12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €
Wenn deine Wut zur magischen Kraft wird, die die Welt verändern kann Im Urban-Fantasy-Roman »We will give you Hell« entdeckt die junge Hell ihre ureigene weibliche Magie, die sie zwingt, sich zwischen Macht und Gerechtigkeit zu entscheiden. Es sollte der Sommer ihres Lebens werden: In Schweden wollen die 19-jährige Hellea, genannt Hell, und ihre Freunde vier Wochen lang die urtümlichen Wälder und das malerische Stockholm erkunden. Aber Hell wird aus diesem Urlaub nicht zurückkehren. Zumindest nicht als die Frau, die sie zuvor gewesen ist. Denn Hell wird plötzlich von unerklärlichen Fieberschüben heimgesucht. Bei dem Besuch eines einsamen Wikinger-Grabs trifft die zunehmend verzweifelte Hell auf Astryd, eine mysteriöse Frau, die ihr eine schier unglaubliche Geschichte erzählt: Was Hell bislang als Wutanfälle und zuletzt als Fieber wahrgenommen hat, ist eine uralte Kraft, die das Schicksal der Welt und insbesondere der Frauen in Hells Hände legt. In den dunklen Wäldern Schwedens dringt Hell bis in ihre tiefsten Abgründe vor und lernt schließlich, dass es keinen richtigen Weg gibt – nur den eigenen. Romantisch, feministisch, queer: Mit »We will give you Hell« hat Lina Frisch einen außergewöhnlichen Urban-Fantasy-Roman geschrieben, der besonders Leser*innen von »Chilling Adventures of Sabrina«, Jenny-Mai Nuyen oder V.E. Schwab begeistern wird. »Lina Frisch entführt ihre Leser*innen in einen mystischen Wald, der ein altes Geheimnis hütet. Eine magische, feministische Geschichte über eine Protagonistin, die sich nichts gefallen lässt!«Anabelle Stehl »We will give you Hell gleicht einer Welle, die mit all den täglichen Ungerechtigkeiten auf einen zurauscht und uns mit dem Wunsch nach mehr Zusammenhalt überrollt.« Stefanie Hasse »Lina Frisch schafft es mit jeder Zeile das Fantasy-Herz in Brand zu stecken. Aufwühlend, wütend und absolut episch! Lina Frisch zeigt, dass Wut nötig ist, um die Welt zu verändern.« Justine Pust
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 577
LINA FRISCH
ROMAN
Knaur eBooks
Was wäre, wenn deine Wut zu einer magischen Kraft wird, die dein Leben für immer verändert?
Es sollte der Sommer ihres Lebens werden: In Schweden wollen die 19-jährige Hellea, genannt Hell, und ihre Freunde vier Wochen lang die urtümlichen Wälder und das malerische Stockholm erkunden. Doch bald wird Hell von unerklärlichen Fieberschüben heimgesucht. Nach einem Anfall nahe einem alten Wikingergrab lernt Hell die mysteriöse Astryd kennen, die ihr eine unglaubliche Geschichte erzählt: Was Hell bislang für Wut und Fieber hielt, ist eine uralte Kraft, die das Schicksal der Welt und insbesondere der Frauen in Hells Hände legt.
In den dunklen Wäldern Schwedens dringt Hell bis in ihre tiefsten Abgründe vor und lernt schließlich, dass es keinen richtigen Weg gibt – nur den eigenen.
Triggerwarnung - Hinweis
Widmung & Zitat
TEIL I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Teil II
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Teil III
Kapitel 23
Nachwort
Glossar
Quellennachweis
Triggerwarnung
Liebe Leser*innen,
bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.
Wir wünschen euch gute Unterhaltung mit WE WILL GIVE YOU HELL.
Lina Frisch und Knaur Fantasy
Für alle, die ihre Stimme erheben. Für alle, die sie noch suchen.
What would happen if one woman told the truth about her life?
The world would split open.
– Muriel Rukeyser
It is said that before entering the sea
a river trembles with fear.
– Khalil Gibran
Salziger Wind schlägt mir ins Gesicht. Ich richte den Blick nach unten auf die Schaumkronen im schmutzig grauen Wasser. Sie bilden eine aufgewühlte Linie. In ein paar Atemzügen wird keine Spur mehr von dem Schnitt zu sehen sein, der das Meer für kurze Zeit in zwei Hälften geteilt hat. Davor und danach, untrennbar verwoben.
»Hell!« Der Ruf kämpft sich durch das Pfeifen des Windes.
»Fuck«, zische ich und wische mir mit dem Handrücken über die rot geweinten Augen. Dass sie rot sind, weiß ich. Sie waren es jedes Mal, wenn ich in den letzten vierundzwanzig Stunden in einen Spiegel gesehen habe. »Hell, wehe, du haust ab!«
Wohin denn? Ich werfe einen letzten Blick hinaus aufs Meer, dann drehe ich mich mit dem Rücken zur Reling und breite die Arme aus. »Wir sind auf einem gottverdammten Schiff, Matti.«
Mein bester Freund kommt so knapp vor mir zum Stehen, dass er beinahe gegen mich geprallt wäre. Der Boden unter unseren Füßen ist glitschig von dem salzigen Sprühnebel, der sich auf die Oberflächen legt, als wollte das Meer uns zeigen, dass wir hier draußen ihm gehören.
»Ich bin so froh, dass es dir gut geht!« Gut ist ein dehnbarer Begriff. »Coco und Tom suchen gerade das Auto-Deck ab. Yasin konnte Alice gerade noch so davon abhalten, der Crew Bescheid zu sagen. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht!«
»Mir war nicht danach, gefunden zu werden.« Der Wind bläht meine Jeansjacke auf, und ich schlinge sie mit verschränkten Armen enger um meinen Körper. Lass gut sein, Matti. Aber das wird er nicht. Nicht, bis ich über das geredet habe, was gestern passiert ist – dabei ist Reden das Letzte, was ich im Augenblick will.
»Wie wäre es, wenn wir reingehen?« Die blonden Härchen auf Mattis nackten Unterarmen stellen sich auf. Obwohl wir Juli haben, ist es kühl hier draußen an Deck, aber das war zu erwarten. Die Ostsee ist eben nicht die Karibik.
»Geh du«, sage ich und drehe mich wieder zum Meer. Am Horizont ist die Küste Schleswig-Holsteins noch erkennbar, ein grauer, schmaler Streifen, auf dem mein Davor zurückgeblieben ist. Anders als das Meer werde ich nie wieder zusammenwachsen.
Matti lehnt sich neben mir gegen die Reling.
»Wir können auch hier draußen bleiben, wenn du möchtest.« Er starrt hinunter auf das graue Wasser. »Es ist nicht deine Schuld, Hell. Das weißt du, oder?«
Meine Hand tastet nach dem silbernen Amulett, das an seiner Kette warm um meinem Hals liegt.
»Klar. Weiß ich.« Matti sieht mich von der Seite an.
»Du kannst nicht lügen. Konntest du noch nie.«
»Was willst du denn von mir hören?«, fauche ich. »Dass es mir nichts ausmacht?«
»Niemand verlangt –« Ich hebe die Hand, und Matti erstarrt mit hilflos zusammengepressten Lippen.
»Ich kann deine Pseudo-Psychologenscheiße gerade echt nicht gebrauchen.« Ich starre auf den Horizont, bis ich höre, wie seine Schritte sich entfernen.
Super gemacht, Hell. Ich wollte nicht auch noch Matti verletzen. Aber der Druck in meiner Brust und die Hitze in meinem Bauch haben mir keine Wahl gelassen. Sie verschwinden immer erst dann, wenn Schuld sich über mich legt wie eine nasskalte Löschdecke.
Ich drehe mich um, aber Matti ist schon die Treppe hinunter und an der spärlich besuchten Bar vorbeigegangen. Zu weit weg, um eine Entschuldigung zu hören, selbst wenn ich sie brüllen würde. Tränen laufen heiß über meine Wangen. Ich fühle mich falsch. Genau wie früher, wenn ich gesehen habe, wie andere Mädchen ihre Gefühle hinter einem Lächeln verbargen. Ich habe versucht, es ihnen gleichzutun und ein liebes Mädchen zu sein. Stattdessen war ich ein Vulkan.
Still sehe ich zu, wie die Tür zum Schiffsinneren hinter meinem besten Freund ins Schloss fällt. Ich wollte noch nie allein sein, wenn ich stattdessen mit Matti hätte sprechen können. Aber in vierundzwanzig Stunden kann sich vieles verändern – oder in meinem Fall, alles.
Ich trete aus der Kabine und drehe mich um, damit Alice den Reißverschluss meines Jumpsuits vollends hochziehen kann. Im Spiegel über den Waschbecken sehe ich zu, wie das silberne Amulett unter nachtblauer Seide verschwindet. Mein Blick wandert nach oben und bleibt an meinen dunkelrot geschminkten Lippen hängen. Deine Tochter sieht aus, als würde sie auf der Reeperbahn arbeiten, Charlotte. Kurz überlege ich, den Lippenstift wieder abzuwischen, für den Familienfrieden. Aber ich widerstehe dem Drang. Stattdessen lächle ich meinem Spiegelbild zu und wuschele mir einmal durch die kurzen, aschblonden Haare, damit sie extra unordentlich liegen. Heute ist mein Tag, nicht seiner.
»Bereit?« Alice tritt neben mich und zupft die Träger ihres grünen Kleides zurecht.
»Du siehst großartig aus«, sage ich. In Alice’ Zimmer hängt ein lebensgroßes Bild von ihrem Idol Marilyn Monroe, und ich schwöre, dass die beiden Schwestern sein könnten, wenn Alice nicht so dunkle Haare hätte. Sie greift nach ihrer Handtasche, als ihr Handy plingt.
»Na, was will Benjamin?«
Alice wendet sich ab und versperrt mir so den Blick auf den Bildschirm. »Er schafft es nicht«, sagt sie knapp, während ihre Finger in Lichtgeschwindigkeit eine Antwort tippen. »Es gibt Probleme mit einem der neuen Hotels in Spanien, und er muss dringend Telefonate führen.« Sie steckt das Handy wieder weg und wirft einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel.
»Mit wem führt Benjamin noch mal eine Beziehung?«, frage ich in gespielter Verwirrung. »Mit dir oder mit der Hotelkette deiner Familie?«
Alice verdreht die Augen. »Papa ist kurz davor, vier Sterne Superior zu bekommen«, sagt sie. »Entweder Ben fehlt oder er.« Ihr Handy plingt ein zweites Mal.
»Lass mich raten: Mr Juniorchef fleht um Verzeihung«, sage ich und nehme einen Schluck aus der Sektflasche, die auf dem Waschbeckenrand steht. »Mit mindestens vier Herz-Emojis und dem Versprechen, dir zur Wiedergutmachung sein Ferienhaus in Saint Tropez zu schenken.«
Alice nimmt mir die Flasche aus der Hand, die sie selbst bis jetzt noch nicht angerührt hat. »Sei heute Abend ausnahmsweise mal nett zu Benjamin, ja?«
»Ich bin immer nett!« Ein Klopfen unterbricht uns. Ich öffne die Tür der Mädchentoilette, um einem ungeduldig auf die Uhr schauenden Matti gegenüberzustehen. Seine schulterlangen, strohblonden Haare, die ihm normalerweise wirr ins Gesicht fallen, hat er zur Feier des Tages ordentlich zurückgekämmt.
»Wir haben noch fünf Minuten. Also ihr habt noch fünf Minuten, ich sollte eigentlich schon längst in der Aula sein.«
»Was hält dich dann noch hier, Herr Jahrgangssprecher?«, frage ich. »Wolltest du unsere überirdische Schönheit als Erster bewundern?« Ich beginne, Singular Sensation zu summen und mich im Rhythmus des berühmten Las-Vegas-Showsongs einmal um mich selbst zu drehen.
»Bescheiden wie immer, Hell«, erwidert Matti trocken. »Ich wollte nur wissen, warum die Hälfte meiner Freunde riskiert, ihre eigene Abiverleihung zu verpassen.«
»Wer ist denn noch spät dran?«, frage ich verwundert. Coco ist schusselig, aber der überkorrekte Tom würde niemals zulassen, dass seine Freundin ausgerechnet heute die Zeit vergisst.
»Yasin«, erwidert Matti. »Er ist nirgendwo zu finden, und ich mache mir langsam Sorgen. Er hat die Karteikarten für meine Rede.« Matti fährt sich gestresst durch die Haare, die prompt wieder in alle Richtungen abstehen.
»Typisch«, sage ich und lache bitter. »Wenn du ihn einmal brauchst …«
Alice schiebt mich zur Seite und legt Matti die Hände auf die Schultern. »Du kannst deine Rede doch eh auswendig. Und wir«, sagt sie und dreht ihn in Richtung der Aula, »können uns sehr gut um uns selbst kümmern.« Matti wirft einen Blick auf die halb leere Sektflasche, die in einem nicht ganz ungefährlichen Winkel auf dem Waschbeckenrand balanciert.
»Das sehe ich. Aber ich habe euch nicht gesucht, um sicherzustellen, dass ihr nüchtern auf der Bühne erscheint.«
»Gut so.« Ich sehe ihn todernst an. »Dann wäre deine Mission nämlich leider gescheitert.« Matti erwidert meinen Blick, aber seine Mundwinkel zucken nicht.
»Ich wollte dir sagen, dass Bernd und deine Mutter mit den Zwillingen da sind, Hell.« Auf einen Schlag verschwindet die sektinduzierte Wärme in meinem Bauch. »Sie sitzen in der dritten Reihe links.« Ich nicke, doch Matti rührt sich nicht von der Stelle. »Ich wollte mich davon überzeugen, dass du froh bist, sie zu sehen.«
»Habe ich eine Wahl?« Mein Lachen klingt eine Spur zu hoch, um echt zu wirken.
»Ja«, sagt Matti. »Ich gehe jetzt runter und schicke Bernd nach Hause, wenn du das willst.«
»Es war ein Streit wie jeder andere«, beruhige ich ihn. Dabei ist das nicht wahr. Unseren letzten Streit habe ausnahmsweise nicht ich angefangen. »Geh, Matti.«
»Bist du dir sicher?« Ich nicke. Nach einem letzten besorgten Blick dreht er sich um und eilt den Gang hinunter. Ich greife nach meiner Tasche, doch Alice hält mich am Handgelenk fest.
»Das mit Berlin sagst du Bernd aber im Restaurant, nicht zu Hause, ja?« Ihre grünen Augen sehen mich eindringlich an – eindringlich und beunruhigt, genau wie vor drei Tagen am Elbstrand. »Ich meine es ernst. Du sagst es ihm nicht, wenn du mit ihm alleine bist.«
»Zum hundertsten Mal, Al, es ist nichts passiert!« Meine Stimme klingt schärfer als beabsichtigt.
»Wenn du das sagst.« Alice sieht mich prüfend von der Seite an. Doch bevor sie fragen kann, warum ich die letzten beiden Nächte auf einer Isomatte neben ihrem Bett verbracht habe, wenn doch nichts passiert ist, ziehe ich sie den Gang hinunter.
Das Meer unter mir ist nicht mehr grau, sondern tintenschwarz. Ich sehe zu, wie die Lichter der Fähre auf den schwachen Wellen tanzen. Wäre alles anders gelaufen, wenn ich einfach lächelnd mein Zeugnis entgegengenommen hätte, als Lea Curtens aufgerufen wurde? Wenn ich nicht einen meiner Anfälle gehabt hätte, diesmal mitten auf einer Bühne? Hätte Bernd das Geheimnis meiner Mutter weiter gehütet, wenn ich nicht schon wieder übertrieben hätte?
Enge schnürt mir die Brust zu, während Worte meinen Kopf bis zum Platzen füllen.
Wenn dein Vater enttäuscht von jemandem wäre, dann von dir, Hellea. Und zu Recht! Ich habe das, was darauf folgte, für eine Lüge gehalten. Den Preis dafür, dass ich mich als Einzige gegen ihn auflehne. Aber ich bin nicht das Opfer, für das ich mich immer gehalten habe. Ich bin das, was er mir schon seit Jahren vorwirft. Egoistisch. Irrational. Böse.
Auf einmal fühle ich mich durchsichtig, als hätte jeder gewusst, was mit mir los ist, außer mir. Als wäre nur noch so wenig von mir übrig, dass mich der nächste Windstoß mühelos von Bord fegen wird. Ich sehe hinaus auf die Wellen. Wie schnell ein Kopf in ihnen verloren gehen würde, selbst ein blonder … Schritte erklingen hinter mir und kommen zögerlich zum Stehen.
»Du wirst hier draußen noch erfrieren.« Ich drehe mich um. Alice trägt ihre gelbe Öljacke, die wir letzten Herbst zusammen in Amsterdam gekauft haben. Erst als sie die Kapuze zurechtzieht, merke ich, dass es regnet.
»Bereust du mittlerweile, dich gegen Südfrankreich entschieden zu haben?«, frage ich im verzweifelten Versuch, einen Witz zu machen. Ich weiß ganz genau, warum Alice in letzter Sekunde den Urlaub mit Benjamin abgesagt hat, um mit nach Schweden zu kommen. Meinetwegen. Dabei verdiene ich weder ihr Mitleid noch ihre Freundschaft. Egoistisch. Irrational. Böse. Wer hätte gedacht, dass Bernd all die Jahre lang recht hatte?
»Du kannst nicht die ganze Nacht hier an Deck verbringen, Hell.« Ich kann einiges, was man mir nicht zugetraut hätte. Wortlos drehe ich mich zurück zum alles verschlingenden Meer. Wenn ich nie durch die Tür von Vincenzos Osteria gegangen wäre … Wenn ich nicht von Berlin angefangen hätte … Wenn ich mich an dem kalten Novembermorgen vor vierzehn Jahren verdammt noch mal unter Kontrolle gehabt hätte …
»Wo bleibt denn Matti?«, fragt Alice und reckt den Hals. Ich lehne mich gegen die grün lackierte Beifahrertür von Mattis altem Ford Granada, den wir nach seinem zweiten Motorschaden mit liebevoller Ironie Granate getauft haben, und ignoriere die Nachricht von Ma, in der sie mich bittet, pünktlich im Restaurant zu sein. Was würde ich darum geben, dieses Mittagessen und das mit ihm verbundene Geständnis einfach ausfallen zu lassen …
»Gerade hat er noch vor der Aula mit Herrn Konerwa gesprochen«, sage ich und stecke mein Handy zu meinem Abizeugnis in die Tasche, als mir eine herbe Aftershave-Wolke den Atem verschlägt.
»Haben deine Eltern dich nach deinem Auftritt gerade etwa hier sitzen lassen?« Yasin zündet sich eine Zigarette an – Pueblo Rojo, die abartigste Marke von allen – und grinst mich an.
»Mein Stiefvater hatte keine Lust auf den Sektempfang«, sage ich, mit Betonung auf Stief. »Sie sind vorgefahren.« Ich spüre Alice’ Hand auf meiner Schulter.
»Mach dir bloß keine Vorwürfe –«, beginnt sie.
»Echt mal, Konerwa einfach so das Mikro aus der Hand zu nehmen, war Badass.« Yasin nickt mir anerkennend zu. »Ich verstehe eh nicht, warum deine Eltern deinen Namen im Programm geändert haben.« Nicht meine Eltern, denke ich bitter. Bernd. Bernd hat meinen Namen ändern lassen. Weil Lea so viel normaler klingt als mein richtiger Name, den mein richtiger Vater mir gegeben hat. So viel unauffälliger. Bloß bin ich nicht Lea. Dieselbe Hitze ballt sich in meinem Bauch zusammen, die mich dazu gebracht hat, meinem Schuldirektor das Mikrofon aus der Hand zu reißen und die Sache richtigzustellen. Ich taste nach dem Amulett, das wie jeden Tag um meinen Hals liegt. Während ich die seltsame Form der nach unten geöffneten Acht nachfahre, beruhigt sich mein Herzschlag. Mein Vater – der Mann mit den blitzenden Augen und dem schiefen Lächeln, an das ich mich immer weniger erinnern kann – wäre stolz auf mich. Das ist alles, was zählt.
»Hey!«, höre ich Alice rufen. »Deine Rede war der Hammer!« Ich blicke auf. Matti kommt durch das Schultor auf uns zu. Alice fliegt ihm entgegen, und er fängt sie lachend auf, bevor er sie einmal herumwirbelt.
»Man hat mir also nicht angesehen, dass ich da oben vor Angst fast gestorben wäre?«, fragt er und lockert seine Krawatte, bevor er mich umarmt.
»Quatsch«, sage ich, als er mich losgelassen hat.
Yasin tritt seine Zigarette aus und hält Matti die Hand zum Einschlagen hin. »Du kannst mich doch bestimmt rumfahren.« Keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Klar, mache ich.« Matti schließt die Fahrertür auf und bemerkt meinen Blick. »Wenn ich die Sternschanze umfahre, sind wir ganz sicher noch rechtzeitig bei Vincenzos.« Aber es geht mir nicht darum, ob wir pünktlich im Restaurant auftauchen oder nicht.
»Was war denn heute Morgen so wichtig, dass du vergessen hast, an Mattis Karteikarten zu denken?«, frage ich Yasin, als wir im Wagen sitzen und Granate ruckelnd anfährt.
Er zuckt mit den Schultern. »Ich bin zu spät aufgestanden.«
»Es gibt eine großartige Erfindung«, sage ich hart. »Sie nennt sich Wecker.«
»Komm schon, Hell«, stöhnt Yasin. »Die Rede ist doch gut gelaufen!«
Ich schüttle den Kopf. »Darum geht es nicht.«
»Ach nein?« Yasin lehnt sich zurück und zündet sich eine neue Zigarette an, obwohl er weiß, wie sehr Matti Rauchgeruch in seinem Auto hasst. Manchmal frage ich mich wirklich, warum Matti überhaupt mit Yasin befreundet ist.
»Nein!« Wütend kurbele ich mein Fester herunter und lasse den Lärm von Hamburgs Straßen hinein. »Du hast Matti im Stich gelassen!«
»Es waren doch nur Karteikarten«, sagt Yasin mit einer Gleichgültigkeit, die mir die Sprache verschlägt. Matti legt mir beschwichtigend eine Hand aufs Knie.
»Vielleicht waren es für dich nur Karteikarten«, sage ich betont ruhig. »Aber für Matti waren sie wichtig.« Mein bester Freund wirft mir einen Blick zu, und ich weiß, dass er mich versteht, obwohl ich wie immer nicht in Worte fassen kann, was ich eigentlich sagen will. Ich kann nicht zulassen, dass du jemals wieder verletzt wirst.
»Okay, ich gebe auf«, sagt Yasin auf dem Rücksitz und hebt die Hände. »Bevor Hell wieder versucht, mir die Nase zu brechen.« Alice’ Lachen fühlt sich an wie ein Betrug. Als würde sie sich nicht an all die Witze auf Mattis Kosten, seinen jeden Morgen wieder auf den Gang gestellten Stuhl und die verschwundenen Hefte erinnern. Aber das ist kein Wunder, schließlich erinnert Matti sich ja selbst nicht.
»Sorry, Hell, aber das war einfach zu göttlich damals«, keucht Alice, als sie wieder Luft bekommt. »Wie du –«
»Jaja, wie ich mir die Hand verstaucht habe. Saukomisch.« Ich werfe Yasin einen vernichtenden Blick zu, der sein selbstgefälliges Grinsen nur noch breiter werden lässt. Und mit diesem Arsch soll ich es vier Wochen in Schweden aushalten …
»Da vorne links kannst du halten«, unterbricht Yasin meine Fantasie, in der ich ihn mitsamt seiner ekelhaften Zigaretten in einen eiskalten schwedischen See schubse. Nachdem er ausgestiegen ist, sieht Matti mich an.
»Wir müssen nicht zu Vincenzos fahren.«
Die Realität dessen, was mich gleich erwartet, schlägt mir ins Gesicht wie ein kalter Wind.
»Doch«, sage ich und taste nach dem Brief aus Berlin, der zusammengefaltet neben meinem Zeugnis in meiner Tasche steckt. »Gib Gas. Je schneller wir da sind, desto schneller habe ich es hinter mir.«
Exakt vier Minuten zu spät betreten Matti, Alice und ich den Gastraum unseres Lieblingsrestaurants.
»Ciao, ragazzi!« Vincenzo umarmt uns der Reihe nach. »Großer Tag heute, meine Freunde, eh?«
Karl und Kilian laufen uns entgegen und überreichen mir stolz einen kleinen Strauß weißer Lilien. Meine Lieblingsblumen. Ich nehme die Zwillinge in den Arm, wie wir es tun, seit sie stehen können – Karl links, Kilian rechts. Kurz schließe ich die Augen und atme den Duft ihrer kleinen Köpfe ein. Meine Halbbrüder sind das Einzige, was ich vermissen werde, wenn ich nach dem Sommer nach Berlin ziehe. Aber selbst sie könnten mich nicht davon abhalten, zu gehen.
Egoistisch. Ich schüttle den Kopf, als hätte ich Wasser im Ohr und nicht die Stimme, die sich seit Jahren beständig in mein Gehirn brennt wie ein kokelndes Streichholz. Irrational. Böse.
Am Tisch begrüße ich Mattis Eltern, Anna und Simon Lundqvist, und seine ältere Schwester Ida und versuche, die angespannten Mienen meiner besten Freunde zu ignorieren.
»Wann kommen deine Eltern, meine Liebe?«, wendet sich Mattis Mutter an Alice, die neben Bernd sitzt und jetzt rot anläuft.
»Oh, sie … sie kommen nicht. Zu viel zu tun im Hotel.« Alice faltet verlegen die Hände in ihrem Schoß. Ihre Eltern würden niemals einen Fuß in ein Restaurant wie dieses setzen – selbst dann nicht, um das Abitur ihrer Tochter zu feiern. Vincenzo rettet Alice mit den Karten und einer großen Antipasti-Platte aus ihrer Erklärungsnot.
»Hat weder pesce noch prosciutto gesehen, keine Sorge, Signorina«, sagt er an mich gewandt. Ich lächle ihm dankbar zu und lasse mir von Anna Lundqvist einen Teller reichen.
»Habt ihr euch mittlerweile entschieden, ob ihr die Fähre nehmt oder über Dänemark fahrt?«, fragt Ma. Ein Friedensangebot.
»Wir nehmen die Fähre«, sage ich. Morgen Abend werden Matti, Yasin, Coco, Tom und ich mit zwei Autos von Kiel nach Göteborg übersetzen, Mattis klapprigem Ford Granada und Cocos Fiat.
»Sie geht über Nacht, sodass wir keinen Reisetag verschwenden«, erklärt Matti. »Und da wir die billigsten Kabinen gebucht haben, gibt das Budget die Überfahrt gerade noch her.«
»Ich beneide euch so!« Mattis Schwester seufzt. »Der Wald, die Stille und dieser unvergleichliche Geruch nach Sommer.« Ida schließt die Augen, und ich versuche, ihre Begeisterung nachzuvollziehen in der Hoffnung, dass ein bisschen davon auf mich abfärbt. Aber es hilft nicht, genauso wenig wie die paradiesischen Bilder von eisblauen Seen inmitten von hohen Nadelwäldern, die Matti mir ständig zeigt, um mir den Wander-Part unserer Reise schmackhaft zu machen. Es sind nur vier Tage, mache ich mir Mut. Vier Tage Wildnis, und dann erkunden wir Stockholm. Ich kann es kaum erwarten, durch die berühmte Altstadt Gamla Stan zu streifen, auf denselben Wegen, die mein Vater damals gegangen ist.
»Nehmt auf jeden Fall genug Sonnencreme mit«, rät Ida. »Die mittelmäßigen Temperaturen bedeuten nicht, dass ihr euch nicht verbrennen könnt.«
»Und wählt die Wanderabschnitte nicht zu lang«, fügt Mattis Vater hinzu.
»Ich halte Wandern ja für ein ausgesprochen sinnvolles Hobby«, wendet Bernd sich an Simon Lundqvist. »Die gesunde Luft, die Bewegung.«
Heuchler. Ich richte die Stola, die Alice mir gestern noch genäht hat, um die blauen Flecken auf meinem Oberarm zu verstecken. Dann stopfe ich mir ein ganzes Artischockenherz in den Mund, bevor ich Bernd fragen kann, warum er mir die Reise mit allen Mitteln verbieten wollte, wenn Wandern doch so ein sinnvolles Hobby ist.
»Sind Sie selbst oft unterwegs gewesen, als Sie noch in Schweden wohnten?«, fragt er weiter.
»Allerdings«, bestätigt Mattis Vater mit leuchtenden Augen. »Der Sörmlandsleden war unser beliebtestes Ausflugsziel. Ein wenig touristisch zwar, aber dafür sicher und ganz in der Nähe von Stockholm.«
Während die Familie Lundqvist über Schutzhütten und den Stellenwert gut eingelaufener Wanderschuhe zu fachsimpeln beginnt, lehne ich mich zu Alice.
»Blinzle zwei Mal, wenn du doch mitwillst.« Sie schüttelt lächelnd den Kopf. »Im Ernst! Matti und ich holen dich mit Granate ab. Bis deine Eltern merken, dass du weg bist, sind wir schon längst auf der Fähre! Ich könnte eine weitere Wanderanfängerin wirklich gut gebrauchen.«
Alice spießt eine Olive mit ihrer Gabel auf. »Benjamin freut sich so sehr auf Frankreich. Es ist unser letzter gemeinsamer Urlaub, bevor ich auf die Hotelakademie gehe.« Sie knufft mich in die Seite. »Und außerdem sehe ich von dir bald sowieso mehr als genug, Roomie.«
Ich grinse. Es ist genau eine Woche her, dass Matti, Alice und ich den Vertrag für die kleine Wohnung in Berlin-Neukölln unterschrieben haben. Das Badezimmer ist so schmal, dass keine zwei Leute aneinander vorbeigehen können, und zwei der drei Schlafzimmer blicken auf eine sechsspurige Hauptstraße. Aber mir erscheint unser neues Reich wie das Paradies auf Erden. Ich ziehe den Brief aus meiner Handtasche, in dem mir die nette Koordinatorin meine Ausbildungsstelle offiziell bestätigt. Alles, was ich mit jeder Faser meines Körpers will, liegt nur noch einen Funken Mut von mir entfernt.
»Signorina Hell?«
»Ich, äh …« Ich schiebe den Brief unter meinen Oberschenkel und werfe einen hastigen Blick in die Karte. »Penne al Arrabiata und eine Apfelschorle, bitte.« Vincenzo nickt.
Als das Essen kommt, stochere ich in meinen Nudeln herum und versuche, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, doch meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Ich muss einfach ruhig bleiben. Ruhig und sachlich erzählen, dass ich nicht studieren werde. Dass ich nicht in Hamburg bleiben werde. Und dass nichts und niemand diese Entscheidung ändern wird.
»Kilian!« Bernd wirft meinem kleinen Bruder, der beschlossen hat, seine Spaghetti mit den Fingern zu essen, einen strengen Blick zu.
»Die flutschen immer von der Gabel!«, rechtfertigt er sich. Ich greife hastig nach meiner Serviette und wische ihm die Hände sauber.
»Du willst doch nicht, dass Bernd dir Fernsehverbot gibt, oder?«, flüstere ich ihm zu.
»Macht Papa eh nicht«, kräht Kilian. Ich presse die Lippen zusammen. Unter normalen Umständen hätte Kilian recht, die Zwillinge können sich eine Menge erlauben. Aber ich habe heute mit meinem kleinen Stunt bei der Abiverleihung schon für genug Aufmerksamkeit gesorgt. Und wenn Bernd eins nicht leiden kann, dann, wenn jemand von uns ungewollt Aufmerksamkeit auf sich zieht.
»Wie wäre es, wenn wir aus Spaghetti coole Mininudeln machen?«, frage ich. Kilian nickt, und ich schneide ihm die Spaghetti klein, bis er sie problemlos mit dem Löffel essen kann.
»Wie lange bist du noch mal in Schweden, Hell?« Karl, der das Kinn voller Tomatensoße hat, sieht mit seinen hellblauen Augen fragend zu mir auf, und mein Herz ist kurz davor, zu brechen.
»Nur vier Wochen«, sage ich und wuschle ihm durch die blonden Haare. Ich werde meine Brüder besuchen kommen. Wer weiß, vielleicht wird das Verhältnis zwischen Bernd und mir ja entspannter, wenn wir uns nicht mehr jeden Tag sehen und er den initialen Schock über meine Entscheidung, einmal nicht nach seiner Pfeife zu tanzen, verdaut hat. Ich könnte einen Teil meiner Urlaubstage in Hamburg verbringen – den Geburtstag der Zwillinge, Weihnachten …
»Wir haben gehört, dass Matti an der Humboldt-Universität angenommen wurde«, sagt Ma. »Psychologie, richtig?« Matti nickt, und mein Mund wird mit einem Mal staubtrocken.
»Wir sind sehr stolz«, sagt Simon Lundqvist und wirft seinem Sohn einen liebevollen Blick zu. »Obwohl es hart sein wird, das letzte Kind gehen zu lassen.« Er deutet lächelnd auf Karl und Kilian. »Wenigstens haben Sie ja noch die Zwillinge.«
Fuck, fuck, fuck …
»Oh, Hell wird weiter zu Hause wohnen«, erklärt Ma. »Die wirtschaftliche Fakultät ist ja nicht so weit weg von uns, sie braucht keine Wohnung in der Innenstadt.«
»Wirtschaft?« Anna Lundqvist wirft mir einen erstaunten Blick zu.
Dann ist jetzt wohl der Moment. Ich hole tief Luft.
»Tja, wer hätte das gedacht, nach der Krise in der Zehnten«, wirft Bernd ein, bevor ich etwas sagen kann. Er breitet die Arme über die Stuhllehnen seiner Nachbarinnen aus, ohne zu merken, dass sowohl Ma als auch Alice sich versteifen. »Aber dann hat Lea sich ja zum Glück wieder gefangen. Es wäre eine Schande gewesen, so viel Potenzial an eine x-beliebige Ausbildung zu verschwenden. Sie ist an der Uni bedeutend besser aufgehoben, und schließlich kommt sie ja auch aus einem Akademikerhaushalt.« Das reicht.
»Ich heiße Hellea.« Unter dem Tisch krallen sich meine Finger fest um die Zusage in Berlin. »Und ich habe meine Bewerbung an der Uni schon längst zurückgezogen.« Meine Mutter lässt klirrend ihre Gabel fallen, was ihr einen strafenden Blick von Bernd einbringt. »Weil ich nach Berlin gehe. Mit Matti und Alice.« Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus.
Jetzt ist es raus.
»Um was zu machen?« Bernds Stimme ist wie immer am Anfang noch ruhig, gefasst. Aber er umklammert Mas Stuhllehne so sehr, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Ich denke daran, wie er mich festgehalten hat, als ich aus der Haustür stürmen wollte, und jedes Triumphgefühl verschwindet aus meinem Inneren. Aber ich kann jetzt nicht aufgeben.
»Eine Ausbildung zur Pflegefachkraft. Ich habe schon die Zusage.« Der Brief, den ich auf den Tisch lege, ist ganz zerknittert.
»Das kommt nicht infrage.« Bernd schüttelt den Kopf. »Du wirst nicht einfach so aus einer albernen Laune heraus deine Zukunft wegwerfen.«
»Wir hatten eine Absprache«, sage ich, bevor mein Stiefvater weiterreden kann. »Ich mache mein Abitur, dafür haltet ihr euch aus meiner Berufswahl heraus. Und die Ausbildung ist keine Laune. Ich wollte das schon vor drei Jahren. Tante Emmi hält es für eine gute Idee.«
»Weil deine Großtante senil ist!« Jetzt erhebt Bernd seine Stimme, doch Ma legt ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.
»Ich verstehe ja, dass du Menschen helfen willst. Aber warum studierst du dann nicht Medizin? Oder vielleicht Pflegewissenschaften?« Ihr flehendes Lächeln verzerrt sich, als ich den Kopf schüttle. Sie versteht nicht, worum es mir geht, und wie könnte sie auch? Wann hat sie sich je die Zeit genommen, Tante Emmi zuzuhören, die mehr Geschichten kennt als jeder andere Mensch, und so sehnlichst jemanden braucht, der sie anhört? Pflege muss mehr bedeuten, als für das körperliche Wohl alter Menschen zu sorgen. Ihnen zuzuhören, ihre Lebenserfahrung zu schätzen. Sie, die ihr Leben lang für uns da waren, nicht einfach alleinzulassen, wenn sie nicht mehr in unseren Alltag passen.
»Weil nicht jeder Familie hat, Ma«, beantworte ich ihre Frage. »Wenn Tante Emmi im Heim leben müsste, würdest du dann nicht wollen, dass sich jemand gut um sie kümmert und ihr das Leben verschönert?« Mit einem Stich schlechten Gewissens fällt mir ein, dass ich meine Großtante in ihrem kleinen Haus in Norderstedt schon seit bestimmt zwei Wochen nicht mehr besucht habe. Seit dem Tag, an dem sie mir die Hand gedrückt und gesagt hat, dass ich meinen eigenen Weg gehen muss. Ich vertreibe Tante Emmis Lächeln aus meinen Gedanken, das mir jedes Mal, wenn ich durch die grüne Haustür trete, das Gefühl gibt, sehnsüchtig erwartet worden zu sein.
»Schätzchen«, sagt Ma mit einem unsicheren Blick in Richtung der Lundqvists. »Lass uns das zu Hause besprechen, ja?« In ihren Augen glänzen meine eigenen Erinnerungen an die schwere Zeit, durch die Tante Emmi uns geholfen hat, und ich weiß, dass sie bereit ist, meine Wahl zu akzeptieren. Aber ich weiß auch, was passiert, wenn wir zu Hause ankommen. Ich straffe meine Schultern.
»Garantiert nicht.«
»Schätzchen –«, beginnt Ma erneut. Blut rauscht in meinen Ohren.
»Damit er mir so lange einreden kann, dass ich dich enttäusche, bis ich meine Pläne aufgebe?« Ich zeige auf Bernd, der sich räuspert und einen peinlich berührten Blick in die Runde wirft.
»Sie müssen Leas theatralisches Verhalten entschuldigen. Wir haben ihr nicht beigebracht, in der Öffentlichkeit zu explodieren wie eine Bombe, das konnte sie schon immer von allein.«
»Bernd.« Die Stimme meiner Mutter hat einen warnenden Unterton angenommen, doch mir bleibt keine Zeit, mich darüber zu wundern.
»Sie explodieren also lieber im Privaten?«
»Wie bitte?« Bernd stellt sein Bierglas ab und sieht Matti verwirrt an.
»Sie bevorzugen es, Ihre Wut im Privaten herauszulassen. An Ihrer Stieftochter.«
»Matti!«, ruft Anna Lundqvist erschrocken, während sich alle Blicke auf mich richten. Alle, außer Bernds.
»Mit solchen Anschuldigungen spaßt man nicht, junger Mann.«
»Sehen Sie mich lachen?«, erwidert mein bester Freund angriffslustig.
»Du erzählst jetzt also Lügengeschichten über mich?« Bernds Aufmerksamkeit hat sich von Matti zu mir gewandt. »Das geht zu weit, selbst für dich.«
»Wagen Sie es ja nicht, Hell die Schuld zu geben!« Diesmal ist es nicht Matti, sondern Alice, die zu meiner Verteidigung kommt. Doch Bernd beachtet sie nicht. Stattdessen fixiert er mich.
»Ich habe doch nie etwas anderes getan, als zu versuchen, dich auf den richtigen Weg zu bringen! Damit du Abitur machst, BWL studierst, deine hysterischen Anfälle in den Griff bekommst – all diese Dinge habe ich um deinetwillen von dir verlangt, Lea. Damit du ein gutes und erfolgreiches Leben führen kannst.« Er schüttelt den Kopf. »Ich habe mich aufgeopfert, um deine Nachhilfe zu bezahlen. Dir sollte es nie an irgendetwas mangeln, erst recht nicht an Chancen!«
Ich sollte dich nicht blamieren, denke ich bitter. Das willst du doch eigentlich sagen! Karl beißt sich auf seine kleine Unterlippe. Ich sollte nachgeben und meinen Brüdern den ängstlichen Ausdruck mit einem Witz aus den Gesichtern wischen. Aber die heiße Welle in mir türmt sich immer weiter auf, während Bernd eine Lobrede auf unsere tolle Familie hält. Und dann kann ich sie nicht mehr am Brechen hindern.
»Hör endlich auf mit diesem scheiß Schauspiel!« Er sieht mich an, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. »Du willst die perfekte Familie, und in die habe ich noch nie hineingepasst. Also versuchst du immer und immer wieder, mich in die Form der makellosen Tochter zu pressen. Deshalb soll ich BWL studieren. Deshalb soll ich die Klappe halten und dich für mich reden lassen.« Mir ist, als würde ein Gewicht, das schon seit Jahren auf meine Brust drückt, sich endlich lüften und mir Raum zum Atmen geben. »Du hast mich doch noch nie akzeptiert! Also sei wenigstens ehrlich zu dir selbst.« Ich spüre den verzweifelten Blick meiner Mutter auf mir. Es tut mir leid, denke ich. Aber das passiert, wenn die echten Konflikte totgeschwiegen werden.
»Das ist doch Quatsch, Lea, und das weißt du!« Bernd klingt ernsthaft empört. Als würde es ihm um mich gehen und nicht um das Bild, das ich zerstöre. Die Ader an seinem Hals zuckt, und ich weiß, was er mir entgegenwerfen würde, wenn wir nicht in einem Restaurant säßen. Ist dir klar, wie irrational du bist? Wie böse? Wie egoistisch deine gestörten Anfälle sind? Du bist diejenige, die diese Familie zerstört! Ungeachtet der Worte, die durch meinen Kopf hallen, und meiner Enttäuschung über das Schweigen meiner Mutter, an das ich mich eigentlich längst gewöhnt haben müsste, verziehen sich meine Lippen zu einem Lächeln.
»Und trotz allem, was ich gerade gesagt habe, nennst du mich immer noch Lea«, sage ich angewidert und schiebe meinen Stuhl zurück.
»Bitte bleib sitzen, Schatz.« Ma klingt flehend, doch auf einmal tut sie mir nicht mehr leid. Egoistisch. Irrational. Böse.
»Ich habe deinetwegen immer wieder vergessen, wie er mich behandelt, Ma!«, bricht es aus mir heraus. »Das, was er mir entgegenwirft, sobald ich es wage, den Mund aufzumachen und für mich einzustehen. Deinetwegen und für die Zwillinge. Aber es macht mich kaputt!« Meine Stimme muss lauter gewesen sein als beabsichtigt, denn Vincenzo, der an der Theke Gläser poliert, sieht mit großen Augen zu uns herüber. Ich atme aus. »Du hast damals gesagt, für mich würde sich nichts verändern. Aber er hat alles verändert, und dich am allermeisten. Mit Papa warst du ein komplett anderer Mensch!« Meine Hand fährt zu meinem Hals, wo sein Amulett unter meinem Herzschlag pulsiert wie ein lebendiges Wesen. Zum ersten Mal fühlt sich das Feuer in mir gut an. Befreiend. »Wir wären besser dran gewesen, wenn du einfach den Mut gehabt hättest, alleine zu bleiben!«, mache ich weiter, weil ich meine Worte wie immer nicht mehr aufhalten kann. Und weil ich es auch gar nicht mehr will. »Aber stattdessen hast du dich von Bernd in einen Schatten deiner selbst verwandeln lassen. Papa wäre so verdammt enttäuscht von dir!«
Ein dumpfer Knall lässt mich zusammenzucken. Bernd reibt sich die Faust, mit der er auf den Tisch geschlagen hat. Sein Gesicht ist verzerrt, ob vor Schmerz oder vor Wut, ist unmöglich zu erkennen.
»Wenn dein Vater enttäuscht von jemandem wäre«, zischt er, »dann von dir, Hellea. Und zu Recht! Wer war denn verantwortlich für seinen Unfall? Kein Glatteis, wie deine Mutter behauptet, um dich zu schützen!«
Ma gibt einen erstickten Laut von sich, und Bernd legt einen Arm um ihre Schultern. Seine zusammengezogenen Augenbrauen würden ihn schuldbewusst aussehen lassen, wenn ich nicht wüsste, dass diese Emotion nicht zu seinem Repertoire gehört.
»Sie ist alt genug«, sagt er zu Ma gewandt. »Du kannst ihre Schuld nicht länger verleugnen, Charlotte.« Ihre Schuld? Als ich den Mund öffne, kommt kein Ton heraus. Was hat er da gerade gesagt? Mir ist schlecht, als wäre mir direkt in den Magen geboxt worden. Dann legt jemand einen Arm um mich und zieht mich auf die Füße.
»Wir bringen dich hier weg«, raunt Alice mir zu. Ich lasse mich von ihr durch das Restaurant führen und stolpere durch die Tür, die Matti aufhält.
Draußen auf dem Parkplatz stütze ich meine Hände auf meine Knie und ringe gleichermaßen um Luft und Worte. Es war ein Unfall. In der Nacht gab es Glatteis. Deswegen ist unser Wagen von der Straße abgekommen. Deswegen ist mein Vater tot. Zumindest hat Ma es dir so erzählt …
Alice bringt mich zu einer Bank und setzt sich neben mich. Ich umklammere ihre Hand, als wäre sie ein Rettungsanker.
»Wie …«, stammle ich. »Wie kann ich schuld sein, wenn ich mich doch noch nicht einmal an den Unfall erinnere?«
Alice reibt mir über den Rücken. »Gar nicht, Hell«, sagt sie leise. »Euer Wagen ist von der Straße abgekommen. Das war Pech, nichts anderes.«
Ich schließe die Augen und versuche, mich an die Nacht zu erinnern, die meinen Vater das Leben gekostet hat, doch alles, was ich vor mir sehe, sind die blauen Lichter des Notarztwagens, die gespenstische Schatten auf die Straße werfen. Das Gesicht einer Frau, die mir sagt, dass es meiner Mutter gut geht, und die nicht antwortet, als ich nach meinem Vater frage.
»Manipulatives Arschloch!« Ich schaue erschrocken auf, denn ich habe Matti noch nie fluchen hören. Er geht vor unserer Bank auf und ab wie ein Tiger im Käfig. »Wie kann man nur so tief sinken, einen toten Vater zu instrumentalisieren, um jemanden kleinzubekommen?«
Ich räuspere mich. »Also glaubst du, Bernd lügt?«
»Selbstverständlich!« Matti bleibt vor mir stehen. »Du warst fünf Jahre alt. Wie um alles in der Welt hättest du euren Unfall verhindern sollen? Den Baum zur Seite schieben? Vom Kindersitz aus ins Lenkrad greifen?« Er atmet tief durch und fährt dann ruhiger fort. »Es war eine Lüge, Hell, verstehst du? Eine miese Lüge. Was sollte es sonst sein?«
Er hat recht, denke ich. Er muss recht haben.
Matti kniet sich vor mich und nimmt mich in den Arm. »Es tut mir so leid, wie alles gelaufen ist.« Ich schließe die Augen, dankbar für die beiden Menschen, die immer an meiner Seite sind.
»Können wir von hier verschwinden?«, frage ich in Mattis Anzugkragen hinein. Ich brauche Zeit, um nachzudenken. Zeit, um zu verstehen, warum Bernd mich so sehr verletzen will, dass er das Schlimmste, was mir je passiert ist, dazu benutzt.
»Klar«, sagt Alice. Matti richtet sich auf und kramt nach dem Autoschlüssel in seiner Hosentasche.
Im selben Moment öffnet sich die Tür des Restaurants. Ma hält Kilian und Karl an der Hand. Bernd drängt sich an ihr vorbei und schließt das Auto auf. Mit roboterhaften Bewegungen schnallt meine Mutter die Zwillinge auf dem Rücksitz an. Dann hält sie inne.
»Steig ein, Charlotte.« Doch zum ersten Mal seit zwölf Jahren tut meine Mutter nicht das, was ihr Ehemann ihr befiehlt. Ich grabe meine Fingernägel in die Innenseite meiner Hände. Sie stellt sich auf meine Seite. Es ist genug, um Alice’ Hand loszulassen und einen Schritt auf meine Mutter zuzugehen.
»Ist es wahr?«, frage ich heiser, weil ich aus ihrem Mund hören muss, dass Bernd lügt.
»Es war ein Unfall, Hell.« Der Schmerz in ihren Augen nimmt mir die Luft zum Atmen. Ma setzt ein gezwungenes Lächeln auf. »Warum fahren wir nicht erst mal nach Hause? Immerhin müssen wir uns alle noch für den Ball fertig machen.« Ich sehe zu Bernd, der neben der Fahrertür steht und die Hände in die Hüften stemmt. »Hell?« Ma streckt die Hand nach mir aus, doch ich rühre mich nicht. Bernd kommt mit meiner Art nicht klar. Ihn stören meine kurzen Haare und meine Anfälle. Bei unserem letzten Streit wegen Schweden hat er mich festgehalten, als ich das Haus verlassen wollte – zu fest. Aber mir ist nicht entgangen, wie schnell er mich losgelassen hat, fast so, als hätte er sich an mir verbrannt. Nein, Bernd hasst mich nicht. Und er ist auch kein Monster. Ich gehe auf meine Mutter zu.
»Sag mir die Wahrheit, Ma.«
Sie sieht zu Bernd, der nickt. »Du warst doch noch ein Kind, Hell.« Kalte Angst kriecht meine Wirbelsäule entlang.
»Was habe ich getan?«, frage ich tonlos.
»Du hattest eine Erkältung, also wollte dein Vater uns beide auf dem Weg zur Arbeit beim Arzt absetzen. Während der Fahrt haben wir diskutiert.« Ma presst die Lippen zusammen, doch dann zwingt sie sich, weiterzusprechen. »Es ging um eine Professur, die ihm angeboten worden war. Dein Vater hatte die Stelle abgesagt, ohne überhaupt mit mir über den möglichen Umzug zu sprechen. Wegen dieser Lappalie haben wir uns gestritten. Und dann hast du angefangen zu schreien. Du hast nicht aufgehört, dein Kopf war schon ganz rot …« Ma schlägt sich eine Hand vor den Mund, doch ich halte sie fest. Ich muss hören, was auch immer sie zu sagen hat.
»Was ist dann passiert?«
Sie schaut zu Boden. »Als Baby hattest du mehrere Nabelbrüche, weil du nicht aufhören wolltest zu schreien, und ich hatte Angst, dass du dir bei diesem Anfall den nächsten zuziehen würdest. Ich habe mich umgedreht und versucht, dich zu beruhigen. Aber du hast immer lauter gebrüllt. Du wolltest deinen Vater.« Sie lächelt, obwohl ihr mittlerweile Tränen auf die lackierten Schuhspitzen tropfen. »Du wolltest immer deinen Vater.«
Bilder strömen zurück in mein Bewusstsein, als wäre irgendwo in meinem Gedächtnis ein Damm gebrochen. Mas verzweifeltes Gesicht. Mein wütendes Geheule. Und mein Vater, der sich zu mir umdreht und mir verspricht, dass ich mit Erzählen dran bin, sobald wir zu Hause sind. Die scharfe Kurve, in die wir zu schnell hineinfahren. Der Baum und der Arm meines Vaters, der sich reflexartig nach hinten streckt, um mich festzuhalten.
»Es gab gar kein Glatteis, oder?«, frage ich tonlos.
Ma schüttelt den Kopf. »Nein, Hell. Es gab kein Glatteis.«
Mein Puls rast, mein Atem geht stoßweise. Gerade habe ich mich noch taub gefühlt, jetzt stürzt alles mit voller Wucht auf mich ein. Trauer. Schuld. Vor allem Schuld, was die Trauer noch unerträglicher macht. Denn ich kann nicht mehr wütend sein auf das Schicksal, Gott oder wen auch immer. Nur noch auf mich.
Ich taste nach der Kette, die eng um meinem Hals liegt. Das Amulett in Form einer asymmetrischen, nach unten geöffneten Acht hat die Wärme meiner Haut absorbiert. Normalerweise gibt mir das seltsame Unendlichkeitszeichen ein Gefühl von Geborgenheit. Doch jetzt fühlt es sich an, als würde die Kette mir die Luft abschnüren. Ich versuche mit klammen Fingern, ihren Verschluss zu öffnen, während der Wind mir die Tränen aus den Augen weht, aber das Metallhäkchen klemmt.
»Ah!« Ein scharfer Schmerz brennt über die Haut meines Nackens, als ich die Kette mit einem Ruck abreiße. Mit einer Hand halte ich mich an der Reling fest, den anderen Arm strecke ich aus und halte die geschlossene Faust über die schwarzen Wellen.
»Das Wasser ist ganz schön kalt.«
Erschrocken fahre ich herum.
»Ich habe gehört, es soll sich anfühlen wie tausend Nadelstiche.« Yasin zieht an der Zigarette, die er zwischen zwei Fingern hält. Rote Asche fällt von der Spitze und verglüht im Wind. »Aber jetzt hänge ich mit drin.« Er pustet den Rauch aus und grinst. »Wenn du springst, springe ich auch.«
»Könntest du wenigstens heute deine Scheißwitze sein lassen?«
»Ich mache keine Witze. Ich zitiere Titanic.«
»Richte Matti aus, dass ich gleich reinkomme«, sage ich kühl.
»Matti hat mich nicht geschickt.«
Ich atme aus. »Dann sag es ihm eben nicht.« Hauptsache, du verschwindest! Meine Faust mit dem Amulett zittert. Vielleicht wird es besser, wenn ich es nicht mehr sehen muss. Vielleicht lösen sich die Schnüre um meinen Brustkorb, wenn ich an etwas anderes als Papa denken kann. Vielleicht verdiene ich diese Erleichterung nicht.
Die Lautsprecher der verlassenen Bar wehen ein paar Takte eines alten Songs zu uns herauf. Summer breeze von Seals & Croft.
Von wegen Sommerbrise. Hier oben herrscht ein eisiger Wind. Ich öffne meine steif gefrorenen Finger.
»Ich glaube nicht, dass deine Probleme verschwinden, wenn du eine alte Kette ins Meer wirfst, Hell.«
Misstrauisch sehe ich Yasin an. »Hast du mich beobachtet, oder was?«
Er geht nicht auf meine anklagende Frage ein.
»Was ist nach der Abiverleihung passiert?«, fragt er stattdessen.
Ich schüttle den Kopf. »Warum interessiert dich das?«
»Weil wir die nächsten vier Wochen miteinander auskommen müssen. Und ich kenne gerne die Menschen, mit denen ich unterwegs bin.«
»Wir sind jahrelang in eine Klasse gegangen. Du kennst mich.«
Er lächelt. »Da bin ich mir nicht mehr so sicher.«
Ich schnaube.
»Außerdem siehst du mich nach diesem Urlaub wahrscheinlich nie wieder«, fügt er hinzu.
»Was sich als beste Nachricht des Tages qualifiziert.«
Yasin drückt seine Zigarette aus. »Muss ja was verdammt Beschissenes passiert sein«, sagt er.
Ich sehe auf. »Warum?«
»Weil deine Beleidigungen schlechter sind als sonst.« Er zieht den Reißverschluss seiner Lederjacke zu. »Ich schlage dir einen Deal vor. Du erzählst mir, warum du hier draußen die Drama Queen spielst, und ich erzähle dir im Gegenzug etwas über mich.«
Ich hebe die Augenbrauen. »Mal sehen: Du lässt Matti regelmäßig mit absolut einfallslosen Entschuldigungen im Stich, bist arrogant und unterm Strich ein ziemlich beschissener Freund. Mehr brauche ich nicht zu wissen.« Ich drehe mich zum Meer und lasse den salzigen Wind über mein Gesicht peitschen. Sofort bin ich wieder in meinen Gedanken gefangen. Es ist alles meine Schuld. Dass Ma sich in ein Schneckenhaus aus Trauer zurückgezogen hat, aus dem sie nie wieder ganz herausgekommen ist. Dass Papa tot ist. Alles nur, weil ich mich nicht unter Kontrolle hatte. Weil ich übertreibe, weil ich zu viel bin, hysterisch. Egoistisch. Irrational. Böse.
Verdammt, was ist nur falsch mit mir?
Ich drehe mich um, als ich glaube, dass Yasin weg ist, aber er hat sich nur auf den Behälter für Rettungswesten gesetzt. Der einzige Mensch, den ich verprellen will, geht nicht. Wie ironisch.
»Die Kette ist von meinem Vater.« Die Worte verlassen meinen Mund, bevor ich sie aufhalten kann.
»Hat er sie dir geschenkt, bevor er gestorben ist?«, fragt Yasin.
Erstaunt sehe ich ihn an. »Woher weißt du, dass er tot ist?«
»Ich passe auf. Außerdem bestehst du auf das Wort Stiefvater, als wäre es eine Schande, mit Bernd verwandt zu sein.«
Für einen kurzen Moment muss ich grinsen. Und dann, als hätte diese winzige Bewegung meiner Mundwinkel die Mauer in mir zum Einsturz gebracht, beginne ich zu reden. Gegen die kalte Reling gelehnt, das Amulett fest in meiner Hand, erzähle ich Yasin – ausgerechnet Yasin – Stück für Stück, was passiert ist.
»Deshalb waren Matti und ich nicht auf dem Ball«, schließe ich nach bestimmt zehn Minuten, in denen Yasin nicht ein einziges Mal den Blick von mir abgewandt hat. »Er hat mich vom Parkplatz weggebracht und zu sich nach Hause gefahren. Ich bin gestern Nacht bei den Lundqvists geblieben. Ich konnte meiner Mutter einfach nicht mehr in die Augen sehen.« Ich breite die Arme aus, auf einmal verlegen. »Das war’s.«
»Shit.« Yasin hält mir eine Zigarette hin, und ich nehme sie. Das Schwindelgefühl, das meinen Körper nach dem zweiten Zug durchströmt, ist angenehm, doch es kann mein Gedankenkarussell nicht zum Stillstand bringen. Bernd war nicht schuld daran, dass Ma immer weiter verblasst. Er hat dafür gesorgt, dass sie nicht auseinanderfällt, während meine Anfälle sie bei jedem einzelnen Streit an den Grund für den Tod ihres Mannes erinnert haben. Deshalb war Bernd so hart zu mir. Deshalb sollte ich mich um jeden Preis ändern. Weil ich sie kaputt mache.
Ich puste den Rauch aus. »Heute Morgen kam meine Mutter zu den Lundqvists«, sage ich. »Um mir mein Gepäck für Schweden zu bringen und mir zu sagen, dass sie mir keine Schuld gibt.« Ich wünschte, sie hätte mir stattdessen gesagt, was ich tun kann, um alles wiedergutzumachen. Wie ich dafür sorgen kann, dass ihr Schmerz aufhört. Aber wie immer war Ma zu selbstlos, um irgendetwas zu verlangen – noch nicht einmal von der Person, die ihren Mann umgebracht hat.
»Das kannst du jetzt aber nicht ernst meinen.«
Ich merke erst, dass ich den letzten Satz laut ausgesprochen habe, als Yasin den Kopf schüttelt.
»Hell, es gibt viele Dinge, die Leute töten. Aber bestimmt kein Kleinkind mit einem Wutanfall.«
Ich gebe ihm die Zigarette zurück. Aber wenn ich nicht in diesem Auto gesessen hätte, dann wäre mein Vater noch hier.
»Manche Dinge können wir nicht beeinflussen«, sagt Yasin mit einem fast schon bitteren Lächeln, das nichts mit seinem üblichen selbstgefälligen Grinsen zu tun hat. »Das bedeutet noch lange nicht, dass wir schuld sind. Auch wenn es sich so anfühlt.«
Überrascht sehe ich ihn an, aber bevor ich ihn fragen kann, woran er gerade denkt, deutet er auf meine Faust. Die zerrissene Silberkette hat sich um meine Fingerknöchel geschlungen, während das Amulett sich in meine Handfläche drückt, als wollte es mich davon abhalten, es loszulassen.
»Ich könnte das für dich nehmen«, bietet Yasin an. »So musst du es nicht ständig sehen, es aber auch nicht gleich wegwerfen.« Er hält meinem Blick stand. Ist das hier Yasins Form einer Entschuldigung? Wenn ja, dann kommt sie ein paar Jahre zu spät. Und außerdem muss er sie nicht nur an mich richten.
»Okay«, höre ich mich trotzdem sagen. Vielleicht, weil Matti und alle anderen über die Mittelstufe hinweg sind. Vielleicht, weil ich mich heute Nacht bei niemandem so verstanden gefühlt habe wie bei ihm.
»Ich passe darauf auf«, sagt Yasin. »Versprochen.« Ich öffne meine Hand und starre auf das letzte Geschenk meines Vaters.
Du musst sie immer tragen, Hellea. Hörst du? Diese Kette ist keine normale Kette. Sie hat Zauberkräfte. Sie kann dich beschützen.
Ich lasse das Amulett, dessen Schutz ich nicht länger annehmen kann, von meiner in Yasins Hand gleiten und sehe hinaus auf das tintenschwarze Meer.
Keine Impulsivität mehr. Von jetzt an werde ich mich beherrschen. Niemanden mehr verletzen, ob bewusst oder unbewusst.
Ich schwöre es, Papa.
Am nächsten Morgen röhrt Granates Motor empört auf, als Matti zum wiederholten Mal das Gaspedal durchtritt.
»Es ist das ganze Gepäck«, verteidigt er seine geliebte Rostlaube, während wir mit gerade einmal 60 Kilometern pro Stunde die Landstraße zwischen Göteborg und Stockholm entlangschleichen. »Wie soll sie auch beschleunigen, wenn sie so voll beladen ist?«
Ich erwidere lieber nichts, denn Matti würde Granate, die er vor einem Jahr vom Schrottplatz geholt und mithilfe seines Vaters selbst wieder zum Laufen gebracht hat, mit seinem Leben verteidigen. Und außerdem ist bis auf uns nur Cocos Fiat auf der schmalen Straße unterwegs. Sie und Tom haben mich das gesamte Frühstück lang behandelt wie ein rohes Ei, dabei habe ich mein Bestes gegeben, um so zu tun, als würde ich mich wie alle anderen an Bord auf einen unbeschwerten Urlaub freuen.
Der Verkehr wird dichter, als wir uns nach einer halben Ewigkeit, in der es weit und breit nur Seen und Feldern gab, wieder einer Stadt nähern.
»Linköping«, verkünde ich nach einem Blick auf die gigantische Landkarte, die meinen Schoß bedeckt. »Wir brauchen also noch wie lange?«
»Ungefähr zwei Stunden«, sagt Matti, der nichts von Navigationsgeräten hält, weil sie uns angeblich unseren natürlichen Orientierungssinn abgewöhnen. Auf der Rückbank schreckt Alice aus einem Dämmerschlaf, als ihr Handy klingelt. Nach einem kurzen Blick auf das Display drückt sie den Anruf weg.
»Telefonier ruhig, mich stört das nicht«, sage ich. »Matti auch nicht, oder?« Mein bester Freund schüttelt den Kopf, doch Alice hat ihr Handy schon wieder auf den anderen Sitz geworfen.
»Ich bin zu müde«, sagt sie, als sie meinen fragenden Blick bemerkt. »Ich habe kaum geschlafen auf diesem Klappbett und die Nacht davor auch nicht.«
Richtig, der Abiball.
»Wie war’s eigentlich?«, frage ich.
Alice zuckt mit den Schultern. »Ich hätte mit Matti und dir zu Hause bleiben sollen.« Ich hebe die Augenbrauen. Alice hat schon in der fünften Klasse Ballkleider für uns entworfen und den Abend fast genauso akribisch geplant wie ihre Märchenhochzeit, für die sie Ausschnitte aus Zeitschriften in einem hellblauen Album gesammelt hat.
»Ist etwas passiert?«, frage ich.
»Es war eben nicht so, wie ich es mir gewünscht habe«, sagt Alice. »Vielleicht ist das das Erwachsenwerden. Zu merken, dass Kinderträumen in der Realität die Magie fehlt.«
»Okay, jetzt mache ich mir Sorgen.« Ich schnalle mich ab, damit ich mich besser zu ihr umdrehen kann. »Es ist doch irgendetwas los.«
Alice fasst ihre dunklen Haare zu einem hohen Zopf zusammen. »Ich habe letzte Nacht auf einer papierdünnen Matratze in einer Minikabine verbracht, deren Toilette um fünf Uhr dreißig übergelaufen ist. Das ist los.«
Ich sehe von Alice zu ihrem Handy, das sie vibrierend auf 15 ungelesene Nachrichten aufmerksam macht. »Ist was mit Benjamin?«, frage ich, während ich ihr blasses Gesicht mustere. »Ist er sauer, dass du euren Urlaub abgesagt hast?«
Alice schüttelt den Kopf. »Er hat es verstanden. Er meinte, er hat im Moment sowieso zu viel um die Ohren für Urlaub und wir könnten die Tage nutzen, um –« Sie stockt. »Später. Wir könnten sie später nutzen.«
»Hat Benjamin eigentlich auch irgendwann mal Spaß?«
Anstelle einer Antwort lehnt Alice ihren Kopf gegen die Fensterscheibe. Ich seufze. Benjamin ist nicht übel, aber für meinen Geschmack ist er ein wenig zu spießig. Als würde die Seele eines Mitte vierzigjährigen Geschäftsmanns im Körper eines Fünfundzwanzigjährigen feststecken. Wie so einer zu der Alice passt, die ich kenne, verstehe ich nicht.
»Hey, ihr beiden«, sagt Matti und drosselt Granates Tempo ein wenig. »Schaut mal aus dem Fenster.« Ich drehe mich zurück nach vorn und blicke statt auf Wiesen und rote Holzhäuser auf dichten, endlos wirkenden Wald.
»Willkommen in Schweden!« Matti breitet die Arme aus, bevor Alice’ prompt folgender Aufschrei ihn die Hände wieder ans Lenkrad legen lässt. Ich kurbele die Fensterscheibe herunter und lehne mich nach draußen. Ein erdiger, grüner Duft umhüllt mich. Wind rauscht in den unzähligen Blättern der dünnen Birken, und ich spüre ein sehnsüchtiges Ziehen.
»Alles okay?«, fragt Matti, der meine Hand bemerkt, die zu meiner Brust gewandert ist. Ich nicke, dabei ist es, als hätte jemand einen Magneten unter mein Herz gepflanzt, den es überraschend stark in die Ferne zieht. Ich muss sehr übermüdet sein, denn für einen winzigen Moment glaube ich, den Wald flüstern zu hören.
Willkommen zu Hause.
»Ich nehme die Fensterseite!« Coco läuft an mir vorbei und wirft ihre Jacke auf die linke Hälfte eines großen Doppelbetts.
»Ich kann auf dem Sofa schlafen«, sage ich an Alice gewandt, die mit ihrem Rucksack auf dem Rücken verloren in der Mitte des Zimmers stehen geblieben ist. Sie schüttelt den Kopf.
»Schon in Ordnung. Ich bin glücklich, solange wir hier ein dichtes Klo haben.« Ich lache bei der Erinnerung daran, wie Coco panisch all unsere Handtücher in den Türschlitz des winzigen Schiffsbadezimmers gestopft hat. Wir haben so lange diskutiert, wer im Schlafanzug zum oberen Deck laufen und ein Crewmitglied verständigen muss, bis das aus der Wand sprudelnde Wasser von selbst nachließ.
»Vielleicht buchen wir für die Rückfahrt lieber nicht die billigste Kabine, die es gibt«, fügt Alice hinzu.
»Komm schon, Al«, sage ich, während ich meine Betthälfte mit den weißen Laken beziehe, die wir an der Rezeption gemietet haben. »Wenigstens haben wir jetzt eine Geschichte zu erzählen!«
Die Sprungfedern der Matratze quietschen laut, als ich mein Gewicht verlagere.
»Also Sex haben würde ich hier drauf definitiv nicht«, sagt Coco und wippt noch ein paarmal auf und ab.
Ich werfe mein fertig bezogenes Kissen ans Kopfende. »Gut, dass wir das klargestellt haben«, sage ich. Coco braucht einen Moment, dann lacht sie. Auch Alice grinst. »Ist die Couch bequem?«, frage ich.
»Passabel«, erwidert Alice. »Aber ich bin ja froh, dass sie überhaupt bereit waren, aus dem Zweierzimmer eins für drei zu machen.«
Ich rolle mich unter quietschendem Matratzenprotest von meiner Betthälfte und befreie Al, die sich in ihrem Laken verheddert hat. »Man hätte dir sonst sicher einen Platz im Schlafsaal angeboten«, sage ich.
Alice verzieht das Gesicht. »Ich muss demnächst schon vier Nächte in einem Zelt übernachten. Da verbringe ich die restlichen nicht zwischen schnarchenden Partytouristen.«
»Zelte können gemütlich sein!«, ruft Coco herüber. Alice antwortet mit einem Stöhnen, oder vielleicht kommt das auch nur davon, dass sie gerade ihren geliehenen Wanderrucksack auf den Schrank wuchtet.
»Wie soll ich dieses Monstrum vier Tage lang tragen?«, fragt sie, nachdem sie sich neben mich auf die fertig bezogene Couch fallen gelassen hat.
»Die sind leichter, als man denkt«, beruhigt Coco sie. »Vor allem mit so wenig Gepäck. Bei Toms und meinem Kanada-Trip letztes Jahr mussten wir Sachen für einen ganzen Monat schleppen.« Alice verzieht bei der bloßen Vorstellung das Gesicht.
Ich drehe mich zu ihr. »Danke, dass du mitgekommen bist«, sage ich leise.
Sie lächelt müde. »Heißt das, du trägst meinen Rucksack?«
»Im Ernst, Al. Es bedeutet mir viel, dass du meinetwegen den Urlaub mit Benjamin abgesagt hast.«
Coco wirft uns einen überraschten Blick zu.
»Klar«, sagt Alice hastig.
Fragend sehe ich zwischen den beiden hin und her, doch Alice kramt in ihrer Tasche herum und murmelt etwas von einem Reiseführer, den sie gleich darauf hervorzieht. Vielleicht habe ich mir den seltsamen Moment gerade nur eingebildet, schließlich habe auch ich nicht besonders viel Schlaf abbekommen in der letzten Nacht. Ich greife nach Alice’ Hand und drücke sie. »Ich glaube, die Wanderung wird großartig«, sage ich mit Blick auf die atemberaubenden Bilder von dichten Wäldern und glitzernden Seen im Reiseführer. »Diese ungezähmte Natur hat etwas Besonderes.«
»Ich dachte, du hast keine Lust auf die Wanderung? Und Angst vor Wölfen?«, fragt Coco erstaunt.
»Stimmt«, sage ich. »Aber irgendwie glaube ich nicht mehr, dass uns da draußen etwas passieren kann. Ich meine, habt ihr diese Stille vorhin bemerkt? Der Wald wirkte so friedlich.« Meine Hand wandert erneut zu meiner Brust, wo ich dieses seltsame Ziehen gespürt habe. Fast, als würde der Wald mich rufen …
»Ich habe vor allem Granates Klappern bemerkt«, sagt Alice todernst. »Und einen beunruhigenden Geruch nach verbranntem Gummi.«
Ein Klopfen unterbricht unser Lachen.
»Kann ich reinkommen?«, klingt Toms Stimme durch die geschlossene Tür.
Coco verdreht die Augen. »Niemand ist nackt!« Zögerlich öffnet sich die Tür. Tom tritt ins Zimmer und verschränkt die Hände hinter dem Rücken.
»Schön habt ihr es hier«, sagt er nach einer Musterung der knallroten Wände und der schwarz lackierten Möbel. Coco legt die Bürste zur Seite, mit der sie gerade ihren dunklen Bob bearbeitet hat.
»Wie ist der Männerschlafsaal?«
»Laut«, erwidert Tom. »Aber ich habe mit Schlimmerem gerechnet, als ich die Bierpong-Champions-Wand an der Rezeption gesehen habe.«
Ich grinse bei der Erinnerung an Toms entsetztes Gesicht beim Betreten unseres Hostels, das Club, Tattoostudio und Schlafplatz unter einem Dach vereint.
»Du wolltest doch immer schon ein Tattoo haben, oder, Tom?«, frage ich unschuldig. »Das wäre doch die Gelegenheit.«
Tom schüttelt heftig den Kopf. »Das ist mir viel zu permanent. Außerdem müsste es an einer Stelle sein, die man im Anzug nicht sieht. Ich bin mir sicher, alles andere wäre nicht zulässig in einer Kanzlei oder bei Gericht.«
»Solche Stellen gibt’s genug«, wirft Alice ein.
Toms Ohren laufen rot an und werden noch ein kleines bisschen röter, als er merkt, dass wir ihn veräppeln. Er murmelt etwas, das nach: »Es ist nicht leicht, als Jurist einen guten Job zu bekommen« klingt, und ich verbeiße mir einen Kommentar darüber, dass es durchaus Berufsgruppen mit schwererem Schicksal gibt. Obwohl Tom meiner Meinung nach ein bisschen zu geradlinig lebt, gehört er zu den wenigen Menschen, die ich gut leiden kann.
»Ich hab dich vermisst«, murmelt Coco und zieht ihren Freund in einen langen Kuss.
»Ich würde ja vorschlagen, dass ihr euch ein Zimmer nehmt«, sage ich nach ein paar Minuten des gekonnten Ignorierens, »aber ich fürchte, es sind keine mehr frei.« Alice stöhnt, als ich sie auf die Füße ziehe. »Komm, wir schauen uns die Gemeinschaftsräume an.«
»Ich habe noch genau eine Nacht lang ein halbwegs vernünftiges Bett und ich werde es nicht freiwillig verlassen!«, protestiert sie.
»Und ich werde mir nicht freiwillig unsere Turteltauben weiter anschauen.«
Grummelnd folgt Alice mir den Flur hinab. Wir steigen in einen Aufzug, dessen wild gemusterte Wände bestimmt nicht förderlich für jemanden mit dem Alkoholpegel eines Bier-Pong-Champions sind, und lassen uns in der Lobby wieder ausspucken. Abgesehen von dem Club/Tattoostudio, das mit dem fragwürdigen Slogan Drink & Ink für schlechte Entscheidungen wirbt, gibt es hier unten eine große Küche mit Essbereich und eine Art Wohnzimmer, in dem Bücherregale, ein Fernseher und mehrere Brettspiele stehen. Eine nette Amerikanerin, die sich in der betont coolen Umgebung ebenso fehl am Platz zu fühlen scheint wie wir, zeigt uns, wie die riesige Kaffeemaschine funktioniert und wie die Dinge in der Küche verteilt sind. Als Matti und die anderen zu uns stoßen, verabschieden wir uns von Elizabeth – die uns angeboten hat, sie Beth zu nennen –, um nach der anstrengenden Fahrt zu meiner großen Freude noch ein wenig die Stadt zu erkunden.
»Wie viele Flüsse gibt es hier eigentlich?«, fragt Coco, nachdem wir das vierte Mal über eine Brücke gelaufen sind.
»Das sind keine Flüsse, sondern Fjorde«, erklärt Matti. »Meeresarme, die Stockholm in vierzehn verschiedene Inseln unterteilen.« Er lächelt stolz. »Man nennt Stockholm nicht umsonst das Venedig des Nordens.«
Ich lasse meinen Blick über die Weiden schweifen, deren Zweige bis in das aufgewühlte Wasser reichen. Hinter der nächsten Brücke erwarten uns statt imposanter Gebäude und vierspurigen Straßen enge Gassen mit Kopfsteinpflaster.