Weihnachten am Ku'damm - Brigitte Riebe - E-Book
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Weihnachten am Ku'damm E-Book

Brigitte Riebe

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Beschreibung

Eine bewegende Weihnachtsgeschichte mit den Thalheim-Schwestern aus Brigitte Riebes Bestsellertrilogie "Die Schwestern vom Ku'damm". Bitterkalt ist es im Jahrhundertwinter des Jahres 1946. Der Krieg ist vorbei, nun ächzt das zerstörte Berlin unter dem "Hungerwinter". Auch das einst prächtige Kaufhaus am Ku'damm liegt in Trümmern, selbst die vergleichsweise wohlhabende Familie Thalheim kann von einem opulenten Weihnachtsfest nur träumen. Eines Abends weht der klirrend kalte Winterwind einen kleinen Jungen zum provisorisch eingerichteten Modegeschäft am Savignyplatz. Erich ist halb verhungert und scheint mutterseelenallein in der Stadt zu sein. Kurzentschlossen nimmt Rike, die älteste von drei Schwestern, ihn mit nach Hause - sein weizenblondes Haar erinnert sie an Oskar, ihren im Krieg verschollenen Bruder. Der Kleine soll ein Weihnachtsfest haben, das er nie vergisst, da sind Rike, Silvie und Florentine sich einig. Doch woher einen Weihnachtsbaum nehmen, wenn sogar der Tiergarten abgeholzt ist?

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Brigitte Riebe

Weihnachten am Ku’damm

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein Weihnachtsfest mit den Thalheim-Schwestern.

 

Bitterkalt ist es im Jahrhundertwinter des Jahres 1946. Der Krieg ist vorbei, nun ächzt das zerstörte Berlin unter dem «Hungerwinter». Auch das einst prächtige Kaufhaus am Ku’damm liegt in Trümmern, selbst die vergleichsweise wohlhabende Familie Thalheim kann von einem opulenten Weihnachtsfest nur träumen. Eines Abends weht der klirrend kalte Winterwind einen kleinen Jungen zum provisorisch eingerichteten Modegeschäft am Savignyplatz. Erich ist halb verhungert und scheint mutterseelenallein in der Stadt zu sein. Kurzentschlossen nimmt Rike, die älteste von drei Schwestern, ihn mit nach Hause – sein weizenblondes Haar erinnert sie an Oskar, ihren im Krieg verschollenen Bruder. Der Kleine soll ein Weihnachtsfest haben, das er nie vergisst, da sind Rike, Silvie und Florentine sich einig. Doch woher einen Weihnachtsbaum nehmen, wenn sogar der Tiergarten abgeholzt ist?

Vita

Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und arbeitete zunächst als Verlagslektorin. Sie hat mit großem Erfolg zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen sie die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte lebendig werden lässt. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!

Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.

Mutter schenkte euch das Leben.

Das genügt, wenn man’s bedenkt.

Einmal kommt auch eure Zeit.

Morgen ist’s noch nicht so weit.

 

Doch ihr dürft nicht traurig werden,

Reiche haben Armut gern.

Gänsebraten macht Beschwerden,

Puppen sind nicht mehr modern.

Morgen kommt der Weihnachtsmann.

Allerdings nur nebenan.

 

Lauft ein bisschen durch die Straßen!

Dort gibt’s Weihnachtsfest genug.

Christentum, vom Turm geblasen,

macht die kleinsten Kinder klug.

Kopf gut schütteln vor Gebrauch!

Ohne Christbaum geht es auch.

 

Tannengrün mit Osrambirnen –

lernt drauf pfeifen! Werdet stolz!

Reißt die Bretter von den Stirnen,

denn im Ofen fehlt’s an Holz!

Stille Nacht und heilge Nacht –

Weint, wenn’s geht, nicht! Sondern lacht!

 

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!

Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld!

Morgen, Kinder, lernt fürs Leben!

Gott ist nicht allein dran schuld.

Gottes Güte reicht so weit …

Ach, du liebe Weihnachtszeit!

ERICH KÄSTNER

1

Berlin, 17. Dezember 1946

Sie war gerade erst aus dem Haus getreten, da tat ihr der Streit eben am Frühstückstisch schon wieder leid. Aber kaum jemand konnte Rike Thalheim so rasch auf die Palme bringen wie ihre jüngere Schwester Silvie. Mit den blonden Haaren, den veilchenblauen Augen und den rosigen Lippen sah sie aus wie die Unschuld in Person – dabei hatte Silvie es faustdick hinter den hübschen Ohren.

«Natürlich brauchen wir einen Baum! Sonst ist es doch kein richtiges Weihnachten», hatte sie trompetet, als Rike ihre Familie vorsichtig darauf einstimmen wollte, dass es dieses Jahr leider ohne gehen müsse. Rübenkraut, hartes Brot, Muckefuck – angesichts dieses kargen Frühstücks hätte man fast glauben können, der Krieg sei noch immer nicht vorbei. Doch das war er, bereits seit mehr als anderthalb Jahren. Dennoch war die Not überall in Deutschland immens groß – und die Lebensmittelzuteilungen der Alliierten verschwindend klein.

«Und woher sollen wir diesen Baum bitte nehmen?» Es war Rike schwergefallen, Floris herabgezogene Mundwinkel zu übersehen. Florentine, genannt Flori, war das Nesthäkchen der Familie. Sie würde doch nicht zu weinen anfangen? «Sogar der große Tiergarten ist bis auf den letzten Strauch abgeholzt, weil die frierenden Berliner alles verfeuert haben.»

Auch Brennmaterial fehlte hinten und vorne. Alles nur Denkbare hatten die Menschen benutzt, um gegen die beißende Kälte anzukämpfen, doch nun schienen die Quellen nahezu versiegt.

«Dir fehlt es einfach an Phantasie, Schwesterherz», fuhr Silvie fort. «In Zeiten wie diesen muss man offen für ungewöhnliche Lösungen sein, sonst wird es natürlich nix.»

«Wenn das heißen soll, dass du dich wieder auf dem Schwarzmarkt rumtreiben willst …»

«Die Speckschwarte in der Graupensuppe hat euch allen doch gut gemundet, oder?» Wenn nötig, konnte Silvie scharf zurückschießen. «Also sag mir gefälligst nicht, wie ich meine Geschäfte betreiben soll, sondern kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten!»

Dass sie stets das letzte Wort haben musste!

So war es schon gewesen, als sie noch Kinder waren. Rike liebte ihre Schwester, aber sie gerieten immer aneinander, zwei starke Persönlichkeiten, charakterlich so unterschiedlich wie Tag und Nacht – und dennoch untrennbar miteinander verbunden, sobald es darauf ankam.

Ein letztes Mal schaute sie hoch zu den Eisblumenfenstern im zweiten Stockwerk, als ihr ein frostiger Windstoß unter die Röcke fuhr. Rike steckte die Hände in die Taschen des braunen Mantels, der ihr inzwischen viel zu weit geworden war, und marschierte los. Allmählich gingen ihnen die Kleidungsstücke aus. Das Stofflager auf dem Speicher, das noch aus Vorkriegszeiten stammte, einzig und allein für die Kundschaft bestimmt, leerte sich bedenklich, weil sie nach und nach alles für den Laden verarbeitet hatten. Dabei mussten sie doch auch selbst anständig angezogen sein, wenn sie andere Frauen zum Kauf animieren wollten! Schnee knirschte unter ihren Füßen, während sie ausschritt, von den meisten Dachrinnen hingen fette weiße Eiszapfen. Zu Fuß war es nicht weit von der Bleibtreustraße, wo die Familie reichlich beengt in der ehemaligen Wohnung von Oma Frida untergekommen war, bis hin zum Savignyplatz, an dem der kleine Laden für Damenmoden lag, doch sie begann schon nach den ersten Metern zu bibbern.

Rike verbot sich, an die noble, früher stets großzügig beheizte Familienvilla am Branitzer Platz zu denken, die zunächst die Russen okkupiert hatten und in der nun britische Besatzungsmächte einquartiert waren. Im Dachgeschoss hatte ihre kleine Einliegerwohnung gelegen, ein ganz auf sie zugeschnittenes eigenes Reich, von dem sie gerade nur träumen konnte. Noch schmerzlicher aber war für sie bei der Überquerung des Ku’damms der Blick in Richtung Gedächtniskirche. Schräg gegenüber der Kirchenruine hatte einst das Modekaufhaus Thalheim gestanden, in ganz Berlin bekannt für seine exklusive Kleidungsvielfalt. In jener Schreckensnacht vom 22. auf den 23. November 1943 war es ebenso wie die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche durch britische Bomben in Flammen aufgegangen.

Würde das Kaufhaus jemals aus den Trümmern wiederauferstehen können?

Der Schlüssel für seine mögliche Zukunft lag in ihren Händen, ein Geheimnis, das Rike manchmal die Luft abzuschnüren drohte, während sie mit ansehen musste, wie ihre Liebsten derzeit wie alle anderen hungerten und froren. Es war so kalt wie kaum je zuvor, schon jetzt sprach man von einem «Jahrhundertwinter», der das Wasser in den Gläsern gefrieren ließ und dazu führte, dass manche morgens als eisstarre Leichen in ihren Betten lagen. Sechs harte Kriegsjahre hatten die Menschen zermürbt; dazu kam der Hunger, verursacht durch die mageren Lebensmittelzuteilungen der Alliierten. Mit Sprüchen wie «Wer hungern kann, der kann auch frieren», versuchten die Berliner irgendwie diese schwere Zeit zu meistern, aber es war deutlich zu merken, dass ihnen ihr berühmter Humor langsam ausging, so prekär war die aktuelle Lage.

Wir sind am Leben und haben ein Dach über dem Kopf, dachte Rike im Weitergehen, das ist schon sehr viel, auch wenn wir oft ohne Gas oder Strom auskommen müssen. Das Geschäft sichert uns zumindest ein kleines Einkommen. Und der Tag wird kommen, an dem wir wieder …

Um ein Haar wäre sie über den Mann gestolpert, der vor einer der Haustüren auf einem leeren Kohlensack hockte. Uralt kam er ihr vor, das Gesicht bis zum Schädel abgemagert, die Haut grau wie Pappe. Er trug einen mehrfach geflickten Militärmantel, der unten aufklaffte. Sein linker Unterschenkel fehlte, das Hosenbein war mit einer groben Sicherheitsnadel in Höhe des Knies fixiert. Immer mehr solcher versehrter Kriegsheimkehrer begegnete man inzwischen in Berlin, Jammergestalten, dem Tod oft näher als dem Leben. Einige von ihnen waren in Notunterkünften wie Wellblechbaracken untergekommen, im Volksmund Nissenhütten genannt, die sich kaum oder gar nicht heizen ließen. Der erbarmungslos kalte Winter, unter dem das besiegte Deutschland ächzte, machte ihnen besonders schwer zu schaffen.

«Bitte», flüsterte er. «Erbarmen Sie sich meiner – ich bin am Verhungern!»

«Stehen Sie bloß auf», erwiderte Rike. «Das eiskalte Trottoir bringt Sie sonst noch um.»

Er stieß ein kurzes Lachen aus, das eher einem Knurren glich.

«Das nennen Sie kalt? In Russland haben wir Temperaturen erleben müssen, die gingen noch zwanzig und mehr Grad tiefer. Da!» Er streckte ihr seine Hand entgegen, einen bläulichen Stumpf, an dem keine Finger mehr waren. «Abgefroren! Einer nach dem anderen …»

Das war keiner, der simulierte. Rike reagierte sofort.

«Ich kann Ihnen meine Stulle geben. Griebenfett, allerdings ganz dünn aufgestrichen. Mehr habe ich auch nicht.»

Sie griff in ihre Tasche und reichte ihm das eingepackte Brot, das er mit der linken unversehrten Hand verdutzt entgegennahm. Ein winziges Lächeln erhellte sein Gesicht, und plötzlich erkannte sie, wie jung er noch war. Anfang zwanzig, älter nicht. So alt wie Oskar, ihr Bruder, verschollen im fernen Russland. Silvie, seine Zwillingsschwester, behauptete steif und fest, Oskar sei nicht tot, sondern müsse irgendwo in einem sowjetischen Lager interniert sein, sonst würde sie es spüren. Doch seitdem Rike vor ein paar Wochen im Laden von einem dreisten Betrüger überrumpelt worden war, der sich als Oskars Kriegskamerad ausgegeben hatte und ganz offensichtlich Mamas Ehering von ihm ergaunert hatte, glaubte sie weniger denn je daran. Das war der Talisman des Bruders, mit dem er ins Feld gezogen war – niemals hätte Oskar sich freiwillig von dieser Erinnerung an die tote Mutter getrennt!

Daran zu denken tat so weh, dass sie nicht länger stehen bleiben konnte. Deshalb ging sie schnell weiter, bemüht, auf dem eisigen Untergrund nicht auszurutschen. An Luxus wie Streusalz war in der zerstörten Stadt nicht zu denken, geschweige denn an eine festliche Lichterdekoration, wie sie vor dem Krieg üblich gewesen war. Weihnachten hatte immer geleuchtet, war bunt und fröhlich gewesen, so Rikes Erinnerungen. An diesem trüben Vormittag jedoch war ganz Charlottenburg grau. Überall zwischen den stehengebliebenen Häusern klafften hässliche Bombenlücken, und auch wenn sich inzwischen der widerliche Gestank nach verbranntem Gummi und Leichenteilen der ersten Nachkriegszeit verflüchtigt hatte, so fehlte doch jener aromatische Duft nach Tannengrün, Bratäpfeln und Zimt, der so typisch für die letzten Tage vor Weihnachten gewesen war.

Sie durchquerte die S-Bahn-Unterführung und war nach ein paar weiteren Schritten endlich an ihrem Ziel angelangt. Mit klammen Fingern schloss Rike den Laden auf.

Welch Gegensatz zu dem dreistöckigen, lichtdurchfluteten Modekaufhaus Thalheim, das seine Kunden schon am Eingang zum Staunen gebracht hatte! Der ebenerdige Laden war niedrig, trotz der angebrachten Funzeln noch immer zu dunkel und roch, wie sie selbst zugeben musste, nicht sonderlich einladend. Ein paar Stangen mit Kleidern, ein fleckiger Standspiegel, ein alter Vorhang, der als Kabinenprovisorium herhalten musste, ein umlackierter Tresen plus Registrierkasse, die ständig klemmte, zwei Hocker, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatten.

Und auch hier war es lausig kalt.

Noch in Mantel und Schal, begann sie das kleine Öfchen im zweiten Raum zu befeuern, dessen Leistung allerdings, wie sie aus leidvoller Erfahrung wusste, begrenzt war. Da brachte die Kochhexe gegenüber der Eingangstür mehr, die Brahm vor ein paar Tagen überraschend angeschleppt und gleich eigenhändig angeschlossen hatte. Auf der Herdplatte ließ sich sogar Teewasser kochen, sofern man etwas Geduld aufbrachte. Allerdings ging die Kohle dafür langsam aus. Selbst wenn Rike das rare Heizmaterial eisern rationierte, würde sie damit wohl kaum bis Heiligabend auskommen – und was danach?

Ach, es fehlte einfach an allem!

Ihre Schultern sackten nach unten, während sie sich aus dem Mantel schälte, und jetzt, wo keiner sie sehen konnte, war sie kurz davor, wegen der gesamten Misere in Tränen auszubrechen. Das Klingeln der Türglocke ließ sie zusammenschrecken. Rike wischte sich über die Augen, straffte sich und rang sich ein Lächeln ab.

«Du?», sagte sie verblüfft, als sie den Besucher erkannte. «Was schleppst du denn da mit dir herum?»

«Briketts.» Werner Brahm grinste über das ganze Gesicht. «Da staunste, wa? Keine Kleinigkeit, in diesen Tagen so etwas zu organisieren. Aber du weißt ja, für dich mache ich sogar das Unmögliche wahr. Ich hab draußen noch mehr. Warte!»

Da lag ein Unterton in seiner Stimme, der ihr missfiel. Schon seit längerem betrachtete sie den früheren Geschäftspartner der Familie Thalheim mit wachsendem Misstrauen. Brahm war keiner, der irgendetwas hergab, ohne einen Preis dafür zu verlangen.

«Kannst du gleich wieder mitnehmen», sagte sie knapp, als er mit zwei weiteren Säcken angekeucht kam. «Wir haben kein Geld dafür, weder für einen und erst recht nicht für drei!»

«Wer redet denn von Geld?» Sein breites Lachen entblößte ein Pferdegebiss, wie Silvie immer lästerte, die ihn noch weniger leiden konnte als Rike.

«Bist du taub? Wir können das nicht bezahlen. Zigaretten haben wir auch keine mehr …»

«Betrachte die Briketts einfach als Leihgabe», fiel er ihr ins Wort. «Freunde helfen sich in der Not, so ist es doch, oder?»

Ja, so war es. Nur, dass Brahm kein Freund war.

«Ich muss wieder weiter. Geschäfte, du verstehst.» Ihm war nicht anzuhören, ob ihre mangelnde Begeisterung ihn enttäuscht hatte.

Im Vorbeigehen kam er ihr näher, und Rike wich unwillkürlich zurück. Auf seinem Schädel schimmerte die Kopfhaut bereits an vielen Stellen durch das dünne weißblonde Haar. Bald würde er vollkommen kahl sein, doch das Optische war es nicht, was sie an ihm abstieß. Es rührte von seinem Wesen her, da spürte sie etwas Dunkles, Besitzergreifendes, das ihr manchmal richtig Angst machte.

«Wir beide sind uns ähnlicher, als du denkst», murmelte er. «Ich gebe niemals auf, bevor ich mein Ziel erreicht habe. Genau wie du. Aber das wirst du schon noch kapieren, schöne, stolze Rike. Ich hoffe nur, dann ist es nicht zu spät. Grüß mir die Familie!»

Sie starrte ihm nach, als er nach draußen stapfte, musste sich aber rasch wieder fassen, denn zwei Damen in den besten Jahren betraten den Laden.

«Wir sind zur Hochzeit unserer Nichte eingeladen», sagte die Korpulente. Ein selbstgestricktes rotweißes Wollmützchen saß neckisch auf einem Puschel ergrauter Locken. «Muss ziemlich fix gehen, weil was Kleines unterwegs ist, Sie verstehen! Und da brauchen wir ein neues Kleid.» Sie griff in ihre Tasche. «Kleidermarken haben wir gesammelt und ein paar Scheinchen dazu.» Sie zwinkerte Rike zu. «Angenehm haben Sie es hier, junge Frau! So warm ist es dieser Tage ja selten.»

«Jede von uns braucht ein neues Kleid», verbesserte ihre dünne Begleitung grämlich. «Festlich, aber bloß nicht zu aufgedonnert. Ich trage normalerweise eine schmale 38. Meine Schwester allerdings dürfte inzwischen bei Größe …»

«Das werden wir gleich haben», unterbrach sie Rike, die wusste, wie sehr die Damen in den «Komfortgrößen», wie es bei Thalheims dezent hieß, es hassten, öffentlich vorgeführt zu werden. Die meisten Bewohner Berlins hatte der anhaltende Hunger rappeldürr werden lassen. Doch vereinzelt gab es noch immer erstaunlich stattliche Staturen. «Wenn ich die Damen dann an die Kleiderständer bitten dürfte!»

Am späten Nachmittag war Rike müde, und Hunger bohrte in ihr. Mit leiser Wehmut dachte sie an die verschenkte Stulle, die ihren leeren Magen wenigstens ein wenig gefüllt hätte. Längst hatte sich Dunkelheit über die zerstörte Stadt gelegt, und auch das aggressive Heulen des Windes war lauter geworden. Immer wieder äugte sie zu dem Päckchen auf dem Tresen, das die letzte Kundin im Tauschhandel für einen gebrauchten Muff dagelassen hatte: Printen aus Rübenkraut und Ersatzhonig, Haferflockenmakronen und ein gedrungenes Etwas, das den Namen Stollen nicht einmal ansatzweise verdiente. Doch sie blieb stark, rührte nichts davon an. Die Familie würde sich darauf stürzen, besonders Papa, der Süßes liebte und darunter litt, dass Claire, seine zweite Frau, so gar nicht backen konnte.

Der Publikumsverkehr war heute bislang äußerst spärlich gewesen, dabei hatten sie so sehr auf das Weihnachtsgeschäft gesetzt. Aber in diesen Zeiten, in denen die meisten Berliner kaum genug Geld hatten, um satt zu werden, konnten sich die wenigsten eine neue Garderobe leisten.

Sollte sie nicht besser zuschließen und nach Hause gehen?

Jetzt bedauerte Rike, dass sie sich erst so spät mit Miri im Laden verabredet hatte, der wiedergefundenen Freundin aus Jugendtagen, die die letzten Jahre der NS-Herrschaft als jüdisches U-Boot in verschiedensten Verstecken überlebt hatte. Inzwischen wohnten sie in der Bleibtreustraße wieder unter einem Dach, und Miris Nähkünste bildeten das Fundament des Ladens. Geschickt und umsichtig hatte sie auch andere Frauen angeleitet, die ihre Nähmaschinen nun ebenfalls für die Thalheims rattern ließen. Niemals hatte Rike auch nur ein Wort der Klage aus Miriam Sternbergs Mund gehört; nur manchmal senkte sich Melancholie wie eine dunkle Wolke über die feingeschnittenen Züge. Dann hätte Rike die Jüngere am liebsten ganz fest in den Arm genommen und alles ungeschehen gemacht, was ihr an Schrecklichem zugestoßen war, doch das war ja leider unmöglich. Meist kehrte Miri nach kurzem wieder zu jener lakonischen Ausgeglichenheit zurück, die so typisch für sie war.

Gerade fegte sie, früher als verabredet, wie der Winterwind in den Laden, über dem linken Arm einen Kleidersack, rechts ein Kind am Wickel, das sie entschlossen hereinzerrte. Blonde Zotteln, der dunkelblaue Mantel um einiges zu klein; dünne weiße Ärmchen schauten aus den zu kurzen Ärmeln hervor. Wo hatte Miri das kleine Ding nur aufgegabelt?

«Er zittert am ganzen Körper», sagte sie, während sie ihre Last auf dem Tresen ablegte. «Und ausgehungert ist er offenbar auch. Hat mich auf dem Weg hierher ganz schüchtern um Brot angebettelt. Da hat er mir so leidgetan, dass ich ihn einfach mitgenommen habe. Wie heißt du eigentlich, Kleener?»

Ein Junge?

Im ersten Moment hatte Rike das spillerige Ding mit den ungekämmten Haaren, die bis zum schmuddeligen Kragen reichten, für ein Mädchen gehalten.

«Erich.» Die Stimme klang erstaunlich kräftig.

«Und weiter?», fragte Rike.

«Bednarz.»

«Das ist aber kein typischer Berliner Name», sagte Miri.

«Mama und ich sind ja auch aus Breslau.»

Flüchtlinge! Tausende aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten lebten inzwischen in der zerbombten Stadt, häufig unter ärmlichsten Bedingungen. Allmählich sickerte durch, unter welch schrecklichen Umständen viele von ihnen die Heimat hatten verlassen müssen: oft von einem Tag auf den anderen, zusammengetrieben in wilden Trecks, entweder zu Fuß oder zusammengepfercht in Viehwaggons. Und was erwartete sie am neuen Ankunftsort? Keiner war erpicht auf diese fremden Menschen von nirgendwoher, die oft nur noch ein paar Kleider zum Wechseln besaßen, in fremd anmutenden Dialekten redeten und zudem womöglich auch noch die verkehrte Religionszugehörigkeit besaßen. Auch Erich und seine Mutter schienen es nicht allzu grandios getroffen zu haben. Seine schmutzigen Hosen wirkten fadenscheinig. Die Stiefel waren verdreckt, die Absätze schiefgelaufen. Außerdem müffelte Erich, als habe er schon lange keine Badewanne aus der Nähe gesehen.

«Ich bring mein Zeug mal weg. Dann haben wir hier mehr Platz.» Miri verschwand nach nebenan, war aber schnell wieder zurück.

«Wo wohnt ihr denn jetzt in Berlin?», wollte Rike wissen.

Erich zögerte. «Carl-Schurz-Straße», murmelte er schließlich.

«Mitten in Spandau also.»

Er nickte knapp.

«Kenne ich von früher», sagte Miri. «Eine Bekannte von uns hatte dort ihre Wohnung. Das ist ja eine ordentliche Ecke von hier entfernt! Und deine Mutter lässt dich einfach so allein in der Stadt herumstreunen? Bist du dafür nicht noch ein bisschen zu jung? Du bist doch höchstens sieben!»

«Gerade acht geworden», korrigierte er. «Ist das dort drüben auf der Theke vielleicht Kuchen?»

Die beiden Frauen tauschten einen raschen Blick.

Rike wollte schon den Kopf schütteln, weil die unverhofft gelieferten Backwaren ja eigentlich für die Familie bestimmt waren, aber Miris bittenden dunklen Augen konnte niemand etwas abschlagen. So packte sie den Stollen aus, nahm ihr altes Taschenmesser und schnitt zwei dünne Scheiben davon ab.

Erich inhalierte sie in Windeseile.

«Ob ich vielleicht noch was davon abhaben könnte?», bat er. «Schmeckt fein!»

«Du hörst dich ja an, als hättest du seit Tagen hungern müssen.» Rike spendierte ihm zwei weitere Scheiben.

«Hab ich auch …» Er verstummte abrupt und begann erneut zu kauen.

«Deine Mama wird sich langsam Sorgen machen», fiel nun auch Miri ein. «Es ist bereits dunkel und …»

«Ich komm schon klar. Das weiß sie. Mama kann sich auf mich verlassen – immer.» Der Stollen schien seinen Magen beruhigt zu haben. Jetzt trat er unruhig von einem Bein auf das andere. «Allerdings müsste ich jetzt mal ganz dringend sechen …»

«Was musst du?», fragte Miri.