Welche Medizin wollen wir? - Michael Ridder - E-Book

Welche Medizin wollen wir? E-Book

Michael Ridder

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  • Herausgeber: DVA
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Patientenwohl und Empathie statt Cash flow, Fallpauschale und Bettenpolitik

Die Medizin ist einem Wandel unterworfen. Das Wohl des Patienten ist aus dem Blickfeld geraten, stattdessen wird ärztliches Handeln mehr und mehr von ökonomischen Vorgaben geleitet. Auf der Strecke bleibt dabei vor allem die Zeit: Zeit für ein Gespräch, Zeit für Zuspruch in der Einsamkeit schwerer Krankheit, Zeit für die Erläuterung von Eingriffen, Zeit für die Bewältigung von Angst.

Michael de Ridders eindringliche Schilderungen – auch der Erlebnisse in Zusammenhang mit seiner eigenen Erkrankung – führen uns den eklatanten Mangel an Menschlichkeit im Patientenalltag vor Augen. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Arzt kann er den bedenklichen Zustand der Medizin und des Gesundheitssystems genau aufzeigen. Aber er weist auch den Weg in eine patientenfreundlichere Zukunft und macht deutlich, wie das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wiederhergestellt werden kann.

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Seitenzahl: 336

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Michael de Ridder

Welche Medizin wollen wir?

Warum wir den Menschen wieder in den Mittelpunkt ärztlichen Handelns stellen müssen

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Copyright © 2015 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Typographie und Satz: Brigitte Müller/DVA

ISBN 978-3-641-12357-4 V003

www.dva.de

Gewidmet meinen Vorbildern und Mentoren

Professor Dr. Wolfgang Dißmann †, der mir Empathie und mutige Medizin vorlebte; der mir die Zuversicht gab, ausgetretene Pfade zu verlassen und seine Leidenschaft für die Medizin mit mir teilte

Professor Dr. Lawrence J. Schneiderman (San Diego, Kalifornien), der mich lehrte, dass das Patientenwohl nicht identisch ist mit Lebenserhaltung um jeden Preis und in aussichtsloser Krankheit kurative Behandlungsversuche zugunsten palliativer Behandlungswege zu verlassen sind

Schwester Inge (Uetersen, Schleswig-Holstein), die mir als junger Arzt die Angst nahm und Sicherheit vermittelte; die mir während meines ersten Eingriffs in einem Nachtdienst die Hand führte, als ich einer jungen bewusstlosen Frau mit einer Schlafmittelvergiftung einen Magenschlauch legte

Inhalt

Prolog

Einleitung – Welche Medizin wollen wir? – Anatomie einer Frage

Kapitel 1 – »Das überleben Sie schon!« – Erste Schritte im weißen Kittel

Kapitel 2 – »Mut, ausgetretene Pfade zu verlassen« – Vorbilder und Mentoren

Kapitel 3 – Ich könnte du sein – Ist Menschlichkeit erlernbar?

Kapitel 4 – Der Patient, ein Kunde? – Die alte und neue Sprache der Medizin

Kapitel 5 – Systemversagen, Überforderung, Ethikverlust – Warum Patienten zu Schaden kommen

Exkurs – Leitlinien in der Medizin – Therapiefreiheit oder Therapiebeliebigkeit?

Kapitel 6 – Kranzarterien und Katheter – Meriten und Holzwege der Herzmedizin

Exkurs – »Bilder machen oder Gedanken?« – Wildwuchs in der Kardiologie

Kapitel 7 – Frischzellen und Globuli, Ayurveda und Medical Wellness – Flucht ins Dubiose und Unheilvolle

Kapitel 8 – »Der Krebs kennt kein Plusquamperfekt« – Krankheitsfrüherkennung zwischen Wissen und Verunsicherung

Kapitel 9 – »Willst du leben oder sterben?« – Rettungsstelle: Zone des Unglücks und des Elends

Exkurs – »Bitte um die Würde eines Schnitzels« – Vom Warten und seinen Folgen

Kapitel 10 – Der Stoff, die Nadel und der Tod – Care statt cure

Kapitel 11 – Zwischen Heil und Unheil – Intensivstation: Zone der Gefahr

Kapitel 12 – Letzte Hilfe – Ist der ärztlich assistierte Suizid ethisch vertretbar?

Ausblick – Sieben Thesen für eine authentische, menschliche und zukunftsfeste Medizin

Epilog

Anmerkungen

»Medizin ist nicht allein Wissenschaft, doch ohne Wissenschaft ist alle Medizin nichts.«

Lawrence J. Schneiderman

»Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, Gesundheit ist die Kraft, mit ihnen zu leben.«

Dietrich Rössler

»Denn wer das Wissen mehrt, mehrt auch die Leiden.«

Prolog

Neun Jahre war ich alt und hütete schon seit mehreren Tagen mit hohem Fieber, Husten und Kopfschmerzen unter der fürsorglichen Obhut meiner Mutter das Bett. Es war das Jahr 1957, und in Mitteleuropa war erneut die Kinderlähmung ausgebrochen. Allein in Deutschland gab es bereits mehrere Tausend Erkrankungen, und aufgrund einiger Polioverdachtsfälle an meiner Schule – ich besuchte als Sextaner ein humanistisch-altsprachliches Gymnasium in Düsseldorf – hatte die Schulleitung den Unterricht seit einer Woche ausgesetzt.

Meine Mutter, eine furchtlose Frau, konnte erstmals, so kam es mir vor, eine gewisse Besorgnis nicht verbergen – sie war stiller und nachdenklicher als sonst. Doch an den Schicksalsschlag einer Polioinfektion ihres Sohnes, das hatte sie mir Jahre später erzählt, mochte sie nicht wirklich glauben.

So absolvierte ich täglich ein Schwitzbad, erhielt von ihr Einreibungen mit Wick VapoRub, gefolgt von feuchten Brustumschlägen und Wadenwickeln. Sie flößte mir Lebertran, heißen Tee mit Honig und einmal sogar einen Grog ein und begrub mich, in der Vorstellung, die Krankheit auszuschwitzen, unter mächtigen Federbetten, die nur Augen und Nasenlöcher frei ließen. In seliger Trance lag ich da, vertrautes Geschirrgeklapper und leise konzertante Musik drangen aus der Küche in mein Zimmer. In schwerer Krankheit verspürte ich glückliche Aufgehobenheit – doch mein Zustand besserte sich nicht.

»Das kann so nicht weitergehen, ich werde Dr. S. bitten, zu kommen.« Als meine Mutter das sagte, stand sie mit ernstem Gesicht und gefalteten Händen neben meinem Bett, an das ich seit nunmehr fünf Tagen gefesselt war – immer noch war das Fieber nicht gesunken.

Dr. S. war seit vielen Jahren unser Hausarzt, der die Familie, zumal meinen oft kränkelnden Vater, gut kannte. Nur einige Straßen von unserer Wohnung entfernt lag seine viel besuchte Praxis. Er war ein mächtiger Mann mit schütterem Haar, feucht glänzenden, freundlichen Hundeaugen, wulstigen Lippen und einem speckigen Nacken, der über seinen zu engen Hemdkragen hinausdrängte. Stets war er in tadelloses Tuch gekleidet und stets trug er blank geputzte, teure englische Schuhe, wie meine Mutter einmal bewundernd bemerkte; eine liebenswürdige, väterlich-imposante Erscheinung, zu der sie aufblickte und unbedingtes Vertrauen hatte.

Unsere Familie besaß noch kein Telefon, und so musste meine Mutter seine Praxis aufsuchen, um den dringlichen ärztlichen Hausbesuch bei der Sprechstundenhilfe anzumelden. Sie sagte zu, dass er uns aufsuchen würde, sobald die Sprechstunde vorüber sei. Auf dem Rückweg kaufte meine Mutter beim Bäcker Ingwerplätzchen, Dr. S.’ Lieblingsgebäck. Nach Hause zurückgekehrt brachte sie die Wohnung rasch in eine oberflächliche Ordnung, kochte Kaffee und legte ein dezentes Parfum auf.

Wenig später klingelte es und sie stand mit Dr. S. vor meinem Bett: »Mein Freund«, sagte er lächelnd mit hochgezogenen Augenbrauen, während ich einen Hustenanfall unterdrückte, »wir wollen doch wohl nicht ernsthaft krank werden? Deine Mutter macht sich schon Sorgen!« Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. Dr. S. klappte seinen alten honigfarbenen Lederkoffer auf, entnahm ihm Stethoskop, Zungenspatel, Ohrenspiegel und Reflexhammer und half mir behutsam, mich aufzurichten. Sodann horchte er sorgfältig meine Lungen und mein Herz ab, nicht ohne vorher die kalte Membran des Stethoskops angehaucht zu haben, um meine fiebrige Haut nicht zu erschrecken. Er inspizierte meinen Rachen, tastete nach Lymphknoten an Hals und Nacken, schaute mir in die Ohren und prüfte meine Reflexe. Schließlich legte er mir freundschaftlich seine warme Hand auf die Schulter und sagte ernst zu mir: »Auf der rechten Seite hört sich das nach einer Lungenentzündung an, die Mandeln sind geschwollen und eitrig belegt.« Und zu meiner Mutter gewandt: »Das wird schon wieder … ich kann Sie beruhigen, für eine Polio spricht nichts. Weiterhin Bettruhe und Schwitzbäder für den Jungen und ab sofort dreimal täglich Penicillin, Mallebrin verdünnt zum Gurgeln und Codeintropfen für den Husten.« Dann ließ er sich in den bereitgestellten Sessel fallen, verzehrte bei einer Tasse Kaffee genüsslich seine Ingwerplätzchen und rezeptierte seine Verordnungen. »Medicus curat, natura sanat«, sagte er zum Abschied, »kannst du das als Junglateiner schon übersetzen?« Verlegen und mit rotem Kopf stotterte ich mir eine Antwort zurecht, dann fiel ich erschöpft zurück in meine Kissen.

Eine versunkene Welt. Mehr als fünfzig Jahre sind seit dieser Episode verflossen, dennoch haftet sie tief in meinem Gedächtnis. Vielleicht, weil sie mit einem Erleben verbunden war, das allzu viele Kranke heute vermissen müssen, sich jedoch sehnlichst wünschen: nämlich in Krankheit, Hinfälligkeit und Angewiesenheit getragen zu sein von Zuwendung und Geborgenheit, Respekt und Sicherheit – unverrückbaren und zutiefst menschlichen Bedürfnissen.

EinleitungWelche Medizin wollen wir? – Anatomie einer Frage

Die Medizin ist einem Wandel unterworfen, im Kleinen wie im Großen. Die Ärzteschaft ist in ihrem Selbstverständnis erschüttert, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist allzu oft nachhaltig gestört. Überhaupt, es herrschen schlechte Zeiten für gute Ärzte: verkrustete Strukturen und Hierarchien, eklatante Bildungsmängel, Ökonomisierungsdruck versus Empathie im Alltag der Krankenversorgung. Und der Autor? Er weiß diesen bedenklichen, aber nicht hoffnungslosen Zustand der Medizin zu benennen mit der Erfahrung und dem Erleben von 35 Jahren medizinischem Wirken.

Häutungen

Welche Medizin wollen wir? Auf den ersten Blick eine Frage, die geradezu töricht anmutet, liegt ihre Antwort doch auf der Hand: Selbstredend wollen wir jederzeit die beste verfügbare Medizin! Eine Medizin, die uns in freundlicher Umgebung und Aufgehobenheit möglichst unverzüglich, vollkommen und dauerhaft von Krankheit und Leid befreit und dies bei vertretbarem persönlichem Aufwand und zu günstigen Kosten – jetzt und in Zukunft.

Auf den zweiten Blick jedoch birgt die Frage »Welche Medizin wollen wir?« ein Dickicht weiterer Fragen, geschuldet dem Faktum, dass die Medizin seit einigen Jahrzehnten einem Umbruch ausgesetzt ist, der in seiner Grundsätzlichkeit und seinem Ausmaß allein mit der Ablösung des magischen Denkens, das bis weit ins 19. Jahrhundert medizinisches Denken und Handeln bestimmte, zu vergleichen ist. Damals, als die Heilkunde begann, ihr System der Behandlung menschlicher Krankheiten auf den Gesetzen der Naturwissenschaften zu errichten, häutete sie sich von der Heilkunde zur Medizin.

Der neuerliche Umbruch oder das, was ich einen zweiten »Häutungsprozess« der Medizin nenne, ist keineswegs vollzogen. Er ist in seiner Richtung und Zielsetzung noch offen, doch mit den unterschiedlichsten Erwartungen, Hoffnungen, Unwägbarkeiten, Befürchtungen und Bedrohungen verknüpft. Insofern verleiht die Eingangsfrage einer Entwicklung Ausdruck, die ganz offensichtlich dahin geführt hat, dass trotz der enormen Fortschritte und Errungenschaften der Medizin in der Prävention, Behandlung und Rehabilitation von Krankheiten während der vergangenen Jahrzehnte Orientierungslosigkeit und Verunsicherung hinsichtlich des künftigen Zuschnitts unseres Gesundheitssystems, des Auftrags der Medizin, der Rolle des Arztes und des Charakters der Arzt-Patienten-Beziehung unübersehbar geworden sind.

Der Wandel im Großen

Zweifellos trägt das, was wir heute noch mit dem unverfänglichen Begriff »Gesundheitssystem« bezeichnen, schon Züge einer den Einzelnen wie die Gesamtgesellschaft infiltrierenden und metastasierenden Unternehmung – ablesbar beispielsweise am Datenhunger der Krankenversicherer; die Gesundheitsbranche ist mit 5,2 Millionen Beschäftigten mittlerweile zum größten Arbeitgeber des Landes geworden und rückt Erhaltung und Optimierung von Gesundheit und Leistungsvermögen immer stärker in den Mittelpunkt der persönlichen Lebensgestaltung.1

Dass die Medizin nicht mehr allein ihrem klassischen Auftrag, der Krankenbehandlung, nachkommt, sondern ihre künftige Bestimmung zunehmend darin erblickt, auch Gesunde zwecks »upgrading« ihres mentalen und körperlichen Wohlbefindens und ihrer Leistungsfähigkeit zu behandeln, liegt offen zutage: Ärztliche IGEL-Leistungen2, Botox to go, Fettabsaugung und Schamlippenverkleinerung legen beredt Zeugnis von dieser Entwicklung ab, sind aber erst der Anfang eines veränderten Selbstverständnisses der Medizin. Es spricht mehr dafür als dagegen, dass wir zum Zweck der Selbstoptimierung letztlich auch Eingriffe in unser Erbgut zulassen werden, vielleicht sogar zulassen müssen. Die Grenzen unserer Selbstperfektionierung sind offen; wir werden sie selbst zu definieren haben.

Den eigenen gesundheitlichen Status nicht oder nur in engen Grenzen zu kennen, war bisher den begrenzten Möglichkeiten der Medizin geschuldet, das Wissbare nicht wissen zu wollen, dem bisher verbrieften Recht auf Nichtwissen. Dieser Haltung könnte durch die wachsenden Möglichkeiten der prädiktiven Medizin3, nicht zuletzt als Folge des Genomprojekts, bald die Legitimation entzogen werden. Auf der Grundlage des Wissens über die eigene genetische Ausstattung und die mit ihr verbundenen Risiken und Diagnosen ist eine Zwangsaufklärung zu erwarten, die jedem Bürger mehr und mehr Lebensentscheidungen und die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben – bis hin zum eigenen Lebensende – zumuten wird. Die viel diskutierte und mühsam errungene Selbstbestimmung des Patienten könnte schon bald vom Recht zur Pflicht werden und sich damit für manchen Bürger als Danaergeschenk erweisen.

Der einzelne Bürger wie die Gesamtgesellschaft wenden zunehmend höhere Anteile ihrer Ressourcen für Gesundheitsleistungen auf, derzeit sind es in Deutschland etwa elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, nach den USA und der Schweiz die dritthöchsten weltweit. Angesichts anderer bedeutsamer und solidarisch zu finanzierenden gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen wie Alterssicherung, Bildung, Wissenschafts- und Kulturförderung sowie Verkehrsinfrastruktur ist die Frage zu beantworten, wie sich die notwendigen Aufwendungen für medizinische Leistungen auf der individuellen wie gesellschaftlichen Ebene sinnvoll verteilen und begrenzen lassen.

Unbestritten ist, dass sich die Altersstruktur unserer Bevölkerung zur Hochaltrigkeit hin verschiebt und dies – bei begrenzten Ressourcen – Auswirkungen auf die Finanzierung und Zuteilung von Gesundheitsleistungen haben wird. Ihre Neuverteilung zugunsten palliativmedizinischer und pflegerischer Leistungen für geriatrische, chronisch kranke und demente Patienten und zulasten einer von »Overuse«gekennzeichneten Akutmedizin sollte Gegenstand einer politischen und gesellschaftlichen Diskussion werden.

Der Einbruch des Ökonomisierungsdrucks in die medizinische Versorgung ist eine viel beklagte Tatsache. Sie ist als Resultat der sinkenden Einnahmen der Krankenversicherungen aufgrund des demographischen Wandels, der Folgekosten des medizinischen Fortschritts für die Krankenbehandlung sowie der fehlenden Eindämmung und Beschneidung von Eigeninteressen bestimmter Anbieter von Gesundheitsleistungen und Medizintechnologie aufzufassen.

Ökonomisierung in der Medizin besteht nicht allein in der Einführung betriebswirtschaftlicher Regeln und Standards, vielmehr führt sie zu einer Verlagerung des Epizentrums der Macht im Gesundheitswesen und zu veränderten sozialen Beziehungen: Das wirtschaftliche Risiko der Versorgung wird von den Kostenträgern (Versicherungen) auf die Anbieter medizinischer und pflegerischer Leistungen (Kliniken, Arztpraxen, Pflegedienste) übertragen. Diese Verlagerung vollzieht sich über eine veränderte Finanzierung: Der vormals retrospektive Finanzierungsmodus, in dem alle medizinisch-pflegerischen Leistungen rückwirkend vergütet wurden, weicht einem prospektiven Finanzierungsmodus, dem zuvor vereinbarte Budgets, fixierte Preise sowie Fall- und Kopfpauschalen zugrunde liegen. Der moralische Gehalt dieser seit mehr als einem Jahrzehnt wirksamen Neuerung liegt offen zutage, wurde aber bisher wenig beleuchtet: Ärztliche Handlungsentscheidungen orientieren sich in diesem System nicht mehr allein am Wohl und Interesse des Patienten, sondern auch – vielleicht sogar überwiegend – an den jeweiligen ökonomischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sie vollzogen werden, seien es die einer privaten Praxis oder die eines Krankenhauses. Beide Versorgungseinrichtungen sind bei Strafe des Überlebens zu wirtschaftlichem Erfolg »verdammt« und demnach gezwungen, ihren Ressourcenverbrauch so niedrig wie möglich zu halten. Zudem: Barg die retrospektive Finanzierung das Risiko der Überversorgung mit medizinischen Leistungen, so birgt die prospektive das der Unterversorgung. Dass dieser Wandel das Verhältnis von Arzt und Patient nicht unberührt lässt, ja aufseiten des Patienten eine Vertrauenskrise unausweichlich macht, wird man kaum bestreiten können.

Der Wandel im Kleinen

Das soeben skizzierte Makroszenario, innerhalb dessen Medizin sich heute vollzieht, beschreibt keinen Zustand, vielmehr einen Prozess, der bereits vor Jahrzehnten begann und erst in Zukunft seine volle Entfaltung erfahren wird. Dennoch sind seine Auswirkungen längst wirksam und spürbar, auf der Mikroebene der Versorgungswirklichkeit ebenso wie auf der des Selbstverständnisses von Patient und Ärzteschaft.

Als zentral und folgenreich für die sich rapide ändernde medizinische Versorgungswirklichkeit stellen sich die enormen technischen und pharmakologischen Errungenschaften dar, die seit Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Medizin Einzug gehalten haben, man ist versucht zu sagen: geradezu eingebrochen sind. Ein Element dieser Durchbrüche der Medizin, beispielsweise in der Transplantationsmedizin, der Anästhesie, der Kardiologie oder der Verhütung zahlreicher Erkrankungen durch Impfung, besteht darin, dass der Ort des Heilens sich von der Person des Heilers und der des Patienten zum Wissen, zur Technologie selbst hin verlagert (hat). Beide, Arzt und Patient, werden weniger bedeutsam, stattdessen rücken die Behandlung und die Krankheit selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Als Patienten denken wir heute weniger darüber nach, was der Arzt in einer bestimmten Krankheitssituation tun kann; vielmehr sind wir damit befasst, was das Medizinsystem oder das Behandlungsteam für uns tun kann. Das hat zur Folge, dass der Arzt Teil eines umfassenden und komplexen multiprofessionellen Teams von Gesundheitsspezialisten und Technologien wird und damit, als ein Spieler unter vielen, seine vormals zentrale Rolle zu verlieren droht.

Das immer noch verbreitete paternalistische ärztliche Selbstverständnis gerät, insbesondere unter den Angehörigen der älteren Ärztegeneration, in Kollision mit den Ansprüchen eines sich mehr und mehr als mündig begreifenden Patienten. Nur sehr zögerlich mag sich der Arzt auf seine neue Rolle als fürsorglicher Berater einlassen, der mit seinem Patienten auf Augenhöhe kommuniziert und seinen Wunsch nach Selbstbestimmung, so er denn vom Kranken wahrgenommen wird, respektiert. In der Psyche mancher Ärzte scheint sich diese Erfahrung als narzisstische Kränkung niederzuschlagen, die einhergeht mit Resignation und Trauer um den Bedeutungsverlust der gesellschaftlichen Rolle des Arztes überhaupt – der Arzt sieht sich zum Erfüllungsgehilfen eines monströsen Medizinbetriebs degradiert.

Schlechte Zeiten für gute Ärzte

Muss man tatsächlich Arzt sein, um ein Kind zur Welt zu bringen oder eine Brille zu verordnen, wie der amerikanische Arzt John D. Lantos in seinem Buch Do We Still Need Doctors? provozierend fragt?4 Muss man erfolgreich ein Medizinstudium absolviert haben, um einen Herzkatheter zu legen – ein Eingriff, der mit der gleichen Qualität, jedoch zu deutlich günstigeren Kosten in den USA zunehmend von speziell ausgebildeten »Nurses« erbracht wird? Muss man Arzt für Anästhesie sein, um sicher eine Narkose durchführen zu können? Sollen in der Klinik allein Ärzte Patienten aufnehmen, untersuchen und entlassen dürfen? Wie definieren und messen wir überhaupt Qualität, wenn es um das Handeln geht?

Seit Langem schon steht die Ausbildung junger Ärzte sowie ihre Weiterbildung zum Facharzt in der Kritik; auch dies ein Ausdruck der Verunsicherung und Ignoranz darüber, welche Voraussetzungen ein Adept des Medizinstudiums mitzubringen hat, über welche charakterlichen Eigenschaften er verfügen und welche Fähigkeiten er erlernen sollte, um das zu werden, was später von ihm erwartet wird, nämlich ein »guter Arzt« zu sein. Wartezeiten und Auswahlgespräche flankieren seit einigen Jahren die Abiturnoten als Kriterium für die Zulassung eines Bewerbers zum Medizinstudium. Angeblich aber »machen die Abiturbesten auch das beste Staatsexamen«, resümiert Mike Hänsel, Projektleiter des Auswahlverfahrens an der medizinischen Fakultät der Universität Dresden. Aber sind die Abiturnote und die Note im Staatsexamen, beide von so vielen Einflussfaktoren abhängig, wirklich verlässliche Prädiktoren für die zu erwartende Güte des späteren Arztes? Muss nicht die gesamte ärztliche Ausbildung vom Kopf auf die Füße gestellt werden? Technokratische Lehr- und Lerninhalte dominieren die Ausbildung mehr und mehr, ergänzt zwar, das sei zugegeben, von dringend nötigen sogenannten »Communication Skills Seminars«. Eine zunehmende Verschulung des Medizinstudiums ist jedoch unverkennbar, bemängelt von einer kleinen Minderheit medizinischer Hochschullehrer – einsame Rufer in der Wüste.5

Ist es nicht eigentlich ein Mangel an Bildung, der im Zentrum der Defizite der Ausbildung zum Arzt zu konstatieren und zu beklagen ist? Spielt sich doch ärztliches Handeln, Beraten und Entscheiden bei Weitem nicht mehr nur allein im Koordinatensystem medizinischen und wissenschaftlichen Wissens ab. Mehr und mehr muss der Arzt auch ethische, juristische und wirtschaftliche Dimensionen in sein Handeln und Entscheiden einbeziehen, ganz abgesehen davon, dass die Zahl der Patienten aus unterschiedlichen Kulturen und mit uns fremdem Krankheitserleben unaufhörlich wächst. Welcher Mediziner ist heute diesen Herausforderungen gewachsen?

Kurz und provokant formuliert: Brauchen wir in der ärztlichen Ausbildung – ergänzend zum Physikum – nicht auch ein Philosophikum? Ist es nicht beschämend, dass den meisten Medizinstudenten die grundlegenden medizinethischen Prinzipien am Ende ihrer Ausbildung unbekannt sind? Brauchen wir künftig nicht den umfassend gebildeten, auch und speziell philosophisch geschulten Arzt? Ist ein »guter Arzt« nicht immer auch ein »gebildeter Arzt«?

Die in der Ausbildung zum Arzt bestehenden Mängel verlängern sich in die Weiterbildung zum Facharzt hinein. Drei Missstände sind hier zu nennen: Ein Arzt in der Weiterbildung zum Facharzt braucht Begleitung und Überprüfung, was nur mit einem erhöhten Personaleinsatz zu bewältigen ist. Dieser wiederum kostet Geld, das nicht vorhanden ist, weil 2002 bei der Einführung der Fallpauschalen als Abrechnungssystem für die Kliniken die Kosten für die Weiterbildung nicht bedacht wurden und demnach in die Berechnung der Fallpauschalen nicht einflossen. Weiterbildung wurde als Nebenprodukt der Krankenbehandlung betrachtet, als etwas, das im Klinikalltag »mitläuft«, nicht aber als eine in Lehre und Lernen strukturierte und damit eigenständige und aufwendige Leistung der Krankenhäuser.

Die Wahrnehmung einer Vorbildfunktion, besonders auf dem Feld der Kommunikation mit Patienten und ärztlichen Kollegen, durch ältere, erfahrene Ärzte, im Idealfall Persönlichkeiten, die über exzellentes Wissen ebenso verfügen wie über die Aura des gebildeten und überzeugenden Lehrers – eigentlich die Hohe Schule der Medizin –, ist eine Rarität im bundesdeutschen System der ärztlichen Aus- und Weiterbildung. Nicht nur dass der klassische Assistenzarzt im Krankenhaus zumeist keine geordnete Weiterbildung erfährt. Vielmehr hängt an ihm das, was gemeinhin »Routineversorgung« der Patienten genannt wird und ihm eine Verantwortung aufbürdet, der er allzu oft mangels Aufsicht und Anleitung nicht gewachsen ist. Dies ist nicht nur mit kaum abschätzbaren Risiken für die Patienten verbunden, sondern auch mit zusätzlichen Kosten, da unerfahrene Ärzte für eine Diagnose mehr Untersuchungen benötigen als erfahrene.

Nicht selten wird die Weiterbildung durch leitende Ärzte regelrecht mit Füßen getreten, etwa wenn ein junger Arzt frühzeitig mit einer Untersuchungsmethode vertraut und in sie eingearbeitet wird, um sie dann unter Umständen über Jahre auszuüben, ohne andere wichtige Teilbereiche seines Fachs kennenzulernen, deren Kenntnis für die Facharztanerkennung aber unerlässlich ist. Allein der Chefarzt einer Abteilung, oftmals gesteuert von Eigeninteressen, die wissenschaftlicher oder auch finanzieller Natur sein können, bestimmt die Karrieren der Ärzte seiner Abteilung. Noch vor wenigen Jahren bat mich ein seit zwölf Jahren (!) in der Inneren Medizin als Funktionsoberarzt tätiger Kollege hinter vorgehaltener Hand, ob ich ihm nicht ein halbes Jahr Notfallmedizin bescheinigen könne. Er habe diesen Teil seiner Facharztweiterbildung mangels Zustimmung seines Chefarztes bisher nicht absolvieren können, da er in seiner Abteilung unabkömmlich gewesen sei.

Häufige Nachtdienste und die Erwartung vieler leitender Ärzte, ihre Mitarbeiter mögen doch »nebenberuflich«, also nach dem offiziellen Dienstende, für die Arbeit an wissenschaftlichen Fragestellungen zur Verfügung stehen – zur Mehrung der Reputation des Chefs und seiner Abteilung und in der Regel unbezahlt –, tun ein Übriges, den Beruf des klinisch tätigen Arztes unattraktiv zu machen. Dies macht sich schon bei den Studenten bemerkbar: 2007 förderte eine Untersuchung zutage, dass 42 Prozent derjenigen, die ein Medizinstudium begonnen haben, nicht einmal eine Facharztausbildung beginnen; 2010 konnten 5500 Stellen in deutschen Krankenhäusern nicht adäquat besetzt werden. Besonders unter männlichen Studierenden und Jungärzten macht sich die Flucht aus dem Arztberuf bemerkbar. Zusehends wandern sie in Berufsfelder ab, die bei ähnlich guter Einkommenserwartung weniger belastend und familienfreundlicher sind, wie sie beispielsweise von Unternehmen der Medizintechnik, der pharmazeutischen Industrie oder von Wissenschaftsverlagen angeboten werden.

Nicht zuletzt ist der klinisch tätige Arzt in Traditionen und Sozialisationen eingebunden, die in Stein gemeißelt erscheinen und die von keiner Gesundheitsreform erreicht werden. Kollegialität ist gerade in Ärztekreisen zwar ein geschätztes Verhalten, doch immer noch prägen den ärztlichen Alltag Konkurrenz, hierarchisches Denken und eine ängstliche Getriebenheit bei allen Verrichtungen. Und immer noch herrscht in nahezu allen Krankenhäusern das gegen Ende des 18. Jahrhunderts von der Pépinière, der Anstalt für medizinische Aus- und Weiterbildung, geschaffene und später von den Kliniken übernommene Militär- und Chefarztsystem, das eine pyramidale Befehlsstruktur kennzeichnet. Diese stellt im Zeitalter der flachen Hierarchien nicht allein eine Kuriosität dar. Darüber hinaus birgt ein solches System nicht geringe Risiken und Gefährdungen: Ein zum Leiter einer großen Inneren Abteilung mit kardiologischem Schwerpunkt berufener Arzt, der sich 15 Jahre lang wissenschaftlich im Labor einer Universitätsklinik mit der Elektrophysiologie von Herzrhythmusstörungen befasst hat, kann nicht zugleich eine Intensivstation mit 16 Betten verantwortlich leiten, auf der Patienten mit schwersten Vergiftungen, hormonellen Entgleisungen, Tumoren und dialysepflichtigen Nierenerkrankungen behandelt werden. Nachgeordneten Fachärzten in kleineren Einheiten mehr Leitungsverantwortung zu übergeben, ist im Sinne einer qualifizierteren Behandlung der Patienten nicht allein im Bereich der Intensivmedizin längst überfällig.

Mangel an Zeit und Zuwendung

Nach all den hier dargestellten Mängeln und Fehlentwicklungen wundert die Feststellung, dass die Unzufriedenheit aufseiten der Ärzte ebenso wie aufseiten der Patienten hoch ist und unüberwindbar erscheint, kaum noch. Fragt man Ärzte und Patienten – und dies habe ich viele Male getan –, so erleben beide Parteien den Mangel an Zeit als das zentrale Defizit unserer Krankenhausmedizin: Zeit für ein Gespräch, das diesen Begriff verdient (in dem die Zeitknappheit für eben dieses Gespräch nicht – unausgesprochen – zu seinem Zentrum wird!); Zeit für Zuspruch in der Einsamkeit schwerster Krankheit; Zeit für die Erklärung und Erläuterung von Untersuchungen und Eingriffen; Zeit für die Bewältigung von Angst.

Ein Freund, klug und gebildet, bat mich vor wenigen Monaten, ich möge ihm seinen Arztbrief, der ihm nach der Entlassung aus einer Universitätsklinik auf seine Bitte hin – zögerlich nur – ausgehändigt worden war, »übersetzen«. Er litt an einer seltenen Anämieform, weswegen man ihm die Milz entfernt hatte. Er fühlte sich zwar korrekt behandelt und war frei von Beschwerden. Dennoch zog er ein deprimierendes Resümee seines Klinikaufenthaltes: »Kaum erinnere ich mich, einen Arzt überhaupt gesehen zu haben; erklärt hat mir meine Krankheit niemand; meist schaute ich in müde, freudlose Gesichter – und kalt war es, die Atmosphäre war geradezu frostig!«

Nicht allein verblassen die Figur des Arztes und die des Patienten, vielmehr schwindet das, was der Arzt wesentlich transportiert und der Kranke so sehr wünscht – Menschlichkeit, die lebendig und erfahrbar wird in einem Arzt, der es vermag, am Bett des Kranken innezuhalten, und die Zeit für eine Weile vergisst; der nicht nur zugegen ist, vielmehr Anteil nimmt; der seinen Patienten als Freund und Lotse durch die Untiefen der Krankheit führt; der das richtige Wort findet, wenn ärztliches Können machtlos und der Tod nahe ist. Menschlichkeit – ihr Verlust ist der Inbegriff des Leidens an der Medizin unserer Tage, aufseiten des Patienten ebenso wie aufseiten des Arztes.

Jenseits all dessen, was bereits zur Gegenwart und zu künftigen Szenarien unserer Medizin bekannt ist, werde ich auf die Frage »Welche Medizin wollen wir?« meine sehr persönliche Antwort versuchen. Sie kann nicht anders als vorläufig und fragmentarisch ausfallen. Sie wird sich an meinem über Jahrzehnte gewonnenen ärztlichen Wissen und an meinen Erfahrungen orientieren, deren wichtigste Quelle die zahlreichen in diesem Buch niedergelegten Begegnungen mit Patienten, ihren Krankengeschichten und Schicksalen sind. Auch das kritische Hinterfragen meiner eigenen ärztlichen Praxis und der meiner ärztlichen Kollegen, der mit mir kooperierenden Pflegekräfte und nicht ärztlichen Angehörigen von Klinikleitungen und -verwaltungen fließen in meine Sezierung des gegenwärtigen und künftigen Medizinbetriebs mit ein, ebenso ausgewählte medizinisch-wissenschaftliche Lektüre. Nicht zuletzt ist meine Sicht auf die Medizin und ihren Betrieb geprägt durch die Erfahrung eigener schwerer Krankheit, die ich zu bewältigen hatte und die mich auch weiterhin belastet. Auf diese Weise ist mir die Rolle des Patienten als eines Erduldenden, Abhängigen und Geängstigten ebenso vertraut wie die des »Halbgotts« in seinen vielfältigen Facetten, handele es sich nun um sein ernstes Bemühen, das Patienteninteresse nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen, oder um seine viel kritisierte Selbstherrlichkeit, sein mangelndes Empathievermögen oder das verbreitete Selbstverständnis seiner vermeintlichen Unverletzlichkeit.

Zum Ende des Buches werde ich versuchen, aus der Verknüpfung von persönlichem Erleben und fachlichem Urteil sieben Thesen zur Gegenwart und zur Zukunft unserer gesundheitlichen Versorgung zu gewinnen. Mögen sie sich als nützlich und hilfreich erweisen, der auf vielen Feldern der Medizin zu beobachtenden professionellen und ethischen Erosion Einhalt zu gebieten. Diesen Prozess aufzuhalten, die Medizin vielmehr zukunftsfest zu machen und ihrem zentralen, heute oftmals schmerzlich vermissten Prinzip der Menschlichkeit in seinen vielfältigen Erscheinungsformen innerhalb des Medizinbetriebs künftig mehr Geltung zu verschaffen – kurz: den Menschen von der Peripherie der Medizin wieder in ihr Zentrum zu rücken –, ist das Anliegen dieses Buches.

1 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung 075 vom 5. März 2014.

2 IGEL, für »Individuelle Gesundheitsleistungen«: diverse – zumeist überflüssige, unnütze oder fragwürdige – ärztliche (Vorsorge)-Leistungen, die nicht zulasten der Krankenkasse abrechenbar sind, sondern vom Patienten privat bezahlt werden müssen.

3 Prädiktive (vorhersagbare) Medizin gestattet auf der Basis genetischer Untersuchungen, Krankheitsdispositionen noch vor dem Auftreten klinischer Symptome auf molekularer Ebene zu erkennen, um aufzuklären und/oder präventive Interventionen zu ermöglichen.

4 John D. Lantos, Do We Still Need Doctors?, New York / London 1997.

5 So zum Beispiel der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. März 2009.

Kapitel 1»Das überleben Sie schon!« – Erste Schritte im weißen Kittel

»Sterben ist noch nicht!« – als Praktikant auf der Geschlossenen und als frischgebackener Arzt auf der Inneren erlebt der Autor unmenschliche und sinnlose Behandlungsmethoden, eine Medizin, unnachgiebig und selbstbezogen. Er selbst muss sich seine Machtlosigkeit eingestehen, kollabiert, zweifelt an der eigenen Berufswahl, schämt sich. Eine erfahrene Schwester ist es, die seinen ersten Nachtdienst nicht zur Katastrophe werden lässt.

Der wehrlose Alte

Mit einem entschlossenen Handgriff, der Ungeduld und zugleich Gnadenlosigkeit verriet, hatte Pfleger Troska den von alten Blutergüssen und Kratzspuren übersäten und von Muskelschwund gezeichneten Arm des verwirrten Greises auf die Bettdecke niedergedrückt und mir wortlos zu verstehen gegeben, nun meinerseits den Arm des sich heftig sträubenden Alten auf der Unterlage zu fixieren, um ihm ungestört eine neue Infusion anlegen zu können. »Der braucht Flüssigkeit. Der rutscht uns sonst ins Delir6 und krepiert … hat sie sich schon zum dritten Mal rausgerissen, die verdammte Braunüle7! Später legen wir seine Handgelenke in Riemen, damit der Unfug hier mal ein Ende hat! Woll’n doch mal sehen, ob wir den nicht zur Räson kriegen! Nicht so widerspenstig sein, Alterchen! Anordnung von ganz oben: Sterben ist noch nicht! Ist doch alles nur zu deinem Besten, nicht wahr? Und jetzt schön stillhalten, mein Gutster!«

Troska umschloss nun mit seiner linken Hand die rechte des Greises, um mit seinem quer über dessen fragilen Handrücken liegenden Daumen die papierne, ein bläulich zartes Venennetz überziehende Haut zu straffen und mit Nitrospray, das üblicherweise zur Behandlung von Angina-Pectoris-Anfällen eingesetzt wird, zu besprühen: »Hat mir mal ein Kardiologe verraten«, murmelte er mir gönnerhaft zu, »das Zeug weitet die Gefäße und so lassen sich bei liegender Stauungsmanschette am Oberarm die Venen besser tasten.« Für deren Punktion war nun alles vorbereitet.

Ein letztes Mal versuchte der gequälte Alte, dessen von Warzen und Pigmentflecken übersäter Oberkörper sich jetzt zitternd und unter heftiger Anspannung halb aufrichtete – »Lazarus-Syndrom!«8 schoss es mir durch den Kopf –, mit einer rotierenden Armbewegung dem drohenden Stich doch noch zu entkommen. Aber schon hatte Troska ebenso routiniert wie unnachgiebig und mit dem Kommando »Stillhalten, Opa, sonst tut’s weh!« die Braunüle in einer Vene seines Unterarms platziert.

Meine erste Stelle als Medizinalassistent in einem Kreiskrankenhaus nahe Hamburg, die ich am 4. April 1979 antrete; mein dritter Tag auf der Inneren Abteilung. Bewusst hatte ich mich für diese »Klitsche in der Pampa« – so hatte einer meiner Kommilitonen verächtlich mein Vorhaben kommentiert, ein kleines Krankenhaus für meinen beruflichen Einstieg zu wählen – entschieden. Denn, so hatte mir einer meiner Tutoren während des Studiums verraten: »Wenn du deine erste Stelle antrittst, such dir eine kleine Klinik. Da wirst du gebraucht, da lernst du mehr und schneller als in der Anonymität einer Großklinik. Und halt dich an die Schwestern und Pfleger! Von denen profitierst du gerade in den ersten Monaten mehr als von den Ärzten, die eifersüchtig auf ihrem Wissen und ihren Fertigkeiten hocken, weil sie in dir schon den künftigen Konkurrenten wittern.« Dies beherzigend hatte ich heute Morgen den Pflegekräften ein Frühstück spendiert. Und Pfleger Troska hatte mich in seiner jovialen Art gleich unter seine Fittiche genommen.

Jetzt stand ich ihm gegenüber auf der anderen Seite des Bettes und drückte halbherzig den Arm des winselnden Greises gegen die Matratze. Flackernden Blicks schaute er Hilfe heischend zu mir empor. Seinen Blick zu erwidern, brachte ich nicht fertig. Ich spürte, dass mit ihm etwas Grausames und Sinnloses geschah. Und ich schämte mich. Auch wenn ich als Novize in der Stationshierarchie ganz unten stand; auch wenn ich nicht einmal wusste, wie man eine Infusion entlüftet, geschweige denn professionell eine Braunüle legt – irgendetwas hätte ich für dieses vor Schmerzen grimassierende, flehende Bündel Mensch, dessen Hände sich jetzt in das Bettlaken krallten, tun müssen. Ich hätte schreien mögen, doch etwas schnürte mir die Kehle zu. Wie schon Jahre zuvor als Praktikant auf der Geschlossenen in der Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf-Grafenberg.

Dieter S., Therapierefraktäre Schizophrenie

Er ist mir noch in guter Erinnerung: Dieter S., 22 Jahre alt. Es war seine fünfte Einweisung in die Psychiatrie – in zwei Jahren. Ich durfte seine Anamnese aufnehmen: »Therapierefraktäre Schizophrenie« lautete die bereits vor vielen Jahren gestellte Diagnose. Alle Versuche, den Ängsten und Wahnvorstellungen dieses jungen Mannes beizukommen, waren gescheitert, doch der Ehrgeiz der Ärzte, ihn zu behandeln, war ungebrochen. »Insulinschock – der letzte Pfeil in unserem Köcher!«, hatte der Oberarzt bei der Morgenbesprechung lauthals verkündet. Durch eine kurzfristige Unterzuckerung, die mit Bewusstlosigkeit und Krämpfen einherging, hoffte man damals, die psychotischen Symptome mildern zu können. Dieter S. hatte diese barbarische Behandlung bei zwei Patienten miterlebt. Seit Tagen schon wusste er, dass auch er ihr unterzogen werden sollte. Verzweiflung, abgrundtiefe Angst hatten ihn ergriffen. »Können Sie mir nicht helfen?«, flehte er mich an. »Ich muss raus hier, bevor sie mit ihren Spritzen kommen und mich fertigmachen, bitte. Sie kommen doch sicher an den Stationsschlüssel?« Nein – das wagte ich nicht. Ich durfte mich nicht zu seinem Komplizen machen; ich musste sein Ansinnen zurückweisen, auch wenn ich mit ihm fühlte. Ich versprach, während der Behandlung nicht von seiner Seite zu weichen und »aufzupassen«.

Am Nachmittag ist es so weit. Der Oberarzt und drei Pfleger, ausgestattet mit Infusionen, Spritzen, Ledermanschetten und einem Gummikeil zur Zungenbissprophylaxe wegen eines möglicherweise auftretenden Krampfanfalls, betreten sein Zimmer. Dieter S. sitzt mit wandweißem Gesicht und aufgerissenen Augen auf der Bettkante. »Nein«, zischt er leise, jeden Muskel seines Körpers anspannend, »nein, niemals!« »Wir sind fünf, Dieter«, sagt der Oberarzt sanft und lächelt dabei, »also sei vernünftig und leg dich aufs Bett, in einer halben Stunde ist alles vorbei.« Und als sei die Bettkante eine Bogensehne, katapultiert sich der Kranke unversehens mit einem verzweifelten Hechtsprung in Richtung der Zimmertür. Vergeblich. Er landet in den Armen der Pfleger, die ihn routiniert zu Boden ringen; einer auf seiner Brust kniend, ein weiterer auf seinen Oberschenkeln, ein dritter streckt gegen den äußersten Widerstand seine linke Ellenbeuge, um dem Oberarzt die Injektionen zu ermöglichen. Laokoon gleich windet sich der Kranke keuchend unter der Übermacht der Arme und Körper seiner Peiniger; livide verfärben sich Hals und Gesicht unter dem Stakkato seiner Atmung, die Kopf- und Halsvenen prallen Schläuchen gleich hervortreten lassen; er schreit, spuckt und beißt, was der wie ein Alb auf seiner Brust hockende Pfleger schließlich mit einem ausholenden Schlag in sein Gesicht und einem »Nicht doch, Dieter!« beantwortet. Dann ist es still. Schon hat der Oberarzt den Stauschlauch an seinem Oberarm angelegt: »Erst das Valium, dann die Insulinspritze bitte …«

Ich stand da, zwischen Tür und Waschbecken, stumm, innerlich bebend – und hatte ein Versprechen nicht gehalten. Eine erste Ahnung von der Selbstbezogenheit und Unnachsichtigkeit der Medizin stieg in mir auf. Mächtig ihre Rituale; unbeteiligt, ja kaltblütig ihr Vorgehen; selbst Gewalttätigkeit war ihrem Behandlungsrepertoire offenbar nicht fremd. »Das alles«, erläuterte mir der Oberarzt beim Verlassen des Raums, »war ausschließlich im Interesse des Patienten und zu seinem Nutzen; es sieht schrecklicher aus, als es ist. Man gewöhnt sich daran.«

Und ich? Wollte, ja musste auch ich künftig Patienten auf diese Weise zur Gesundheit verhelfen?

Vor mir der wehrlose Alte. Unmerklich fast hatte er aufgegeben; mit einem Mal schien aller Widerstand aus seinem ausgemergelten Leib gewichen. Ruhig, ja geradezu friedlich lag er da, mit geschlossenen Augenlidern, eine blasige Speichelspur triefte aus seinem rechten Mundwinkel. Friedlich? Nein – niedergestreckt vor Erschöpfung als Unterlegener in einem ungleichen Kampf! Rhythmisch tropfte die Infusion in seinen Körper. Ich war sicher, der Alte hätte sie zurückgewiesen, hätte man ihn nur gefragt. Aber diese Flasche mit Glucoselösung sollte ihn daran hindern, so ging es mir durch den Kopf, sein Leben zu verlassen, das längst seinem natürlichen Ende entgegenging. Hier jedoch war kein natürliches, und schon gar kein friedliches Ende. Hier tobte – stumm – eine Schlacht!

Herrschaft über Leben und Tod – war es wirklich dieses Klischee, worum es in der Medizin letztlich ging? Durfte nur derjenige sterben, dem sie es gestattete? Wollte sie sich anmaßen, das Lebensende eines Menschen schlechthin zu ignorieren? War ihr nicht vielmehr aufgegeben, allein ein vorzeitiges, ein qualvolles, ein vermeidbares Sterben zu verhindern?

Gemeinsam legten wir seinen zarten Handgelenken schwere gepolsterte Ledermanschetten an und befestigten sie mit breiten Riemen seitlich am Bettrahmen. Erleichtert tätschelte Troska die hohlen Wangen des Alten. »Nun ist alles gut, nichts kann mehr schiefgehen! Jetzt noch in der Neunzehn den Blasenkatheter, dann sind wir fürs Erste durch!« Benommen folgte ich ihm.

Kollaps – mein Selbstschutz

»Üblicherweise«, sagte er, als wir an das Bett der an Multipler Sklerose und schwerem Übergewicht leidenden Frau G. traten, »werden Blasenkatheter bei Frauen von unseren Schwestern gelegt, aber heute in der Frühschicht sind wieder zwei von denen ausgefallen. Krankgemeldet! Im Vertrauen, Kollege, die haben ihre Tage und weiter nichts. Glaub mir, die hätt’ ich hier auch manchmal gern, meine Tage. Nur unsere Kleine ist außer mir heute im Dienst, die Schülerin, aber die kann das noch nicht. Also, wer macht’s? Ich muss es machen. Kann mir auch was Schöneres vorstellen, als einer alten Frau zwischen die Beine zu greifen.« Mit Schwung schlug er ihre Bettdecke zurück: »Hat aber auch was Gutes, jedenfalls für dich … so lernste früh die Realitäten kennen: Verwirrte, Bettlägerige, Inkontinente, Todgeweihte – glaub mir, Innere Medizin ist nichts anderes als Geriatrie. Siechenmedizin! Nur 20 Prozent unserer Kranken sind jünger als 65! Überleg dir, ob du dir das auf Dauer antun willst.«

Während er mit seinen Armen unter ihre Knie griff, sie anwinkelte und gleichzeitig spreizte, bedeutete er mir, ihre Bauchdecken mit meinem Unterarm kopfwärts zu drücken, damit er hantieren könne. Die alte Frau wimmerte. Beißender Harndunst drang in meine Nase. »Bei ’ner Frau liegt der Harnröhrenausgang gleich unter der Klitoris … hier, da musste rein mit dem Schlauch; komm, beug dich mal runter, sonst siehste nix!« Und zu der Patientin gewandt: »Frau G., wir legen jetzt mal ’nen Schlauch in ihre Blase, damit der Urin besser abläuft, einverstanden? Die Beine nicht bewegen, bitte, umso schneller sind wir fertig, ist mal für ’nen Moment unangenehm!« Fast stießen wir mit unseren Köpfen zwischen den Schenkeln der Patientin zusammen. Mit seiner behandschuhten Linken zog er nun ihre Schamlippen auseinander, während er mit der Rechten hinter sich nach dem auf dem Rollwagen steril angerichteten und mit Gleitcreme versehenen Gummischlauch tastete und ihn an die Harnleiteröffnung heranführte. »Schau her! …« Es war das Letzte, was ich vernahm; dann sackte ich neben dem Bett zusammen, verlor die Besinnung und kam erst wieder zu mir, als ich auf der Couch des Schwesterndienstzimmers über mir das grinsende Gesicht meines Mentors erblickte: »Hallo, Dr. Sensibel! Kollaps überstanden? Alles wieder in Ordnung?«

Um mich herum betretenes Schweigen. Erschreckt und beschämt knete ich meine noch tauben Hände. Verständnisvoll lächelnd bringt mir die Stationsschwester eine Tasse Kaffee. Dr. Mahmud K., der irakische Stationsarzt im letzten Weiterbildungsjahr des Facharztes für Innere Medizin, grünäugig und mit langen Wimpern, unter denen er irritierend sanftmütig lächeln konnte, war gerade aus der Endoskopie zurückgekommen und hatte sich eine Zigarette angezündet. »Mach dir nichts draus, bist einfach noch zu dünnhäutig, dein Nervensystem braucht ’ne Isolierschicht und die kriegste schon mit der Zeit. Mach Schluss für heute. Morgen siehste das hier schon mit anderen Augen.«

Mein erster Tag auf der neuen Station. Er hatte fünfeinhalb Stunden gedauert, und ich hatte ihn nicht überlebt. Mutlos und mit dem Gefühl, versagt zu haben, machte ich mich auf den Weg nach Hause.

Zweifel

Hatte ich wirklich die richtige Berufswahl getroffen? Hatte ich überhaupt wählen können? Mit einer Familie im Hintergrund, die für ihren männlichen Nachwuchs nur wenige der Tradition der Familie angemessene Berufe zu kennen schien, nämlich Theologe, Jurist, Künstler oder eben Arzt? Wie hatte ich es mit einem Abiturnotendurchschnitt von 2,4 fertiggebracht, vorbei am Numerus clausus schließlich einen der so heiß begehrten Studienplätze für Medizin zu ergattern? Dass es mir dennoch gelungen war, verdanke ich einem Coup, den ich mir mit meinem Freund und Kommilitonen Gregor S. ausgedacht hatte. Er hat, bis weit in die klinischen Semester hinein, immer wieder mein Gewissen belastet und mir das Gefühl vermittelt, illegitim in die Elite der Auserwählten eingedrungen zu sein. Zweifel und Selbstvorwürfe plagten mich. War das nun die späte Vergeltung für meine Anmaßung?

Gregor S. und ich teilten das gleiche Schicksal: Berufswunsch Arzt bei bescheidenem Abiturnotendurchschnitt. Die Zentralstelle für die Vergabe von Medizinstudienplätzen hatte uns unberücksichtigt gelassen, und so versuchten wir es als immatrikulierte Biologiestudenten über einen Umweg. Jede Universität durfte einen kleinen Anteil ihrer Medizinstudenten selbst auswählen, nach Kriterien, die mehr oder weniger undurchsichtig blieben. In ihrem Mittelpunkt standen Gespräche, in denen die Eignung der Kandidaten durch einen Zulassungsreferenten zu prüfen und beurteilen war. Entscheidend war, sich diesen Zulassungsreferenten, in der Regel der Ordinarius eines klinischen Fachs, auf irgendeine Weise gewogen zu machen. In unserem Fall handelte es sich um den forensischen Pathologen Professor K., dessen zu einem Rhinophym gewordene, blumenkohlartige Nase uns schon bei unserer ersten Vorstellung vermuten ließ, es mit einem Mann zu tun zu haben, der gern Hochprozentigem zusprach. Mehrfach besuchten wir den freundlichen alten Herrn zu »Eignungsgesprächen«, nie jedoch ohne ihm einen kostbaren Cognac zu kredenzen. Der belastete unser schmales Budget zwar nicht unerheblich, erwies sich letztlich aber als lohnende Investition. »Kommen Sie bald wieder«, rief er uns jedes Mal beim Verlassen seines verrauchten und mit zahllosen anatomischen Präparaten vollgestopften Arbeitszimmers nach. Schließlich hatte er unserem Zulassungsantrag stattgegeben, mit einer bizarren Unterschrift, die jenseits des rechten unteren Antragsrandes auf seiner Schreibtischplatte endete: »Sie beide haben’s ja wirklich verdient. Alles Gute für Ihren weiteren Weg.«

Und jetzt aufgeben? Weil ich kollabiert war und mich schämte? Mein Nervenkostüm nicht robust genug schien? Weil alte Selbstzweifel an mir nagten? Das durfte nicht sein. Ich beschloss, sie auszublenden und ihnen keinen weiteren Raum zu lassen. Schließlich kam schon bald der erste Nachtdienst auf mich zu.

»Keine Sorge – wir schaffen das schon«