aus.

»Komm runter!«, rief er.

Und ich kam.

Bei Mum brannte kein Licht. Auch der Rest der Insel war dunkel. Von den Hunden abgesehen, waren wir allein.

»Rutsch mal«, sagte ich. Die Bohlen waren nicht sehr breit. Als ich mich neben ihn legte, berührten sich unsere Arme. Meiner war nackt, seiner steckte in einem olivgrünen Parka.

Wir schauten zum Himmel. So viele Sterne. Es sah aus wie ein Fest, eine große geheime Party, die unsere Galaxie feierte, nachdem die Menschen ins Bett gebracht worden waren.

Ich war froh, dass Gat nicht über Sternbilder schwafelte oder irgendeinen Blödsinn über Sternschnuppen und die Erfüllung von Wünschen erzählte. Aber ich wusste auch nicht, was ich von seinem Schweigen halten sollte.

»Darf ich deine Hand halten?«, fragte er.

Ich legte meine Hand in seine.

»Das Weltall kommt mir gerade so riesig vor«, sagte er zu mir. »Ich brauche etwas zum Festhalten.«

»Ich bin da.«

Er strich mit dem Daumen über meine Handfläche. Meine Nervenenden konzentrierten sich nur auf diese Berührung, ich nahm jede Bewegung seiner Haut auf meiner wahr.

»Ich weiß nicht, ob ich ein guter Mensch bin«, sagte er nach einer Weile.

»Ich glaube, das weiß niemand von sich selbst«, sagte ich. »Und ich habe keine Ahnung, wie man überhaupt einer ist. Ich improvisiere einfach.«

»Hm.« Gat schwieg einen Moment. »Glaubst du an Gott?«

»Halb.« Ich versuchte, ernsthaft darüber nachzudenken. Ich wusste, dass Gat sich mit einer oberflächlichen Antwort nicht zufriedengeben würde. »Wenn es schlecht läuft, bete ich oder stelle mir vor, dass jemand über mich wacht, mir zuhört. Als uns mein Dad verlassen hat, habe ich viel über Gott nachgedacht. Um Trost zu finden. Aber ansonsten trotte ich einfach nur durch meinen Alltag. Und der ist nicht mal ansatzweise spirituell.«

»Ich glaube nicht mehr an Gott«, sagte Gat. »Seit meiner Reise nach Indien. Diese Armut. Kein Gott, den ich mir vorstellen kann, würde das zulassen. Als ich wieder nach Hause kam, fiel mir das auf einmal auch in den Straßen von New York auf. Kranke und hungernde Menschen in einer der reichsten Nationen der Welt. Ich bin … ich kann einfach nicht glauben, dass jemand über diese Leute wacht. Was bedeutet, dass auch über mich niemand wacht.«

»Aber das macht dich noch lange nicht zu einem schlechten Menschen.«

»Meine Mutter ist gläubig. Sie ist als Buddhistin aufgewachsen, aber jetzt geht sie zu den Methodisten. Sie ist nicht sehr glücklich über meine Entscheidung.«

Gat redete fast nie über seine Mutter.

»Du kannst nicht an Gott glauben, nur weil sie es will«, sagte ich.

»Nein. Aber die Frage ist: Kann ich ein guter Mensch sein, wenn ich an nichts mehr glaube?«

Wir starrten in den Himmel. Die Hunde verschwanden durch die Hundeklappe von Windemere.

»Du frierst«, sagte Gat. »Hier, willst du meine Jacke?«

Mir war nicht kalt, aber ich setzte mich auf. Er knöpfte seinen olivfarbenen Parka auf, zog ihn aus und gab ihn mir.