Weibersterben - Julia Koch - E-Book

Weibersterben E-Book

Julia Koch

4,7

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ein verschwundenes Kind. Eine Dorfgemeinschaft, die schweigt. Ein Nachtmahr, der immer wiederkehrt. Puppenmacherin Clara möchte ihren seit vielen Jahren verschollenen Bruder wiederfi nden. Inkognito zieht sie zurück in ihr Heimatdorf Engenmatt in Obwalden. Doch nicht alle dort wollen, dass alte Geschichten neu erzählt werden - und eine Vergangenheit ans Licht kommt, die verstörender ist, als Clara ahnen kann. Stück für Stück setzt sich ein dunkles Ganzes zusammen: eindringlich, atmosphärisch, zwingend.

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Julia Koch, geboren 1976, wuchs im Herzen der Schweiz auf und studierte an der Universität Bern. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Sarnen(OW), wo sie auch Jugendliche unterrichtet. Ihr Erstlingswerk «Schwarze Schwester– Grimoire einer Hexe» erschien 2013.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/imageBROKER/Marina Horvat Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Christine Derrer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-975-2 Originalausgabe

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Für meine Eltern,

Rossverreckä, grossä Schreckä,Wyyberstärbä, käi Verdärbä

Sprichwort

1

Die Köpfchen mit ihren leeren Augenhöhlen lauerten den Besuchern auf, wenn diese es wagten, ungefragt einen Schritt in ihre Puppenstube zu setzen. Willkommene Besucher gab es nicht, niemals und unter gar keinen Umständen. Sie musste allein sein mit den leeren Köpfen, den Armen und Beinen. Den Füsschen, den Händchen. Den kalten Bäuchlein und den starren Hälsen.

Die Puppen erzählten ihr vom erlebten Unglück. Wie sie von ungeschickten Mädchenhänden zerkratzt und geschlagen wurden. Sie erzählten von den heissen Tränen des ersten Liebeskummers, die ihre Kleidchen aufsogen. Von mädchenhaften Frauen, die ihre Liebe niemals einem echten Kindchen hatten schenken können und deswegen ihre ganze Zuwendung auf die Puppen richteten. Sorgsam auf der Häkeldecke drapiert, bis nach dem plötzlichen Tod der alten Puppenmutter ein entfernter Verwandter die Wohnung ausräumte und sie achtlos in die Mülltonne warf. Die Köpfe erzählten ihr vom Glück, nun von ihren Händen gepflegt zu werden.

Das Zerkratzen ihrer Porzellanhaut konnten die Puppen verkraften, jedoch wenn sie fallen gelassen wurden, zersprengte das ihre Glieder für alle Zeiten.

Sie fuhr mit den Fingerkuppen liebevoll über das antike Füsschen in ihren Händen. So klein. Alle Zehen waren abgesprengt, und die Puppe hatte an Standhaftigkeit verloren. Ihr Daumen strich entlang der scharfen Kante, ein zarter Schnitt frass sich ins Fleisch, hinterliess einen tiefroten Ring auf der Haut. Die Wunde des Puppenmädchens war ungleich grösser, sie würde die Zehen niemals so perfekt nachformen können, dass das hübsche Kind ohne sichtbare Narben weiterleben konnte. Es würde ihr wohl oder übel nichts anderes übrig bleiben, als den Fuss ganz zu ersetzen, da der undankbare Erbe es nicht für nötig befunden hatte, das fehlende Füsschen in der gleichen Tonne zu entsorgen. Sie hätte es sicherlich gefunden, war sie doch in ihrem schönsten Sonntagskleid in diesen Abfallberg gestiegen und hatte die stinkenden Haufen nach dem fehlenden Teil durchwühlt. Ihr war das Herz stehen geblieben, als sie an diesem Sonntagmorgen die Puppe zuoberst in der Tonne liegen sah. Es schien, als sei diese allein deswegen so drapiert worden, damit sie jemand fände.

Ihre Arbeitsstätte befand sich im grössten Raum der Dachwohnung, der Stube, und wurde von einem gewaltigen Holztisch in der Mitte dominiert. Hier war ihr Reich, das sie mit keiner Menschenseele teilen wollte. Nur die misshandelten Puppen fanden den Weg zu ihr in die Puppenstube. Im Glasschrank, der die gesamte Nordseite des Zimmers einnahm, versammelte sich eine Armada kranker Kinder. Hier lagen sie, die Fuss- und Händelosen, die Geköpften, die Zerdrückten. Die Aufgerissenen, die Zerkratzten, die Blicklosen. Die Zu-Tode-Geliebten.

Allesamt stumm. Die Puppenstube durfte niemand betreten. Ausnahmen gab es keine.

* * *

Nachdem der alte Stybli-Wirt, Niklaus von Matt, der nur Glois genannt wurde, das Zeitliche gesegnet hatte, da er trotz der Ermahnung seines Hausarztes nicht willens gewesen war, den Alltag geruhsamer anzugehen, versammelte sich die gesamte Engenmatter Gemeinschaft auf dem kleinen Friedhof hinter der Dorfkapelle. Einzig die alte Hedwig von Matt, Mutter des Verstorbenen und im hohen Masse dement, blieb in der Stube des Altersheims zurück, da ihren dreiundneunzigjährigen Füssen der Weg bis zum Friedhof an diesem kalten, regnerischen Tag nicht zuzumuten war. Ebenfalls fehlte die junge Antonella Wagner, die just zu dieser Stunde im Kantonsspital in den Wehen lag, was ihren Mann Hugo jedoch nicht davon abhielt, die Beerdigung von Niklaus von Matt zu besuchen. Die Erfahrung mit seinen Kühen sagte ihm, dass die erste Geburt länger dauerte und er auch noch nach dem Zvieri früh genug kommen würde. Daneben hing Martha von Deschwanden am Arm ihres Bruders Arnold und liess jedem Amen des Pfarrers einen lauten Schluchzer folgen. Ansonsten achtete die ältere Jungfer stets auf eine gepflegte Erscheinung, aber an diesem Morgen hatte tiefe und aufrichtige Trauer um den Verstorbenen dies verhindert.

Da waren sie also versammelt, die Engenmatter. Wer daran gedacht hatte, einen Regenschirm mitzunehmen, musste ihn wohl oder übel mit den anderen teilen, da es in Strömen goss. Der Pfarrer war insgeheim froh, dass niemand Kenntnis von seiner neuen Thermowäsche hatte, die er an diesem Morgen unter dem Talar trug. So war ihm angenehm warm, und er musste nicht fürchten, dass seine Zähne beim Vaterunser zu klappern begannen.

Der Tote lag wirklich in einem schönen Sarg, Tanne massiv mit Schnitzereien und Zinkeinlage, das mussten die Engenmatter zugeben. Seine Tochter hatte sich nicht lumpen lassen und auch für einen prächtigen Kranz gesorgt. Die dreissigjährige Hanny hatte ihr langes Haar zu einem dicken Zopf geflochten und trug einen schlecht sitzenden schwarzen Anzug, der an der Brust zu eng und an den Hosenbeinen zu lang war. In ihrem Gesicht verbarg sich eine Schönheit, die sich erst beim zweiten Hinschauen offenbarte. Auf ihrer leichenblassen Haut leuchteten die Sommersprossen und verliehen ihr einen kecken Auftritt. Da stand Hanny von Matt nun ganz allein vor dem Sarg ihres Vaters und weinte hemmungslos aus ihren hellblauen Augen. Er würde nur neun Gräber weiter als ihre Mutter zu liegen kommen, die sich vor einigen Jahren selbst– nun ja, die Engenmatter pflegten diesen Satz nicht zu beenden. Hannys Bruder Valentin hatte sich geweigert, an der Beerdigung teilzunehmen, und nur immer still den Kopf geschüttelt. Sicherlich trieb er sich im Wald oberhalb des Dorfes herum und beobachtete das Geschehen genauestens. Valentin war schon immer etwas eigen gewesen.

Die Engenmatter beobachteten Hannys Trauer interessiert und rechneten sich insgeheim aus, welch grosses Erbe sie nun antreten konnte. Nebst dem grössten Haus im Engenmattquartier gehörte ihr jetzt auch eine florierende Beiz, zudem noch Land und Wald etwas ausserhalb. Man konnte schliesslich nicht erwarten, dass Valentin etwas erben würde, der bald Vierzigjährige wüsste gar nichts damit anzufangen.

Der Pfarrer sprach ein letztes Gebet, segnete den Verstorbenen und die Trauergäste und überlegte sich, ob er die Thermowäsche gleich nach der Messe ausziehen sollte, da er es sonst im Restaurant beim obligaten Znüni zu warm haben würde.

Dieses Znüni wurde in der einzigen Gastwirtschaft abgehalten, die Engenmatt zu bieten hatte: das Stybli. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Absurdität, da man den bisherigen Wirt soeben beigesetzt hatte und die neue Wirtin in Tränen aufgelöst auf dem Friedhof stand, um nur eine Stunde später im Restaurant die Gäste mit Beinschinken und Kartoffelsalat zu versorgen.

Das Stybli war eine gemütliche Gaststube, von altbackener Atmosphäre zwar, jedoch für seine gute Küche und die grosszügigen Portionen weitum bekannt. Die breiten Holztische waren von massiven Holzstühlen umkränzt, und an den Wänden fanden sich Spuren vergangener Siege. Neben Gamsgeweihen und Wildschweinhauern prangten in Holz gebrannte Erfolge des Schützenvereins und des Skiclubs. Selbstverständlich durften hinter dem Buffet mit der schnaubenden Kaffeemaschine die an die Wand gepinnten Leidhelgäli, die gedruckten Ansichtskarten im Gedenken an die Verstorbenen, ebenso wenig fehlen wie die Kinderzeichnungen glücklicher kleiner Schnitzel- und Pommesverzehrer.

Am Stammtisch sassen die Männer nun dicht gedrängt beisammen und erinnerten sich der Heldentaten ihres Glois, Gott hab ihn selig: wie er zwei besoffene Zürcher gleichzeitig aus dem Stybli geworfen hatte, nur weil sie es gewagt hatten, die Engenmatter als Hinterwäldler abzutun. Der Stammtisch freute sich über den nächsten Schenkelklopfer, als sich einer erinnerte, wie Glois nächtelang im Garten gezeltet hatte, um endlich diejenige Katze zu erwischen, die ihm alle Goldfische aus dem Teich gefischt hatte. Sämtliche Katzenbesitzerinnen der Engenmatt hatte er zur Rede gestellt und verlangt, dass sie ihm für den Schaden aufzukommen hätten. Die Engenmattfrauen waren jedoch nicht weniger hartnäckig als ihre Männer und liessen sich von solchen Drohungen nicht aus der Ruhe bringen. Wie sich dann herausstellte, war ein alter Dachs der Fischdieb, und Glois hatte sich mit Blumensträussen– vom Floristen und nicht von der Migros– bei all den Frauen entschuldigt, deren Katzen er aufs Übelste beschimpft und in einem Falle sogar getreten hatte. Ja, ja, so sei er gewesen, der Glois. Kein Aufwand sei ihm zu gross gewesen, um seine Anliegen durchzubringen. Wenn er mal verloren habe, was nicht oft vorgekommen sei, dann sei er stets ein fairer Verlierer gewesen.

«Willst du nicht hinunter nach Sarnen, um deiner Antonella beizustehen?», rief Peter Bucher Hugo zu.

Der werdende Vater sank ein wenig tiefer in die Holzbank, es musste ja nicht jeder gleich merken, dass es ihm am liebsten wäre, die Antonella bringe das Kind allein auf die Welt. Seine Knie waren wackelig, und schnell trank er seinen Kafi Chriiter, schwarzen Kaffee mit einem ordentlichen Schuss Kräuterschnaps, leer. Das heisse Getränk liess auf seinen blassen Wangen rote Flecke erscheinen.

Doch Peter gab keine Ruhe: «Ich würde mich auf den Weg machen, Junge. Sonst ist alles vorbei, und du hast die ersten Momente deines Kindes verpasst.»

«Ich hoffe, es ist alles vorbei, bis ich unten bin», murmelte Hugo leise und verschränkte seine Finger ineinander, als ob er betete.

Peter Bucher, selbst Vater von sechs, wie er fand, wohlgeratenen Kindern, lachte auf, als er die Angst in Hugos Augen erkannte. «Steh auf und nimm deine Jacke mit, ich fahr dich. Antonella würde es dir im Leben nicht verzeihen, wenn du die Geburt hier im Stybli versäufst.»

Wie recht er doch hatte, Antonella schrie sich just in diesem Moment die Seele aus dem Leib, dass ihr Hugo nun endlich auftauchen möge oder aber für immer aus ihrem Leben zu verschwinden habe. Ja, die Antonella hatte ein temperamentvolles Gemüt, was dem jungen Hugo mächtig imponiert hatte, damals bei seiner ersten Reise ins Tessin.

Glücklicherweise erreichte Hugo den Kreisssaal früh genug, um während der nächsten fünf Stunden seiner Frau in den Wehen beizustehen.

Nachdem alle Gäste das Zvieri im Stybli verzehrt hatten und auch zwei Runden Kafi Chriiter offeriert worden waren, weigerte sich Hanny von Matt hartnäckig, weitere Getränke auszuschenken, und auch dem sitzfreudigsten Engenmatter wurde langsam klar, dass heute das Stybli früher als sonst seine Türen schliessen würde. Zwar leuchtete allen ein, dass Hanny durch den Tod des Vaters mitgenommen war, aber nicht wenige Männer fragten sich nun, was sie mit dem angebrochenen Abend anfangen sollten.

Schon immer tickte die Zeit gemächlicher in der Engenmatt. Die Bewohner dieses Quartiers lebten langsamer. Sie arbeiteten langsamer, sprachen langsamer, es schien, als ob die Männer und Frauen in diesem abgeschiedenen Fleckchen zwischen dem Dorf Sarnen und dem Weiler Stalden sogar langsamer atmeten als ihre Mitlandleute im geschäftigen Hauptort des Kantons Obwalden.

Der Bauer mähte die Wiese gewissenhaft und mit grösster Sorgfalt, jeder Grashalm schien seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu erhalten. In der Sägerei arbeitete die Säge mit der Geschwindigkeit, die das Wasser des Giglenbachs ihr vorgab. Die Frauen strickten die grauen Socken mit perfekten Maschen, die Männer schwiegen sich im Stybli lange an, bevor ein wohldurchdachter Satz über ihre Lippen kam. Auch die Kinder der Engenmatt bewegten sich mit der langsamen Bedächtigkeit ihrer Eltern in der Sarner Schule. Wäre da nicht die Schläue gewesen, die jeder Lehrer erkennen konnte, wenn er sich die Mühe machte, einen zweiten Blick auf die Kinder zu werfen.

Die Engenmatt gehörte zu Sarnen wie das Büntenquartier mit seiner Industrie, wie das Gebiet des Enetried mit seinen in unzähligen Wohnungen sortierten Familien. Sie gehörte ebenso dazu wie die Goldmatt mit ihrer privilegierten Lage direkt am See.

Die Engenmatt schaute auf all diese Quartiere herab und lebte ihre eigene Langsamkeit. Sie grenzte sich auch geografisch von den anderen ab. Malerisch am Berghang oberhalb des Hauptortes gelegen, wurde sie von drei Seiten durch einen dichten Wald und im Norden vom Giglenbach begrenzt. So blieb der Zugang der einzigen Strasse vorenthalten, die an der mächtigen Pfarrkirche Sankt Peter und Paul in Sarnen vorbeiführte. Ansonsten war die Engenmatt lediglich über Fusswege zu erreichen. Immer wieder verlangte ein neu Zugezogener eine Optimierung der Strassenverhältnisse angesichts der Gefahren, die eine einzige Strasse mit sich brachte. Die Engenmatter liessen in der Sache nicht mit sich reden. Bislang waren sie gut ohne einen Strassenausbau ausgekommen. Keinesfalls würde einer von ihnen das Wort in einer Gemeindeversammlung ergreifen. Die Engenmatter pflegten die noch viel direktere Politik. Da wurde im Stybli debattiert, Fäuste donnerten in der gleichen Kadenz auf den Stammtisch, wie Kafi Chriiter serviert wurde.

Mit einem lauten Seufzen lehnte sich Hanny gegen die massive Restauranttür. Soeben hatte sie die letzten Gäste hinausbefördert, die immer noch auf der Treppe vor dem Haus lachten und johlten. Erschöpft liess sie sich an der Wand entlang auf den schmutzigen Boden gleiten und legte ihren Kopf in die verschränkten Arme. Ihr Vater war zwar plötzlich verstorben, trotzdem hatten sie mit diesem Ereignis rechnen müssen, seit sie wussten, wie schlecht seine Blutwerte waren. Nichts hatte er ändern wollen, der alte Starrkopf, und genauso ungesund weitergelebt wie zuvor. Bis er im Badezimmer tot umgefallen war.

Hanny hatte bislang noch keine Zeit gehabt, den Tod ihres Vaters zu begreifen, geschweige denn zu verarbeiten, sie war vollauf damit beschäftigt gewesen, alles für das Begräbnis zu organisieren. Keine Minute, um in Ruhe darüber nachzudenken, was der Verlust für sie und Valentin nun bedeutete. Von ihrem Bruder Valentin, dem stummen Menschenleser, konnte sie keine Hilfe erwarten. Die Familie war ihres Oberhauptes beraubt worden, stand jetzt allein, jedoch keineswegs kopflos da. Die Traurigkeit liess auf sich warten, liess der Erschöpfung den Vortritt, die Hanny in die Arme nahm und fest umschloss.

Laut schluchzend sass sie auf dem Linoleumboden und hörte im ersten Moment das leise Klopfen nicht. Erst als nochmals geklopft wurde, hob sie den Kopf und erkannte, woher das Geräusch kommen musste. Die schweren Beine brannten, als sie sich erhob und durch die Küche hindurch zur Hintertür schlurfte, wo sie sich mit dem Ärmel das tränennasse Gesicht trocknete, bevor sie öffnete. Wenn jetzt noch ein Gast etwas zu trinken über die Gasse wünschte, würde sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Sie konnte heute Abend keine Gäste mehr sehen, konnte die Rufe und Bitten nach mehr Bier und Kafi nicht mehr ertragen. Zum dritten Mal wurde an die Tür geklopft.

«Ja, ich komm ja schon», murrte Hanny, linste durch das Fensterchen in der Tür und entdeckte das Gesicht ihrer Freundin Clara von Grünenstein.

«Mach auf, Hanny, ich bin’s», rief Clara und hob eine Flasche Rotwein in die Höhe.

Hanny musste trotz ihres Elends lächeln, schloss auf und lag einen Sekundenbruchteil später weinend in den Armen ihrer Freundin.

Die beiden Frauen waren fast gleich alt. Clara überragte Hanny zwar um einen Kopf, dafür konnte diese ein ausladenderes Becken mitsamt Hüftgold aufweisen. Ein gebärfreudiges Becken, kamen die Engenmatter Männer nicht umhin zu bemerken, was keinesfalls als Beleidigung zu verstehen war. Die neu hinzugezogene Clara war dafür bekannt, stets adrett und gepflegt zu erscheinen, und ein Einkauf ohne sorgsam aufgelegtes Make-up kam für sie nicht in Frage. So war Clara auch jetzt, kurz vor dem Einbruch der Nacht, frisch geschminkt. Auf ihrem Haupt thronte eine Krone aus geflochtenem Haar.

Hanny jedoch wusste, dass sich hinter all der Farbe ein herzensguter Mensch verbarg.

Schnell bugsierte Clara Hanny zurück ins Haus, verschloss die Tür und zog sie durch das enge Treppenhaus in deren Wohnung im ersten Stock. Dort setzte sie das heulende Elend auf dem Sofa ab und begab sich nochmals ins Stybli, um zwei Weingläser und einen Korkenzieher zu suchen.

Unterdessen schnäuzte sich Hanny laut und heftig die Nase und versuchte einigermassen die Fassung wiederzuerlangen.

«Hast du Valentin gesehen?», fragte Hanny, als Clara ins Zimmer zurückkehrte.

«Nein, hab ich nicht. Ist er schon den ganzen Tag weg?» Clara reichte ihr ein Weinglas.

«Ja.» Hanny schnäuzte sich nochmals. «Er stromert ja ständig herum, aber ausgerechnet heute mache ich mir Sorgen. Ich weiss nicht, wie er Vaters Tod aufgenommen hat. Er spricht ja nicht. Und ich konnte mir nicht genug Zeit für ihn nehmen.»

«Ist er denn verzweifelt?»

Hanny wiegte den Kopf hin und her. «Schwer zu sagen. Er war eher interessiert, als er Vater im Sarg aufgebahrt sah. Verstehst du? Neugierig, aber nicht verzweifelt. Ich glaube, er hat noch nicht richtig begriffen, was geschehen ist, und deshalb möchte ich bei ihm sein.»

Clara goss Wein in die beiden Gläser und stellte die Flasche auf den Boden. «Ich bin immer wieder erstaunt, wie ihr zwei euch versteht. Er sagt kein Wort, und trotzdem weisst du, was er will oder was ihm auf dem Herzen liegt. Eure ganz eigene Art und Weise, miteinander zu kommunizieren, ist beeindruckend.»

Hanny hob die Schultern. «Er war ja schon stumm, als ich auf die Welt gekommen bin, ich kenne ihn nicht anders. Ich verstehe ihn gut, für Aussenstehende ist es eher schwierig.»

Eine Weile sassen beide schweigend beieinander, bis sich Clara einen Ruck gab und ihr Weinglas hob.

«Nochmals herzliches Beileid. Und trotzdem Gratulation zur Wirtin.»

Hanny lachte auf. «Ja, danke. Ich hab ja schon vor seinem Tod den Laden geschmissen. In den letzten Monaten hat er sich doch eher schwach gefühlt. Der sture Bock, wenn er den Ratschlag des Arztes befolgt hätte, würde er vielleicht noch leben.» Sie atmete tief ein und seufzte dann laut. «Jetzt bin ich also ganz offiziell die neue Wirtin.» Sie trank einen Schluck Wein, schloss die Augen und spürte dem Alkohol in der Kehle nach. «Mein Vater fehlt mir schon jetzt, und er ist noch nicht mal eine Woche tot.»

«Er wird dir noch eine lange Zeit fehlen, und die Trauer wird immer wieder zurückkehren. Zwar immer etwas weniger heftig, trotzdem schmerzt es noch genug.»

«Du sprichst, als ob du damit Erfahrung hättest», sagte Hanny leise.

«Bevor ich vor zwei Monaten in die Engenmatt gezogen bin, ist meine Mutter an Brustkrebs gestorben.»

«Oh, das tut mir leid, davon hast du mir nichts erzählt. Mein Gott, und ich jammere dir die Ohren voll, wie anstrengend mein Leben ist. Du meine Güte, ich bin so eine Egoistin.» Hanny legte einen Arm um Claras Schultern und zog sie an sich heran. «Und der Rest deiner Familie?»

«Mein Vater ist kurz nach meiner Geburt gestorben, und mit meinem Stiefvater habe ich eher ein zweckmässiges Verhältnis. Geschwister habe ich leider keine. Tja, da bleibe wohl nur noch ich übrig.»

«Aber warum ausgerechnet die Engenmatt?», fragte Hanny. «Ich meine, es ist schon schön hier, jedoch ziemlich einsam.»

Clara trank ihr Weinglas mit einem langen Schluck leer und stand auf. Sie streckte Hanny die Hand entgegen. «Komm, heute Nacht schläfst du bestimmt nicht allein in diesem Haus. Du kommst mit zu mir.»

* * *

In dieser Nacht schrak der neunundsechzigjährige Peter Bucher um zwei Uhr dreissig aus dem Tiefschlaf hoch. Still lag er in seinem Bett und konnte nicht mehr atmen, weil das Brennen in seiner Brust zunahm, bis er zu schreien versuchte. Aber nichts als heisse Luft kam aus seiner Kehle. Panik befiel ihn, als er begriff, dass er seine Stimme verloren hatte, sein Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen. Es war aufgetaucht und wollte ihn umbringen! Obwohl Peter Bucher es nur aus den Erzählungen der Alten kannte, war er sich sicher, dass es nun den Weg zu seinem Bett gefunden hatte. Erneut versuchte er, nach Hilfe zu schreien, nicht einmal ein jämmerliches Krächzen kam über seine Lippen. Es kroch lautlos durch ein Astloch ins Schlafzimmer, schlich langsam über den Fussboden, den Bettrahmen hinauf und über die Bettdecke bis hoch zu seiner Brust. Es drehte sich wie eine Katze im Kreis und suchte nach einem bequemen Platz, bevor es sich endgültig niederhockte und zunehmend schwerer wurde, bis es dem verzweifelten Schläfer schlussendlich den Atem abdrückte.

Die zitternden Hände folgten Peters Befehlen nicht, die Neuronen fanden den Weg von seinem Gehirn zu den Nervensträngen nicht. Er wollte die Hände hoch zu seiner Brust nehmen, um das Gewicht wegzudrücken, das ihn zu ersticken drohte. Sie bewegten sich keinen Millimeter, gerade so, als ob die Finger einzeln am Bettlaken angenäht wären. Der Druck nahm an Stärke zu, und aus einem Brennen wurde ein Krampf, der sich von seiner Brust hoch zu seinen Schultern ausbreitete. Dieser Schmerz war kaum auszuhalten. Wenn er doch nur einatmen könnte! Sein Herz raste, und er spürte den pochenden Puls in seinen Schläfen.

Atmen, ich muss atmen.

Der Hals wurde starr, und rasende Kopfschmerzen setzten ein. Peter verspürte Todesangst und war sich sicher, dass er den anbrechenden Morgen nicht mehr erleben würde.

* * *

Es erstaunte Valentin immer wieder, wie das Leben nachts im Wald weiterging. Der gross gewachsene Mann hockte auf einem Felsstück unter einer ausladenden Tanne, beobachtete die Engenmatt und drehte versonnen am Plug in seinem linken Ohr, den er selbst aus einem Stück Eichenholz geschnitzt und in sein Ohr gestochen hatte. Die Menschen zogen sich in den dunklen Stunden in ihre Häuser zurück, und zumindest in der Engenmatt war niemand auf den nebelfeuchten Strassen zu sehen. Einige Stunden lang leuchteten die gelben Augen der schmucken Einfamilienhäuser noch in die Nacht hinaus, bevor auch sie erloschen und Stille einkehrte. Im Wald kamen erst zu dieser Zeit die nachtaktiven Tiere aus ihren Behausungen gekrochen, um ihren Trieben zu folgen. Dies waren seine liebsten Stunden, und Valentin verbrachte sie mit Beobachtungen von Menschen und Tieren, wobei ihm das Verhalten der Zweibeiner unberechenbarer zu sein schien.

Nicht immer konnte er sich die Gründe für deren Verhalten erklären. Die Menschen verhielten sich in ihren eigenen vier Wänden, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, anders als in der Öffentlichkeit. Der fleissigste Arbeiter konnte zu Hause die Faulheit in Person sein und seine Frau mit seinen Wünschen in der Wohnung herumscheuchen. Die brave ledige Jungfer frönte des Nachts dem Betrachten von Filmen, die hart an der Grenze zur Legalität waren, oder schlich neuerdings des Nachts durch die Engenmatt, wie es sonst nur Valentin zu tun pflegte.

Verliess hingegen der Dachs seinen Bau, war es für Valentin klar, dass er auf Nahrungssuche ging, wobei ihm neben Nüssen, Beeren und jungen Vögeln ein fetter Regenwurm am liebsten war. War der leibliche Hunger gestillt, orientierte er sich an der Fährte eines Weibchens. Durch seine häufigen nächtlichen Ausflüge kannte Valentin das Streifgebiet des alten Dachses genau und war stets aufs Neueste entzückt, wenn er die schmale Schnauze mit den zwei weissen Streifen im ansonsten schwarzen Gesicht entdeckte. Die Tiere verhielten sich gemäss ihrer Natur, waren einfach zu lesen, was Valentin von den Menschen nicht behaupten konnte.

Obwohl die Engenmatter ihn als ihnen nicht ebenbürtig betrachteten, wusste er mehr über ihre Geheimnisse, als ihnen lieb sein konnte. Valentin sprach zwar nicht, aber er beobachtete seine Mitmenschen, las in ihren Gesichtern und Bewegungen, in der Hoffnung, sie dadurch besser verstehen zu können. Valentin wusste viel mehr, als die Engenmatter ahnten. Sollten sie dies jemals herausfinden, würde es für ihn in diesem Quartier eng werden. Zum Glück führte seine Andersartigkeit dazu, dass seine Mitmenschen ihn gehörig unterschätzten.

1645

Ein lauter Schrei zerriss die Stille der Nacht. Drängte sich aus der Lunge der jungen Frau empor in die kühle Nachtstatt, zwängte sich durch Türspalte und Astlöcher. Durchbohrte die Ohren der Wartenden, der Hoffenden und der Furchtsamen. Bestätigte die Meinung eines jeden. Die Wartenden waren sich gewiss, dass es nun nicht mehr lange dauern würde angesichts des gewaltigen Schreis. Die Hoffenden sehnten sich nach dem baldigen, sicherlich guten Ende, und die Furchtsamen interpretierten ihre ungefilterten Ängste in jedes Geräusch hinein.

«Magdalena, steh nicht da wie ein Totsch!», fuhr die Alte das fünfzehnjährige Mädchen an. «Bring mir meinen Korb herüber.» Von tiefen Falten gezeichnet, beherrschte jetzt doch die eine grosse Sorgenfalte das Gesicht der alten Frau.

Mitten auf der Stirn, zwischen den Augenbrauen, erkannte Magdalena die senkrechte Falte, die niemals etwas Gutes verhiess. So viel hatte sie bei der Hebamme Halter inzwischen gelernt.

Frau Bucher lag auf einem hohen Bett, den Rücken in das mit Laub gefüllte Kissen gedrückt, die langen Haare hatten sich aus dem Zopf gelöst und klebten an ihrer Stirn. Die Knie angezogen, wartete sie auf die nächste Wehe, die unverständlicherweise auf sich warten liess, nachdem die schon Stunden andauernde Geburt bis anhin zufriedenstellend verlaufen war.

Die alte Hebamme machte sich Sorgen über den plötzlichen Stillstand der Geburt, das konnte Magdalena spüren. Lautlos, um die Gebärende nicht zu stören, huschte Magdalena in die Ecke der Schlafkammer und fasste die Zaine am Henkel.

Nachdem die alte Hebamme der Frau durch die schmerzhaften Wehen geholfen hatte, nutzte sie nun die Zeit, um in ihrem Korb nach den Wehen treibenden Kräutern zu suchen.

«Hier, nimm dies.» Sie drückte Magdalena ein Leinensäckchen mit den Kräutern, unter die schwarze längliche Körner gemischt waren, in die Hand. «Brüh damit einen Tee auf und mach ihn schön stark.» Schnell wandte sie sich wieder der werdenden Mutter zu und kühlte deren Gesicht mit einem feuchten Leinen. In der Schlafkammer gab es keine Möglichkeit zu heizen, sodass es ziemlich kühl war, Frau Bucher jedoch schwitzte heftig aufgrund der immensen körperlichen Anstrengung.

Magdalena öffnete die schwere Zimmertür und stieg über die hohe Schwelle, die kalte Luft und Ungeziefer von der Schlafkammer fernhalten sollte. Schnell stand sie in der Küche, wo der werdende Vater auf einem Schemel vor der Feuerstelle sass und das von Sorgen gezeichnete Gesicht in den Händen hielt. Irritiert blieb sie stehen. Bis anhin hatten die Väter stets das Weite gesucht, war die Geburt doch eine Sache des Wyybervolchs. Nicht ohne Zorn hatte Magdalena schon oft den vermaledeiten Spruch vernehmen müssen: Rossverreckä, grossä Schreckä, Wyyberstärbä, käi Verdärbä. Bei jeder fünften Niederkunft verstarb die Frau unter der Geburt oder innerhalb weniger Tage am Wochenbettfieber, sodass die Männer in ihrer Not wohl zum Galgenhumor neigten, was wiederum den Hebammen zu weit ging. Magdalena hatte schon selbst mitangehört, wie die alte Hebamme die saufenden Männer am Stammtisch im Stybli zurechtgewiesen hatte.

Nun stand Magdalena in der Küche der Familie Bucher und wusste nicht, mit welchen Worten sie den zu Recht beunruhigten Mann trösten sollte. Verlegen strich sie sich die wirren Haare unter die Haube zurück und eilte an die Kochstelle zum heissen Wasser, das sie gleich zu Beginn der Geburt aus dem Brunnen im Garten emporgepumpt und über dem Feuer aufgeheizt hatte. So musste sie es nur noch in eine henkellose Tasse füllen und die Kräuter mitsamt den schwarzen Körnern hinzugeben.

«Stirbt sie?» Die Stimme des Vaters glich mehr einem Flüstern.

«Oh.»

Der Mann blickte in Magdalenas erschrockenes Gesicht und wiederholte seine Frage: «Sagt mir die Wahrheit. Stirbt meine Frau?»

«Ich bin nur die Lehrtochter, Herr Bucher, ich kann Ihnen keine Antwort geben. Aber schauen Sie hier, diese Kräuter werden Ihrer Frau helfen, das hat mir die Hebamme Halter selber gesagt», sagte sie und eilte mit dem dampfenden Chacheli zurück ins Schlafzimmer.

Die junge Frau Bucher war kaum zwanzig, damit nicht viel älter als Magdalena, und es war ihr erstes Kind. Sie tat sich schwer mit der Geburt. Seit dem Morgen warteten die Gebärende und die Hebammen, dass das Kind seinen Weg auf die Welt finden würde, doch bis jetzt liessen die Presswehen auf sich warten. In Magdalenas Magen begann sich ein Kloss zu formen, und sie wurde nervös. Was, wenn die Niederkunft nicht gut ausging und Mutter und Kind womöglich nicht überleben würden? Sie hatte die Hebamme Halter schon bei acht Geburten begleitet, und erfreulicherweise waren diese für Mutter und Kind stets gut gegangen, heute jedoch zweifelte sie an einem positiven Ende.

Die alte Hebamme schaute ihr tief in die Augen und drehte somit der Frau Bucher den Rücken zu. «Egal, was geschieht, zeige niemals, dass du Angst hast!», zischte sie und packte Magdalena fest an der Schulter. «Die Gebärende vertraut auf uns, und wenn sie dein ängstliches Gesicht sieht, gerät sie in Panik. So kann sie nicht gebären. Hast du mich verstanden?»

Magdalena nickte tapfer und reichte der erschöpften Frau den Tee. «Hier, Frau Bucher, die Hebamme Halter hiess mich Ihnen einen stärkenden Tee aufbrühen, damit Sie wieder an Kraft gewinnen.» Sie sorgte dafür, dass Frau Bucher das Chacheli gut in den Händen hielt und das bittere Gebräu runterschluckte. Als Magdalena wieder aufblickte, sah sie die alte Hebamme nicken. Sie stellte das Gefäss auf den Boden und half Frau Bucher, die Schnüre des Nachthemdes aufzubinden.

Nach einiger Zeit gewannen die Wehen an Stärke, und es dauerte nicht mehr lange, bis der kleine Bub auf der Brust der Mutter zum ersten Mal die verklebten Augen zu öffnen versuchte.

Magdalena wechselte zusammen mit der alten Hebamme die Bettwäsche, half der frischgebackenen Mutter, sich zu waschen und in ein frisches Nachthemd zu schlüpfen. Magdalena nahm sich sogar noch die Zeit, der erschöpften Frau den Zopf neu zu flechten.

«Magst du den Buben baden, Magdalena?»

Erfreut über das Vertrauen der alten Hebamme, bereitete sie den Zuber mit dem warmen Wasser zu, legte ein sauberes Leinen und Öl dazu, bevor sie ganz vorsichtig den empörten Winzling vom Bauch seiner Mutter hob. Langsam liess sie das Kind in das lauwarme Wasser gleiten, und die verkrampften Fingerchen lösten sich, die Beinchen streckten sich, der Bub schien das Bad zu geniessen. Mit einem feinen Tüchlein wusch Magdalena das Blut und die Käseschmiere ab. Welches Geschrei aber erhob der kleine Bub, als sie ihn wieder aus der Wanne holte und mit dem Leinen trocken rubbelte.

«Er hat eine kräftige Lunge!» Dies waren die ersten Worte der jungen Mutter, und eine zentnerschwere Last schien von ihr abzufallen.

Mit einem in Öl getunkten Tüchlein wusch Magdalena dem Säugling Augen, Ohren und Nase aus. Das Weinen steigerte sich.

«Wahrlich eine kräftige Lunge, Frau Bucher!», bestätigte die alte Hebamme.

Das Weinen nahm ein abruptes Ende, als Magdalena den Buben zurück in die Arme der Mutter legte, wo er prompt erschöpft einschlief.

Zu guter Letzt liess es sich die alte Hebamme nicht nehmen, selbst die Tür zur Schlafkammer zu öffnen und dem Vater zur Geburt seines kerngesunden Knaben zu gratulieren. «Der Pfarrer muss sich nicht beeilen. Mutter und Stammhalter sind wohlauf, Herr Bucher. Aber ich ersuche Sie eindringlich, achten Sie darauf, dass sich Ihre Frau die nächsten Tage schont und möglichst nicht aufsteht. Die Niederkunft hat sie sehr erschöpft, sie muss sich ausruhen und gutes Essen zu sich nehmen, damit sie wieder zu Kräften kommt. Haben Sie das verstanden?»

«Jawohl, Frau Halter, ich werde meine Schwägerin bitten, meiner Frau zur Hand zu gehen.» Er ergriff ihre Hände, und mit feuchten Augen dankte er ihr für die Hilfe, die sie seiner Frau geleistet hatte. «Ich weiss nicht, wie ich Ihnen das jemals vergelten kann.»

«Danken wir Gott, dass alles gut gegangen ist», murmelte die alte Hebamme. Sie beauftragte Magdalena mit der Reinigung des Hörrohrs und dem Einsammeln der benutzten Leinentücher, die sie zu Hause auskochen würde.

Magdalena wunderte sich immer wieder über die Aufmerksamkeit, die die Hebamme der Reinlichkeit zuteilwerden liess. Niemals wäre es ihr in den Sinn gekommen, ihre Meisterin in Frage zu stellen, aber eigentümlich fand sie dies schon.

Die alte Hebamme überreichte dem glücklichen Vater eine kleine Flasche mit einem Tränkli aus Weidenrinde und Schlafmohn gegen eventuelle Schmerzen und ermahnte ihn, sich zu melden, wenn es Mutter und Kind wider Erwarten nicht gut gehen sollte.

Magdalena war erleichtert, dass diese Geburt trotz allem glücklich ausgegangen war.

Plötzlich wurde sie von der alten Hebamme am Arm herumgerissen. «Egal, wer immer dich fragt, im Tee war lediglich Eisenkraut. Hast du mich verstanden?»

Diesmal war es Magdalena, die still nickte, obwohl ihr tausend Fragen über die schwarzen Kügelchen im Kopf herumschwirrten. Welches Kraut war das gewesen, und weshalb machte die Hebamme solch ein Aufhebens um die Geheimhaltung? Magdalena hatte viel zu viel Respekt vor ihrer Lehrerin, um ihr Tun zu hinterfragen, beschloss aber, Augen und Ohren offen zu halten, um mehr darüber herauszufinden.

2

Als Hanny am nächsten Morgen die Augen öffnete, blickte sie auf eine Wand seelenloser Gesichter mit toten Augen. Adrenalin schoss in Sekundenschnelle durch ihren Körper, liess ihr Herz schneller pochen, den Magen zusammenziehen. Schnell schloss sie die Augen wieder und zog die Bettdecke über ihren Kopf. Noch war sie nicht bereit, sich dem Tag zu stellen. Nur einige Minuten in der Wärme die gnadenlose Wirklichkeit ignorieren und für nichts und niemanden verantwortlich sein.

Als sie eine Stunde später erneut erwachte, hörte sie Clara an der Kaffeemaschine hantieren. Seufzend zog Hanny die Bettdecke vom Kopf und betrachtete die Puppengesichter im Regal, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Diesmal jagten sie ihr keinen Schrecken mehr ein, und sie konnte die Porzellanpuppen in aller Ruhe anschauen. Clara hatte die Puppen sauber sortiert. Puppen, die bereits geflickt waren, sassen auf dem obersten Regalbrett und warteten darauf, dass ihre Besitzer die Rechnung bezahlten und sie nach Hause zurückkehren konnten. Auf dem mittleren Tablar sah Hanny beschriftete Kartonschachteln. Hände, Füsse, Köpfe und Torsi verrieten die handgeschriebenen Etiketten deren Inhalt. Clara schien eine begnadete Puppenmacherin zu sein, denn der Pöstler Toni, keine sehr diskrete Person, hatte am Stammtisch damit geprahlt, wie viele Pakete er der Grünenstein abzuliefern habe. Jedes mit dem Aufkleber «Vorsicht, zerbrechlich» gekennzeichnet. Der Toni wusste einiges über die Engenmatter, und er gab sein Wissen nur zu gern weiter.

Die Tür zur Werkstatt, in der Hanny auf dem aufgeklappten Sofa geschlafen hatte, öffnete sich, und Clara, fertig angekleidet und perfekt frisiert, steckte ihren Kopf herein.

«He, du Schlafmütze», sie lachte auf, als sie Hannys Wuschelkopf aus dem Bettzeug auftauchen sah, «bereit fürs Frühstück?»

Statt einer Antwort liess Hanny nur ein Brummen vernehmen.

«Kaffee oder Tee?»

«Tee», seufzte Hanny. «Kamillentee. Ah, mein Magen brennt.» Sie unterdrückte einen Rülpser. «’tschuldigung.»

Clara zog an der Bettdecke und liess die maulende Hanny liegen.

Nach einigen Minuten hatte sie es in die Küche geschafft, wo der kleine Tisch reichlich gedeckt war, der Butterzopf herrlich frisch duftete und die Erdbeerkonfitüre hausgemacht schien. Hanny bezweifelte, dass sie einen Bissen hinunterbekommen würde, nahm sich aber dennoch eine Scheibe Zopf und bestrich sie mit Butter und Konfitüre.

«Los, beiss rein», forderte Clara sie auf, als sie Hannys Leidensmiene betrachtete.

Hanny seufzte auf und biss schicksalsergeben in das Brot. Schlagartig beruhigten sich ihre Magensäfte, und als sie dem Brot noch warmen Kamillentee folgen liess, sah die Welt schon besser aus. Clara trank bereits ihren zweiten Espresso und wirkte unverschämt fit.

«Sag mal, wie viele Flaschen haben wir gestern getrunken?», fragte Hanny.

Clara gab keine Antwort, sondern deutete auf die zwei leeren Weinflaschen, die auf dem Küchenboden auf ihre Entsorgung warteten. «Die letzte hast du fast allein geleert.»

«Das erklärt alles.» Hannys Augen brannten und in ihrem Kopf bohrten gnadenlose Bergarbeiter ihren Weg durchs Gehirn.

«Ist doch kein Problem. Du machst dir heute einen freien Tag.»

«Spinnst du? Ich muss doch das Stybli öffnen!», rief Hanny.

Clara betrachtete die tiefen Schatten unter Hannys Augen, die störrischen Haare und die Faltenabdrücke des Kissens auf der Wange.

«Ich kann unmöglich das Stybli geschlossen halten, was sollen denn die Leute denken? Ja, ja, die Kleine vom Stybli Glois schafft es nicht, wir haben es ja gleich gesagt, dass der Betrieb zu viel ist für ein Fräili. So werden sie reden, die Engenmatter, ich kann das Geschimpfe schon hören.»

«Glaub mir, niemand erwartet von dir, dass du heute arbeitest. Und die Engenmatter können ihren Kaffee ausnahmsweise auch an einem anderen Ort trinken. Schliesslich kann dir niemand verbieten, dass du um deinen Vater trauerst. Im Übrigen siehst du schrecklich aus.»

«Zum Glück weiss niemand, dass ich einen Tag nach der Beerdigung meines Vaters den Kater meines Lebens habe.»

Clara lachte laut. «Gern geschehen. Du kannst natürlich noch hierbleiben und dich erholen. Wenn du nach Hause gehst, fängst du bloss wieder zu arbeiten an. Ich kenne dich zwar noch nicht sehr lange, aber ich glaube, mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass du keine Ruhe geben wirst, bis alles blitzblank sauber gewischt, gewaschen und gewienert ist. Bleib hier und erhol dich.»

«Jesus, Maria und Josef!» Hanny sprang auf, und der Küchenstuhl fiel laut krachend zu Boden. «Ich hab den Valentin vergessen. Ich muss mich doch um ihn kümmern!» Schon wollte sie zur Treppe eilen, um ihren Bruder zu suchen, als plötzlich schwarze Flecken vor ihren Augen tanzten. Sie musste sich an der Wand abstützen und einen Moment warten.

«Leg dich wieder hin», befahl Clara. «Ich geh und such deinen Bruder. Wenn ich ihn gefunden habe, bringe ich ihn zu dir.»

Widerstandslos liess sich Hanny zum Bettsofa führen und sank erleichtert in die Kissen. Nie mehr würde sie Alkohol trinken, das schwor sie sich in diesem Augenblick.

Rasch stand sie nochmals auf und kramte in ihrer Handtasche nach den Hausschlüsseln. Sie übergab diese Clara und sich selbst in die Kloschüssel.

Claras Stiefel klatschten auf den regennassen Boden, während sie die Strasse entlangeilte, hastig den Dorfplatz überquerte und nach einigen Minuten vor dem Stybli ankam. Vor der Restauranttür drängten sich drei Männer unter das Vordach und beratschlagten, ob das Stybli heute noch geöffnet werden würde. Ohne von ihnen bemerkt zu werden, machte Clara eine Kehrtwende und lief um das Haus herum, vorbei an Holzbeige, Parkplätzen und leeren Blumentöpfen. Der Regen tropfte in ihren Kragen und liess sie frieren. Mit klammen Händen kramte sie in ihrer Tasche nach Hannys Schlüsseln und öffnete dann die Hintertür.

Sie trat in die Lagerräume, wo Hanny die Vorräte, die nicht gekühlt gelagert werden mussten, in die Regale gestellt hatte. Gemüsefond, Kräuterdosen und Konserven standen auf durchgebogenen Holzbrettern. Sie durchquerte den Raum und kam in die sauber geputzte Küche. Der Chromstahl der Abdeckung glänzte, und das Geschirr war gewaschen, getrocknet und in den Schränken versorgt. Als Hanny und Clara gestern Abend das Stybli ziemlich angeheitert verlassen hatten, um in Claras Wohnung weiterzutrinken, hatte die Küche noch ganz anders ausgesehen. Das schmutzige Geschirr stapelte sich auf der Ablage, und Reste des Kartoffelsalats warteten darauf, in den Komposteimer zu wandern.

Irgendjemand musste in der Nacht ganze Arbeit geleistet und die Küche auf Vordermann gebracht haben. Da Clara vermutete, dass ausser Valentin niemand sonst einen Schlüssel zum Haus besass, musste Hannys älterer Bruder heimgekehrt sein.

Clara beschloss, die wartenden Männer vor der Restauranttür zu erlösen, und kramte in der Schublade nach Papier und Stift. Auf die Rückseite einer alten Menükarte notierte sie, dass das Stybli wegen Todesfalls bis auf Weiteres geschlossen sei. Nachdem sie endlich Klebestreifen gefunden hatte, befestigte sie die Nachricht auf die Innenseite der Fensterscheibe gleich neben der Haustür. Von draussen hörte sie empörtes Gemurmel, da die Engenmatter erkannt hatten, dass Clara und nicht Hanny den Zettel angebracht hatte. Sie vermeinte, etwas zu hören, das verdächtig danach tönte, welches Recht eine Auswärtige habe, hier das Zepter zu führen. Clara beschloss, die Männer zu ignorieren, und begab sich nach oben, um Valentin zu suchen. Hoffentlich hatte zumindest er nichts gegen eine Auswärtige einzuwenden.

Der erste Stock war durch eine separate Tür abgetrennt und für Gäste nicht zugänglich. Hier bewohnte Hanny eine Drei-Zimmer-Wohnung, während ihr Vater und Valentin die oberste Etage benutzten. Clara schloss auch diese Tür mit Hannys Schlüssel auf und klopfte laut an den Türpfosten, um Valentin mit ihrem plötzlichen Auftauchen nicht zu erschrecken. Nachdem sie seinen Namen gerufen hatte, vernahm sie aus dem zweiten Stock ein Rumpeln. Valentin musste sie also gehört haben. Sie stieg die Treppe hinauf und wartete, bis er die Tür öffnete.

Er sah schrecklich mitgenommen aus. Seine braunen Locken standen wirr von seinem Kopf ab, seine Wangen waren von Bartstoppeln dunkel gefärbt, und er roch nach Schweiss. Fasziniert betrachtete Clara den grossen Holzzapfen in seinem Ohr. Als Valentin sie erkannte, machte er vorsichtshalber einen Schritt zurück, fixierte sie mit stechendem Blick, nickte ihr schlussendlich jedoch zu.

«Hanny hat bei mir übernachtet und erholt sich nun von den Strapazen hier.» Clara deutete nach unten in Richtung Stybli. «Sie macht sich Sorgen um dich, Valentin», sagte Clara und trat einen Schritt zurück. Prompt verfehlte sie die oberste Treppenstufe, weswegen sie fast gefallen wäre, hätte sie nicht im letzten Moment das Geländer zu fassen bekommen. Röte überzog ihre Wangen, und sie fühlte sich unbeholfen. Wie peinlich.

Valentin verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, als ob er sagen wollte, dass seine Schwester sich doch keine Sorgen um einen vierzigjährigen Mann zu machen brauche, dann beugte er sich nach vorne und zog Clara schwungvoll auf die Beine.

«Oh, danke.» Clara zupfte ihre Kleider zurecht und sah Valentin in die Augen. «Sie möchte, dass du herüberkommst.»

Valentin überlegte gründlich, nickte dann kaum wahrnehmbar. Er deutete auf seine Haare und die Kleider und gab Clara zu verstehen, dass er sich zuerst frisch machen werde.

«Ist gut, nimm dir Zeit. Ich geh in Hannys Wohnung und such ihr ein paar Sachen heraus.»

Valentin verschwand im Badezimmer, und Clara stieg die Treppe hinunter in den ersten Stock. In Hannys Wohnung griff sie als Erstes nach dem Weidenkorb, der neben der Tür stand, und begab sich in das Schlafzimmer. Sie öffnete Kommode und Kleiderschrank und stellte eine Garnitur Kleidung für Hanny zusammen. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie, als sie in Hannys Kleiderschrank wühlte. Es fühlte sich fremd und verboten an, wie ein ungewollter Eingriff in deren Intimsphäre. Clara staunte über das Vertrauen, das Hanny ihr entgegenbrachte, sie kannten sich doch erst ein paar Wochen.

In Hannys Schlafzimmer stand ein grosses Bett, jedoch lediglich mit einer einzelnen Garnitur Bettwäsche. Die Einrichtung wirkte etwas altbacken mit den vergilbten Rüschenvorhängen, dem Kleiderschrank Modell Dunkelnuss und dem abgetretenen Läufer auf dem Fussboden. Auf der Fensterbank jedoch standen drei prächtige Orchideen in rosa Töpfen. Clara erinnerte sich, wie ihr Hanny in einer ruhigen Minute erklärt hatte, dass sie sich nach einer Beziehung sehne, es aber nicht einfach sei, in der Engenmatt jemanden kennenzulernen, und Zeit, um anderswo einen Mann zu suchen, habe Hanny sich nie nehmen können. Die zwei Männer ihrer Familie, Vater und Bruder, hatten sie voll in Beschlag genommen. Nach der Ausbildung zur Wirtin hatte sie ihrem Vater im Gastbetrieb geholfen und sich zugleich um ihren Bruder gekümmert, da er mehr Unterstützung als andere Menschen brauche. Nein, so sei es wirklich schwierig, die Liebe des Lebens zu finden.

Clara hingegen hatte drei gescheiterte Beziehungen hinter sich und liess nun die Dinge gern auf sich zukommen. Wenn ein Gescheiter des Weges spaziert käme, würde sie sich schon freuen, wenn nicht, ging die Welt auch nicht unter. Sie war momentan vollauf mit ihrer Puppenklinik beschäftigt. Unter anderem.

Vom oberen Stock hörte sie das Prasseln der Dusche, in das sich ein klägliches Miauen mischte. Valentins Kater beherrschte die Küche und gab sich mit nicht weniger als frischer Leber zufrieden, die Glois ihm jeden Abend hinzustellen pflegte. In der letzten Nacht hatte der Kater darauf verzichten müssen und fühlte sich offensichtlich sehr vernachlässigt. Nicht einmal ein richtiger Name war ihm vergönnt, da Valentin darauf bestand, dass das Tier ihm gehöre. Da er aufgrund seiner Sprachlosigkeit keinen Namen nennen konnte, rief alle Welt nur Kater.

Clara hörte, wie Valentin die Dusche abstellte und aus dem Badezimmer in sein Zimmer ging. Sie begab sich in die Küche und wurde sogleich von Kater stürmisch empfangen.

Dreissig Minuten später traten Valentin und Clara aus der Vordertür des Stybli. Der vor ihnen liegende Dorfplatz war menschenleer, die letzten hoffnungsvollen Gäste hatten aufgegeben und waren nach Hause gegangen. Nun, um elf Uhr vormittags, waren die Kinder in der Schule in Sarnen, und deren Mütter standen in der Küche und bereiteten sich auf die Zubereitung des Mittagessens vor. Die Väter arbeiteten zumeist auswärts, denn Arbeitsstellen gab es in der Engenmatt nur wenige, ausser man war selbstständig tätig als Handwerker oder Landwirt.

Clara hatte sich den Korb an den Unterarm gehängt und wartete, bis Valentin die Tür zum Restaurant verschlossen hatte. Sie hoffte, dass Hanny die Stunde genutzt und sich etwas erholt hatte, denn sie fühlte sich allein mit Valentin etwas unwohl. Sie war in seiner Gegenwart unsicher und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. War ein Gespräch angebracht? Wobei sich dies in Valentins Fall auf einen Monolog seitens Claras beschränken würde, oder sollten sie sich anschweigen, was doch ebenfalls ziemlich peinlich werden konnte.

Valentin gab plötzlich eine Art Knurren von sich und zerrte Clara an ihrer Jacke, sogleich kam der schwere Korb ins Rutschen, und ein Hemd fiel auf den schmutzigen Boden.

Verärgert bückte sie sich, um danach zu greifen. «Mensch, Valentin, was ist denn?»

Statt einer Antwort zog er noch fester an ihrem Ärmel. Genervt stopfte Clara das Hemd in den Korb und stellte diesen auf den Boden, dann drehte sie sich zu ihm um. Was um alles in der Welt konnte denn so wichtig sein?

Sie blickte in Valentins Gesicht. Seine Augen und sein Mund waren weit geöffnet, die Schultern hatte er fast bis zu den Ohren hochgezogen. Es tat Clara im Herzen weh, ihn so verunsichert zu sehen.

«Was, Valentin, was ist?», fragte Clara. «Hab ich was vergessen einzupacken?»

Valentin schüttelte den Kopf und deutete energisch auf den Dorfplatz hinaus.

«Ist was auf dem Dorfplatz?»

Heftiges Kopfnicken.

«Was denn?» Clara blickte sich um.

Der gepflasterte Platz sah aus wie immer, ausser dass der Pöstler Toni, Junggeselle auf Brautschau, wie gewöhnlich im absoluten Halteverbot vor der Kirche parkiert hatte. Die Bäume liessen die regennassen Blätter hängen und boten ein klägliches Bild. Keine Menschenseele war zu sehen, alle waren bei der Arbeit oder zumindest im Haus. Bei diesem garstigen Wetter hielt man sich nur draussen auf, wenn es unumgänglich war. Nur Martha von Deschwanden huschte in ihrem beigen Regenmantel über den Platz. Hätte Clara den Blick nicht nur auf das Alltägliche gerichtet, sondern auf die Details achtgegeben, hätte sie es gesehen.

Valentin hatte es sofort bemerkt. Er war es gewohnt, auf Kleinigkeiten zu achten. Wenn er schon nicht sprechen konnte, so wollte er stets seine Umgebung unter Kontrolle halten, um alle Eventualitäten voraussehen zu können. So hatte er zumeist Distanz zu den anderen Engenmatter Kindern halten können und war so möglichen Hänseleien aus dem Weg gegangen. Nicht, dass die Engenmatter Kinder ihn bewusst geplagt hätten, keineswegs, ihr Verhalten untereinander war generell rau, aber doch mit Grenzen versehen. Sie hätten Valentin wie ihresgleichen behandelt und ihn in die Raufereien mit einbezogen. Valentin aber wollte das nicht und hielt Abstand, was durch die Tatsache bestärkt wurde, dass sein Vater ihn stets in der Küche benötigte.

Da lag sie. Bleich und starr auf die Spitze des Dorfplatzbrunnens drapiert. Ihre nackten Gliedmassen streckten sich grotesk in die Luft, das weisse Gesicht war himmelwärts gewandt, Regentropfen perlten an der nackten Haut ab und sammelten sich zu Rinnsalen, bevor sie in schweren Tropfen auf die Figur darunter fielen.

Valentin hatte es endlich geschafft, Clara auf das Ding aufmerksam zu machen, und nun standen sie vor dem über zwei Meter hohen Brunnen und betrachteten die Puppe. Dem achteckigen Steinbrunnen hatte man das Wasser abgestellt, damit während des Winters keine Rohre bersten würden. Nun stand seine Statue, der heilige Niklaus von Flüe, still und einsam mitten auf dem Dorfplatz der Engenmatt und trug statt des goldenen Heiligenscheins eine Porzellanpuppe auf dem Kopf.

Clara stellte ihren Korb auf den Boden und stieg ungelenk auf den Brunnenrand. Sie verkniff sich ein Fluchen, konnte aber nicht verhindern, dass Valentin erstaunt ob ihrer Wortwahl die Augenbrauen hob. Vom Brunnenrand aus versuchte sie, die Puppe zu erreichen, was ihr aber wegen der zu grossen Distanz misslang.

«Du bist grösser als ich», sagte sie zu Valentin. «Nimm du sie herunter.»

Valentin schüttelte genervt den Kopf.

«Du meine Güte, Valentin, das ist doch nur eine Puppe!»

Valentin trat zwei Schritte rückwärts und war drauf und dran, das Weite zu suchen.

«Ist ja schon gut, dann mach ich das halt», murrte Clara. Sie blickte über die Schulter, ob auch wirklich niemand sah, wie sie an der Heiligenstatue emporkletterte. Das gäbe in der Engenmatt ein schönes Gerede, wenn die von Grünenstein dabei beobachtet würde, den Bruder Klaus zu besteigen. Ausgerechnet eine Zugezogene.

Da niemand zu sehen war, stieg sie schnell auf die steinernen Füsse des Heiligen, fand mit ihren hohen Absätzen keinen rechten Halt und hielt sich sicherheitshalber an seinem Hals fest, dann griff sie nach der Puppe. Diese liess sich kaum bewegen, weshalb sie nochmals stärker daran zog. Endlich gab die Puppe nach, und Clara hätte fast das Gleichgewicht verloren, wenn Valentin nicht seine Angst vor Nähe überwunden und sie im letzten Moment gehalten hätte.

«Äh, danke, du kannst jetzt loslassen.» Clara, immer noch auf dem Brunnenrand stehend, hielt die Puppe fest in einem Arm und wartete darauf, dass Valentin seine Hände von ihrem Hintern nahm.

Hier jagte sich ja eine Peinlichkeit nach der anderen, dachte sie.

Wenn Clara gewusst hätte, dass ihr Tun keineswegs so unbemerkt geblieben war, wie sie vermeinte, wäre sie wohl am liebsten im Boden versunken.

Mit einem Sprung landete sie vor Valentins Füssen. Bevor er nach der Puppe greifen konnte, hatte sie diese schon in ihren Korb gepackt und eine von Hannys Blusen darübergezogen. Sie hatte das Mal auf dem blassen Körper gesehen und wollte nicht, dass Valentin mitten auf dem Dorfplatz einen Aufstand deswegen machte.

«Zeit, aus der Kälte zu kommen», sagte sie bestimmt, hängte sich den Korb über den Unterarm und schritt voran. «Hoffentlich ist deine Schwester jetzt wieder ansprechbar.»

In der Tat ging es Hanny besser als noch eine Stunde zuvor. Bis auf die stürmischen Wellen in ihrem Magen fühlte sie sich gut und ausgeruht. Sie hatte Claras Atelier, wo sie übernachtet hatte, gelüftet und das Bett wieder in ein Sofa zurückverwandelt, eine Dusche genommen, sich die Haare geföhnt und nochmals eine Tasse Kamillentee getrunken. Nun wartete sie ungeduldig auf die Rückkehr von Clara und Valentin. Währenddessen nutzte sie die Gelegenheit und durchstöberte Claras Wohnung. Das Badezimmer, klein und nicht ganz klinisch rein, die Küche im selbigen Zustand. Das Atelier hatte sie gestern bereits kennengelernt. Sie staunte immer noch über die Tatsache, dass sie in Claras Heiligtum hatte eindringen dürfen. Bislang war die Puppenstube, wie Clara ihr Arbeitszimmer nannte, stets tabu gewesen.

Im Schlafzimmer stand ein grosses Bett mit blutroter Bettwäsche. Im Kleiderschrank, der bis zum Bersten gefüllt war, dominierten die Farben Schwarz, Grau und Weiss. Clara besass neben den üblichen praktischen Kleidungsstücken wie Jeans und Pullover auch einige sehr schöne Abendkleider. Anscheinend war sie vor ihrem Umzug in die Engenmatt öfter schick ausgegangen, hier oben jedoch würde sie diese festlichen Kleider sicherlich niemals tragen können. Falls die Engenmatter zu einer Hochzeit eingeladen wurden, trugen die Frauen die Tracht oder kauften sich ein Kleid, das für mehrere Anlässe Verwendung fand. Für die Herren stellte sich dieses Problem nicht, sie besassen in der Regel einen grauen oder schwarzen Anzug, der an Hochzeiten ebenso wie an Beerdigungen getragen wurde. Höchstens der Hosenbund musste mit den Jahren etwas ausgelassen werden. Hanny befühlte den feinen Seidenstoff und liess ihre Fingernägel über die filigrane Blumenstickerei gleiten. Noch nie hatte sie sich so schön gekleidet. Sie nahm das Kleid am Bügel aus dem Schrank, schritt zum Spiegel und hielt es vor sich hin. Die eisblaue Farbe würde gut zu ihren Augen passen. Sie drehte sich hin und her. Als sie bemerkte, dass sie nie und nimmer in das Kleid der gertenschlanken Clara von Grünenstein passen würde, hängte sie es beschämt zurück. Das Restaurantessen hatte seine Spuren auf ihren Hüften hinterlassen. Die Engenmatter hielten nichts von Trennkost und leichter Küche, für sie war es schon eine Herausforderung, wenn Hanny ein vegetarisches Menü auf die Karte setzte. Zumeist speisten Arbeiter im Stybli, und die brauchten Energie, um den ganzen Tag die körperliche Schwerstarbeit leisten zu können. Das Kleid wanderte schnell zurück an seinen Platz im Schrank.

Claras Wohnung befand sich im Dachgeschoss eines Mehrfamilienhauses und bot einen phantastischen Blick über den grössten Teil der Engenmatt, das darunterliegende Sarnen und den See. Hanny öffnete das Fenster der Puppenstube und schaute hinaus. Drehte sie den Kopf zur Seite, blickte sie direkt auf den Dorfplatz mit seinem Bruderklausenbrunnen, und noch etwas dahinter vermochte Hanny das Stybli auszumachen. Sie sah, wie Clara mit schnellen Schritten in ihre Richtung eilte und Valentin bedächtig folgte. Er schien nicht guter Laune zu sein, ihr Bruder, und Hanny machte sich auf etwas gefasst. Aber wenigstens hatte Clara ihn gefunden und es geschafft, ihn hierherzubringen.

Einige Sekunden später polterte es vor der Wohnungstür, und Hanny beeilte sich, die Ankommenden zu begrüssen.

«Hier, frische Kleider für dich.» Clara streckte ihr den Korb entgegen, kaum hatte Hanny die Tür geöffnet. Sie war tropfnass und ihr Augen-Make-up lief, schwarze Schlieren hinter sich herziehend, die Wangen hinunter. Schnell schlüpfte sie aus den Schuhen und zog sich ins Badezimmer zurück.

Hanny vermutete, dass es ihr peinlich war, in diesem Zustand gesehen zu werden. Nun stapfte Valentin die Treppe hoch und schaute Hanny erleichtert an. Mit einem grossen Schritt übersprang er die letzten beiden Stufen und nahm sie fest in den Arm.

«He, mein grosser Bruder», sagte Hanny eine Spur zu fröhlich. «Wo hast du dich herumgetrieben?» Sie streichelte ihm liebevoll über den Rücken und löste sich dann von ihm.

Valentin schnaubte laut auf und deutete dann auf sie.

«Du hast ja recht», lachte sie. «Diese Nacht war ich unterwegs und ausnahmsweise nicht du, du Rumtreiber.» Sie strich ihm das nasse Haar aus dem Gesicht und merkte, dass er sich geduscht und rasiert hatte. «Hast du dir Sorgen gemacht, weil ich nicht zu Hause war?»

Valentin winkte ab, als ob ihm dies nichts ausgemacht habe. Wahrscheinlicher aber war, dass er Hannys Fernbleiben gar nicht bemerkt hatte, da Hanny und er nicht in derselben Wohnung lebten und Valentin diese Nacht erst in den frühen Morgenstunden nach Hause zurückgekehrt war.

«Nun zieh die Schuhe aus und komm rein», forderte Hanny ihn auf.

Valentin trat ein und schaute sich neugierig in der Wohnung um. Wie immer konzentrierte er sich auf die Details und prägte sich alles genau ein. Weder die drei leeren Garderobenhaken noch die Staubmäuse unter dem Schuhgestell entgingen ihm. Er bemerkte, dass die Fenster erst kürzlich geputzt worden waren, ein letztes Mal bevor der Winter endgültig einbrach, und dass es aus der Küche nach Kaffee und Kamille roch. Im Badezimmer hörte er Clara hantieren, einige Sekunden später ertönte das Brummen eines Haarföhns.

«Valentin, setz dich in die Küche.» Hanny zeigte auf den hellen Raum gegenüber der Haustür. «Ich zieh mir nur schnell die frischen Sachen an und komm dann gleich zu dir.» Sie nahm den Korb und verschwand in Claras Atelier.

Valentin öffnete den Mund und wollte ihr mitteilen, dass sich im Korb etwas ziemlich Sonderbares befand, aber wieder einmal konnte er sich nicht bemerkbar machen. Frustriert stampfte er mit dem Fuss auf und lief seiner Schwester nach.

Hanny stand mitten im Atelier und hatte sich schon ausgezogen, als Valentin hereinkam. Vor ihrem Bruder schämte sie sich ihrer Nacktheit nicht, aber es ärgerte sie, dass er nicht einmal fünf Minuten allein in einer fremden Küche warten wollte. Sie ignorierte seine Gesten und griff nach der Bluse im Korb. Mit einem Aufschrei liess sie sie sofort wieder zurückgleiten. Bleiche Augen aus einem toten Gesicht. Sie hob die Bluse erneut aus dem Korb.

«Was macht dieses verdammte Ding hier?» Mit spitzen Fingern zog sie die Puppe vorsichtig heraus, legte sie auf Claras Arbeitstisch und sah Valentin fragend an.

Valentin gestikulierte wild, und Hanny begriff, warum er ohne Einladung in ihr Zimmer gestürmt war. Sie lächelte milde. «Alles gut, ich habe mich nur so erschreckt.»

In frischer Unterwäsche, Jeans und sauberer Bluse fühlte sich Hanny gleich wohler. Clara hatte gut ausgewählt.

Als sie sich auf das Sofa setzte, um die Socken überzustreifen, sah sie, wie Valentin vorsichtig auf die Puppe zuging. Immer war er so zögerlich, der Valentin, dachte Hanny. Er fürchtete sich nicht, nachts allein in den Wäldern herumzustreifen, aber alles, was mit seinen Mitmenschen zu tun hatte, war ihm gänzlich suspekt. Einzig Hanny und Grossmutter Hedwig, die in letzter Zeit immer verwirrter wurde, bildeten da eine Ausnahme.

«Wo habt ihr denn die Puppe gefunden?», fragte Hanny.

Valentin deutete aus dem Fenster. Hanny beeilte sich, die zweite Socke überzustreifen, und stellte sich dann neben ihren Bruder. Der Himmel war mit grauen Wolken verhangen, und der Regen fiel in dicken Tropfen auf die Pflastersteine des Dorfplatzes. Die Temperaturen mussten nur noch ein klein wenig fallen, und es würden Schneeflocken daraus. Noch liess der Schnee aber auf sich warten. Valentin zeigte mit seinem Finger in Richtung Dorfbrunnen, Hanny jedoch sah nur das für sie Offensichtliche.

«Im Stybli? Ich wusste gar nicht, dass wir eine so alte Puppe haben. Vielleicht gehörte sie ja Grossmutter Hedwig», rätselte sie.

Valentin knurrte verächtlich und deutete an, dass Hanny auf dem Holzweg sei. Er machte eine wellenartige Bewegung zu sich hin.

«Nicht das Stybli also?»

Kopfnicken.

«Aber an einem Ort, den ich durch das Fenster sehen kann?»

Erneutes Kopfnicken.

«Auf dem Dorfplatz?»

Valentin begann zu lächeln und formte mit seinen Armen einen grossen Kreis.

Hanny sah nochmals hinaus und verstand endlich. «Der Dorfbrunnen!»

Valentin zwinkerte ihr zu und reckte den Daumen nach oben.

«Ja, wir haben die Puppe auf dem Dorfbrunnen gefunden», ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Clara war eingetreten und hatte in wenigen Sekunden erzählt, was Valentin so eine Mühe gekostet hatte. «Die Puppe wurde diesem Heiligen, wer immer das ist, auf den Kopf gespiesst.»

Clara stellte sich zu den beiden und blickte hinunter. Noch immer war keine Menschenseele zu sehen. Mittlerweile mussten alle Engenmatter beim Mittagessen sein, denn sie waren Gewohnheitstiere und schätzten es, die Mahlzeiten stets zur gleichen Zeit einzunehmen. Dass das Stybli heute geschlossen war, stellte für einige ein grosses Problem dar. Wo sollte man auf die Schnelle ein währschaftes Essen bekommen? Denn nach Sarnen hinunter mochten die wenigsten fahren.

«Es ist der heilige Niklaus von Flüe.»

«Wer?», fragte Clara.

«Na, die Figur auf dem Brunnen», erläuterte Hanny. «Das ist der Bruder Klaus, übrigens der Schutzpatron der Schweiz, den solltest du eigentlich schon kennen, Clara.» Sie stiess ihre Freundin scherzhaft in die Seite.

«Schon eigenartig. Wer legt eine alte Puppe auf eine Brunnenstatue?»

«Ich denke, das wird eine Schnapsidee von einem Spassvogel gewesen sein», sagte Hanny.

Clara widersprach. «Ich glaube nicht. Dieser Fundort könnte zentraler nicht sein. Jemand hat für die Engenmatt eine Botschaft hingelegt.»

Clara drehte sich um und ging zum Arbeitstisch, auf dem die Puppe lag. Sie griff nach einem sauberen Baumwolltuch und begann, die durchnässte Puppe trocken zu tupfen.

«Das ist ein antikes Spielzeug, kein modernes Plastikding», murmelte Clara. Ohne hinzusehen, griff sie sicher nach einem Borstenpinsel im Regal neben sich und strich behutsam Schmutz aus den leeren Augenhöhlen und von den Fingerchen. Die Puppe war gänzlich unbekleidet, besass keine Haare mehr und wies eine Besonderheit auf. Mitten auf ihrer blassen Brust prangte ein dickes mit Filzstift gemaltes Kreuz.

Clara strich mit der Fingerspitze über das Mal, konnte das Kreuz aber nicht abwischen. «Eine Schande ist das», schimpfte sie. «Eine echte Schildkrötpuppe so zu verschandeln.»

Valentin schaute Clara erstaunt an, und Hanny fragte, was er nicht über die Lippen brachte: «Was hat denn diese Puppe mit Schildkröten zu tun?»

«Schildkröt ist ein renommierter Puppenhersteller aus Thüringen in Deutschland, der schon seit 1896 produziert. Diese Patientin hier hat auch schon viele Jahre auf dem Buckel, sie wurde aus Celluloid gefertigt. Die heutigen Puppen sind aus Vinyl.»

«Aber warum malt jemand ein Kreuz auf die Brust einer Spielzeugpuppe und legt sie dann auf den Kopf der Brunnenstatue?»

«Hanny, ich habe keinen blassen Schimmer!»

Valentin legte den Kopf schief und strich der Puppe traurig über den Kopf, dann drehte er sich abrupt um und ging in die Küche. Clara und Hanny schauten sich an.

«Vielleicht ist es besser, wenn wir diesen Fund zunächst für uns behalten. Zumindest bis wir wissen, was es damit auf sich hat», sagte Hanny. «Die Engenmatter sind da etwas eigen.»

«Wie meinst du das?»

«Lassen wir es bitte einfach dabei bewenden, dass wir niemandem davon erzählen.»

Clara, Hanny und Valentin nahmen ein leichtes Mittagessen zu sich, das aus selbst gemachter Kürbissuppe und Schwarzbrot bestand. Dazu hatte Clara frisch aufgeschnittenes Kernser Hobelfleisch, gepökeltes Rindfleisch, gereicht.

Nach dem Essen setzten sich die beiden Frauen mit ihren Espressi an den Tisch, und Valentin verschwand in Richtung Badezimmer, nur um nach einigen Minuten mit einem zerzausten Teddybären zurückzukehren und ihn Clara unter die Nase zu halten.

«Ja, Valentin, das ist mein Bär, aber den hast du bestimmt nicht im Badezimmer gefunden.»

Valentin schüttelte den Kopf und zeigte in Richtung Schlafzimmer.

«Aber Valentin, du kannst doch nicht einfach das Schlafzimmer einer fremden Wohnung betreten, das ist unhöflich», wies Hanny ihn zurecht. Eine Sekunde später fiel ihr ein, dass sie vor einer Stunde genau das Gleiche getan hatte. Verräterische rote Flecken flammten auf ihren Wangen auf, was Clara jedoch glücklicherweise nicht bemerkte und Valentin nur mit einem spöttischen Lächeln quittierte. Er kannte sie wirklich gut, ihr Bruder.