Weil jede Minute zählt - Petra Bunte - E-Book

Weil jede Minute zählt E-Book

Petra Bunte

5,0

Beschreibung

Was, wenn Moritz und seine Kollegen vom Rettungsdienst nicht erst viel zu spät am Unfallort eingetroffen wären, um Alex medizinisch zu versorgen? Was, wenn Sophie den Sanitäter nachher nicht noch einmal aufgesucht hätte, um sich für ihre ungerechtfertigte Attacke zu entschuldigen, nachdem sie erfahren hat, warum er nicht früher da war? Vielleicht wären sie sich nie wieder begegnet und hätten jeder für sich mit dem verunglückten Rettungseinsatz und seinen Ursachen und Folgen klarkommen müssen. Doch das Schicksal will es anders, und irgendwann lautet die Frage vielmehr: Was, wenn du dich ausgerechnet in den Mann verliebst, der dich immer wieder an die schlimmsten Minuten deines Lebens erinnert? Oder in die Frau, die gerade erst ihren Freund verloren hat? Verstrickt in ein Netz aus Schuldgefühlen und Missverständnissen kämpfen Moritz und Sophie immer stärker gegen ihre wachsenden Gefühle an. Bis es zu einem weiteren tragischen Notfall kommt …

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Petra BunteWeil jede Minute zählt

Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden. Nur die Fälle, die Moritz im Internet entdeckt und als Beispiele auf seiner Facebook-Seite anführt, sowie der von Sophie genannte Busunfall basieren auf wahren Medienberichten. Und auch die erwähnten Videos über die Rettungsgasse und zum Thema Gaffer existieren im Internet, z. B. bei YouTube.Die Handlung des Romans spielt im Jahr 2017. Seitdem hat sich bei der Verfolgung und Bestrafung von Gaffern und Blockierern einiges getan, doch leider lassen sich viele selbst von den höheren Strafen nicht abhalten.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2020 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8375-0

Petra BunteWeil jede Minute zählt

Petra Bunte wurde 1980 in Herford geboren und lebt heute mit ihrem Mann in einer Kleinstadt in Ostwestfalen-Lippe. Bereits während ihrer Schulzeit jobbte sie im Buchhandel, machte nach dem Abitur eine Ausbildung zur Buchhändlerin und ist seit neun Jahren stellvertretende Filialleitung einer Buchhandlung im niedersächsischen Hameln.Auch privat hat sich in ihrem Leben immer alles um Bücher gedreht, und schon im Jugendalter war es neben dem Lesen ihr größtes Hobby, sich eigene Geschichten auszudenken und auf Papier zu bringen.Aufgrund der gehäuften Meldungen über Gaffer und blockierte Rettungsgassen kam ihr 2017 die Idee zu „Weil jede Minute zählt“. Es ist ihr erster vollständiger Roman, der jedoch nicht der letzte bleiben soll.

5

Sophie

„Ach nee, nicht schon wieder!“, stöhnte Alex neben mir auf. Er schaltete mit einem frustrierten Seufzer einen Gang runter, lenkte so weit wie möglich rüber an den Fahrbahnrand und rollte langsam auf das Stauende zu. Vor uns nichts als Bremslichter, so weit das Auge reichte. Und das jetzt schon zum dritten Mal, seit wir in Hamburg losgefahren waren.

„Jede Wette, dass da wieder nichts ist und nur so ein blöder Lückenspringer alle zum Bremsen gezwungen hat“, grummelte mein bester Freund weiter vor sich hin. Seine Laune hatte mittlerweile den Tiefpunkt erreicht, und das wollte bei Alex etwas heißen, denn er war einer der geduldigsten Menschen, die ich kannte. Aber er hatte vollkommen recht, es war einfach nur nervig. Egal, wie schön die Stunden in Hamburg gewesen waren – auch ich wollte jetzt einfach nur nach Hause, schließlich musste ich morgen früh um halb zehn wieder einigermaßen fit im Laden stehen, um mich freundlich lächelnd mit den manchmal seltsamen Bücher-Wünschen meiner Kunden auseinanderzusetzen. Doch laut Navi lagen zwischen mir und meinem Bett noch ganze 83 Kilometer. Von der Zeit ganz zu schweigen, wenn es mit diesem elenden Stop-and-go so weiterging.

„Das schaffen wir jetzt auch noch“, versuchte ich Alex und irgendwie auch mich selbst zu trösten. „Wenn du recht hast, müsste es dann ja schnell wieder weitergehen. Immerhin besser als eine Vollsperrung, oder?“

„Hmhmm“, murmelte er und fuhr langsam wieder an, nur um im nächsten Moment schon wieder stehen zu bleiben. Geräuschvoll stieß er die Luft aus, verschränkte die Arme über dem Lenkrad und starrte grimmig durch die Windschutzscheibe auf die Blechlawine vor uns. „Wer hatte eigentlich die bescheuerte Idee, ausgerechnet an diesem Sonntag nach Hamburg zu fahren? War doch eigentlich klar, dass auf der Autobahn die Hölle los ist, wo alle aus dem langen Himmelfahrtswochenende zurückkommen.“

Oh, oh! Ich hatte schon die ganze Zeit darauf gewartet, dass so etwas kommen würde. Oder besser gesagt, ich hatte es befürchtet, denn der eigentliche Grund für seine miese Laune lag nicht am stockenden Verkehr, sondern in der Antwort auf genau diese Frage.

Ich presste die Lippen aufeinander und zog es vor zu schweigen. Wir wussten beide, dass es seine Idee gewesen war, und zwar mit einer ganz bestimmten Absicht. Eigentlich hätte dieses Wochenende nämlich ganz anders laufen sollen, und zwar so, dass seine Freundin Isabelle genau hier und jetzt auf diesem Beifahrersitz sitzen würde und nicht ich. Dass die beiden sich einen schönen Tag in Hamburg gemacht hätten, inklusive dem Musical-Besuch, den Alex ihr zum 25. Geburtstag schenken wollte. Deshalb genau dieser Sonntag, auch wenn es das lange Himmelfahrtswochenende war. Doch dann war alles anders gekommen, als Alex vor vier Wochen feststellen musste, dass sich seine große Liebe bevorzugt auf andere Weise beschenken ließ – und zwar nicht von ihm. Im ersten Moment wollte er die Tickets in tausend Fetzen zerreißen, doch nachdem ich es geschafft hatte, ihn einigermaßen aus seinem Liebeskummer-Elend herauszuholen, hatte er trotzig beschlossen, stattdessen mit mir nach Hamburg zu fahren, weil er wusste, dass ich Musicals mindestens so sehr liebte wie seine mittlerweile Ex-Freundin. Und wahrscheinlich auch, um Isabelle eins auszuwischen.

Ich betrachtete Alex nachdenklich von der Seite und fragte mich zum bestimmt hundertsten Mal, ob das wirklich so eine gute Idee gewesen war. Das Musical war toll gewesen, gar keine Frage, und wir hatten auch sonst viel Spaß miteinander gehabt, seit wir heute Morgen um fünf losgefahren waren und in Hamburg angekommen als Erstes den Fischmarkt unsicher gemacht hatten. Aber immer wieder waren da diese Momente, in denen ich spürte, dass seine Gedanken zu ihr wanderten und der Schmerz zurückkam. So wie jetzt gerade.

Dieses blöde Miststück! Alex war so ein lieber Kerl, und was tat sie? Machte seit Monaten hinter seinem Rücken mit einem anderen rum und erklärte das damit, dass ihr Alex einfach zu brav wäre. Toll! Statt froh zu sein, dass sie jemanden hatte, der sie über alles liebte und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas, schmiss sie sich lieber einem Typen an den Hals, der ja angeblich so viel aufregender war. Irgendwie war mir das zu hoch. Wenn man auf Abenteuer stand, dann merkte man doch nicht erst nach über zwei Jahren, dass Alex dafür nicht der Richtige war, oder?

Ich jedenfalls hätte ihn mit Kusshand genommen. Hätte – Konjunktiv. Denn irgendeine höhere Macht hatte einen anderen Plan für uns, der besagte, dass wir wie Geschwister aufwachsen und uns bitte schön auch entsprechend fühlen sollten. Wir waren zwei Einzelkinder, die der Zufall oder das Schicksal oder was auch immer im Alter von vier bzw. fünf Jahren in dieselbe Straße einer Neubausiedlung gespült hatte. Seitdem hatten wir mehr oder weniger unser komplettes Leben miteinander verbracht. Alex war der große Bruder, den ich nie hatte, ich seine kleine Schwester. Und selbst in den Wirren der Pubertät hatte sich daran nichts geändert – abgesehen von einem einzigen Kuss, als wir zwölf waren, doch den konnte man wohl eher als wissenschaftliches Experiment einordnen, weil wir einfach mal wissen wollten, wie sich das so anfühlte. Aber der große Funke blieb aus und kam auch später nicht mehr. Natürlich war ich trotzdem eifersüchtig, als Alex seine erste Freundin hatte, und andersrum ging es ihm ziemlich offensichtlich genauso. Aber auf einer anderen Ebene halt. Wir waren und blieben Kumpel und Kumpeline, mit allen Höhen und Tiefen und Streit und Versöhnung und Bei­nahe-aus-den-Augen-verlieren, als Alex zum Studieren wegging und ich ein Jahr später mit der Ausbildung anfing. Aber zum Glück eben nur beinahe, denn wieder war es eine höhere Macht, die uns letztendlich 70 Kilometer von unserer Heimat entfernt noch einmal in derselben Stadt landen ließ. Egal, was passierte, wir waren füreinander da und wussten, dass wir uns aufeinander verlassen konnten. Wer brauchte da schon Liebe? Das ging doch am Ende eh immer nur schief, während dieser eine nur für uns bestimmte Deckel zur selben Zeit vielleicht am ganz anderen Ende der Welt herumirrte und nach seinem Topf suchte.

Ich verscheuchte die trüben Gedanken schnell und atmete tief durch, bevor es noch schlimmer wurde mit dem Selbstmitleid. Wir waren doch gerade erst 26 bzw. 27. Der Richtige würde schon irgendwann kommen, und die richtige Frau für Alex auch. So lange machten wir zwei Singles halt zusammen das Beste aus unserem Leben. Und sei es am späten Abend auf der Autobahn im Stau.

Alex schaute tief in Gedanken versunken durch die Frontscheibe nach draußen, als wären die Rücklichter vor uns das Faszinierendste, was er je gesehen hatte. Aber es war ja auch total spannend: Mal gingen die Bremslichter aus, dann wieder an, während wir in Schrittgeschwindigkeit Meter für Meter vorwärtskrochen.

Ich musste lächeln, streckte den Arm aus und knuffte Alex aufmunternd in die Seite. „Hey. Ist es schön da, wo du gerade bist? Gib’s zu, du lässt dir das Musical noch mal durch den Kopf gehen und singst im Stillen Udo-Jürgens-Lieder“, neckte ich ihn.

„Um Gottes willen!“

„Ich war noch niemals in New York“, trällerte ich und grinste ihn herausfordernd an.

Mir war von Anfang an klar gewesen, dass er sich nur aus Liebe zu Isabelle auf genau dieses Musical eingelassen hatte, aber ein kleines Teufelchen in mir konnte es sich einfach nicht verkneifen, ihn ein bisschen damit aufzuziehen. Nicht wegen Bella, sondern weil er vorher so viel gejammert hatte, warum er sich das eigentlich antat, und es ihm in Wirklichkeit dann doch gefallen hatte. Ich hatte es genau gesehen.

„Sophie!“, bettelte er gequält. „Hör auf damit! Den Ohrwurm werde ich nie wieder los.“

„Okay“, lenkte ich ein und verstummte. Zumindest für ein paar Sekunden, dann sagte ich: „Wenn das hier noch lange dauert, müssen wir, glaub ich, unterwegs mal was zu essen organisieren. Mir ist gerade total nach was Süßem. Kuchen oder so.“

Ich machte eine kunstvolle Pause, in der ich mir das Grinsen einfach nicht verkneifen konnte. Alex hatte es gesehen und hob drohend den Zeigefinger. „Tu’s nicht!“

Gleichzeitig lachen und singen war echt schwer, aber irgendwie brachte ich kichernd ein „Aber bitte mit Sahne“ heraus.

Alex schüttelte geschlagen den Kopf. „Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du eine Nervensäge bist?“

„Ja, du. Zu unseren besten Zeiten so ungefähr zehn Mal am Tag. Aber du liebst mich trotzdem und wirst es immer noch tun, wenn du schon alt und grau bist.“

Ich schaute ihn so treuherzig an, dass auch Alex endlich lachen musste. „Da sei dir mal lieber nicht so sicher“, meinte er schmunzelnd.

„Oh doch! Und übrigens gab es Zeiten, in denen du darum gebettelt hast, dass ich dir was vorsinge.“

„Ja, klar“, konterte er amüsiert. „Alle meine Entchen und so was, als wir im Kindergarten waren.“

Ich grinste ihn vergnügt an.

Alex seufzte ergeben. „Okay, Deal: Sing so viel du willst, aber nicht Udo Jürgens, einverstanden?“

„Okay.“

Das war mein Alex – immer bereit für einen Kompromiss, bei dem alle zu ihrem Recht und einem Stück vom Glück kamen. Zufrieden lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und ließ meinen Blick aus dem Seitenfenster schweifen, während sich in mir die Teufelchen zur Beratung zusammenrotteten. Einmal musste ich ihn noch ärgern, dann würde ich wieder Ruhe geben, versprochen!

„Nun lass es schon raus!“, sagte Alex, der mich natürlich viel zu gut kannte und längst durchschaut hatte, dass ich wieder etwas ausbrütete.

Ich machte ein unschuldiges Gesicht. „Was denn?“

„Das Lied. Ich kann dein ‚Alle meine Entchen‘ doch schon hören, bevor du überhaupt den Mund aufmachst.“

Mist! Er kannte mich wirklich definitiv zu gut.

„Spielverderber!“

Jetzt war er es, der mich angrinste und die Rücklichter vor uns dabei einen Moment zu lange aus den Augen ließ, denn plötzlich hupte es hinter uns. In diesem einen Augenblick hatte sich die Schlange vor uns natürlich wieder in Bewegung gesetzt und rollte erstaunlicherweise sogar zügig voran. Alex gab dem Fahrer hinter uns ein versöhnliches Handzeichen und beeilte sich, den Anschluss zu kriegen.

Einen Grund für den Stau konnten wir, wie von ihm prophezeit, nicht mehr erkennen, aber Hauptsache, es ging endlich weiter. Auch das Navi erwachte zum Leben und kündigte uns eine neue Ankunftszeit für 23:18 Uhr an. Knapp zwei Stunden später, als ursprünglich geplant. Na toll! Ich hätte doch mit einer meiner Spätschicht-­Kolleginnen tauschen sollen, um etwas mehr Schlaf zu bekommen. Aber nun war es zu spät.

Den Rest der Strecke kamen wir zum Glück ohne Stau durch. In einer Baustelle wurde es noch einmal etwas eng, aber gleich dahinter konnte Alex wieder Gas geben. Zwei Abfahrten weiter, dann hatten wir es endlich geschafft. Ich selbst hasste Autobahnfahrten und wäre alleine definitiv mit dem Zug nach Hamburg gefahren. Aber so hatte ich ja Alex, und der war so ein guter und umsichtiger Fahrer, dass ich mich bei ihm wahrscheinlich selbst bei Tempo 200 noch wohlgefühlt hätte. Wo er aber nie hinkam. Braver Junge halt.

Ich dehnte und streckte meinen verspannten Nacken und schaute hinaus in die Nacht. Der Lkw-Verkehr hatte jetzt am späten Sonntagabend wieder deutlich zugenommen und reihte sich auf der rechten Spur teilweise viel zu eng aneinander, während wir fast nur auf der Mittelspur unterwegs waren und den Rasern die ganz linke Fahrbahn überließen. In Gedanken war ich schon zu Hause in meiner kleinen Dachgeschosswohnung und überlegte, ob ich gleich vorm Schlafengehen tatsächlich noch etwas essen sollte oder nicht. Da sah ich aus dem Augenwinkel plötzlich das Blinklicht an dem Lkw halbrechts vor uns, und im nächsten Moment nicht nur das Blinklicht, sondern das ganze große Ungetüm, das dabei war, von der rechten auf die mittlere Spur rüberzuziehen, um einen anderen Lastwagen zu überholen. Genau dahin, wo wir gerade waren, denn der Fahrer hatte uns anscheinend nicht gesehen.

„Pass auf!“, rief ich Alex zu, doch der hatte es auch schon bemerkt und suchte fluchend nach einem Ausweg. Es gab allerdings keinen. Seitlich vor uns der Lkw, hinter uns und links neben uns überall Autos. Sein Blick flackerte hektisch hin und her, und ich bekam es mit der Angst zu tun. Doch zum Nachdenken blieb keine Zeit mehr. Alex drückte auf die Hupe, um den Lkw-Fahrer auf uns aufmerksam zu machen, aber es war zu spät. Bis der sein Monstrum auf die rechte Spur zurück­gelenkt hätte, wären wir längst in ihn hineingekracht. Das war auch Alex bewusst, der gleichzeitig voll in die Bremse trat. Eine letzte, winzige Chance, einem Zusammenstoß zu entgehen. Aber was ihm vorne glückte, musste hinten noch längst nicht funktionieren. Es gab einen mächtigen Ruck, der uns ins Schleudern brachte, dann einen Stoß von der Seite und schließlich knallten wir schräg in das Heck des Lkw. Plötzlich waren da nur noch Metall, das über Metall knirschte, quietschende Bremsen, splitterndes Glas und eine ohren­betäubende Stille in dem Moment, als Alex’ Golf zum Stehen kam.

Für einen kurzen Augenblick war ich benommen. Als ich wieder zu mir kam, waren direkt vor meiner Nase der Airbag, der schon wieder zischend in sich zusammenfiel, und eine vollkommen demolierte Windschutzscheibe, die aussah, als würde sie jeden Moment in tausend Teile auseinanderbrechen.

„Alex?“, flüsterte ich ängstlich.

Eine Antwort bekam ich nicht. Langsam richtete ich mich auf und drehte den Kopf, um nach meinem Freund zu schauen. Er hatte die Augen geschlossen und sah aus, als würde er bloß von seinem Gurt aufrecht gehalten. Der Kopf hing ihm runter auf die Brust und überall war Blut. So viel Blut.

„Alex?!“, rief ich hysterisch und rüttelte ihn vorsichtig am Arm. „Alex, sag was! Bist du okay?“

Natürlich war er das nicht. Aber ein winzig kleines Lebenszeichen hätte mir schon gereicht. Verzweifelt streckte ich die Hand aus und wollte an seinem Hals nach dem Puls fühlen. Doch meine Finger zitterten so sehr, dass ich es einfach nicht schaffte.

„Alex, was ist mit dir?“, stieß ich mit brüchiger Stimme hervor und überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Aus einer fernen Erinnerung wirbelten Begriffe wie stabile Seitenlage, Druckverband und Wiederbelebung durch meinen Kopf, nur wie ging das noch mal und wie sollte ich das überhaupt anstellen, solange Alex da so in seinem Gurt hing? War denn da niemand, der uns helfen konnte?

Ich guckte nach vorne, doch durch das Spinnennetz, das einmal eine Windschutzscheibe gewesen war, war kaum etwas zu erkennen. Das Seitenfenster auf der Fahrerseite existierte quasi nicht mehr und wurde zur Hälfte von der Plane des Lastwagens verdeckt. Nur auf meiner Seite war die Sicht frei und ich sah in einigem Abstand einen weiteren Lkw und Menschen danebenstehen. Mit bebenden Fingern schnallte ich mich ab und versuchte die Tür zu öffnen. Sie klemmte, aber zumindest einen Spaltbreit bekam ich sie auf und rief um Hilfe. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, dann kamen zwei Männer, zerrten an der Tür, bis sie sie weit genug offen hatten, und fragten, wie es mir ging und ob ich Schmerzen hatte.

Schmerzen? Ich? Nein. Sie sollten sich um Alex kümmern!

Einer der beiden bat mich vorsichtig auszusteigen und beugte sich dann über den Beifahrersitz hinweg, um den Zündschlüssel abzuziehen und nach meinem Freund zu sehen. Ich lehnte mich mit weichen Knien ans Auto und schloss die Augen.

Bitte, bitte, bitte, er darf nicht tot sein! Helft ihm doch, bitte!

„Wir kriegen ihn da so nicht raus“, hörte ich den Mann sagen. „Aber die Rettungskräfte sind unterwegs und müssten jeden Moment hier sein.“ Er tauchte wieder aus dem Wageninneren auf, hielt kurz inne und betrachtete irgendetwas ein Stück neben meinem rechten Auge. „Sind Sie wirklich okay?“

„Ja“, krächzte ich heiser und wollte mich an ihm vorbeidrängen, um wieder zu Alex zu kommen.

Der Mann wirkte etwas unentschlossen, warf einen Blick in die Runde und sagte dann: „Ihr Mann oder Freund hat eine ziemlich große Wunde am linken Oberschenkel. Schaffen Sie es, ihm die zuzudrücken, bis die Sanitäter da sind? Dann kann ich noch schnell nach den verletzten Kindern da drüben gucken.“

Er wies mit dem Kopf irgendwo schräg hinter mich, wohin der andere anscheinend auch schon wieder verschwunden war. Ich nickte schwach und folgte seinem Blick, ohne jedoch etwas von dem wahrzunehmen, was ich sah. Heile Autos, kaputte Autos, Lastwagen, Menschen, die herumliefen, Menschen, die herumstanden – alles verschwamm zu einer undefinierbaren Masse, denn jede einzelne meiner Gehirnzellen war auf Alex konzen­triert. Also stieg ich wieder in den Wagen, zog auf Ansage dieses Mannes mein Halstuch runter und drückte Alex damit die blutende Wunde zu.

„Halt durch!“, flüsterte ich weinend. „Bitte, bitte, halt durch, Alex! Es wird alles wieder gut.“

Und dann begannen die längsten Minuten meines Lebens. Die Rettungskräfte müssten jeden Moment hier sein, hatte der Mann gesagt. Aber sie kamen nicht. Ich konnte sie hören. Das Martinshorn unzähliger Wagen hallte durch die Nacht. Trotzdem tauchte niemand bei uns auf. Ich hörte draußen jemanden fluchen und verstand so etwas wie: „Wo bleiben die denn?“, und: „Nun steht nicht so blöd da rum, sondern tut was!“

Ich drehte mich etwas mühsam in meinem Sitz um, um nach hinten aus dem Fenster zu gucken, ohne den Druck auf Alex’ Oberschenkel zu verringern. In der Ferne konnte ich das Blaulicht sehen und atmete erleichtert auf. Gleich würden sie endlich hier sein und Alex helfen!

Doch eine weitere quälende Ewigkeit verging, in der nichts passierte. Wieder drehte ich mich um und sah, dass das Blaulicht kein Stück weiter vorwärtsgekommen war. Was war denn da los? Hier war der Unfall, verdammt, nicht da hinten!

Verzweifelt wandte ich mich wieder Alex zu, der immer noch keinerlei Lebenszeichen von sich gegeben hatte, und beschwor ihn weiter in einem nicht enden wollenden Mantra, dass er durchhalten sollte.

Moritz

Es war eine dieser trügerisch ruhigen Nachtschichten in der Rettungswache, bei der nach dem routinemäßigen Fahrzeugcheck erst mal lange Zeit gar nichts passierte. Die Kollegen von der Tagschicht hatten kurz vor Dienst­ende eine 80-jährige Frau mit Kreislaufproblemen in die Klinik gebracht, aber sonst hatten auch sie nicht sonderlich viel zu tun gehabt.

„Das ist bestimmt nur die Ruhe vor dem Sturm“, unkte mein Kollege Chris, als wir uns gegen neun eine Pizza vom Lieferdienst kommen ließen. Und nicht nur, dass wir diese sogar selbst entgegennehmen konnten. Nein, wir konnten sie ausnahmsweise sogar auch ohne Unterbrechung essen. Doch letztendlich sollte Chris natürlich wie so oft mit seiner Prophezeiung recht behalten. Allerdings hatte selbst er nicht kommen sehen, in was für einen Sturm wir in dieser Nacht geraten würden.

Der Alarm ging um 22:56 Uhr los, und zwar das volle Programm für beide Rettungswagen und auch die Kollegen von der Feuerwehr. In Windeseile schlüpfte ich in meine Jacke und Sicherheitsschuhe, sprang zu Chris in den Rettungswagen und nahm per Funk von der Leitstelle die Informationen zum Einsatz entgegen: Schwerer Verkehrsunfall auf der Autobahn zwischen den Anschlussstellen Nordstadt und Zentrum bei Kilometer 264, drei beteiligte Pkw, ein Lkw, mehrere Leicht- und Schwerverletzte, genaue Anzahl unklar. Darunter eine eingeklemmte Person, zwei Kinder. Der Notarzt und weitere RTW aus der Südstadt waren zur Unterstützung unterwegs.

Ich bestätigte die Meldung, atmete tief durch und wappnete mich innerlich gegen das, was da vor uns lag. Inklusive Zivildienstzeit und Ausbildung war ich jetzt seit fast elf Jahren im Rettungsdienst unterwegs und hatte schon so manches gesehen, aber wirklich Routine war es deshalb noch lange nicht. Besonders wenn Kinder betroffen waren. Ich sah, wie Chris mit dem Kiefer mahlte und wusste, dass es ihm genauso ging. Hoch konzentriert raste er mit Blaulicht und Martinshorn Richtung Autobahn, um uns so schnell wie möglich zum Unfallort zu bringen.

Im Rückspiegel sah ich, dass die Polizei an der Abfahrt Nordstadt schon dicht gemacht hatte und den Verkehr über die Bundesstraße umleitete. Aber wer weiß, wie lang der Stau dort vorne schon war, immerhin war gerade das lange Himmelfahrtswochenende vorbei und so manch einer auf dem Rückweg aus dem Kurzurlaub. Vor uns fuhren der Bulli der Einsatzleitung und einer der großen Feuerwehrwagen. Am Stauende angekommen wurden sie langsamer und schlängelten sich teilweise in Millimeterarbeit durch die Rettungsgasse.

„Siehst du schon was?“, fragte Chris, als wir für einen Moment zum Stillstand kamen.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und reckte den Hals, um neben uns zwischen zwei Autos hindurch einen Blick auf das Schild mit der Kilometerangabe werfen zu können. „Es sind auch noch drei Kilometer. Die Leitstelle hat den Unfall bei 264 gemeldet, und wir sind gerade erst bei 261.“

„Na toll.“ Mein Kollege zog ärgerlich die Stirn in Falten, und ich wusste genau, was er dachte. Wahrscheinlich hatte irgendein Idiot mal wieder nicht kapiert, wie das mit der Rettungsgasse ging, damit wir mit unseren Fahrzeugen durchkamen. Doch bevor einer von uns etwas sagen konnte, ging es schon weiter und wir atmeten erleichtert auf. Bei solchen Einsätzen zählte jede einzelne Minute, und je schneller wir am Ort des Geschehens waren, umso bessere Chancen hatten die Verletzten.

Ein Stück weit ging es relativ flott voran, dann bremsten die Kollegen von der Feuerwehr erneut.

„Na, das läuft ja heute“, murmelte Chris und trommelte mit den Daumen ungeduldig auf dem Lenkrad herum.

Wir warteten, doch nichts passierte. Chris griff zum Funkgerät und rief die Leitstelle.

„Leitstelle hört.“

„Fragt doch bitte mal die Kollegen von der Feuerwehr, was bei denen da vorne los ist?“, verlangte er. „Wieso geht es nicht weiter?“

„Leitstelle an alle: Die Rettungsgasse ist dicht bzw. nicht existent. Es müssen erst ein paar Fahrzeuge umrangiert werden“, hörten wir die Antwort über Funk und wechselten einen ungläubigen Blick. Das war anscheinend nicht nur ein Vollpfosten, der es nicht kapiert hatte, sondern gleich mehrere. Hauptsache, das ging nicht den Rest der Strecke so weiter.

„Wo haben die eigentlich ihren Führerschein gemacht?“, knurrte Chris.

Ich schenkte mir eine Antwort darauf und sah auf die Uhr: 23:12 Uhr. Schon 16 Minuten seit der Alarmierung und wer weiß wie viele seit dem Unfall. Scheiße!

„Vielleicht sollte ich mir die Ausrüstung schnappen und schon mal zu Fuß losgehen“, bemerkte ich, als sich in den nächsten fünf Minuten immer noch nichts tat. Und das war kein Sarkasmus, sondern mein bitterer Ernst. Da waren Menschen, die unsere Hilfe brauchten, und wir saßen hier und drehten Däumchen. Das konnte es doch echt nicht sein.

Chris schnaubte humorlos. „Gute Idee. Ist ja auch nur ein Kilometer oder so. Und ich fürchte, so viel kannst du gar nicht tragen, wie du bei der Meldung da vorne brauchen wirst.“

Zähneknirschend musste ich ihm recht geben und seufzte resigniert, als ich im Funk hörte, wie die Leitstelle versuchte, die Kollegen der anderen Rettungswagen über die Gegenrichtung umzuleiten. Leider vergeblich, denn sie waren schnell gewesen und standen längst hinter uns im Stau.

Dann tat sich endlich was und der Feuerwehrwagen vor uns setzte sich in Bewegung. Langsam rollten wir hinter ihm her nach halbrechts rüber auf die Standspur. Die Kollegen von der Feuerwehr hatten offensichtlich alles gegeben, um verschiedenste Fahrzeuge so umzudirigieren bzw. über die Standspur am Unfall vorbei wegzulotsen, dass hier ein Weg frei wurde und wir endlich an den Einsatzort ranfahren konnten. Zwei der Feuerwehrmänner standen immer noch am Straßenrand und blockierten den folgenden Verkehr, als hätten sie Angst, dass jemand auf die Idee kommen könnte, unsere neu geschaffene Rettungsgasse für das eigene Weiterkommen zu nutzen und damit wieder alles dicht zu machen.

Ich streckte ihnen durch das Fenster den hochgereckten Daumen entgegen und konzentrierte mich wieder auf das, was vor uns lag. Und das war ein ziemlicher Trümmerhaufen aus drei beschädigten Autos, von denen eins unter dem Heck eines Lkw klemmte. Ringsherum stand eine ordentliche Menge an Schaulustigen, und ich hätte wetten können, dass irgendwo zwischen ihnen garantiert wieder mindestens einer war, der sein Smartphone gezückt hatte und die Szene fotografierte oder filmte. Es war zum Kotzen! Genau wie die Uhrzeit, zu der ich der Leitstelle unser Eintreffen am Einsatzort meldete: 23:21 Uhr.

Als hätten wir auch nur den Hauch einer Chance, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, sprangen Chris und ich aus dem Rettungswagen, schnappten uns in Rekordzeit unsere Notfallausrüstung, streiften uns ein Paar Handschuhe über und machten uns an die Arbeit. Mit geschultem Auge verschaffte ich mir einen Überblick über den Unfallort und sah, dass die Jungs von der Feuerwehr schon ihr Werkzeug auspackten, um damit den Wagen zu befreien, der unter dem Heck eines Lkw eingeklemmt war. Auf dem Beifahrersitz saß eine junge Frau, die hysterisch schrie und eine blutende Kopfwunde hatte. Ein Stück dahinter stand ein Wagen mit eingedrückter Front, der dem verunglückten Golf offensichtlich hinten draufgefahren war und ihn damit ins Schleudern gebracht hatte, und dessen Fahrer abgesehen von einem Schock auf den ersten Blick unverletzt zu sein schien. Auf der linken Spur kümmerten sich zwei Ersthelfer um eine Familie, die anscheinend auch mit nur leichten Verletzungen davongekommen war.

Da wir jetzt mehr oder weniger alle gleichzeitig eingetroffen waren, stand der Einsatzleiter der Feuerwehr wie ein Dirigent mitten im Geschehen und schickte Chris und mich zusammen mit dem Notarztteam zu dem eingeklemmten Wagen. Für den Fahrer konnten wir nicht viel tun, solange die Feuerwehrleute ihn nicht befreit hatten, aber zumindest die hysterische Beifahrerin musste schon mal dringend versorgt werden. Die Platzwunde am Kopf war auf den ersten Blick nicht gerade klein und musste vielleicht sogar genäht werden.

Ich war der Erste, der bei ihr war und sie fragte, ob sie alleine aussteigen konnte oder Schmerzen hatte. Sie schüttelte jedoch nur wild den Kopf mit den zerzausten und blutverkrusteten dunklen Locken und erklärte ganz eindeutig unter Schock stehend, dass sie auf keinen Fall hier wegkonnte und dem jungen Mann, der offensichtlich Alex hieß, die Wunde zudrücken musste.

„Mein Kollege übernimmt das für Sie“, redete ich ihr gut zu, während Jan, der Kollege aus dem Notarztwagen, hinter ihr auf den Rücksitz krabbelte und versuchte, von dort schon einmal an den Fahrer heranzukommen. „Sie haben das bis hierhin ganz großartig gemacht, aber jetzt müssen Sie erst mal ein bisschen Platz für den Notarzt machen, weil wir von der anderen Seite im Moment noch nicht rankommen. Es wird nichts passieren, wenn Sie Ihren Freund für einen ganz kurzen Moment loslassen, okay?“

Ich schaute über sie hinweg zu dem jungen Mann auf dem Fahrersitz und hoffte inständig, dass wir überhaupt noch irgendetwas für ihn tun konnten. Es hatte ihn schon äußerlich ziemlich erwischt, da wollte ich über mögliche innere Verletzungen lieber gar nicht erst nachdenken. Doch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und konzentrierte mich wieder auf die Frau. Sie nickte schwach, rührte sich jedoch keinen Millimeter von der Stelle.

„Kommen Sie! Ich helfe Ihnen raus. Und Ihre Verletzung gucke ich mir dann auch gleich mal an.“

„Ich bin okay“, widersprach sie energisch. „Alex braucht Hilfe, ich nicht!“

Anscheinend steckte sie so voller Adrenalin, dass sie tatsächlich nichts spürte und ihre Kopfverletzung in der Stresssituation noch gar nicht bemerkt hatte.

„Kommen Sie“, wiederholte ich sanft und streckte ihr die Hand hin. Sie ignorierte sie allerdings und überraschte mich damit, dass sie urplötzlich das blutdurchtränkte Tuch am Oberschenkel des verletzten Fahrers losließ und schneller als gedacht aus dem Wagen stieg, als hinge auch ihr eigenes Leben davon ab, wenn nicht sofort jemand anders den Druck auf die Wunde übernehmen konnte. Wie erwartet geriet sie dabei ins Trudeln, und ich fing sie mit den Armen auf. Sie hatte selbst sicher schon einiges an Blut verloren, und durch die plötzliche Bewegung machte jetzt ihr Kreislauf schlapp.

„Langsam“, ermahnte ich sie und half ihr, sich auf die Trage zu setzen, die Chris in der Zwischenzeit herangeholt hatte. Der Notarzt erfasste mit einem schnellen Blick die Situation, gab uns ein Zeichen, dass er in ihrem Fall nicht erforderlich war, und wandte sich mit Jan zusammen dem wesentlich schwerer verletzten Fahrer zu.

„Wir werden jetzt Ihren Blutdruck messen und Ihre Wunde versorgen“, erklärte ich währenddessen der jungen Frau vor mir. „Und wir werden Ihnen vorsichtshalber eine Halskrause umlegen. Haben Sie Kopf- oder Nackenschmerzen?“

So entschieden, wie sie den Kopf schüttelte, wohl nicht. Trotzdem konnte man ein Schleudertrauma bei solch einem Unfall nicht ausschließen, also legte ich ihr die Manschette um und sagte: „Wenn Ihnen irgendetwas wehtut oder Sie sich nicht gut fühlen, sagen Sie sofort Bescheid, okay?“

Sie nickte stumm und wollte sich auf dem Weg zum Rettungswagen immer wieder umdrehen, um einen Blick auf das Auto zu erhaschen, aus dem sie gerade ausgestiegen war. Doch das war mit der Halskrause nicht so einfach. Und es war auch sicher besser so, denn mir war klar, dass die Rettungsmaßnahmen an ihrem Freund massiv sein und sie nur noch mehr traumatisieren würden. Ganz zu schweigen von der Alternative.

Nachdem wir die junge Frau in unser Einsatzfahrzeug verfrachtet hatten, bat ich sie mit ruhiger Stimme, mich anzuschauen und fing an, die Wunde an ihrem Kopf zu desinfizieren und zu verbinden. Chris maß währenddessen den Blutdruck, der den Umständen entsprechend okay war. Trotzdem würden wir sie ins Krankenhaus bringen, weil sie mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit an der Schläfe genäht werden musste. Und zur Kontrolle, denn meist waren diejenigen Verletzungen die schlimmsten, die man nicht auf Anhieb sehen konnte.

„Nein!“, protestierte sie plötzlich wieder ziemlich kraftvoll. „Ich geh hier nicht weg! Ich will bei Alex bleiben!“

„Unsere Kollegen kümmern sich um ihn“, erklärte Chris, während ich mühsam versuchte, diesem Energiebündel den Verband am Kopf zu befestigen. „Sie werden ihn aus dem Auto befreien und dann auch ins Krankenhaus bringen.“

„Was ist mit ihm? Er ist doch okay, oder?“ Ihr Blick irrte wild zwischen uns hin und her, und ich versuchte wie so oft diese Angst und Verzweiflung nicht an mich herankommen zu lassen. In Momenten wie diesem war es manchmal wirklich schwer, aber wenn man sich nicht von diesem Job zerstören lassen wollte, musste man einfach eine gewisse Schutzmauer um sich herum errichten.

„Sie tun alles, was sie können, um ihm zu helfen“, versuchte ich sie sanft zu beruhigen. Für uns war das immer noch Routine, denn wir kannten wirklich unzählige Varianten, wie Patienten, Unfallopfer oder Angehörige in so einer Stresssituation reagierten und ihre Angst oder Hilflosigkeit auch gerne mal an uns ausließen. Aber das, was als Nächstes kam, war anders.

Die junge Frau riss den Kopf hoch und funkelte mich wütend an. „Und wenn es zu spät ist?!“, schrie sie mich plötzlich an. „Wir haben da schon eine Ewigkeit gesessen und gewartet! Wo wart ihr, verdammt?! Warum wart ihr nicht schneller hier?! Warum?!“ Sie hob die Hände, die sie zu Fäusten geballt hatte, und fing an, damit auf meinen Brustkorb einzuhämmern. Immer und immer wieder. Jeder Einschlag ein anklagendes Warum. Warum, warum, warum …

Die Frage an sich war nicht neu, denn wenn man in einer Notsituation auf Hilfe wartete, kamen jedem von uns Minuten wie Stunden vor, sodass wir als Rettungskräfte in der Regel einfach darüber hinwegsahen. Doch hier und jetzt war ich so schockiert von ihrem Angriff, dass ich im ersten Moment gar nicht reagierte. Dann versuchte ich ihre Handgelenke einzufangen und presste meine aufgebrachte Patientin in wahrscheinlich ziemlich unprofessioneller Art und Weise an mich, um die Attacke zu beenden. Kraftlos sackte sie an meiner Brust zusammen und brach in ein haltloses Schluchzen aus.

Chris stand genauso perplex wie ich daneben und wusste anscheinend auch nicht, was wir als Nächstes tun sollten. Normalerweise hätten wir sie jetzt einfach auf der Trage festgeschnallt und ins nächste Krankenhaus gefahren. Aber das hier war nicht normal. Sie hatte so recht mit ihren Anschuldigungen, und das schockierte mich am meisten, auch wenn wir überhaupt nichts dafür konnten. Schon auf den ersten Blick war klar gewesen, dass jede einzelne Minute, in der wir untätig im Stau festgesessen hatten, eine Minute zu viel gewesen war. Jede Minute eine Minute, die über Leben und Tod entscheiden konnte. Jede Minute eine Minute, in der es weniger Hoffnung gab. Jede Minute eine Minute, die alles zerstörte.

Ich blickte über ihren Kopf hinweg aus dem kleinen Seitenfenster raus zum Unfallort, sah, wie der Notarzt mit einem vernichtenden Kopfschütteln wieder aus dem zerstörten Wagen auftauchte, und spürte, wie es in mir anfing zu brodeln. Am liebsten hätte ich auch gerade um mich geschlagen und auf den- oder diejenigen eingeprügelt, die uns den Weg versperrt hatten. Doch ich versuchte mich mühsam zu beherrschen. Ich hatte hier einen Job zu erledigen! Da war diese aufgelöste junge Frau mit ihrer Platz­wunde und hoffentlich nichts Schlimmerem, die meine Hilfe brauchte und keinen Rettungsassistenten, der sich als Racheengel aufspielte.

Ich atmete tief durch und konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit. Das heftige Schluchzen an meiner Brust war inzwischen verebbt und zu einem leisen Schniefen geworden, sodass ich das Häufchen Elend in meinen Armen vorsichtig von mir schob. Wir waren beide völlig blutverschmiert, aber zumindest für mich war das nichts Neues, also ignorierte ich es einfach.

Ich erklärte ihr noch einmal, dass wir sie jetzt ins Krankenhaus bringen würden und zog die Gurte um ihren Körper herum fest. Sie wich meinem Blick aus und nickte stumm, soweit man das mit der starren Halskrause als ein Nicken bezeichnen konnte. Es war, als hätte sie beim Weinen alle Kraft verloren, und wie sie so apathisch vor sich hinstarrte, wünschte ich mir beinahe, sie würde lieber wieder auf mich einschlagen.

Chris ging nach vorne, um uns in der Klinik anzumelden und fuhr schließlich los, während ich hinten bei unserer Patientin sitzen blieb und fragte, ob sie ihre Krankenversichertenkarte dabei hatte.

„In meiner Tasche im Auto“, antwortete sie matt. Über ihre Wange rollte eine einzelne Träne, die sie jedoch gar nicht zu bemerken schien.

„Können Sie mir dann vielleicht so ein paar Fragen beantworten?“

Wieder nickte sie nur, ohne mich anzusehen.

„Okay. Es geht nur um ein paar Daten für den Papierkram. Los geht’s mit dem Namen.“

„Sophie Wattenberg.“

„Sophie mit ph?“

„Hmhmm.“

„Okay …“. Nacheinander fragte ich sie nach Geburtsdatum, Adresse, Krankenversicherung und ein paar weiteren Vorgaben auf meinem Tablet, die von dort sofort ans Krankenhaus übermittelt wurden. So wusste die Notaufnahme schon mal, womit sie es zu tun bekam, und wir waren zumindest für eine Weile von diesen bohrenden Warum-Fragen abgelenkt.

Als wir fertig waren und ich auch einen kurzen Bericht über ihre Verletzung übermittelt hatte, bog Chris gerade in die Straße zum Krankenhaus ein. Ich wandte mich zu der jungen Frau um, die jetzt einen Namen hatte, und bemerkte, dass sie mich gedankenverloren ansah – oder besser gesagt durch mich hindurchsah.

„Er wird es nicht schaffen, oder?“

Ihre Frage zerriss mir fast das Herz, vor allem, weil ich die Antwort ja schon kannte. Und dieser Blick aus ihren blauen Augen, in denen so viel Hoffnungslosigkeit lag, gab mir den Rest. Wie oft war ich schon in genau dieser Situation gewesen? Wie oft war mir genau diese Frage schon gestellt worden? Doch all die Jahre im Rettungsdienst hatten sich scheinbar gerade in Luft aufgelöst, und ich saß da wie ein dämlicher Praktikant, der keine Ahnung hatte, was er tun sollte, oder wie er diese Emotionen an seiner professionellen Hülle abprallen lassen konnte. Warum, verdammt?! Abgesehen von der zeitlichen Verzögerung und ihrer Wut war es doch ein Einsatz wie jeder andere auch! Aber genau das hatte die Welt offenbar aus den Angeln gehoben und verkehrt herum wieder zusammengesetzt.

„Ich weiß es nicht“, sagte ich leise und schaffte es nicht, ihr dabei in die Augen zu schauen. Zum Glück kam in diesem Moment der Rettungswagen zum Stehen, und Chris zog schon Sekunden später die hintere Tür auf.

Der Rest war eigentlich Routine: Die Patientin an das Klinikpersonal übergeben, Papierkram erledigen, den Rettungswagen säubern und desinfizieren, Material nachfüllen, vielleicht noch einen Kaffee aus dem Automaten ziehen, wieder einsatzbereit melden und wenn sonst nichts anlag erst mal zurück zur Wache. Aber anders als sonst konnte ich diesen Einsatz nicht einfach im Kopf als erledigt abhaken und unbeschwert weitermachen. Dieser letzte Blick von Sophie, als wir sie im Schockraum ablieferten, ließ sich einfach nicht abschütteln. Es war, als flehte sie mich mit den Augen an, zurückzufahren und ihren Freund zu retten. Und ich hätte nichts lieber getan als das. Doch es war zu spät.

Ich spürte, wie sich mein Magen schmerzhaft zusammenzog und die unterdrückte Wut wieder zum Vorschein kam. 25 Minuten bis zum Einsatzort. Laut Statistik mindestens 15 Minuten zu viel. Ganze 15 elende Minuten!

„Alles klar bei dir?“, riss mich Britta, die Klinikangestellte an der Anmeldung, aus den Gedanken. „Du siehst heute ziemlich mitgenommen aus. Ich hab schon von dem Unfall gehört. Hast du jemanden gekannt, der dabei war?“

„Was? … Ich … Nein“, antwortete ich zerstreut und reichte ihr das Formular rüber, das ich gerade ausgefüllt hatte. „Wir sind nur zu spät gekommen“, fügte ich dann leise hinzu.

Sie sah mich mitfühlend an. „Ach, Moritz. Wie lange machst du den Job jetzt schon? Du weißt doch, dass es nicht immer gut ausgeht. Aber ihr habt getan, was ihr konntet.“

„Ich fürchte, so einfach ist das diesmal nicht.“

Britta wollte noch etwas sagen, doch da hatte ich mich schon umgedreht und war Richtung Toilette verschwunden. Ich brauchte jetzt dringend einen Schlag kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder zu mir zu kommen, aber wirklich besser machte es das auch nicht. Genauso wenig wie die Nachbesprechung später auf der Wache.

Aus einer seltsamen Gefühlsanwandlung heraus rief ich anschließend meine Freundin an, was ich sonst nie tat. Schon gar nicht mitten in der Nacht.

„Mo?“, fragte Julia verschlafen. „Ist etwas passiert?“

„Nein“, beruhigte ich sie sanft, obwohl alles in mir Ja schrie. „Ich wollte nur deine Stimme hören.“

„Um diese Zeit?“

Ja, um genau diese Zeit! Doch als ich ihre Empörung hörte, schimpfte ich mich einen Idioten. Es war weit nach Mitternacht, meine Freundin musste morgen früh arbeiten und sie war ohnehin wenig begeistert von meinem Job und den damit verbundenen Nachtschichten und Überstunden. Was also hatte ich mir eigentlich von einem Anruf bei ihr versprochen?

„Tut mir leid, Julie“, sagte ich ernüchtert. „Schlaf weiter … Ich liebe dich.“

„Hmhmm … auch“, murmelte sie und bevor ich Tschüss sagen konnte, hatte sie schon aufgelegt.

Wie gerne wäre ich jetzt bei ihr gewesen, hätte mich an ihren warmen Körper geschmiegt und in ihren Armen wenigstens eine Weile die düsteren Gedanken vergessen. Aber Wunsch und Wirklichkeit lagen leider gerade meilenweit auseinander. Reglos starrte ich auf mein Handy und beobachtete, wie die Uhr von 01:43 auf 01:44 umsprang. Noch etwas mehr als fünf Stunden Dienst. In der Wache war es ruhig geworden. Die anderen hatten sich anscheinend eine Runde aufs Ohr gehauen, in der Hoffnung, dass nicht gleich der nächste Alarm losging. Alle, bis auf einen, denn plötzlich tauchte Chris im Türrahmen zum Aufenthaltsraum auf und sagte: „Hier steckst du. Alles okay mit dir?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Hatte schon bessere Nächte.“

„Wem sagst du das.“ Er kam rüber und ließ sich neben mir auf das Sofa fallen. „Ganz schön scheiße gelaufen heute.“

Es war eine Feststellung, keine Frage, also musste ich auch nicht darauf antworten, und für eine Weile schwiegen wir einfach in stiller Einigkeit vor uns hin.

Chris und ich waren seit zwei Jahren ein eingeschworenes Team und mussten nicht viel reden, um uns zu verstehen. Wenn nicht gerade einer von uns krank war, Urlaub oder seinen freien Tag hatte, waren wir als Stammbesetzung zusammen mit dem Rettungswagen unterwegs und wussten, dass wir uns im Einsatz blind aufeinander verlassen konnten. Mit der Zeit war daraus eine echte Freundschaft entstanden, auch wenn wir außerhalb der Arbeitszeit eher selten miteinander zu tun hatten. Deshalb konnte ich normalerweise auch mit niemandem so gut über solche Erlebnisse reden wie mit Chris. Aber heute wussten wir beide nicht, was wir sagen sollten.

„Die Kleine hat dich ganz schön fertiggemacht, was?“, bemerkte Chris schließlich in unser Schweigen hinein.

Ich war nicht sicher, ob das einfach nur eine neutrale Aussage war, oder ob er sich innerlich köstlich darüber amüsierte, dass unsere Patientin so auf mich eingedroschen hatte. Ein Blick hätte gereicht, um es herauszufinden, aber ich schaffte es einfach nicht, den Kopf zu heben.

„Sie hatte doch recht“, konterte ich lahm. „Und ich frage mich die ganze Zeit, was gewesen wäre, wenn ein Teil von uns schon zu Fuß vorausgelaufen wäre.“

„Hör auf damit, Momo!“ Chris klang plötzlich ernst und ich spürte seinen bohrenden Blick auf mir. „Was hätte das denn geändert? Ihr Freund war eingeklemmt und so schwer verletzt, dass er es wahrscheinlich eh nicht geschafft hätte.“

„Das kannst du nicht wissen. Wenn wir es frühzeitig geschafft hätten, ihn zu beatmen, oder ihm einen Zugang zu legen oder …“

„Wenn, wenn, wenn! Es ist gelaufen, Momo! Ja, wir waren zu spät da, aber wir können nichts dafür, und das weißt du. Du hast gehört, was Rolf gesagt hat: Auf den letzten 600 Metern war das ein heilloses Chaos, weil die einen wussten, wie die Rettungsgasse geht, die anderen aber meinten, quer auf den Standstreifen ausweichen zu müssen, dann jemand mal gucken wollte, ob er von etwas weiter links rüber vielleicht sehen konnte, was vorne vor sich geht und fast eine vierte Stauspur aufgemacht hätte. Die sind schuld, nicht du oder ich oder sonst wer von uns.“

„Natürlich weiß ich, dass wir nichts dafür können!“, platzte es aus mir heraus. „Aber deshalb ist es trotzdem scheiße! 25 Minuten bis zu Kilometer 264! 25 Minuten, Chris, das ist ein schlechter Witz! Normalerweise brauchen wir höchstens die Hälfte der Zeit. Und das Problem ist ja nicht nur, dass diese Idioten es nicht gebacken gekriegt haben, eine Rettungsgasse zu bilden. Du hast vergessen, diese Schlaumeier zu erwähnen, die meinten, sie könnten sich gleich mit durchmogeln, um wegzukommen, statt uns erst mal fahren zu lassen! Wie krank ist das denn bitte? Und vor allem, wo sind die jetzt? Auf Nimmerwiedersehen verschwunden in ihre heile Welt, in der es ja zum Glück immer nur die anderen erwischt! Ich hab grad echt so eine Scheißwut und wünsche diesen Schwachköpfen, dass sie selbst mal irgendwo verrecken, weil die Rettung nicht zu ihnen durchkommt!“

Chris pfiff leise durch die Zähne. „Wow. Momo, so kenn ich dich ja gar nicht.“

„Ich mich auch nicht“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihm. Dann stand ich auf und verdrückte mich nach draußen an die frische Luft, alleine mit meiner Wut und den quälenden Warum-Fragen, auf die niemand außer den besagten Idioten eine Antwort wusste. Hätte ich geraucht, wäre jetzt wahrscheinlich der richtige Zeitpunkt für eine Zigarette gewesen. Aber so setzte ich mich nur auf die Bank hinter der Fahrzeughalle, legte den Kopf in den Nacken und schaute rauf in den sternenklaren Himmel.

Ich hatte meinen Job immer geliebt, trotz der elenden Arbeitszeiten und dem Stress, trotz der vielen Einsätze, bei denen man nichts mehr tun konnte, trotz all der Beschimpfungen und Widerstände, auf die man bei so manchem Patienten oder Angehörigen stieß. Es gehörte einfach dazu, und die vielen geglückten Einsätze und Zeichen der Dankbarkeit glichen es zum Glück jedes Mal wieder aus. Ich konnte nur hoffen, dass es diesmal auch wieder so sein würde. Aber sicher war ich mir nicht.

Nur eine Sache wusste ich genau: Diese Sophie und den wilden Gefühlssturm in ihren Augen würde ich wohl nicht so schnell vergessen können.

Sophie

Als ich Alex das erste Mal sah, war ich vier Jahre alt und kam gerade mit meiner Mutter vom Einkaufen nach Hause. Er stand etwas verloren mit einem Fußball im Arm ein Stück weiter die Straße rauf auf dem Bürgersteig und beobachtete fasziniert, aber irgendwie auch ein bisschen verschreckt, die Möbelpacker, die eine große Kiste nach der nächsten aus ihrem Transporter ins Haus trugen.

„Hallo!“, rief ich schon von Weitem, weil ich mich so freute, endlich ein anderes Kind in meinem Alter hier zu entdecken.

Der fremde Junge drehte sich um, schien etwas enttäuscht zu sein, dass ich ein Mädchen war, und lächelte dann aber doch schüchtern. Später zog Alex mich immer wieder damit auf, dass er sich ja nur mit mir abgegeben hätte, weil es weit und breit keinen anderen Spielkameraden gegeben hatte. Doch in Wirklichkeit waren wir schon zwei Stunden später ein Herz und eine Seele, nachdem ich ihn in unseren Garten zum Spielen mitgenommen hatte, während seine Eltern die neue Wohnung in Ordnung brachten.

Solange wir beide dort wohnten, hatte es vielleicht durchschnittlich drei Wochen im Jahr gegeben, in denen wir uns nicht gesehen hatten. Und das auch nur, weil er oder ich im Urlaub oder auf Klassenfahrt gewesen war. Als Alex’ Mutter krank wurde und mehrere Monate lang öfter im Krankenhaus als zu Hause war, hatte er sogar mehr oder weniger bei uns gewohnt, was seine lieben Mitschüler dazu brachte, unsere Namen zu einem zu machen und uns nur noch Alphie zu nennen. Neunjährige konnten so bescheuert sein. Ich fand das damals überhaupt nicht witzig und hätte mich manchmal am liebsten geprügelt deswegen. Aber mein lieber, geduldiger Alex sagte immer nur: „Lass sie. Die sind nur neidisch, dass sie selbst nicht so eine tolle Freundin haben.“ In solchen Momenten ging mir das Herz auf.

Erst als wir in die Pubertät kamen und Alex seine erste Freundin hatte, änderte sich das. Plötzlich hatte er wenig Zeit für mich. Trotzdem hielt unsere Verbindung, denn immerhin hatten wir ja unsere gemeinsamen zwanzig Minuten morgens im Schulbus. Und schneller als gedacht hatte sich das mit der Freundin dann eh wieder erledigt.

Ich verstehe bis heute nicht, wie es passieren konnte, dass wir uns aus den Augen verloren haben, als Alex wegging zum Studieren. 70 Kilometer waren doch echt nicht die Welt, und es gab Telefon und Internet und was weiß ich noch alles. Umso glücklicher war ich, als eines Tages plötzlich aus dem Nichts ein Anruf von ihm kam, in dem er mir von dem neuen Einkaufszentrum bei sich in der Stadt erzählte, in das auch die Filiale einer großen Buchhandlung einziehen würde. Er wusste von seinen Eltern, dass ich nach der Ausbildung nicht übernommen worden war und einen Job suchte, und während er mir das alles erzählte, war es, als wären wir nie getrennt gewesen. Er lotste mich durch die Stadt, als ich mein Vorstellungsgespräch hatte. Er half mir, meine Wohnung zu finden, strich mit mir die Wände, schleppte Möbel und Kisten hoch in den dritten Stock. Und er war wieder mein Alex, der sich um mich kümmerte, mich seinen Freunden vorstellte, mich neckte und veralberte und in der fremden Stadt nie alleine ließ. Natürlich sahen wir uns nicht jeden Tag, so wie früher, aber das mussten wir auch nicht. Hauptsache, wir hatten uns wieder und da reichte es schon zu wissen, dass wir den anderen jederzeit anrufen oder treffen konnten. Statt zu schmollen, freute ich mich, wenn er glücklich verliebt war. Und wenn einer von uns Liebeskummer hatte, zogen wir das gemeinsam durch. Kurz gesagt: Es war perfekt, so wie es war.

Aber jetzt war Alex tot.

Ich hatte es die ganze Zeit befürchtet, geahnt, gewusst, doch offiziell erfahren hatte ich es erst später, als meine Eltern im Krankenhaus ankamen, um mich abzuholen, und ich in den Armen meiner Mutter heulend zusammenbrechen konnte.

Sie sagten, bei der Schwere der Verletzungen hätte er keine Chance gehabt. Sie sagten, es wäre eine unglückliche Verkettung der Umstände gewesen: Der Lkw, dessen Fahrer uns im toten Winkel nicht gesehen hatte; der Opel-Fahrer hinter uns, der zu dicht aufgefahren war, um rechtzeitig bremsen zu können; der Familien-Van neben uns, der so schnell gewesen war, dass er uns nach dem Aufprall des Opel wie ein Pingpongball von der linken Spur zurück in den Lkw geschleudert hatte. Sie sagten auch, ich hätte unglaubliches Glück gehabt.

Glück?! Was sollte denn daran bitte Glück sein, dass ich meinen allerersten, allerbesten, allerliebsten Freund für alle Zeiten verloren hatte?

Die Woche nach dem Unfall und auch die Beerdigung rauschten wie im dichten Nebel an mir vorbei. Meine Eltern nahmen mich mit zu sich nach Hause in meine kleine Heimatstadt – in unsere Heimatstadt, in der auch Alex’ Eltern immer noch ein Stück die Straße rauf wohnten. Im ersten Moment wollte ich mich genau deshalb weigern mitzufahren, im nächsten zog es mich in selbstzerstörerischer Absicht wie magisch in Alex’ altes Zimmer, wo ich mich stundenlang in seinem Jugendbett vergrub und zwischen Verzweiflung und Nicht-wahrhaben-Wollen hin und her schwankte.

Irgendwann kam die Wut dazu. Die Wut auf den Lkw-Fahrer, auf den Opel-Fahrer, auf den Van-Fahrer, auf die Rettungskräfte, die zu spät gekommen waren – einfach auf alles und jeden. Aber Wut war gut. Wut war so viel besser als diese furchtbare Trauer und der Schmerz, dass Alex nie mehr wiederkommen würde. Doch auch sie ließ zwischendurch immer wieder mal nach und wurde von Phasen abgelöst, in denen ich einfach nur heulte oder apathisch ins Leere starrte.

Meine Eltern hatten keine Ahnung, wie sie mich trösten sollten. Aber wie auch? Es gab keinen Trost. Trotzdem war ich froh, dass sie da waren, und sie waren auch die Einzigen, die ich in diesen Tagen an mich heranließ. Bei der Arbeit hatte ich mich krankgemeldet und alle wussten, dass ich einen Unfall gehabt hatte. Von Alex wussten sie nichts. Außer meiner liebsten Kollegin und Freundin Chiara, die grundsätzlich nur Kiki genannt werden wollte, und die wusste, dass wir beide zusammen unterwegs gewesen waren. Sie bombardierte mich mit Nachrichten und Anrufen, doch ich schaffte es einfach nicht, darauf zu reagieren. Bis sie sich an ihrem freien Tag die 70 Kilometer auf den Weg machte und plötzlich in meinem alten Kinderzimmer vor mir stand. Als sie ankam, waren es noch zwei Stunden bis zur Beerdigung. Ohne ein Wort breitete Kiki die Arme aus und wir klammerten uns heulend aneinander. Was ich nicht wusste, war, dass sie in den letzten Tagen sämtliche Wattenbergs bei uns in der Stadt abtelefoniert hatte, und nachdem sie die richtigen gefunden hatte, lange mit meiner Mama geredet hatte. In mir pochte das schlechte Gewissen, weil ich mich nicht bei ihr gemeldet hatte, doch sie wischte es mit einer Handbewegung beiseite und war einfach für mich da.

Kiki und ich kannten uns, seit wir vor vier Jahren zusammen in der nagelneuen Buchhandlung in diesem nagelneuen Einkaufszentrum angefangen hatten. Gemeinsam hatten wir den Laden mit eingeräumt und uns in der fremden Stadt eingelebt und waren seitdem nicht nur beruflich, sondern auch privat ein Herz und eine Seele. Deshalb kannte sie natürlich auch Alex – hatte ihn gekannt – und auch wenn sie es bis heute abstritt, war ich mir sicher, dass sie ganz am Anfang sogar etwas in ihn verliebt gewesen war.

„Zu der Zeit hab ich doch noch gedacht, dass er schwul ist“, gab Kiki dann immer gerne zurück. „Andernfalls muss man ja nicht ganz dicht sein, wenn man mit so einem heißen Typen nur befreundet sein will.“

„Du liest einfach zu viele von diesen Schnulzen-Romanen“, war meine Standardantwort darauf, was meistens in großem Gelächter endete, denn Kiki hatte tatsächlich eine Schwäche für diese herzschmerztraurigschönen Liebes­romane, in denen der beste Freund halt gerne mal schwul war.

Jetzt gerade war uns allerdings alles andere als nach Lachen zumute. Mein völlig unschwuler bester Freund war tot und ich ein heulendes Wrack, das es gerade so schaffte, die Beerdigung zu überstehen, ohne Alex ins Grab hinterherzuspringen. Er konnte mich doch nicht einfach so alleine lassen! Soweit ich mich zurückerinnern konnte, war er immer, immer, immer da gewesen. Und jetzt? Wer sollte mich denn jetzt warnen, wenn ich mich mal wieder in den falschen Typen verliebt hatte? Wen sollte ich anrufen, wenn der Fernseher streikte? Wer half mir, meine Lieblings-Lasagne auf­zuessen, wenn ich wieder gnadenlos zu viel davon gekocht hatte? Wer brachte mir noch spätabends einen Berg Schokolade, wenn ich Liebeskummer hatte? Bei wem konnte ich mich über meine manchmal echt ätzenden Kunden auskotzen? Und wer würde mich aus diesem tiefen Loch herausholen, in das ich nach dem Unfall gefallen war? Kiki war zwar eine richtig gute Freundin, aber Alex ersetzen konnte sie nicht. Dafür war er ihr zu viele Jahre voraus und kannte mich mit­unter sogar besser als ich mich selbst. Wahrscheinlich fühlte es sich deshalb auch so an, als hätte ich nicht nur ihn verloren, sondern einen Teil von mir selbst gleich mit.

Nichtsdestotrotz musste ich der Tatsache ins Auge sehen, dass sich die Welt trotz Alex’ Tod weiterdrehte, und ich zumindest einigermaßen mitmachen musste, wenn ich nicht komplett abstürzen wollte. Doch das war gar nicht so einfach. Besonders nicht dort, in meiner alten Heimat, in der jede Ritze und jeder Winkel voller Erinnerungen steckte, und ich neben meiner eigenen Trauer auch die seiner Eltern ertragen musste. Die Hoffmanns waren für mich immer so etwas wie eine zweite Familie gewesen, so wie meine Familie es auch für Alex gewesen war. Nur dass ich jetzt noch da war und Alex nicht und ich mich deswegen furchtbar schlecht fühlte. Mir war schon klar, dass das völliger Blödsinn war, schließlich hatte ich den Unfall nicht verursacht, genauso wenig wie Alex. Aber Gefühle waren halt nicht logisch. Und letztendlich blieb ich trotzdem dort, denn die Alternative wäre gewesen, alleine in meinen eigenen vier Wänden zu hocken und mir die Augen auszuheulen, doch das wollte ich noch viel weniger.

Die Woche ging vorbei, und am Ende des langen Pfingstwochenendes brachten mich meine Eltern zurück in meine Wohnung. Am Dienstag hatte ich bei meinem Hausarzt einen Termin zum Fäden ziehen, und auch meine Krankmeldung lief dann aus. Doch erst, als ich schon beim Arzt im Sprechzimmer saß und er mich fragte, ob er das Attest verlängern sollte, fiel mir auf, dass ich bisher keinen Gedanken daran verloren hatte, wieder zur Arbeit gehen zu wollen oder können oder müssen. Also zuckte ich nur hilflos mit den Schultern und spürte, wie mir die Tränen kamen, weil ich mit einer so einfachen Frage schon überfordert war. Das reichte dem Arzt jedoch, um mir wortlos eine weitere Krankmeldung für den Rest der Woche auszustellen.

Ziemlich verloren saß ich anschließend in meinem Auto und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Direkt wieder zu meinen Eltern fahren? Oder hierbleiben? Ratlos betrachtete ich die Bescheinigung in meiner Hand und beschloss, erst mal meine Pflicht zu erfüllen und meinem Chef mitzuteilen, dass er noch weiter auf mich verzichten musste. Das Einkaufszentrum war ganz in der Nähe und ich musste eh in die Apotheke, also konnte ich die Krankmeldung auch gleich persönlich abliefern.

Ich zögerte einen Moment, kratzte dann all meine Willensstärke zusammen und machte mich auf den Weg. Es würde nicht leicht werden, meine Kollegen wiederzusehen, die in der Zwischenzeit bestimmt von Kiki erfahren hatten, was passiert war. Ich wollte nicht von ihnen mit Mitleid überschüttet und wie ein rohes Ei behandelt werden. Aber drum herumkommen würde ich eh nicht, egal ob nun heute oder nächste Woche oder wann auch immer.

Im Laden angekommen versuchte ich möglichst unbemerkt bis nach hinten ins Büro durchzukommen, doch dabei hatte ich nicht mit Kiki gerechnet. Als hätte sie geahnt, dass ich heute hier auftauchen würde, sprang sie mir schon fast an der Tür entgegen und zog mich in eine feste Umarmung.

„Hey! Was machst du denn hier? Bist du nicht heute noch krankgeschrieben?“

„Hmhmm“, murmelte ich und hielt die Bescheinigung vom Arzt hoch. „Und den Rest der Woche auch.“

„Ehrlich gesagt hatte ich das gehofft“, erklärte sie mit ernster Miene. „Du siehst völlig fertig aus.“

Schweigend presste ich die Lippen aufeinander und kämpfte wieder mühsam gegen die Tränen an. Kiki betrachtete prüfend die beiden schmalen Tape-Streifen an meiner Schläfe, die jetzt statt eines Pflasters über meiner Narbe klebten, und seufzte schwermütig: „Ach, Süße.“

Im selben Moment kam unsere Kollegin Inga vorbei, zog mich in einer dramatischen Geste an sich und sagte: „Oh Sophie, du Arme. Es tut mir so leid. Geht es dir gut? Das sieht ja schlimm aus.“

Mir fehlten die Worte, um darauf zu antworten. Zum einen war Inga nicht gerade eine meiner Lieblingskolleginnen und immer etwas theatralisch in ihrer Art. Zum anderen ging es mir ganz bestimmt nicht gut, und wenn sie meinen Kratzer an der Schläfe schlimm fand, dann hätte sie erst mal Alex sehen sollen. Warum hatte ich dumme Nuss eigentlich nicht dran gedacht, den Personaleingang zu nehmen? Dann hätte ich mir solche Kommentare vielleicht ersparen können. Doch zum Glück rettete Kiki mich, indem sie knochentrocken bemerkte: „Du müsstest vor allem den anderen sehen.“

Und damit meinte sie natürlich nicht Alex, sondern tat so, als hätte ich mich geprügelt. Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu, und in einem anderen Leben hätte ich jetzt losgeprustet vor Lachen. In diesem Leben reichte es jedoch nur für ein müdes Lächeln, aber ich wusste, dass Kiki trotzdem verstand, wie dankbar ich ihr dafür war. Zu Hause mit mir zu heulen und zu leiden war das eine, aber hier vor all den Leuten war mir ihre charmant-freche Art wesentlich lieber, und ich war jetzt schon froh, sie in meiner Nähe zu wissen, wenn ich dann doch bald wieder arbeiten musste.

Inga machte keine Anstalten, sich wieder zu verdrücken, also entschuldigte ich mich und machte mich auf den Weg ins Büro. Mein Chef hatte zum Glück nicht viel Zeit zum Reden, sprach mir sein Beileid aus, nahm die Krankmeldung kommentarlos zur Kenntnis und wünschte mir alles Gute, bevor er schon wieder von einem Anruf aus der Zentrale abgelenkt wurde. Mir war es nur recht so, und ich wollte gerade schon wieder durch den Personalausgang verschwinden, als ich im Flur auf Marleen traf, eine unserer ältesten Kolleginnen, die uns immer mit den leckersten Dingen verwöhnte, weil sie am Wochenende angeblich mal wieder viel zu viel gebacken hatte. Von daher hätte es mich nicht gewundert, wenn sie plötzlich ein Stück Torte als Trostpflaster für mich hervorgezaubert hätte. Doch entweder hatte sie heute keins, oder sie spürte, dass es mit meinem Appetit zurzeit nicht weit her war. Trotzdem überredete sie mich, noch kurz mit in den Pausenraum zu kommen, und nachdem wir uns einen Moment durch zähen Smalltalk und die Wie-geht-es-dir-Frage gequält hatten, wagte sie es schließlich, mich nach dem Unfall zu fragen. Und ich schaffte es tatsächlich irgendwie, ihr zu antworten, ohne gleich wieder in Tränen auszubrechen.

„Wirklich schlimm“, meinte Marleen seufzend. „Und dann diese Geschichte mit der Rettungsgasse. Ich dachte, das kann ja wohl nicht wahr sein, als ich das in der Zeitung gelesen habe.“

Ich sah sie überrascht an. „Was meinst du damit?“

„Na, hast du das denn gar nicht mitgekriegt? Die im Stau haben da doch alles blockiert, sodass die Feuerwehr nicht durchkam.“

Ich schüttelte den Kopf und hatte plötzlich eine furchtbar trockene Kehle. Nein. Mal abgesehen davon, dass ich seit der Nachricht über Alex’ Tod eigentlich gar nichts mehr wirklich mitgekriegt hatte, wohnten meine Eltern auch in einem ganz anderen Landkreis mit einer anderen Tageszeitung, in der von dem Unfall keine Rede gewesen war. Und meine eigenen Zeitungen lagen unberührt in einem Stapel auf meinem Küchentisch, nachdem meine Nachbarn sie in den vergangenen Tagen zusammen mit einem Haufen Werbung vor meiner Wohnungstür gehortet hatten.

„Ich war bei meinen Eltern und bin erst seit gestern Abend wieder hier“, erklärte ich leise. „Was stand denn in dem Artikel?“

„Die Einzelheiten weiß ich leider gar nicht mehr so genau. Als ich es gelesen habe, wusste ich ja nicht, dass du dabei warst und dein Freund …“ Marleen brach ab und verstummte.