Weihnachtsgeschichten - Selma Lagerlöf - E-Book

Weihnachtsgeschichten E-Book

Selma Lagerlöf

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Beschreibung

In Schweden, wo die Tage den Nächten gleichen, ist Weihnachten ein ganz besonderes Fest: Es bringt Licht und Freude in die dunkle Jahreszeit. Selma Lagerlöf fängt diese besondere Stimmung ein und lässt ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen mit dem reichen skandinavischen Sagen- und Legendenschatz verschmelzen – denn aus der Feder der schwedischen Schriftstellerin stammt nicht nur der bekannte Kinderbuch-Klassiker Nils Holgersson, sondern auch eine reiche Sammlung an Winter- und Weihnachtserzählungen. Zehn Geschichten rund um die kalte Jahreszeit, heimelige Wintertage und den Zauber des Heiligen Abends. – Mit einer kompakten Biographie der Autorin.

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Seitenzahl: 211

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Selma Lagerlöf

Weihnachtsgeschichten

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: akg-images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961920-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020565-0

www.reclam.de

Inhalt

Die Heilige Nacht

Die Legende vom Luciatag

Der Sturm

Die Legende von der Christrose

Gottesfriede

Das Kartenspiel

Vierzig Grad Kälte

Ein Weihnachtsgast

Ein Emigrant

Der Traumpfannenkuchen

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Zeittafel

Die Heilige Nacht

Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich einen großen Kummer. Ich weiß nicht einmal, ob ich seitdem einen größeren erlebt habe.

Das war, als meine Großmutter starb. Bis dahin hatte sie jeden Tag im Ohrensessel in ihrem Zimmer gesessen und Geschichten erzählt.

Ich kann mich an nichts anderes erinnern, als dass Großmutter dort saß und erzählte und erzählte – von morgens bis abends. Und dass wir Kinder still neben ihr saßen und ihr zuhörten. Das war ein herrliches Leben. Niemand sonst hatte es so schön wie wir.

Ich erinnere mich nicht an sehr viel von meiner Großmutter. Ich weiß noch, dass sie schönes, kreideweißes Haar hatte und dass sie sehr krumm lief und dass sie immer dasaß und an einem Strumpf strickte. Und ich erinnere mich auch daran, dass sie mir, wenn sie eine Geschichte erzählt hatte, die Hand auf mein Haar legte und sagte: »Und das alles ist so wahr, wie ich dich sehe und du mich.«

Ich kann mich auch erinnern, dass sie Lieder singen konnte, auch wenn sie das nicht jeden Tag tat. Eines dieser Lieder handelte von einem Ritter und einer Wassernymphe, und der Refrain ging so: »Es bläst ein kalter Wind, kalter Wind übers Wasser.«

Und ich erinnere mich an ein kleines Gebet, das Großmutter mir beibrachte, und an einen Bibelvers aus einem Choral.

An all die Geschichten, die sie mir erzählt hat, habe ich nur eine schwache und verschwommene Erinnerung. Da ist nur diese eine, an die ich mich so gut erinnere, dass ich sie selbst erzählen könnte: Das ist die kurze Geschichte von Jesu Geburt.

 

Seht, das ist beinahe schon alles, woran ich mich bei Großmutter erinnere – bis auf meine allerstärkste Erinnerung: die große Sehnsucht nach ihr, als sie fort war.

Ich erinnere mich an den Morgen, an dem der Ohrensessel plötzlich leer stand und es mir unmöglich schien zu begreifen, wie die Stunden des Tages ohne Großmutter vergehen sollten. Daran erinnere ich mich. Das vergesse ich niemals.

Und ich erinnere mich, wie wir Kinder zu ihr geführt wurden, um der Toten die Hand zu küssen. Und wir fürchteten uns davor, bis jemand zu uns sagte, das sei das letzte Mal, dass wir Großmutter für die Freude danken könnten, die sie uns geschenkt hatte.

Und dann erinnere ich mich, wie die Geschichten und die Lieder vom Hof verschwanden, verpackt in einen langen, schwarzen Sarg, und wie sie nie wieder zu uns zurückkehrten. Ich erinnere mich, dass etwas im Leben fehlte. Es fühlte sich an, als ob die Tür zu einer schönen, verzauberten Welt, in der wir nach Herzenslust ein und aus gehen konnten, für immer verschlossen worden war. Und es war niemand da, der sich darauf verstand, diese Tür wieder zu öffnen.

Und ich erinnere mich, dass wir Kinder uns mit der Zeit angewöhnten, mit unseren Puppen und unseren Spielsachen zu spielen und so zu leben wie andere Kinder, und da konnte es ja so aussehen, als ob wir Großmutter nicht mehr vermissten oder uns an sie erinnerten.

Aber noch heute, vierzig Jahre später, wenn ich hier sitze und versuche die Christuslegenden zusammenzustellen, die ich weit fort im Morgenland gehört habe, erwacht in mir die kleine Geschichte von Jesu Geburt, so wie Großmutter sie erzählte. Und ich bekomme Lust, sie noch einmal zu erzählen und sie in meine Sammlung aufzunehmen.

Es war an einem ersten Weihnachtstag, als alle in die Kirche gefahren waren, außer Großmutter und mir. Ich glaube, wir waren allein im ganzen Haus. Wir waren nicht mitgenommen worden, weil die eine zu jung war und die andere zu alt. Und beide waren wir traurig, dass wir nicht mit zur Christmette fahren durften, um die Weihnachtslichter zu sehen.

Als wir so dasaßen in unserer Einsamkeit, begann Großmutter zu erzählen.

»Es war einmal ein Mann«, begann sie, »der in die dunkle Nacht hinausging, um Feuer zu holen. Er ging von Haus zu Haus und klopfte überall: ›Bitte, helft mir‹, sagte er. ›Meine Frau hat gerade ein Kind bekommen, und ich will Feuer für beide machen, um sie und das Kleine zu wärmen.‹

Aber es war mitten in der tiefen Nacht, alle Menschen schliefen. Niemand antwortete ihm. Der Mann lief weiter und weiter. Schließlich sah er weit entfernt den Schein eines Feuers leuchten. Er lief also in diese Richtung und entdeckte, dass ein Feuer draußen im Freien brannte. Eine Herde weißer Schafe lag schlafend um das Feuer herum, und ein alter Hirte saß daneben und bewachte sie. Als der Mann, der sich das Feuer holen wollte, bis zu den Schafen herangekommen war, sah er, dass zu Füßen des Hirten drei große Hunde schliefen. Die Hunde erwachten, als er näher kam, und öffneten weit ihre Mäuler, so als ob sie bellen wollten, aber es kam kein Ton heraus. Der Mann sah, wie sich die Haare auf ihren Rücken aufstellten, er sah ihre scharfen Zähne im Schein des Feuers weiß aufleuchten, und wie sie ihm entgegengelaufen kamen. Er spürte, wie einer der Hunde versuchte, in sein Bein hineinzubeißen, und einer in seine Hand, und wie sich einer anschickte, in seine Gurgel zu beißen. Aber ihre Kiefer und Zähne, mit denen sie zubeißen wollten, gehorchten ihnen nicht, und der Mann nahm nicht den geringsten Schaden.

Nun wollte der Mann weitergehen, um sich zu holen, was er brauchte. Aber die Schafe lagen so dicht aneinander, Rücken an Rücken, dass er nicht vorwärtskam. Da stieg der Mann auf den Rücken der Schafe und lief über sie hinweg bis zum Feuer. Und keines der Tiere erwachte oder bewegte sich auch nur.«

Bis hierhin hatte Großmutter ungestört erzählen können, aber jetzt konnte ich nicht anders, ich musste sie unterbrechen:

»Warum sind sie nicht erwacht, Großmutter?«, fragte ich.

»Das wirst du gleich erfahren«, sagte Großmutter und fuhr mit ihrer Geschichte fort.

»Als der Mann nah genug an das Feuer herangekommen war, blickte der Hirte zu ihm auf. Er war ein alter, mürrischer Mann, der anderen hart und unfreundlich begegnete. Und als er den Fremden kommen sah, zog er den langen, spitzen Stab, den er immer in der Hand hielt, wenn er die Herde hütete, zu sich heran und warf ihn dem Mann entgegen. Und der Stab flog pfeifend direkt auf den Mann zu, aber bevor er ihn treffen konnte, wich er zur Seite aus und schoss an dem Mann vorbei weit hinaus aufs Feld.«

Als Großmutter so weit gekommen war, unterbrach ich sie erneut:

»Großmutter, warum wollte der Stab den Mann nicht treffen?« Aber Großmutter kümmerte sich nicht darum, mir zu antworten, sondern fuhr fort zu erzählen. »Jetzt hatte der Mann den Hirten erreicht und sagte zu ihm: ›Bitte, hilf mir und gib mir etwas von deinem Feuer! Meine Frau hat gerade ein Kind bekommen, und ich will Feuer für beide machen, um sie und das Kleine zu wärmen.‹

Der Hirte hätte am liebsten ›Nein‹ gesagt, aber als er daran dachte, dass die Hunde den Mann nicht hatten verletzen können und die Schafe nicht vor ihm weggelaufen waren und dass sein Stab ihn nicht hatte umwerfen können, bekam er es mit der Angst zu tun und wagte nicht, dem Mann seine Bitte abzuschlagen.

›Nimm dir, soviel du brauchst!‹, sagte er zu dem Mann.

Aber das Feuer war fast heruntergebrannt. Es waren weder Äste noch Zweige übrig, sondern nur ein großer Haufen Glut, und der Fremde besaß weder eine Schaufel noch eine Kelle, in der er die rote Glut hätte tragen können.

Als der Hirte das sah, sagte er noch einmal: ›Nimm dir, soviel du brauchst!‹, und freute sich im Geheimen, dass der Mann von seinem Feuer nichts würde mitnehmen können.

Aber der Mann beugte sich hinunter und nahm mit seinen bloßen Händen einige glühende Kohlen aus der Asche und legte sie in seinen Mantel. Und als er sie berührte, verbrannten die Kohlen weder seine Hände noch seinen Mantel; sondern der Mann trug sie fort, als wären es Nüsse oder Äpfel.«

An dieser Stelle wurde die Geschichtenerzählerin zum dritten Mal unterbrochen:

»Großmutter, warum haben die Kohlen den Mann nicht verbrannt?«

»Das wirst du gleich hören«, sagte Großmutter und fuhr weiter fort.

»Als der Hirte, der so ein gemeiner und mürrischer Mann war, das alles sah, begann er sich zu wundern: ›Was muss das für eine Nacht sein, in der die Hunde nicht beißen, die Schafe sich nicht fürchten, der Pfeil nicht tötet und das Feuer nichts verbrennt?‹ Er rief den Fremden zurück und sagte zu ihm: ›Was ist das hier für eine Nacht? Wie kann es sein, dass alle Dinge dir ihre Barmherzigkeit zeigen?‹

Da antwortete der Mann: ›Das kann ich dir nicht sagen, solange du es nicht selber siehst‹, und wollte seines Weges gehen, um schnell das Feuer anzuzünden, das seine Frau und das Kind wärmen sollte.

Doch plötzlich spürte der Hirte, dass er den Mann nicht aus den Augen verlieren durfte, bevor er nicht herausgefunden hatte, was all das bedeuten könnte. Er stand also auf und folgte ihm, bis er dessen Bleibe gefunden hatte.

Da entdeckte der Hirte, dass der Mann nicht einmal eine Hütte besaß, in der er wohnte, sondern dass seine Frau und das Kind in einer Berggrotte lagen, in der es nichts als nackte, kalte Steinwände gab.

Und der Hirte dachte bei sich, dass das arme, unschuldige Kind vielleicht dort in der Grotte würde erfrieren müssen, und obwohl er ein harter Mann war, rührte ihn, was er sah, und er fand, dass er dem Kind helfen müsste. Also nahm er seinen Beutel von der Schulter und zog daraus ein weiches, weißes Lammfell hervor, gab es dem fremden Mann und sagte, dass er das Kind darauf schlafen legen solle.

In diesem Augenblick, als sich der alte Hirte barmherzig zeigte, öffneten sich seine Augen, und er sah, was er vorher nicht hatte sehen können, und hörte, was er vorher nicht hatte hören können. Er sah, dass um ihn herum ein dichter Kreis kleiner Engel mit silbernen Flügeln stand. Und jeder einzelne Engel hielt eine Harfe in der Hand, und alle sangen sie mit lauter Stimme, dass in dieser Nacht der Retter geboren sei, der die Welt von ihren Sünden befreien werde.

Da verstand der Hirte, dass in dieser Nacht alle Dinge und Kreaturen so glücklich waren, dass sie nichts Böses tun konnten.

Aber es standen nicht nur um den Hirten Engel herum, sondern er sah sie überall. Sie saßen in der Grotte und auf dem Berg davor, und es flogen Engel bis hinauf unter den Himmel. Es kamen Engel in großen Scharen den Weg hinunter, und bevor sie vorbeigingen, blieben sie stehen und warfen einen Blick auf das Kind.

Da lag ein solcher Jubel in der Luft und eine solche Freude und Gesang und Harfenspiel, und all das sah der Hirte mitten in der dunklen Nacht, in der er zuvor nichts hatte sehen können. Und er war so froh darüber, dass ihm die Augen geöffnet worden waren, dass er auf die Knie fiel und Gott dankte.«

Als Großmutter so weit gekommen war, seufzte sie und sagte:

»Das, was der Hirte sah, das könnten wir auch sehen, denn die Engel fliegen in jeder Weihnachtsnacht unter dem Himmel, aber wir können sie nicht immer erkennen.«

Und dann legte Großmutter ihre Hand auf mein Haar und sagte:

»Daran sollst du dich erinnern, denn das ist so wahr, wie dass ich dich sehe und du mich. Es kommt nicht auf Licht und Lampen an, und Sonne und Mond bedeuten nichts. Wirklich wichtig ist, dass auch wir Augen besitzen, die uns Gottes Herrlichkeit sehen lassen.«

Übersetzung von Nele Herbst

Die Legende vom Luciatag

Vor vielen hundert Jahren lebte im südlichen Värmland eine reiche und habgierige alte Frau, die Frau Rangela genannt wurde. Sie besaß an der schmalen Mündung der Bucht, die der Vänern tief ins Land schiebt, eine Burg, oder vielleicht sollten wir lieber von einem befestigten Hof sprechen. Dort hatte sie eine Brücke bauen lassen, die wie eine Zugbrücke über den engen Sund gesenkt werden konnte. Bei dieser Brücke hatte Frau Rangela eine Wache aus Knechten aufgestellt, und für Reisende, die den verlangten Wegzoll entrichteten, ließ die Wache sofort die Brücke herunter. Den anderen jedoch, die aus Armut oder aus irgendeinem anderen Grund nicht bezahlten, blieb die Brücke versperrt, und da es keine Fähre gab, mussten sie einen Umweg von vielen Meilen um die ganze Bucht herum machen.

Frau Rangelas Versuch, auf diese Weise den Reisenden ihr Geld abzunehmen, erregte großen Zorn, und sicher hätten die trotzigen Bauern, die ihre Nachbarn waren, sie schon längst gezwungen, ihnen freien Durchlass zu gewähren, wenn Frau Rangela nicht in Herrn Eskil von Börtsholm, dessen Ländereien an ihre grenzten, einen mächtigen Freund und Beschützer gehabt hätte. Dieser Herr Eskil, der eine echte Burg mit Mauern und Türmen bewohnte, der so reich war, dass seine gesamten Grundstücke eine ganze Provinz ausmachten, der gefolgt von sechzig bewaffneten Dienern durch das Land ritt und der noch dazu der vertraute Berater des Königs war, der war nicht nur ein guter Freund von Frau Rangela, sondern sie hatte ihn zudem zu ihrem Schwiegersohn machen können, und unter diesen Umständen war es nicht verwunderlich, dass niemand wagte, die gierige Dame bei ihren Unternehmungen zu stören.

Jahr um Jahr machte Frau Rangela unangefochten so weiter, bis ein Ereignis eintraf, das sie sehr beunruhigte. Ihre arme Tochter starb ganz unerwartet, und Frau Rangela wusste ja, dass jemand wie Herr Eskil, mit acht minderjährigen Kindern und einer Hofhaltung, die sich mit der eines Königs vergleichen ließ, alsbald eine neue Ehe eingehen würde, zumal er noch kein alter Mann war. Aber wenn die neue Gattin Frau Rangela feindlich gesinnt wäre, würde das zu argen Unannehmlichkeiten führen. Für Frau Rangela war es fast wichtiger, mit der Herrin auf Börtsholm befreundet zu sein als mit deren Gatten, denn Herr Eskil, der allerlei wichtige Geschäfte zu versehen hatte, war immer wieder auf Reisen, und in diesen Zeiten schaltete und waltete seine Gattin in Haus und Hof.

Frau Rangela überlegte sich die Sache gut, und als die Beerdigung überstanden war, ritt sie eines Tages nach Börtsholm hinüber und suchte Herrn Eskil in seinem Privatgemach auf. Dort erinnerte sie ihn als erstes an seine acht Kinder und die Fürsorge, die diese benötigten, an seine zahllosen Dienstboten, die versorgt, ernährt und gekleidet werden mussten, an die Gastmahle, zu denen er, ohne zu zögern, auch Könige und Königssöhne einlud, an die großen Erträge, die er aus seinen Ländereien, seinen Feldern, seinen Jagdgründen, seinen Bienenstöcken, seinen Hopfenfeldern und seinen Teichen zog, welch reiche Ernte auf dem Herrenhof erwirtschaftet und verarbeitet werden musste, an alles, mit einem Wort, wofür seine Gattin verantwortlich gewesen war, und zeichnete damit ein überaus beängstigendes Bild der großen Schwierigkeiten, die ihm nach dem Verlust selbiger Gattin drohten.

Herr Eskil lauschte mit der Ehrerbietung, die man seiner Schwiegermutter schuldet, aber auch mit einer gewissen Unruhe. Er fürchtete, Frau Rangela wolle sich als Haushälterin auf Börtsholm anbieten, und er war sicher, dass diese alte Frau mit dem Doppelkinn und der Hakennase, der rauen Stimme und dem bäurischen Betragen für ihn durchaus keine angenehme Gesellschaft sein würde.

»Lieber Herr Eskil!«, sagte nun Frau Rangela, die sich über diese mögliche Wirkung ihrer Rede durchaus im Klaren sein mochte. »Ich weiß, dass es Euch an Möglichkeiten zu einer überaus vortrefflichen Heirat nicht fehlt, aber ich weiß auch, dass Ihr reich genug seid, um mehr an das Wohlergehen Eurer Kinder zu denken als an Mitgift und Erbe, und deshalb wollte ich Euch vorschlagen, eine meiner jungen Nichten zur Nachfolgerin meiner Tochter zu machen.«

Herrn Eskils Miene hellte sich sichtlich auf, als er hörte, dass seine Schwiegermutter ihm eine junge Verwandte zuführen wollte, und Frau Rangela versuchte mit wachsender Zuversicht, ihn zu einer Heirat mit Lucia zu bewegen, der Tochter ihres Bruders, des Richters Sten Folkesson, die im kommenden Winter am Luciatag achtzehn Jahre alt sein würde. Die junge Lucia war bei den frommen Frauen im Kloster Riseberg erzogen worden und hatte dort nicht nur gute Sitten und strenge Gottesfurcht, sondern auch die Führung eines herrschaftlichen Haushaltes gelernt.

»Wenn Jugend und Armut ihr nicht im Wege stünden«, sagte Frau Rangela, »so müsstet Ihr Euch für sie entscheiden. Ich weiß, dass meine verstorbene Tochter ihr frohen Herzens die Fürsorge für ihre Kinder überlassen hätte. Sie braucht nicht aus dem Grab zu ihren Kleinen zurückzukehren, wie Frau Dyrit von Örehus, wenn Ihr die junge Lucia zur Stiefmutter ihrer Kleinen macht.«

Herr Eskil, der noch gar keine Zeit gehabt hatte, um über seine eigenen Angelegenheiten nachzudenken, war Frau Rangela überaus dankbar, als sie ihm eine so passende Heirat vorschlug. Er erbat sich zwar zwei Wochen Bedenkzeit, ernannte aber Frau Rangela schon am nächsten Tag zu seiner Brautwerberin. Und sobald es überhaupt möglich war, was Ausstattung, Hochzeitsvorbereitungen und Anstand betraf, wurde Hochzeit gefeiert, so dass die neue Herrin im zeitigen Frühling, einige Monate nach ihrem achtzehnten Geburtstag, ihren Einzug auf Börtsholm hielt.

Wenn Frau Rangela nun bedachte, welch großen Dank diese Nichte ihr schuldig war, da sie sie zur Herrin einer reichen und stattlichen Burg gemacht hatte, können wir uns vorstellen, dass sie sich noch sicherer fühlte als zu der Zeit, da ihre eigene Tochter dort regierte. In ihrer Freude erhöhte sie den Brückenzoll und untersagte den Nachbarn aufs Strengste, die Reisenden im Boot über den Sund zu setzen, damit sich ja niemand der Zahlung entziehen konnte.

Es begab sich nun eines schönen Tages, als Frau Lucia seit einigen Monaten auf Börtsholm wohnte, dass eine Gruppe von kranken Pilgern auf dem Weg zur Dreifaltigkeitskirche von Sätra im Västmanland die Brücke überqueren wollte. Diese Menschen, die sich auf den Weg gemacht hatten, um ihre Gesundheit zurückzuerlangen, waren daran gewöhnt, dass die Anwohner des Pilgerweges alles taten, um ihnen die Wanderung zu erleichtern, und eher wurde ihnen Geld geschenkt, als dass sie welches ausgeben mussten. Frau Rangelas Brückenwächtern jedoch war streng befohlen worden, keinerlei Nachgiebigkeit zu zeigen, schon gar nicht dieser Art von Wanderern gegenüber, die Frau Rangela für weniger krank hielt, als sie vorgaben, und von denen sie glaubte, dass sie aus purer Vergnügungssucht durch das Land streunten.

Als den Kranken der freie Übergang verweigert wurde, brachen sie in ein Wehklagen sondergleichen aus. Die Lahmen und Krüppel zeigten auf ihre unbrauchbaren Glieder und fragten, wie jemand so hart sein könne, von ihnen zu verlangen, dass sie ihre Wanderung um eine ganze Tagesreise verlängerten, die Blinden fielen auf die Knie und versuchten, zu den Brückenwächtern zu kriechen, um denen die Hände zu küssen, während die Freunde und Verwandten der Kranken, die ihnen auf der Pilgerfahrt beistanden, vor den Augen der Wächter Taschen und Beutel umstülpten, um zu zeigen, dass diese wirklich leer waren.

Aber die Männer ließen sich nicht erweichen, und die Verzweiflung der Armen kannte keine Grenzen, als zu ihrem Glück die Herrin auf Börtsholm mit ihren Stiefkindern durch die Bucht gerudert kam. Als sie die Aufregung bemerkte, eilte sie hinzu, und sowie sie erfahren hatte, worum es ging, rief sie:

»Dem lässt sich nun wirklich sehr leicht abhelfen. Die Kinder gehen jetzt an Land, um ihre Großmutter, Frau Rangela, zu besuchen, und in dieser Zeit werde ich die kranken Wanderer in meinem Boot über den Sund setzen.«

Wächter und Kinder, die wussten, dass mit Frau Rangela bei ihrem geliebten Brückenzoll nicht zu spaßen war, versuchten mit Mienen und Gebärden, die junge Frau zu warnen, aber die begriff nicht oder wollte nicht begreifen. Denn die junge Lucia war ein ganz anderer Mensch als ihre Verwandte Frau Rangela. Schon als kleines Kind hatte sie die heilige sizilianische Jungfrau Lucia, ihre Namenspatronin, geliebt und verehrt und sie als Vorbild in ihrem Herzen thronen lassen. Die Heilige hatte deshalb ihr ganzes Wesen mit Licht und Wärme erfüllt. Das zeigte sich schon in ihrem Äußeren, das von solch leuchtender Durchsichtigkeit und Feinheit war, dass man sie anzurühren sich nicht vorstellen konnte.

Mit vielen freundlichen Worten brachte sie nun die Kranken über den Sund, und als die letzten am ersehnten Ufer an Land gesetzt worden waren, überschütteten alle Pilger Lucia dermaßen mit Segenswünschen, dass, wenn solche Güter ebenso schwer wie bedeutsam wären, ihr Boot gesunken wäre, noch ehe sie den Sund hätte überqueren können.

Die Segenssprüche und guten Wünsche konnte sie dann auch brauchen, denn nun begriff Frau Rangela, dass sie von ihrer Nichte keine Hilfe zu erwarten hatte, und sie bereute bitterlich, sie zu Herrn Eskils Gemahlin gemacht zu haben. Sie, die mit solcher Leichtigkeit die arme Jungfrau erhöht hatte, beschloss, sie aus ihrer hohen Stellung zu reißen und sie in die frühere Bedeutungslosigkeit zurückzustoßen, ehe sie noch größeren Schaden anrichten konnte.

Um ihre Nichte in Sicherheit zu wiegen, verbarg sie jedoch bis auf weiteres ihre bösen Absichten und besuchte sie recht häufig auf Börtsholm. Dort gab sie sich alle Mühe, um zwischen dem Gesinde und der jungen Herrin Zwietracht zu säen. Aber zu ihrer großen Überraschung gelang ihr das durchaus nicht. Das mag teilweise darauf beruht haben, dass Frau Lucia trotz ihrer Jugend ihr Haus in guter Ordnung hielt, aber der eigentliche Grund war wohl der, dass Kinder und Dienstboten längst bemerkt hatten, dass die neue Herrin unter mächtigem himmlischen Schutz stand, der ihre Widersacher bestrafte und allen, die ihr bereitwillig und gut dienten, ungeahnte Vorteile bescherte.

Frau Rangela sah bald ein, dass sie auf diese Weise nichts ausrichten konnte, aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben, bevor sie auch bei Herrn Eskil einen Versuch unternommen hatte. Der verbrachte diesen Sommer jedoch vor allem am Königshof, wo ihn lange und anstrengende Verhandlungen festhielten. Wenn er ab und zu für zwei Tage nach Hause kam, befasste er sich vor allem mit seinen Vögten und Wildhütern. Den Frauen auf Börtsholm schenkte er nur eine zerstreute Aufmerksamkeit, und wenn Frau Rangela zu Besuch kam, ging er ihr aus dem Weg, und sie konnte ihn nur selten unter vier Augen sprechen.

Eines schönen Sommertages, als Herr Eskil sich auf Börtsholm aufhielt und mit seinem Stallvogt in seinem Privatgemach saß, ertönte auf der Burg jedoch so lautes Geschrei, dass er das Gespräch mit dem Vogt abbrach, um sich eilends nach dem Grund des Lärms zu erkundigen.

Und er fand seine Schwiegermutter, Frau Rangela, die vor dem Burgtor auf ihrem Pferd saß und ärger schrie als eine Horneule.

»Eure armen Kinder«, rief sie. »Sie sind in Seenot geraten. Sie kamen heute Morgen zu meinem Ufer gerudert, aber auf dem Heimweg ist ihnen das Boot voll Wasser gelaufen. Ich habe von zu Hause aus gesehen, in welcher Not sie waren, und bin hergeritten, um Euch zu warnen. Ich sage Euch auch, obwohl Eure Gattin die Tochter meines Bruders ist, dass sie schlecht beraten war, die Kinder allein mit einem so schlechten Kahn losfahren zu lassen. Das sieht wahrlich aus wie ein Stiefmutterstreich.«

Herr Eskil ließ sich kurz beschreiben, wo die Kinder sich befanden, und eilte, gefolgt vom Vogt, zu den Booten. Aber sie waren noch nicht weit gekommen, als sie Frau Lucia sahen, die mit der ganzen Kinderschar den steilen Pfad vom See nach Börtsholm hochstieg.

Die junge Herrin hatte die Kinder diesmal nicht begleitet, sondern sich zu Hause ihren Aufgaben gewidmet. Doch dann glaubte sie, eine Warnung ihrer mächtigen himmlischen Schutzpatronin zu vernehmen, und ganz plötzlich hatte sie die Burg verlassen, um nach den Kindern zu suchen. Da hatte sie gesehen, wie die Kinder winkend und rufend versuchten, vom Ufer her Hilfe zu holen. Sie war in ihrem eigenen Boot losgerudert und hatte die Kinder in letzter Minute aus dem sinkenden Fahrzeug retten können.

Als Frau Lucia und ihre Stiefkinder nun den Strandpfad hochwanderten, war Lucia so damit beschäftigt, die Kinder danach auszufragen, wie sie in diese Notlage geraten waren, dass sie Herrn Eskil gar nicht bemerkte. Aber er, dem Frau Rangelas Worte über den Stiefmutterstreich zu denken gegeben hatten, gab eilig seinem Vogt ein Zeichen und trat mit ihm hinter einen der wilden Rosensträucher, die, groß und mächtig, fast den ganzen Hang unterhalb von Börtsholm bedeckten.

Dort hörte Herr Eskil die Kinder berichten, dass sie in einem guten Boot von zu Hause losgefahren waren, aber während sie Frau Rangela besucht hatten, war dieses Boot durch ein altes, morsches ersetzt worden. Sie hatten das erst bemerkt, als sie bereits auf den See hinausgerudert waren und das Wasser von allen Seiten her ins Boot lief, und ganz sicher wären sie verloren gewesen, wenn ihre liebe Frau Mutter ihnen nicht so rasch zu Hilfe gekommen wäre.

Offenbar ahnte Frau Lucia, was es mit diesem Bootstausch auf sich hatte, denn sie blieb totenbleich und mit Tränen in den Augen mitten am steilen Hang stehen und presste die Hände aufs Herz. Die Kinder umdrängten sie, um sie zu trösten. Sie sagten, ihnen sei doch nichts passiert, aber Frau Lucia blieb hilflos und unbeweglich stehen.

Nun schoben die beiden ältesten Stiefsöhne, zwei kräftige Burschen von vierzehn und fünfzehn, ihre Hände zu einer kleinen Sänfte zusammen und trugen sie den Hang hoch, während die jüngeren lachend und händeklatschend folgten.