Weltenwende - Wolf Awert - E-Book

Weltenwende E-Book

Wolf Awert

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Beschreibung

Die Welt ist im Umbruch, die Zukunft hängt in der Schwebe. Aber wie immer diese Zukunft aussehen wird, eines darf auf keinen Fall passieren: Dass die Geister und die Toten unter der Leitung des mächtiges Geistes Vye die Welt der Lebenden erobern. Können Tama und ihre Verbündeten jenen Anstoss geben, den die Zukunft der Lebenden braucht? Sind die Kinder der Drachentöchter stark genug, einer ganzen Welt zu helfen? Und was ist mit den Drachen? Werden sie mitspielen, eine Zukunft zu retten, die nicht die Ihre ist? Mit diesem Band ist die Serie abgeschlossen. Der Hintergrund der Geschichte: Unerwartet tauchen auf der Welt Halva Gestaltwandler auf. Dem Aussehen nach wilde Tiere, doch mit Vernunft gesegnet und der entsetzlichen Fähigkeit, biologische Grenzen zu durchbrechen und sich mit anderen Arten fortzupflanzen. Bereits ihre bloße Gegenwart bringt in den anderen vernunftbegabten Arten, den Drachen, Elfen und Menschen, die finstersten Seiten zum Vorschein. Die Elfen versuchen deshalb, die Gestaltwandler und ihre Mischlings-Nachkommen einzufangen und wegzusperren, doch der Keim des Zerfalls breitet sich unaufhaltsam aus. Unter den Elfen droht ein Bürgerkrieg, die Menschen dringen in den Siedlungsraum der Elfen ein und die Drachen scheinen unschöne Geheimnisse zu haben. Am Ende beginnt sogar Halva, sich selbst zu zerstören. In dieser Welt macht sich die Viertelelfe Tamalone auf, ihre Ziehmutter wiederzufinden und die Rätsel ihrer Herkunft zu lösen. Niemand rechnet mit dem, was ihre Suche auslösen wird – sie selbst am wenigsten.

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Weltenwende

Wolf Awert

Band 12 der Drachenblut-Reihe

©Wolf Awert 2024

Machandel Verlag Haselünne Charlotte Erpenbeck

Cover: Detlef Klewer

1. Auflage 2024

ISBN 978-3-95959-179-9

Karte der Welt Halva

Was bisher geschah

Viele Dinge haben ihren Abschluss gefunden. Alte unverstandene Visionen sind ein Teil der Gegenwart geworden und haben sich erklärt. Auch der alte Streit mit Altvater Godwin ist beigelegt. Doch es gab auch dunkle Wolken. Tamas Neugeborenes hat Godwins Magie nicht überlebt, und Paluda ist so schwer verletzt, dass es nicht sicher ist, ob sie sich jemals wieder richtig wird bewegen können. Noch immer drohen die Toten, aus der Welt der Lebenden ein „Dunkles Viertel“ zu machen. Diese Gefahr ist kein Teil von Tamas Prophezeiungen, aber sie ist die Einzige, die dem mächtigen Geist Vye nahekommen kann.

Personae dramatis

GODWIN, Altvater aller Drachen

KRIECHER, Drache mit einem gelähmten Flügel

TAMALONE, genannt Tama, ein Dreiviertelmensch mit einigen rätselhaften Fähigkeiten

PANDO, ein Gestaltwandler in Tierform und Freund Tamalones

DORMAN, Pando in Menschengestalt

CHAMSIANA, Pando in Elfengestalt

ZSARDYNE, Pandos schwarze Schwester

DIE UNAUSSPRECHLICHE, Eine rätselhafte Frau unklarer Rasse. In Centrell nennt sie sich Blauer Schlafmohn, sie war Tamas Pflegmutter

Waldelfen

SUMPFWASSER, bis zu seinem Tod Erster Berater der Waldelfen und Tamas Auftragsgeber

STARKBAUM, Drachentochter der Gewalt und selbsternannte Beschützerin von Lufthauch

LUFTHAUCH, Waldläufer

BORK, Truppführerin der Waldelfen

LIND und MAITRIEB, zwei ihrer Jäger

IMMERGRÜN, Ein Diener vieler Herren

ZIMTCHEN, Offizier der Wehrhüter und angeblich Sumpfwassers Tochter

SONNENKRANZ, Sprecher des Elfenrates

Stadtelfen

TREIBGUT, Magier der Komposits und Hersteller von Artefakten

KÖNIG NACHTNEBEL, Artefakthändler und Treibguts Partner, arbeitet später unter Barionstab

WILLJA, Viertelelfe, arbeitet an Artefakten

STEINDORN, ehemaliger Stadtkommandant von NA-R

RÄTSELKRAUT, der eigentlich GRÜNKELCH heißt, ein Verkäufer Nachtnebels

BARIONSTAB, Familienältester des Hauses Barion und Anführer der Stadtelfen im Krieg gegen die Waldelfen

Menschen in NA-R

SCHWIMMENDES SCHWERT, Regentin der Stadt bis zu Lufthauchs Ankunft.

GEFLECKTER GELBZAHN, Steindorns Sohn und wiederernanntes Ratsmitglied

MERJINA, Frau, reinrassiger Mensch, arbeitet an Artefakten

SCHLANGENAUGE, Führer der Unterwelt

Familie in NA-R

ALTWI, Tamalones leibliche Mutter

HOGGER, ihr Sohn und Tamas Halbbruder

BAERBEN, ihre ältere Tochter und Tamas Halbschwester

NEVEN, ihre jüngere Tochter und Tamas Halbschwester

AUREON und ARGENTON, Tamas Halbbrüder

PALUDA, Tochter von Torso 

POLA-POLON, Merjinas Sohn

Sonstige

TORSO, Gestaltwandler und Froschmensch von gewaltiger Sprungkraft

AUFPASSER, Verwalter der Bergbausiedlung

SEELE DES AUSGLEICHS, seine Begleiterin (dritte Drachentochter der Rache)

ANIMACHRON, erste Drachentochter der Rache

HORNFINGER, (hist.) vergessener Expeditionsleiter der Waldelfen

CILLIA, (hist.) Hornfingers Frau

DER WANDERER, ein Wesen aus der Welt der Toten

ZWEI GEISTER, Wesen der Vergangenheit im Dunklen Viertel

GALMEI, Magier der Menschen und Minenbesitzer

FEUERBLÜTE, Godwins Enkelin aus Animachron

Personen in Centrell

BLAUER DREISPORN, Bewohnerin des Hauses Blau und zweite Tochter der Rache

BLAUER SCHLAFMOHN, die Unaussprechliche und Freundin von Blauer Dreisporn

Die Drachentöchter

DIE TOCHTER DER GEWALT, lebte bei Godwin, heißt nun Starkbaum

DIE DREI TÖCHTER DER RACHE, wurden von der Drachenmutter in die Welt geschickt. Animachronos zu Godwin, Blauer Dreisporn nach Centrell und Seele des Ausgleichs zu den Menschen

DIE ZWEI TÖCHTER VON LIEBE UND VERGEBUNG, Pando trägt das Weiß der Unschuld, Zsardyne das Schwarz der Fruchtbarkeit

Seele des Ausgleichs

Seele des Ausgleichs erzählte Treibgut alles, was sie über die Pläne der Geister wusste. Ihre eigene Verbindung mit dem Gutsherrn ließ sie im Ungefähren, aber Treibgut zeigte Verständnis dafür. Auch dass ihre Informationen noch nicht vollständig sein konnten, nahm er gutmütig hin, war er doch froh, überhaupt unterrichtet zu werden. Sie selbst konnte jetzt nur noch darauf warten, dass der Gutsherr ihr auch noch den letzten Punkt verriet, das noch nicht abgeschlossene Geschäft. Bis dahin war sie zur Tatenlosigkeit verbannt. Doch Abwarten war keine Stärke der Drachen. Umgehend begab sie sich nach NA-R. Viel Hoffnung, dass Willja weitergekommen war, hatte sie nicht, aber alles war besser, als herumzusitzen und zu warten.

Sie überraschte Argenton und Willja in einer engen Umarmung und fühlte zu ihrer Verblüffung einen Stich in ihrem Herzen. „Dummes Ding“, schalt sie sich. Dass Argenton der Vater ihrer ungeborenen Kinder war, machte ihn noch lange nicht zu einem Ehemann, wie die Menschen ihn kannten. Ihre Drachenhälfte lachte sie aus, ihr Elfenviertel verstand erst gar nicht, worum es ging, aber das dumme Viertel Menschenblut genügte für den Schmerz, den sie fühlte.

Albernheiten.

Sie ließ sich nichts anmerken, sah über Argentons Verlegenheit ebenso hinweg wie über Willjas erhitztes Gesicht.

„Ich habe gesehen, dass die drei kleinen Bäumchen in der Nähe des Ausgangs verschwunden sind“, sagte sie. „Ich hoffe, es ist ihnen nichts passiert.“

Willja war Seele dankbar für diese Frage, nahm sie der Situation doch etwas von ihrer Peinlichkeit. 

„Eine Waldelfe hat sie abgeholt.“

„Was??“

Eine doppelte Frage, ausgesprochen von zwei Mündern.

„Das hast du mir gar nicht erzählt“, fügte Argenton noch hinzu.

„Ich hielt es nicht für wichtig“, sagte Willja und berichtete von der Waldelfe, die gekommen war, die sterblichen Überreste des Elfenmagiers abzuholen.

„Was ihre Toten angeht, sind die Waldelfen den Drachen ähnlich. Was dem Volk wegstirbt, muss dem Volk zurückgegeben werden. Bis zu diesem Punkt ergibt die Geschichte einen Sinn“, sagte Seele, aber ihr Gesicht zeigte Zweifel und Argwohn.

„Du sagtest, seine Umrisse seien unscharf gewesen.“

Auch Argenton gefiel die Sache nicht. „Das heißt, die Waldelfe wollte nicht erkannt werden. Und das wiederum bedeutet, dass du sie schon einmal gesehen haben musst.“

Willja schaute ratlos drein. „Möglich. Was soll ich groß dazu sagen.“

„Und er hat sich die drei Tontöpfe unter den Arm geklemmt und ist von hier aus in den Elfenwald aufgebrochen? Ein lächerlicher Gedanke. Irgendetwas gibt hier einen unangenehmen Geruch ab.“ Argenton schaute verärgert.

Auch Willjas gute Laune war verflogen. Was bildeten sich die beiden ein, sie hier zu verhören, als stände sie unter Anklage. „Nein, er bat um Hilfe“, sagte sie ungnädig. „Zwei meiner Leute halfen ihm tragen. Sie brachten die Töpfe in das Viertel der Gestaltwandler, wo er sie in der Nähe von Büschen und Bäumen … Ich weiß nicht mehr genau. Ich habe nicht hingehört. Und ihr braucht nicht so vorwurfsvoll zu schauen. Ich hatte dringendere Dinge zu erledigen, als mich um eine tote Waldelfe zu kümmern.“

„Ist schon gut“, sagte Seele. „Niemand macht dir Vorwürfe. Aber diese Waldelfe hätte entweder mit einem Lasttier kommen müssen oder die Töpfe zu den Werkstätten der Waldelfen am Rande der Stadt bringen lassen, wo sie hätte Hilfe erwarten können. Das Viertel der Gestaltwandler ist zu nichts anderem gut, als dort etwas zu verstecken. Ich werde mich darum kümmern und nachsehen. Mach dir keine Gedanken.“

„Lass sie in Ruhe, Argenton. Eine Waldelfe kann mit ihr machen, was sie will, wenn sie es darauf anlegt.“

Seele des Ausgleichs sah zufrieden, wie Argenton zusammenzuckte. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen.

Argenton hatte Seeles Worte nicht verstanden, wohl aber, dass sie zu ihm gesprochen hatte. „Noch einmal, bitte!“

Seele schüttelte den Kopf. „Du bist stark geworden“, sagte sie nur.

„Was geht hier gerade vor zwischen euch beiden?“, sagte Willja. Ihre Stimme hatte eine ungewohnte Härte angenommen.

„Nichts“, sagte Seele. „Ich wollte nur wissen, wie weit er mit seiner Drachenhälfte – na ja, eine Hälfte ist es ja nicht ganz – ist. Er macht Fortschritte. Aber sag mir lieber, ob ich auf einen bescheidenen Fortschritt bei dem Artefakt hoffen darf.“

Willja seufzte. Heute war nicht ihr Tag. Dabei hatte er doch so schön angefangen. „Ich habe ein Artefakt von ungewöhnlicher Stärke hergestellt. Es besteht aus einer kleinen Kapsel, die mit Knochenmehl verstorbener Magier und einigen Tropfen Drachenblut gefüllt ist. Halbdrachenblut, verzeih. Ich habe Animachrons Blut dafür verwendet.“

„Und?“

„Nichts und. Das Artefakt ist fertig. Ich weiß nur nicht, was es bewirkt.“

„Warum nicht?“

„Weil es zu stark für mich ist. Weil ich nicht weiß, was es mit mir anstellt, wenn ich es loslasse. Weil ich nur eine kleine Viertelelfe bin, von der alle Welt ein Wunder erwartet, für das ich nicht erschaffen wurde. Ich werde es Meister Treibgut vorlegen, wenn er vorbeischaut.“

„Ist schon gut, kleine Viertelelfe.“ Seele nahm Willja in den Arm und umhüllte sie mit ihrem Drachenhauch. „Niemand verlangt Wunder von dir, und niemand wirft dir vor, dass die Welt zusammenzubrechen droht und du die Katastrophe nicht aufhalten möchtest. Wir Drachentöchter ziehen in den Krieg. Du nicht. Dir sind wir dankbar für jedes bisschen Hilfe, das wir bekommen können. Gib mir das Artefakt. Ich werde versuchen, es zum Leben zu erwecken. Ich glaube nicht, dass es mich umbringen wird. Vielleicht spricht es sogar zu mir. Und wenn du neues Drachenblut brauchst, musst du nicht Animachron fragen. Ich bin ebenfalls bereit, dich damit zu versorgen. Es kommt für mich jetzt nicht mehr darauf an, welche Drachenregeln ich noch breche. Mag ich auch Seele des Ausgleichs und der Harmonie genannt werden, so bin ich doch eine Kriegerin wie die Unaussprechliche oder Zsardyne und fürchte den Tod nicht.“

Sie ließ Willja wieder los, die das Gefühl hatte, aus einem Zauberbann zu erwachen, und umarmte Argenton kurz und heftig, bevor sie ihm tief in die Augen schaute. 

„Argenton, Geliebter. Du wirst dich jetzt um Willja kümmern. Sorge dafür, dass es ihr gut geht, dass sie ihr Lachen wiederfindet und ihre freche Sorglosigkeit. Du bist ein Mann. Du weißt, wie das geht. Und ich begebe mich jetzt in das Viertel der Gestaltwandler und suche die drei Töpfe der Waldelfe. Alle meine guten Wünsche sind bei euch beiden.“

Immergrün

Die schwarze Luft vor ihm schien zu kochen. Schlieren bildeten sich, in der Schwärze entstanden schwarze Flecken, als ob es mehrere Arten von Dunkelheit geben könnte. Die schwarze Luft ähnelte mehr einem Lebewesen als etwas, das man atmen konnte. Die drei Töpfe mit den kleinen Bäumchen, die er ihr geopfert hatte, schienen sie nur noch hungriger gemacht zu haben.

„Vergangen ist vergangen und fort ist fort“, sagte sich Immergrün, drehte der Dunkelheit den Rücken zu und machte sich auf den Weg. Wo er annahm, dass man nicht auf ihn achtete, bewegte er sich schnell. Wo Blicke ihm folgten, leistete er sich nur lange Schritte. Er verließ zunächst NA-R, querte dann den ersten und danach auch den zweiten Siedlungsring der Stadt. Erst als er den Gutshof vor sich sah, wurde er langsamer.

„Ich bin gekommen, um erneut Eure Hilfe anzufragen. Einen Wagen, ein Zugtier, Esel, Pferd oder Ochse, und einige starke Arme, denen es nichts ausmacht, das, was vergraben ist, dem Licht zurückzugeben. Ich hoffe, dass der Preis für Eure Hilfe sich nicht verändert hat.“

„Wie sollte er?“, sagte der Magier und Gutsherr. „Ich bin ein ehrlicher Händler, der zu seinem Wort steht.“

Er rief einen seiner Untergebenen zu sich, teilte ihm mit, dass der Fremde, der ihm helfen wollte, das Gräberfeld aufzulösen, gekommen sei und was er dafür brauchte. „Gebt ihm einen großen Wagen und einen Ochsen oder zwei. Es ist möglich, dass er selbst damit nicht auskommt und eine zweite Fahrt nötig ist. Also haltet euch bereit.“

Gold wechselte den Besitzer, und Immergrün folgte seinem neuen Helfer. Es war ihm aufgefallen, dass der Hausherr ihn nicht verabschiedet hatte. Aber das war auch das Einzige, was er zu bemängeln hatte. 

Sie ließen sich Zeit. Der Wagen wurde aus seiner Remise gezogen und am Gräberfeld abgestellt. Zwei Ochsen wurden Immergrün gezeigt. Sie würden erst später ins Geschirr gehen. Die eigentliche Arbeit begann erst, als die Sonne unterging. Es war eine elende Schinderei. Leichnam für Leichnam wurde aus seinem Grab geholt und in ein Tuch gehüllt. Das Tuch wurde gut verknotet und anschließend auf den Wagen geworfen. Bei den ersten Körpern polterte es noch, als würden sie gegen ihre Behandlung protestieren, aber je voller der Wagen wurde, desto stiller ging alles vor sich. Sie hörten auf, als der Wagen gut gefüllt war. Ein süßlich herber Gestank lag in der Luft, der die Männer hinten am Gaumen kratzte.

„Mehr geht nicht“, sagte der Vorarbeiter. „Und passt gut auf den Weg auf. Die Ochsen sind stark, aber der Wagen ist schwer. Ich hoffe, Ihr könnt das Gespann lenken.“

Immergrün versicherte ihm, dass er sich darüber keine Gedanken zu machen brauchte. Wer ein Gefühl für Hirsch, Dachs und Hase hatte, würde auch mit Ochsen gut auskommen können.

Er umfuhr NA-R, mied den Haupteingang zur Stadt und erst recht den Teil, an dem Gleise endeten. Er durchquerte die Siedlungsringe, wo sie am dünnsten waren, wo nur noch Katen anstelle von Höfen standen und wo man einen weiten Weg zurücklegen musste, um in die Stadt zu gelangen. Er erreichte den Zaun zu Viertel der Gestaltwandler, fuhr an ihm entlang, bis er das dunkle Viertel erreicht, hielt an und blockierte die Räder. Die Ochsen waren ein wenig unruhig. Sie hätten gern etwas mehr Abstand von der Dunkelheit gehabt.

Der Tag brach an. Das war gut, denn nun kam der schwerste Teil der Arbeit, und dazu brauchte er Licht. Er stieg über den Bock auf den Leichenhaufen, stemmte das erste Bündel hoch und warf es über den Zaun. Es verschwand in der Dunkelheit. Immergrün war eine Waldelfe in den besten Jahren, der es an Kraft und Stärke nicht mangelte. Bündel um Bündel verschwand im Dunkel, aber bereits nach den ersten zehn Leichen gönnte er sich eine Pause. Es war nicht das Gewicht allein, was er werfen musste. Er konnte die natürliche Magie der Natur nicht nutzen, die ihm im Wald immer zur Seite stand, hier aber von der dunklen Wand abprallte und sich so gegen ihn stellte. Von jetzt ab wurde die Anzahl der Bündel, die er warf, immer weniger und die Pausen immer länger, bis er gegen Mittag im grellsten Sonnenlicht endlich mit seiner Arbeit fertig war. Ihm graute davor, in der nächsten Nacht die gleiche Plackerei noch einmal leisten zu müssen. Aber welche Wahl hatte er schon. Er stieg auf den Bock, löste die Bremsen und begab sich auf den Rückweg. Es gab noch einiges zu tun, wenn er den Befehl des Geistes erfüllen wollte.

Seele des Ausgleichs

Das neue Artefakt hing an ihrem Hals unter dem Hemd. Es strömte Kraft aus und Zuversicht. Seele des Ausgleichs konnte die Magie spüren. Ob sie ihr bei dem half, was sie vorhatte, wusste sie noch nicht. Sie hatte ohnehin wenig Erfahrung mit Artefakten. In den späten Nachtstunden machte sie sich auf den Weg zum Gutshof. Sie hatte es eilig. Deshalb zog sie sich aus, nahm das Artefakt ab und wickelte es in ihre Kleidung. Sie nahm ihre Drachenform an und das Kleiderbündel an sich. Dann flog sie zu dem Gutshof, betrat ihn über das Dach, und begab sich, nun wieder in Menschenform, nackt und mit dem Kleiderbündel unter dem Arm in ihr Zimmer.

Sie schlief länger als gewöhnlich, und als sie ihr Frühstück einnahm, hatte sie das kleine Zimmer, das außer von der Morgensonne nur von ihr und vom Hausherrn genutzt wurde, ganz für sich. Das war ihr lieb so, denn sie hatte viel erfahren und wenig davon verstanden. Vor allem interessierte sie, was aus den drei Töpfen mit den Bäumchen und den Überresten der Waldelfe geworden war. Sie hatte sich den Ort beschreiben lassen, wo sie abgestellt worden waren. Aber die Bäumchen waren verschwunden, als sie dort ankam. Wohin? Das war jetzt eine der Fragen, auf die sie eine Antwort finden musste.

Auch zu Argenton kehrten ihre Gedanken zurück. Wie er ohne eigenes Verschulden zwischen zwei erfahrene Frauen geraten war. Tamas Freundin Willja war in einem Alter, in dem andere Frauen schon lange eine eigene Familie hatten, und war nach allem, was sie über Willja gehört hatte, in Liebesdingen recht bewandert. Und sie selbst? In Sachen Liebe war sie eine Anfängerin wie Argenton, verhedderte sich ständig in diesem Netz aus Gefühlen und körperlichen Bedürfnissen. Ihr half ihre Lebenserfahrung, die sich über mehrere Generationen von Menschen und sogar Waldelfen erstreckte, und sie hatte immer unter Menschen gelebt. Diese zu beobachten, zu überwachen und von ihnen zu lernen, war ihre Pflicht. So hatte die Drachenmutter es ihr aufgetragen. Sie war auch in der Lage, sich selbst beobachten. Dazu brauchte sie nur ihre Persönlichkeit zu wechseln. Argenton hatte ihr gegeben, wonach sie verlangte. Zufrieden strich sie sich über den Bauch und fühlte das junge Leben darunter. Aber niemals hätte sie erwartet, dass ihr das nicht genug war. Sie wollte mehr. Argenton hatte nur ihr Drachenblut zufriedenstellen können, ihr Elfenblut verstand nicht und hüllte sich in ein ratloses Schweigen. Aber dafür spielte ihr Viertel Menschsein verrückt. Was sollte sie tun? Dem Weg der Drachen folgen und sich jedes Jahr einen neuen Partner suchen? Unter den Elfen wildern? Oder mit einem Menschen eine lange Verbindung eingehen? Vielleicht sogar mit Argenton? Aber der gehörte nun Willja. Seele spürte die Sehnsucht in ihrer Brust, konnte aber nicht sagen, wem sie galt, Argenton oder der Liebe allgemein. Wollte sie wirklich geliebt werden? Sie, ein Halbdrache?

Diese und ähnliche Gedanken beschäftigten sie den ganzen Tag und lenkten sie ab von den Geistern und der Gefahr aus der Dunkelheit. Der Gutsherr befand sich nicht im Haus. Er überwachte etwas, sagten ihr die Bediensteten. Seele war es recht. Sie hatte keine Eile und würde ihrem Herrn spätestens bei Sonnenuntergang begegnen.

Und so war es dann auch.

Sie trafen sich zum Abendessen. Seele den Kopf voller Gedanken, der Gutsherr den Bauch voller guter Laune.

„Ich habe heute das Geschäft abgeschlossen, von dem ich dir erzählt habe, meine Liebe. Der letzte Punkt, der noch mit den Geistern und Toten zu tun hat. Jetzt kann ich mein Versprechen dir gegenüber erfüllen. Ich werde mich von ihnen fernhalten, bis auf die Dinge, die unsere Tradition betreffen. Hier!“

Mit diesen Worten warf er einen Beutel auf den Tisch, in dem die Goldmünzen vom Reichtum erzählten.

Seele des Ausgleichs ließ sich das Essen schmeckten, lobte es und wartete. Aber der Gutsherr ließ sie zappeln, bis sie sein Spiel mitspielte und fragte, was denn an dem Geschäft so besonders gewesen wäre.

Der Gutsherr lachte hell auf, und seine Augen blitzten. „Du erinnerst dich vielleicht noch daran, dass es ein paar hundert Schritte hinter dem letzten Gebäude einen Friedhof gab. Er war mir im Weg. Ich hätte unsere Ackerfläche gern erweitert, aber dafür einen Friedhof zu beseitigen, hätte für Unruhe gesorgt. Die Lösung kam von fern herangewandert. Es muss ein Geschenk der alten Götter gewesen sein, fiel es mir doch wie von selbst in den Schoß. Eine Waldelfe kam vorbei, erzählte mir, dass es ihr Auftrag wäre, die Leichen eines Friedhofs ihrer Bestimmung zuzuführen und bat mich um Hilfe. Die Hilfe versprach ich ihm sofort, wollte sie mir aber bezahlen lassen. Du wirst es nicht glauben: Sie kam gestern Abend mit dem Gold vorbei. Ich gab ihr einen Wagen, ein Ochsengespann und ein paar Mann, die ihr beim Graben und Beladen halfen. Heute, um die Mittagszeit, kehrte sie zurück für eine zweite Fuhre. Das Gespann wird sie morgen zurückbringen.“

Der Gutsherr leerte den Beutel auf dem Tisch. „Hier, all das Gold dafür, dass ein anderer meine Arbeit macht. Wie sollte ein schwacher Bauer vom Volk der Menschen einer Waldelfe verweigern, um was sie mich bat?“

In Seele des Ausgleichs zog die Kälte ein. „Wo bringt diese Waldelfe die Leichen hin?“, fragte sie in betont gleichgültigem Ton.

„Weiß ich’s?“, antwortete der Gutsherr. „Ich bin nur froh, dass ich sie los bin und die Pflugschar dort endlich ihre Arbeit tun kann. Sie fuhr in Richtung NA-R. Und sie wird nicht den Eingang in die Stadt gewählt haben. Eher rechts vorbei an der Stadt. Aber sie kann auch außerhalb der Blicke ihren Kurs geändert haben.“

Seele stand auf. „Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Ich will wissen, was dahintersteckt. Eine Waldelfe, die Toten der Menschen ihre Ruhe nimmt, kann nicht im Auftrag des Elfenrats gehandelt haben.“

„Das sehe ich wie du, meine Liebe. Aber manchmal ist es besser, nichts zu wissen.“

„Wir werden sehen, was besser ist. Du willst es nicht wissen, ich aber muss erfahren, was vor sich geht. Am Ende wird der von uns beiden sprechen, dessen Rolle für uns vorteilhafter ist.“

„Jetzt denkst du wie eine Händlerin. Wir beide werden wunderbar zusammenpassen. Und ich werde es lieben, mich hinter dir zu verstecken.“

Seele des Ausgleichs verließ den Gutshof durch eine kleine Tür auf der Seite des vierseitigen Gebäudes, die zu den Feldern führte. Dort lief sie so weit, bis sie glaubte, außer Sichtweite zu sein. Und sollte sie doch jemand sehen, was spielte es jetzt noch für eine Rolle. Sie sprang in die Höhe, wurde zu einem Vogel, schoss in den Himmel, verwandelte sich in einen Drachen. Sie flog nach NA-R. Die Sonne war bereits untergegangen, beleuchtete gerade noch den Himmel. Das wenige Licht reicht ihr aus, den Wagen mit den zwei Ochsen zu suchen.

Sie fand ihn erst spät in pechschwarzer Dunkelheit, wie sie nur bei Neumond und unter wolkenverhangenem Himmel zu finden ist. Beinahe wäre sie vorbeigeflogen, denn die Ochsen stand vor der schwarzen Wand des dunklen Viertels. Sie landete neben dem Wagen, packte sich die Waldelfe und rief: „Was für einen Wahnsinn machst du da, Waldelfe?“

„Was geht das dich an? Pack dich, sonst werfe ich dich als nächste Leiche in das Dunkle.“

„Hol die Toten zurück!“

„Du bist nicht bei Sinnen. Keiner kann die Dunkelheit betreten!“

„Wir lassen es darauf ankommen!“

Seele sprang mit der Waldelfe in die Schwärze. Immergrün schrie auf. Seele kämpfte gegen die Magie der Dunkelheit, zog sich in den Teil ihres Wesens zurück, der menschlich war und tastete nach ihrem Artefakt. Immergrüns Kreischen wurde lauter und wilder, bis die Töne des Wahnsinns überschnappten und wieder leise wurden. Ein letztes Röcheln, dann Stille.

Seele konnte in der Dunkelheit etwas erkennen. Zwei Geister labten sich an den Leichen und verschlangen, was ihnen geschenkt worden war.

„Werft die Leichen zurück“, verlangte sie.

Der Größere der beiden richtete sich auf. Er wirkte stark und mächtig in seinem Mantel, und der Hut auf seinem Kopf verlieh ihm noch zusätzliche Größe. „Was willst du uns befehlen? Am Ende wird der Wahnsinn dich besiegen wie alle anderen Lebewesen auch, die der Dunkelheit nicht befehlen können. Hast dich aber gut gehalten bisher.“

Seele merkte selbst, dass sie in der dunklen Magie unterging. Ihr Körper gehorchte ihr schon nicht mehr, ihre Drachenmagie hatte sich verirrt, die der Elfen verkrochen. Noch ein letztes Flämmchen ihres Bewusstseins flackerte, und sie schrie das einzige Wort heraus, an das sie sich noch erinnerte: „Argenton!“

Argenton

Willja schmiegte sich an Argenton und flüsterte ihm Zärtlichkeiten ins Ohr.

„Du weißt, dass nur du mich vor Animachron beschützen kannst. Ich habe ihm gegenüber gelogen. Ich habe behauptet, ich wäre schwanger. Irgendwann wird er merken, dass das nicht stimmt. Dann kann es hässlich werden. Aber was dir bei Seele des Ausgleichs gelungen ist, müsste dir doch auch bei mir gelingen. Oder findest du, dass ich zu hässlich für dich bin?“

Argenton versicherte ihr, dass sie alles andere als hässlich sei, und dass sie … Plötzlich fuhr er hoch. „Hast du das gehört?“

„Was soll ich gehört haben?“, fragte Willja verärgert. 

„Ich wurde gerufen. Jemand hat nach mir gerufen. Hast du es …“

„Da war nichts, das war …“

Wusch.

Argenton war verschwunden, bevor Willja sagen konnte, mit welchem Buchstaben das Wort Artefakt anfing.

Argenton hatte den Ort nicht suchen müssen, von welchem der Ruf kam. Aber dass er sich in der Schwärze des dunklen Viertels wiederfand, überraschte ihn doch. Der plötzliche Wechsel vom Licht ins Dunkle ließ ihn für einige Augenblicke blind und orientierungslos sein, aber dann sah er die beiden Geister. Sie kümmerten sich nicht um ihn, sondern trugen einen Hügel ab, der aus … Woraus bestand der Hügel? Egal, der Hügel war es nicht, der gerufen hatte. Jetzt erst entdeckte er die formlose Masse einer hingestreckten Gestalt. Ein Drache.

„Du kommst zu spät, Mensch“, sagte der Ledermann. „Manche lernen es nie. Dass Waldelfen sich für unüberwindlich halten, kann ich ja noch verstehen, aber dass es auch einen Drachen zu uns trieb, das ist das erste Mal.“

Argenton hörte nur mit halbem Ohr zu. Er warf sich auf den leblosen Körper, umarmte ihn, krallte sich in den Schuppen fest und sprang mit ihm aus dem Dunkel heraus. Seine Kraft reichte nur für ein paar Schritte. Ihm wurde schwindlig, die Schwärze fand Platz in seinen Augen, nahm ihm von den Rändern herkommend die Sicht.

Argenton sprang erneut. Er landete vor den Hufen eines Ochsen, der überrascht zur Seite drängte und dabei einen zweiten Ochsen anrempelte. 

Er sprang ein drittes Mal. Die Dunkelheit, die ihn nun umhüllte, hatte wenig mit Magie zu tun. Sein Körper verweigerte ihm jeden weiteren Dienst. Argenton versank in einer heilenden Ohnmacht …

… und erwachte aus einem Traum, als die Sonne bereits ein beträchtliches Stück weitergewandert war. Die Augen hielt er geschlossen, genoss den sanften Druck der Arme, den Duft weicher Haut und die Berührung süßer Lippen.

„Mein Liebster“, sagte eine Stimme, die er aus tausend anderen heraus wiedererkannt hätte. „Es ist mir etwas peinlich, dass du mich in meiner Drachenform hast sehen müssen, aber ich war ein wenig behindert und konnte meine Menschenform nicht mehr halten. Auch war ich etwas wirr im Kopf und hilflos mit dem, was ich dachte. Du musst mir das verzeihen.“

„Ich kam noch rechtzeitig?“

„Kamst du. Ich hätte sogar noch leicht einen weiteren Atemzug oder auch deren zwei durchgehalten.“

„Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist, Geliebte. Aber wie bist du in die Dunkelheit hineingeraten?“

„Wie wohl? Ich bin hineingesprungen. Ich hatte eine Waldelfe dabei ertappt, wie sie Leichenbündel in die Dunkelheit warf und wollt ihr eine Lektion erteilen. Habe sie mir gegriffen und bin mit ihr hineingesprungen.“

„Eine Waldelfe habe ich dort nicht gesehen.“

„Wahrscheinlich haben die Geister sie als erste beseitigt.“

„Ich erinnere mich. Einer der Geister sprach von Waldelfen.“

„Meinst du, dass du die Leichen aus dem Dunkel wieder ins Licht bringen kannst?“

„Sie sind nicht so schwer wie du, es sollte mir also gelingen. Ich befürchte nur, dass die Geister etwas dagegen haben könnten.“

„Versuche es. Es ist wichtig.“

Argenton begab sich erneut in die Dunkelheit.

„Halt!“, rief er. „Hört auf mit dem, was ihr gerade tut! Die toten Körper müssen zurück ins Licht!“

Der Geist mit Hut und langem Mantel fing an zu lachen. „Das fällt dir ja früh ein. Von welchen Körpern sprichst du? Schau dich um. Was in die Dunkelheit fällt, bleibt hier nicht lange. Und keineswegs kehrt es ins Licht zurück, es sei denn, es beherrscht die Magie der Dunkelheit.“

„Was habt ihr mit den Leichen gemacht?“

„Wir haben sie dem Dunkel zugeführt – oder uns. Was auf dasselbe hinausläuft. Dass du uns den Drachen entführt hast, nehme ich dir übel. Drachenknochen mögen nicht unsere Magie enthalten, aber an Substanz sind sie nicht zu übertreffen. Es war dumm von dir, ihn zurück ins Licht zu bringen. Jetzt liegt er irgendwo draußen herum mit nichts als Wahnsinn im Kopf. Glaub mir, er wird nie mehr gesunden. Und du, komm nicht auf die Idee, mich herumzukommandieren. Dazu fehlt es dir an Macht. Du darfst auch nicht glauben, dass du mir weglaufen kannst. Ich kann auch in die Welt der Lebenden hineingreifen. Das hat schon einmal eine Waldelfe schmerzlich erfahren müssen. Wie ihm plötzlich die Augen aus dem Kopf sprangen, als seine Kraft ihn verließ. Er hat mich noch nicht einmal gesehen.“ 

Der Geist wollte sich ausschütten vor Lachen.

„Du hast eine Waldelfe getötet? Hier?“

„Bist du blind? Leben hier Waldelfen? Aber du hast nichts zu befürchten. Im Grunde genommen bist du einer von uns, weil du dich hier bewegen kannst. Bist nicht mehr als ein Diener, um den wir uns bis jetzt nicht groß gekümmert haben. Aber in Zukunft werden wir dich ein bisschen schärfer an die Leine legen müssen. Diese Spende an Substanz hat uns die Möglichkeit dazu gegeben. Schenk mir eine Haarlocke, dann lass ich dich gehen.“

„Deine Augen müssen schlecht sein, wenn du nicht siehst, dass auf meinem Kopf keine Locken mehr wachsen. Und was macht dich so sicher, dass ich sie dir schenken würde, wenn ich welche hätte?“

„Es gibt bei euch eine Tamalone. Sie hat mir eine Haarsträhne geschenkt. Unglücklicherweise hat sie diese wieder an sich genommen. Aber es müssen keine Haare sein. Ich kann auch …“

Der Geist kam auf Argenton zu. Argenton sprang den Geist an, griff durch den milchigweißen Dunst hindurch, fand aber Halt an seinem festen Ledermantel. Argenton sprang.

Ein Geist war kein Drache. Er wog weniger als Nichts. Argentons Sprung trug ihn weit hinauf in die Luft. Von hoch oben schaute er auf NA-R hinab, das friedlich in der Sonne lag.

Der Geist kreischte. „Bring mich zurück!“

„Bist du nicht froh, endlich einmal im Sonnenlicht zu baden, ihre Wärme zu spüren?“, höhnte Argenton. „Befehl es mir doch, wenn ich dein Diener sein soll.“

„Bring mich zurück. Das Sonnenlicht verbrennt mich!“

„Dann sollten wir höher hinauf. Was meinst du?“ Und Argenton sprang noch höher, hatte jetzt schon beinahe die Höhe der Drachenberggipfel erreicht. Es war empfindlich kühl geworden. Wärme war nur noch dort zu spüren, wo die Sonne sie beschien.

Der Mantel verlor seine Form und die Verbindung zum Hut. Argenton konnte das Lederstück gerade noch ergreifen, bevor es sich selbständig machte. Der Mantel fiel in sich zusammen. Argenton legte ihn sich über den Arm und setzte sich den Hut auf. Hemd und Stiefel stürzten zur Erde zurück. Er folgte ihnen. Zurück zu seiner Liebsten.

„Die Toten sind verschwunden, die Waldelfe ebenfalls. Dafür habe ich die Kleidung eines der beiden Geister. Wahrscheinlich habe ich soeben den Mörder Sumpfwassers getötet.“

„Du weißt, dass Sumpfwasser dein Stiefbruder war? Ihr beide hattet dieselbe Mutter.“

„Ich kenne ihn nur vom Namen.“

„Die Unaussprechliche wird dir dankbar sein, dass du ihn gerächt hast.

„Er hätte nicht über dich, über uns spotten sollen.“

Seele des Ausgleichs lächelte. „So ein junger Mann. Und du sagst, ich könnte dich nicht lieben? Einen so großartigen Kämpfer wie dich? Aber es ist vielleicht besser, wenn die Liebe nur in eine Richtung schaut. Suche dir lieber eine Frau unter den Menschen.“

„Und wenn ich das nicht will?“

„Es ist deine Wahl, nicht meine. Du musst dich entscheiden, ob du deinem Drachenerbe folgen willst, das weniger als die Hälfte deines Wesens ausmacht, oder ob du ein Mensch sein willst. Beides geht nicht. Schau mich an. Ich bin ein unvollständiger Drache mit ein wenig Menschenblut, dessen Form du unglücklicherweise hast sehen dürfen. Ich werde dich immer lieben, noch in diesem Jahr deine Kinder auf die Welt bringen, mich dann aber einem anderen Mann zuwenden, wie es die Art der Drachen ist. Ich kann dir nur versprechen, dass ich dich niemals vergessen werde. Du aber bist mehr Mensch als Drache. Du solltest dir eine Frau unter den Menschen suchen und deine besonderen Kräfte pflegen. Der Kampf hat gerade erst begonnen, und du wirst einer unserer stärksten Krieger sein.“

„Ich will kein Krieger sein.“