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Andreas Schleicher

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Beschreibung

Schule hat es schwer! Mit Methoden und Lehrplänen von gestern soll sie Schülerinnen und Schüler auf die Welt von morgen vorbereiten. Wie kann sich Schule auf die Herausforderungen der Wissensgesellschaft mit neuen Anforderungen und Technologien einstellen? Was brauchen Lehrerinnen und Lehrer, um diese Aufgaben zu bewältigen? Andreas Schleicher, OECD-Bildungsforscher und PISA-Initiator, hat weltweit in Bildungsprojekten - teilweise überraschende - Antworten auf diesen Fragen gefunden. Hier stellt er Projekte und Ansätze vor, mit denen Schule den Übergang ins 21. Jahrhundert gestalten kann: von innovativer Pädagogik und Lernniveaus über die Individualisierung des Lernens bis zu Weiterbildungszeiten für Lehrer:innen.

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Seitenzahl: 474

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ANDREAS SCHLEICHER

WELTKLASSE

Schule für das 21. Jahrhundert gestalten

Das vorliegende Dokument wird unter der Verantwortung des Generalsekretärs der OECD veröffentlicht. Die darin zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Argumente spiegeln nicht zwangsläufig die offizielle Einstellung der Mitgliedstaaten der OECD wider.

Dieses Dokument sowie die darin enthaltenen Daten und Karten berühren weder den völkerrechtlichen Status von Territorien noch die Souveränität über Territorien, den Verlauf internationaler Grenzen und Grenzlinien sowie den Namen von Territorien, Städten oder Gebieten.

Die statistischen Daten für Israel wurden von den zuständigen israelischen Stellen bereitgestellt, die für sie verantwortlich zeichnen. Die Verwendung dieser Daten durch die OECD erfolgt unbeschadet des völkerrechtlichen Status der Golanhöhen, von Ost-Jerusalem und der israelischen Siedlungen im Westjordanland.

Bitte zitieren Sie diese Publikation wie folgt:

Schleicher, A. (2019), Weltklasse: Schule für das 21. Jahrhundert gestalten. Bielefeld: wbv Publikation.

Originaltitel: Schleicher, A. (2018), World Class: How to build a 21st-century school system, Strong Performers and Successful Reformers in Education, OECD Publishing, Paris.

http://dx.doi.org/10.1787/4789264300002-en

Übersetzung durch den Deutschen Übersetzungsdienst der OECD.

ISBN (Print) 978-3-7639-6022-4

ISBN (EPUB) 978-3-7639-6023-1

Publikationsreihe: Strong Performers and Successful Reformers in Education

ISSN (Print): 2220-3621

ISSN (PDF): 2220-363X

Fotos:

© iStock/fstop123 (Deckblatt)

© Russell Sach (Rückseite)

© OECD (Innenseite Schutzumschlag)

Graphische Gestaltung © Cho You/Anaïs Diverrez E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing GmbH, Dortmund, www.readbox.net

Korrigenda zu OECD-Veröffentlichungen sind verfügbar unten www.oecd.org/publishing/corrigenda.

© 2019 wbv Publikation für diese deutsche Ausgabe, veröffentlicht in Absprache mit der OECD, Paris.

Dieser Text ist auch verfügbar unter der Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell–Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 IGO (CC BY-NC-SA 3.0 IGO). Genauere Informationen zum Geltungsbereich und zu den Bedingungen der Lizenz sowie einer etwaigen kommerziellen Nutzung dieses Texts oder der Nutzung der PISA-Daten finden sich in der Rubrik Terms and Conditions unter www.oecd.org.

Für die Lehrerinnen und Lehrer in aller Welt, die ihr Leben– oft unter schwierigen Bedingungen und nur selten mitder Anerkennung, die sie verdienen – der nächstenGeneration widmen, um ihr zu helfen, ihreTräume zu verwirklichen und unsereZukunft zu gestalten.

DANK

Seit über zwanzig Jahren habe ich in der OECD das große Privileg, Bildungsverantwortliche bei der Gestaltung und Umsetzung bildungspolitischer Maßnahmen zu begleiten. Dieses Buch speist sich zu einem großen Teil aus der Aufrichtigkeit und Offenheit, mit der Bildungsministerinnen und -minister, Verwaltungsverantwortliche, Schulleitungen, Lehrkräfte und Wissenschaftler – zu viele an der Zahl, als dass ich ihnen hier einzeln danken könnte – mit mir über ihre Erfolge und Misserfolge gesprochen haben, als Kollegen, Experten und Freunde. Auch stehe ich in der Schuld meines Teams bei der OECD, das die Instrumente und Methoden für den Vergleich und die Analyse der Bildungssysteme auf internationaler Ebene entwickelt hat und von dem ich jeden Tag aufs Neue lerne. Mein besonderer Dank geht an Sean Coughlan, der mich dazu ermutigt hat, dieses Buch zu schreiben, und mir geholfen hat, meine Gedanken zu ordnen und das Manuskript zu erstellen. Von Sean stammt auch der Teil des Buchs, der sich mit den Merkmalen besonders leistungsstarker Bildungssysteme befasst. Des Weiteren möchte ich Marilyn Achiron danken, die das Buch lektoriert hat und mir bei meiner Arbeit daran stets mit ihrem Rat zur Seite stand. Äußerst wertvoll war für mich ferner die Unterstützung von Rose Bolognini, Catherine Candea, Cassandra Davis, Anne-Lise Prigent und Rebecca Tessier. Und last, but not least möchte ich meiner Frau danken, Maria Teresa Siniscalco, die die Arbeit an diesem Buch in allen Etappen begleitet hat.

INHALTSVERZEICHNIS

1. Bildung – aus der Sicht eines Wissenschaftlers

Kunst und Wissenschaft gleichermaßen

Die Ursprünge von PISA

Der „PISA-Schock“ und das Ende der Selbstgefälligkeit

Worum geht es?

2. Bildungsmythen entlarven

Kinder aus armen Verhältnissen werden in der Schule stets schlechter abschneiden – Armut ist Schicksal

Migranten senken das Leistungsniveau der Schulen

Bildungserfolg ist eine Frage der Bildungsausgaben

Kleinere Klassen bedeuten bessere Leistungen

Wer mehr Zeit mit Lernen verbringt, erzielt bessere Ergebnisse

Bildungserfolg ist eine Frage der Begabung

Manche Länder schneiden einfach aufgrund ihrer Kultur besser ab

Nur erstklassige Hochschulabsolventen sollten Lehrer werden

Durch eine Aufteilung der Schüler nach Befähigung kann das Leistungsniveau gesteigert werden

3. Was zeichnet leistungsstarke Schulsysteme aus?

Was wir über erfolgreiche Schulsysteme wissen

Bildung zu einer Priorität machen

Jeder kann lernen und ein hohes Leistungsniveau erreichen

Hohe Anforderungen stellen

Hervorragende Lehrkräfte gewinnen und binden

Lehrkräfte als unabhängige und verantwortungsvolle Profis behandeln

Die Zeit der Lehrkräfte bestmöglich nutzen

Kohärente Anreize für Lehrkräfte, Schüler und Eltern schaffen

Führungskompetenz im Bildungssystem fördern

Das richtige Maß an Schulautonomie finden

Von administrativer zu professioneller Rechenschaftspflicht gelangen

Eine kohärente Botschaft formulieren

Sinnvolle Ausgaben sind wichtiger als höhere Ausgaben

Fünf erstklassige Bildungssysteme im Porträt

4. Bildungsgerechtigkeit – Annäherung an einen schwierigen Begriff

Der Kampf um Bildungsgerechtigkeit

Wie die Politik zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen kann

Freie Schulwahl und Bildungsgerechtigkeit miteinander vereinbaren

Große Städte – große Bildungschancen

Gezielte Unterstützung für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund

Die Geschlechterunterschiede in der Bildung halten sich hartnäckig

Was die Bildung im Kampf gegen Extremismus leisten kann

5. Bildungsreformen möglich machen

Was es für erfolgreiche Reformen braucht

Warum Bildungsreformen so schwierig sind

Verschiedene Varianten des „richtigen“ Ansatzes

Die Richtung festlegen

Konsens schaffen

Lehrkräfte in die Gestaltung von Reformen einbeziehen

Pilotprojekte und kontinuierliche Evaluierung

Kapazitäten entwickeln

Zeit ist alles

Lehrergewerkschaften als Teil der Lösung

6. Was jetzt zu tun ist

Bildung für ungewisse Zeiten

Bildung als entscheidender Wettbewerbsvorteil

Wissen, Kompetenzen und Persönlichkeit im Zeitalter der Beschleunigung

Der Wert von Werten

Wie sich erfolgreiche Schulsysteme verändern

Ein neuer Typus Lernender

Lehrkräfte des 21. Jahrhunderts

Innovation in und außerhalb der Schule fördern

Führungskompetenz auf Systemebene entwickeln

Die Schülerbeurteilung neu gestalten

Den Blick nach außen und nach vorne richten

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Über den Autor

WELTKLASSE

1. Bildung – aus der Sicht eines Wissenschaftlers

2015 war fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler, d.h. etwa 12 Millionen 15-Jährige, nicht in der Lage, selbst grundlegende Lese-, Mathematik- oder naturwissenschaftliche Aufgaben1 zu lösen, die ihnen im Rahmen des weltweit durchgeführten Tests gestellt wurden, der als Internationale Schulleistungsstudie PISA (Programme for International Student Assessment) bekannt ist. Und dabei handelte es sich bei den Testteilnehmern um Schülerinnen und Schüler aus 70 Hoch- und Mitteleinkommensländern. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Lernergebnisse der Schüler aus der westlichen Welt praktisch nicht verbessert, obwohl die Ausgaben für das Schulwesen in diesem Zeitraum um nahezu 20% gestiegen sind. In vielen Ländern lässt sich die Qualität der Schulbildung am ehesten anhand der Postleitzahl des Wohnorts oder der Schule des Schülers bzw. der Schülerin vorhersagen.

Vielleicht möchten Sie dieses Buch gleich wieder weglegen und sich keine weiteren Gedanken zur Verbesserung der Bildung machen. Weil Sie denken, es sei unmöglich, so etwas Großes, Komplexes und mit Partikularinteressen Verbundenes wie die Bildung zu verändern.

Dennoch möchte ich Sie bitten, weiterzulesen. Warum? Weil die sozioökonomisch am schlechtesten gestellten 10% der Schülerinnen und Schüler in Vietnam und Estland inzwischen bessere Lernergebnisse erzielen als die 10% der Schülerinnen und Schüler aus den wohlhabendsten Familien in den meisten lateinamerikanischen Ländern und ihre Ergebnisse so gut sind wie die eines durchschnittlichen Schülers in Europa und den Vereinigten Staaten (ABB. 1.1) Weil sich in den meisten Ländern Spitzenleistungen in der Bildung manchmal in den am stärksten benachteiligten Schulen finden. Und weil viele der heute führenden Bildungssysteme erst vor Kurzem diese Spitzenpositionen erreicht haben. Also ist es zu schaffen.

ABBILDUNG 1.1 ARMUT MUSS KEIN SCHICKSAL SEIN

Schülerleistungen im PISA-Naturwissenschaftstest 2015, nach Dezilen auf der internationalen Skala des PISA-Index des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status

Anmerkung: Dezile auf der internationalen Skala beziehen sich auf die Verteilung des PISA-Index des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status im Vergleich aller Länder und Volkswirtschaften. Aufgeführt sind nur Länder und Volkswirtschaften, für die Daten vorliegen. P-S-J-G (China) bezieht sich auf die chinesischen Provinzen Peking, Shanghai, Jiangsu und Guangdong. CABA (Argentinien) bezieht sich auf die Ciudad Autonoma de Bueno Aires (Argentinien). ejR Mazedonien bezieht sich auf die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien.

Die Länder und Volkswirtschaften sind in absteigender Reihenfolge nach den Durchschnittsergebnissen der Schüler in Naturwissenschaften im obersten Dezil des PISA-Index des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status angeordnet.

Quelle: OECD, PISA-2015-Datenbank, Tabelle I.6.4a.

StatLink  http://dx.doi.org/10.1787/888933432757

Und wir müssen es schaffen. Ohne die richtige Bildung fristen Menschen ein unbefriedigendes Leben am Rande der Gesellschaft, können Länder nicht vom technischen Fortschritt profitieren und schlägt sich dieser Fortschritt nicht in sozialer Entwicklung nieder. Wenn die Bürger wegen unzureichender Bildung nicht in vollem Umfang am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, ist es geradezu unmöglich, eine faire und inklusive Politik zu entwerfen, die alle Bürger einbezieht.

Veränderungen können jedoch mühselig sein. Es ist eher unwahrscheinlich, dass junge Menschen Zeit und Energie in bessere Bildung investieren, wenn diese Bildung für die Anforderungen der „realen“ Welt irrelevant erscheint. Auch ist es eher unwahrscheinlich, dass Unternehmen in das lebenslange Lernen ihrer Arbeitnehmer investieren, wenn diese Arbeitskräfte für einen besseren Arbeitsplatz womöglich wegziehen. Dagegen ist es ist wahrscheinlicher, dass Politikverantwortliche dringende über wichtige Anliegen stellen – selbst wenn zu letzteren die Bildung als Investition in das künftige Wohlergehen der Gesellschaft gehört.

Ich hatte das Glück, herausragendes Lehren und Lernen in mehr als 70 Ländern beobachten zu können. Ich habe Bildungsminister und andere Bildungsverantwortliche bei ihren Anstrengungen begleitet, zukunftsorientierte Politiken und Praktiken zu gestalten und umzusetzen. Obgleich es wesentlich einfacher ist, eine bessere Bildung zu proklamieren als sie tatsächlich zu erreichen, gibt es viele Erfolge, von denen wir lernen können. Dabei geht es nicht darum, vorgefertigte Lösungen von anderen Ländern zu übernehmen, sondern sich ernsthaft und unvoreingenommen mit empfehlenswerten Praktiken in unseren eigenen Ländern und andernorts auseinanderzusetzen, um herauszufi nden, was unter welchen Bedingungen funktioniert.

Doch die Antworten auf die Bildungsherausforderungen von morgen finden sich nicht alle in den Schulsystemen von heute. Es reicht also nicht, den heutigen Bildungsverantwortlichen nachzueifern. Die künftigen Herausforderungen sind zudem viel zu groß geworden, als dass sie von einem Land allein bewältigt werden könnten. Daher versuchen Pädagogen, Forscher und Politikverantwortliche aus der ganzen Welt, ihre Kräfte auf der Suche nach besseren Antworten zu bündeln.

Kurz zusammengefasst, lassen sich die Dinge, die einfach zu unterrichten sind, inzwischen leicht digitalisieren und automatisieren. In der Zukunft wird es darum gehen, künstliche Intelligenz mit unseren kognitiven, sozialen und emotionalen Kompetenzen sowie den menschlichen Werten zu koppeln. Es wird auf unsere Fantasie, unsere Achtsamkeit und unser Verantwortungsbewusstsein ankommen, um die Digitalisierung so zu nutzen, dass wir die Welt zum Besseren verändern.

Die Algorithmen der sozialen Medien teilen uns in Gruppen Gleichgesinnter ein. Sie erzeugen virtuelle Blasen, die unsere Überzeugungen verstärken und uns von abweichenden Ansichten abschirmen; sie vereinheitlichen Meinungen und polarisieren unsere Gesellschaften. Die Schulen von morgen werden den Schülerinnen und Schülern dabei helfen müssen, selbstständig zu denken und anderen mit Empathie zu begegnen, im Arbeitsleben und als mündige Bürger. Sie werden ihnen dabei helfen müssen, ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein, Sensibilität für die Erwartungen anderer an uns sowie ein Verständnis für die Grenzen individuellen und kollektiven Handelns zu entwickeln. Am Arbeitsplatz, zu Hause und in der Gemeinschaft werden Menschen lernen müssen, wie andere in fremden Kulturen und Traditionen leben und denken – ob als Wissenschaftler oder als Künstler. Welche Aufgaben Maschinen von Menschen in der Arbeitswelt auch immer übernehmen werden, die Anforderungen an unser Wissen und unsere Kompetenzen werden weiter steigen, wenn wir unseren Beitrag zum gesellschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Leben leisten wollen.

Für Personen mit den richtigen Kenntnissen und Kompetenzen sind Digitalisierung und Glob alisierung b efreiend und spannend; für unzureichend ausgebildete Personen kann es jedoch bedeuten, dass der Arbeitsplatz gefährdet ist und das Leben keine Perspektiven mehr bietet. Unsere Volkswirtschaften verwandeln sich derzeit in regionale Produktionshubs, die durch globale Informations- und Warenketten miteinander verknüpft sind, die sich aber vor allem dort konzentrieren, wo komparative Vorteile geschaffen und erhalten werden können. Die Verteilung von Wissen und Vermögen ist daher entscheidend und steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Verteilung von Bildungschancen.

Auch wenn digitale Technologien möglicherweise disruptive Auswirkungen auf unsere Wirtschafts- und Sozialstruktur haben, so sind die Folgen dennoch nicht vorherbestimmt. Wir können Einfluss nehmen, und von unserer kollektiven und systemischen Reaktion auf diese Verwerfungen wird es abhängen, in welcher Weise sie auf uns wirken werden.

Um das Schulwesen umfassend zu verändern, braucht es nicht nur eine radikal andere Vision dessen, was möglich ist, sondern auch intelligente Strategien und leistungsfähige Institutionen. Unsere heutigen Schulen sind eine Erfindung des Industriezeitalters, als die vorherrschenden Normen Standardisierung und Regelkonformität waren. Damals war es sowohl effektiv als auch effizient, Schüler in Klassenverbänden zu unterrichten und die Lehrkräfte ein einziges Mal für ihre gesamte Laufbahn auszubilden. Es war ein pyramidales System: Die Lehrpläne, die festlegten, was Schülerinnen und Schüler lernen sollten, wurden an der Spitze der Pyramide entworfen und dann auf Lehrmittel, die Lehrerausbildung und das Lernumfeld übertragen. Dabei durchliefen sie häufig mehrere Verwaltungsebenen, bis sie schließlich bei den einzelnen Lehrkräften ankamen und von ihnen im Unterricht umgesetzt wurden.

Diese vom industriellen Arbeitsmodell abgeleitete Struktur hat zur Folge, dass eine Neuausrichtung in unserer schnelllebigen Welt viel zu langsam vorangeht. Die gesellschaftlichen Veränderungen haben die strukturelle Reaktionsfähigkeit unserer heutigen Bildungssysteme bei Weitem überholt. Selbst die besten Bildungsminister können den Bedürfnissen von Millionen von Schülern, Hunderttausenden von Lehrkräften und Zehntausenden von Schulen nicht mehr gerecht werden. Die Herausforderung besteht darin, auf der fachlichen Kompetenz unserer Lehrkräfte und Schulleitungen aufzubauen und sie in die Gestaltung besserer Politiken und Praktiken einzubeziehen. Dies wird nicht nur dadurch erreicht, indem man „hundert Blumen blühen lässt“, sondern es bedarf auch sorgfältig gestalteter Rahmenbedingungen, unter denen sich die Innovationskraft von Lehrkräften und Schulen entfalten und die Fähigkeit zum Wandel entwickeln können. Dafür braucht es Politikverantwortliche, die sich mit den institutionellen Strukturen auseinandersetzen, die allzu oft auf die Interessen und Gewohnheiten der Pädagogen und Schulverwaltungen anstatt die der Lernenden ausgerichtet sind. Es braucht Verantwortliche, denen es ernst ist mit dem gesellschaftlichen Wandel, die die Politik einfallsreich gestalten und in der Lage sind, das in sie gesetzte Vertrauen für wirksame Reformen zu nutzen.

Kunst und Wissenschaft gleichermaßen

Als ich mit der Welt der Bildung in Berührung kam, unterschied sich mein Blick darauf von dem der meisten anderen. Ich hatte Physik studiert und ein paar Jahre in der Medizinbranche gearbeitet. Physiker kommunizieren und kooperieren über nationale und kulturelle Grenzen hinweg und stützen sich auf anerkannte Grundsätze und festgelegte Verfahren ihres Berufs. Im Gegensatz dazu versuchen Pädagogen jedes Kind individuell zu betrachten und stehen Vergleichen, die zwangsläufig zu Verallgemeinerungen führen, häufig mit einer gewissen Skepsis gegenüber.

Der größte Unterschied, den ich jedoch zwischen der Medizin und der Bildung feststellen konnte, betrifft die Art und Weise, wie beide Branchen ihre eigene Berufspraxis begreifen. Personen, die einen medizinischen Beruf wählen, erwarten, dass ihr Beruf durch die Forschung verändert wird. Ärzte würden sich nicht als Profis betrachten, wenn sie zur Behandlung auftretender Symptome die wirksamsten bislang entwickelten Verfahren nicht sorgfältig prüften, noch würde es ihnen einfallen, ihre eigenen Medikamente zu entwickeln.

In der Medizin wird zunächst die Temperatur des Patienten gemessen und eine Diagnose gestellt, damit die wirksamste Behandlung eingeleitet werden kann. In der Bildung werden in der Regel alle Schülerinnen und Schüler auf die gleiche Art und Weise unterrichtet und behandelt; am Ende eines Schuljahres wird zuweilen diagnostiziert, inwieweit diese Behandlung angeschlagen hat.

Bei Philips Medical Systems, wo ich meine erste Stelle hatte, achteten meine Vorgesetzten penibel darauf, dass ich mich um die Erprobung und Validierung jeder Entwicklung und jedes Bauteils sehr gründlich kümmerte, wohl wissend, dass unsere Kunden uns für jeden Fehler, den sie u.U. an unserer Arbeit fänden, verklagen könnten. Zur gleichen Zeit setzten die damaligen Bildungspolitiker auf frühere Bildungsreformen neue obendrauf, ohne dass sie lange Tests oder Qualitätssicherungsmaßnahmen durchführten bzw. gegenüber der Öffentlichkeit umfassend Rechenschaft ablegten.

Dennoch fand ich die Welt der Bildung faszinierend und begriff, wie stark Bildung das Leben der Menschen und Gesellschaften verändern kann. Ich sah darüber hinaus die Möglichkeit, aus Bildungsreformen eine Wissenschaft zu machen, ohne ihnen den Charakter der Kunst abzusprechen.

Diese Einsicht verdanke ich drei renommierten Wissenschaftlern, Torsten Husen, John Keeves und vor allem Neville Postlethwaite, mit dem ich an der Universität Hamburg zusammenarbeitete. Neville war nicht nur ein namhafter Bildungswissenschaftler, er verfügte auch über die außergewöhnliche Fähigkeit, groß angelegte Forschungsprojekte zu initiieren und umzusetzen. Er brachte führende Forscher aus der ganzen Welt zusammen, um die Bildung voranzubringen.

Ich lernte Neville 1986 kennen, als ich aus Neugier sein Seminar über international vergleichende Erziehungswissenschaft besuchte. Vom ersten Tag an war ich von der Art und Weise inspiriert, in der er bereitwillig sein Wissen, seine Erfahrung und seine Kontakte weitergab und wie er keine Frage unbeantwortet ließ – vorausgesetzt, man hatte sie sich vorher genau überlegt.

Nach ein paar Wochen fragte mich Neville nach meinen bisherigen Publikationen. Ich musste zugeben, dass ich wirklich nichts zu bieten hatte. „So“, sagte er, „dann lass uns mit deinem ersten Papier anfangen.“ Er brachte mir die Methoden der Clusteranalyse bei, stellte mir Daten zur Analyse zur Verfügung, prüfte, korrigierte und besprach jede einzelne Seite und überzeugte einen Verlag, das Ergebnis zu veröf entlichen. Dann setzte er meinen Namen auf das fertige Produkt. Im Wissenschaftsbetrieb Tätige wissen, dass das normalerweise andersherum funktioniert.

In den folgenden Jahren, als wir in Hamburg und vielen anderen Orten zusammenarbeiteten, wurde Neville wie ein zweiter Vater für mich. Für ihn war es eine Genugtuung, anderen beim Vorankommen zu helfen. Selbst nachdem ich die Universität Hamburg verlassen hatte, um zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nach Paris zu wechseln, las und kommentierte Neville jeden Artikel und jede Arbeit, die ich ihm schickte.

Die Ursprünge von PISA

Es war die Idee, die Stringenz wissenschaftlicher Forschung auf die Bildungspolitik anzuwenden, die den Anstoß dazu gab, dass die OECD am Ende der 1990er Jahre die PISA-Studie ins Leben rief. Ich kann mich noch an mein erstes Treffen mit hochrangigen Bildungsverantwortlichen in der OECD im Jahr 1995 erinnern. In Paris saßen Vertreter aus 28 Ländern zusammen. Einige von ihnen prahlten damit, dass sie über das weltbeste Schulsystem verfügten – vielleicht, weil es das war, das sie am besten kannten. Als ich vorschlug, eine weltweite Erhebung durchzuführen, die es den Ländern ermöglichen würde, die Ergebnisse ihrer Schulsysteme mit denen anderer Länder zu vergleichen, sagten die meisten, dass dies nicht möglich sei, nicht gemacht werden solle oder nicht die Angelegenheit internationaler Organisationen sei.

Ich hatte 30 Sekunden, um zu entscheiden, ob ich Schadensbegrenzung betreiben oder einen neuen Vorstoß wagen sollte. Schließlich gab ich meinem Chef, Thomas J. Alexander, dem damaligen Leiter der OECD-Direktion Bildung, Beschäftigung, Arbeit und Sozialfragen, einen gelben Post-it-Zettel mit der Nachricht: „Gib zu, dass wir uns über das Vorhaben noch nicht vollkommen einig sind, aber frag die Länder, ob wir ein Pilotprojekt durchführen können“. Damit war das PISA-Konzept geboren – und Tom wurde sein engagiertester Förderer.

Natürlich hatte die OECD zu jener Zeit bereits zahlreiche Vergleiche über Bildungsergebnisse veröffentlicht, sie basierten jedoch hauptsächlich auf der Messgröße der Anzahl der Schuljahre, die nicht immer ein guter Indikator dafür sind, was Menschen tatsächlich mit der erworbenen Bildung anfangen können.

Wir wollten mit PISA der Top-down-Verantwortungskette kein weiteres Glied hinzufügen, sondern den Schulen und Politikverantwortlichen dabei helfen, ihren Blick innerhalb der Bürokratie nicht mehr nach oben zu richten, sondern nach draußen, auf die Lehrkraft, die Schule, das Land nebenan.

Im Wesentlichen zählt PISA was zählt. Bei der PISA-Erhebung werden qualitativ hochwertige Daten erfasst und mit Informationen über umfassendere gesellschaftliche Ergebnisse in Zusammenhang gestellt. Pädagogen und Politikverantwortliche erhalten diese Informationen, damit sie fundiertere Entscheidungen treffen können.

Die grundlegend neue Idee hinter PISA bestand darin, die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern direkt anhand eines international vereinbarten Maßsystems zu testen und diese Ergebnisse mit Daten von Schülern, Lehrkräften, Schulen und Schulsystemen zu verknüpfen, um zu verstehen, wie sich die Leistungsunterschiede erklären. Dann sollte das Momentum der Zusammenarbeit genutzt werden, um auf die Daten zu reagieren, sowohl durch die Schaffung gemeinsamer Referenzpunkte als auch den wirksamen Einsatz von Peer Pressure. PISA ist heute nicht nur eine Vergleichsstudie verschiedener Länder auf der Grundlage repräsentativer stichprobenbasierter Tests, sondern auch eine Studie, an der Tausende einzelner Schulen im Rahmen der separaten schulbasierten Version teilnehmen, um zu sehen, wo sie weltweit stehen.

Wir haben versucht, PISA auch sonst anders zu gestalten als traditionelle Erhebungen. Bildung bedeutet für uns, die Leidenschaft für das Lernen zu fördern, die Fantasie anzuregen und Personen heranzubilden, die unabhängig Entscheidungen treffen und die Zukunft gestalten können. Deshalb wollten wir die Schülerinnen und Schüler nicht hauptsächlich dafür belohnen, das im Unterricht Gelernte wiederzugeben. Um in der PISA-Erhebung gut abzuschneiden, mussten die Schülerinnen und Schüler in der Lage sein, ausgehend von ihrem Wissen zu extrapolieren, über die Grenzen von Fächern hinauszudenken und ihre Kenntnisse in neuen Situationen kreativ anzuwenden. Wenn wir unseren Kindern nur beibringen, was wir wissen, können sie sich vielleicht genügend merken, um in unsere Fußstapfen zu treten, bringen wir ihnen aber Lernstrategien bei, können sie hingehen, wohin sie auch wollen.

Manche kritisierten, dass unsere Tests unfair seien, weil wir den Schülern Aufgaben stellten, mit denen sie sich in der Schule nicht befasst hatten. Dann ist aber das ganze Leben unfair, weil der wirkliche Test im Leben nicht darin besteht, ob wir uns daran erinnern können, was wir gestern in der Schule gelernt haben, sondern ob wir in der Lage sind, Probleme zu lösen, die wir heute möglicherweise noch gar nicht vorhersehen können. In der modernen Welt ist nicht mehr nur das Wissen an sich entscheidend, sondern die Fähigkeit, dieses Wissen anzuwenden.

Der Nachteil eines Pilotprojekts war natürlich, dass wir sehr wenig Geld hatten. Tatsächlich gab es für die Arbeiten im Rahmen von PISA in den ersten beiden Jahren keine eigenen Mittel. Dies erwies sich vermutlich jedoch als unsere größte Stärke. Normalerweise konstruiert man ein Bewertungsverfahren, indem man es zunächst plant und dann Ingenieure mit der Entwicklung beauftragt. Auf diese Weise entsteht ein Test, der Millionen Dollar kostet und einer Organisation gehört, den sich die Personen, die man für einen Wandel in der Bildung braucht, allerdings nicht zu eigen machen.

Dieses System haben wir umgedreht. Das PISA-Konzept zog bald die weltbesten Denker an und mobilisierte Hunderte von Pädagogen und Wissenschaftlern aus den Teilnehmerländern, die erforschen wollten, was wir von den Schülern erwarten sollten und wie wir das testen könnten. Heute würden wir von Crowdsourcing sprechen – doch wie immer wir es auch nennen, brachte es die notwendige Beteiligung, die für den Erfolg entscheidend war.

Das Bottom-up-Konzept zur Entwicklung globaler Vergleiche erwies sich auch in anderer Hinsicht als vorteilhaft. Als 2001 unsere ersten globalen Ranglisten veröffentlicht wurden und Frankreichs Schulen keinen guten Platz belegten, kamen viele Beobachter in diesem Land zu dem Schluss, dass mit dem Test etwas nicht stimmen könne. Aber Raymond Adams, wichtigster Architekt der PISA-Methodik und Koordinator des PISA-Projektkonsortiums beim Australian Council for Educational Research, hatte eine Antwort darauf. Er nahm die PISA-Testfragen, die aufgrund ihrer kulturellen Relevanz und ihrer Bedeutung im französischen Lehrplan von Frankreich erarbeitet bzw. hoch bewertet wurden, und verglich die Welt durch die Brille der für Frankreich wichtigsten Bildungsinhalte2. (Wir erkannten dabei auch, dass wir das Gleiche mit jedem anderen Land machen konnten.) Als diese Ergebnisse bemerkenswert ähnlich ausfielen, war der Streit über die interkulturelle Relevanz und die Zuverlässigkeit des Testverfahrens schnell beendet.

Im Lauf der Jahre etablierte sich PISA als eine einflussreiche Kraft für Bildungsreformen. Die im Dreijahresturnus durchgeführte Erhebung hat den Politikverantwortlichen dabei geholfen, die Kosten politischen Handelns zu senken, da schwierige Entscheidungen durch Evidenz gestützt werden konnten. Sie hat aber auch die politischen Kosten des Nichthandelns erhöht, da Bereiche aufgezeigt wurden, in denen Politik und Praxis nicht zufriedenstellend waren. Zwei Jahre nach dem ersten Treffen in Paris meldeten sich 28 Länder zur Teilnahme an der PISA-Erhebung an. Heute vereint PISA über 90 Länder, auf die 80% der Weltwirtschaft entfallen, in einem globalen Austausch über Bildungsfragen.

Der „PISA-Schock“ und das Ende der Selbstgefälligkeit

Die ersten PISA-Ergebnisse wurden am 4. Dezember 2001 veröffentlicht und lösten innerhalb kürzester Zeit eine hitzige Debatte aus. Aus den Testergebnissen ging nämlich eine Bildungslandschaft hervor, die ganz anders war als die, die viele zu kennen glaubten.

Verstärkt wurde der Effekt noch dadurch, dass die Daten dieses Mal von einer internationalen Organisation in vollem Umfang und ohne Ergebnisbeschönigung zur Verfügung gestellt wurden. Wir hatten ein System konzipiert, in dem die Länder ihr eigenes Resultat erfuhren, bevor sie zu entscheiden hatten, ob sie uns ihr Einverständnis zur Veröffentlichung ihrer Punktzahlen geben wollten. Was sie zu jenem Zeitpunkt allerdings nicht wussten, war, wie ihre Ergebnisse im Vergleich zu denen anderer Länder ausfielen. Mit anderen Worten hatten die Länder vor ihrer Entscheidung, ob sie an der Veröffentlichung teilnehmen wollten oder nicht, keine Kenntnis darüber, wie sie im Vergleich zu anderen Bildungssystemen abgeschnitten hatten.

Wir verwendeten außerdem ein Verfahren zur Anonymisierung der Daten, damit unser Team und unsere Forscherinnen und Forscher die Ergebnisse neutral bewerteten und analysierten, ohne dadurch beeinflusst zu sein, wie das eigene Land oder andere Länder abgeschnitten hatten.

Das war aber nur der Anfang. Mit jeder weiteren PISA-Erhebung stießen die Ergebnisse auf größere Aufmerksamkeit und lösten mehr Diskussionen aus. Die Kontroverse erreichte mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA-Erhebung 2006 im Dezember 2007 einen Höhepunkt. In dieser Studie untersuchten wir nämlich nicht nur, an welcher Stelle sich die Länder zu jenem Zeitpunkt befanden, sondern anhand von verfügbaren Daten für drei verschiedene Zeitpunkte auch, wie sich ihre jeweilige Position seit der ersten PISA-Erhebung im Jahr 2000 verändert hatte.

Es lässt sich einfach erklären, warum ein Land möglicherweise nicht so gut abgeschnitten hat wie ein anderes. Viel schwieriger ist es für die Politikverantwortlichen, einsehen zu müssen, dass sich die Dinge nicht verbessert haben oder dass der Fortschritt langsamer verlief als in anderen Ländern. Es kam unweigerlich zu politischem Druck. Als ich unseren Generalsekretär Angel Gurría kurz nach seinem Amtsantritt bei der OECD im Jahr 2006 über das Projekt in Kenntnis setzte, erkannte er sofort das Potenzial der PISA-Studie für einen Wandel in der Bildungspolitik und er war bereit, für den Erfolg der Studie zu kämpfen.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse der PISA-Studie war, dass sich Bildungssysteme verändern und verbessern können. Die Studie zeigte, dass die Leistungen einer Schule nicht schicksalhaft und auch nicht in Stein gemeißelt sind. Die Ergebnisse verdeutlichten auch, dass soziale Benachteiligung und schlechte schulische Leistungen nicht automatisch Hand in Hand gehen.

Diese Resultate forderten all diejenigen heraus, die noch immer in Selbstzufriedenheit verharrten. Wenn einige Länder Maßnahmen umsetzen konnten, um ihr Leistungsniveau zu steigern und die soziale Kluft bei den schulischen Leistungen zu schließen, warum sollten andere nicht in der Lage sein, Gleiches zu tun?

Manche Länder veranschaulichten zudem, dass Erfolg zu einem durchgängigen und vorhersehbaren Bildungsergebnis werden kann. In den Bildungssystemen dieser Länder konnte man sich darauf verlassen, dass die Qualität der Schulen durchweg gut war. In Finnland beispielsweise, dem Land, das in der ersten PISAErhebung insgesamt am besten abgeschnitten hatte, konnten die Eltern von einem konstant hohen Leistungsniveau ausgehen, unabhängig davon, für welche Schule sie sich für ihr Kind entschieden.

Am größten war die Wirkung der PISA-Studie natürlich in den Ländern, deren Ergebnisse vergleichsweise schlecht ausfielen, sei es absolut betrachtet oder in Bezug auf die eigenen Erwartungen. In einigen Ländern sensibilisierte die PISAStudie die breite Öffentlichkeit so nachhaltig, dass ein starker Veränderungsdruck entstand. Am größten war die Entrüstung, wenn die Testergebnisse der öffentlichen Wahrnehmung entgegenstanden. Dort, wo die Öffentlichkeit und die Politiker davon überzeugt waren, dass ihre Schulen zu den besten der Welt zählten, war es ein regelrechter Schock, wenn die PISA-Ergebnisse ein ganz anderes Bild zeichneten.

In meinem Heimatland Deutschland stieß die Veröffentlichung der PISAErgebnisse des Jahres 2000 eine intensive bildungspolitische Debatte an. Durch die Konfrontation mit den hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Ergebnissen bei den Schülerleistungen erlitten die Politikverantwortlichen den sogenannten „PISASchock“. Dieser Schock löste eine nachhaltige Debatte über Bildungspolitik und Bildungsreformen aus, die die Nachrichten in den Zeitungen des Landes und im Fernsehen monatelang beherrschte.

In Deutschland galt es als selbstverständlich, dass alle Schulen die gleichen Lernmöglichkeiten boten, denn es waren erhebliche Anstrengungen unternommen worden, damit alle Schulen angemessen und gleich ausgestattet wurden. Die Ergebnisse von PISA 2000 ließen aber große Unterschiede bei den Bildungsergebnissen zutage treten, je nachdem, ob die Schulen sozioökonomisch begünstigt oder benachteiligt waren. Auch das nachweislich einheitliche Niveau der Schulen in Finnland, wo nur 5% der Varianz bei den Schülerleistungen auf Leistungsunterschiede zwischen Schulen entfielen, hinterließ in Deutschland einen tiefen Eindruck, wo Niveauunterschiede zwischen Schulen für nahezu 50% der Varianz der Schülerleistungen verantwortlich waren. Mit anderen Worten kam es in Deutschland sehr darauf an, welche Schule ein Kind besuchte.

Im deutschen Schulsystem werden die Kinder in der Regel im Alter von zehn Jahren auf verschiedene Schulformen aufgeteilt. Von einigen wird der Besuch weiterführender allgemeinbildender Schulen erwartet, der in eine Berufslaufbahn als Wissensarbeiter mündet. Andere werden auf berufsbildende Pfade gelenkt und wahrscheinlich in Berufen landen, in denen sie für die Wissensarbeiter tätig sind. PISA zeigte, dass dieser Selektionsprozess die bestehende Gesellschaftsstruktur deutlich verstärkt. Anders ausgedrückt ließen die PISA-Analysen darauf schließen, dass Schülerinnen und Schüler aus sozioökonomisch günstigeren Verhältnissen in Deutschland systematisch angehalten werden, weiterführende allgemeinbildende Schulen zu besuchen – mit größerem Prestige und höheren Bildungserträgen –, während Schülerinnen und Schüler aus weniger begünstigten Verhältnissen den nicht so prestigeträchtigen berufsbildenden Schulen mit niedrigeren Bildungserträgen zugewiesen werden.

Für viele Pädagogen und Bildungsexperten in Deutschland waren die in der PISAStudie aufgedeckten Unterschiede keine wirkliche Überraschung. Allerdings wurde es häufig einfach hingenommen, dass benachteiligte Schülerinnen und Schüler in der Schule schlecht sind. Hieran etwas zu ändern, wurde als etwas betrachtet, das über die Aufgaben staatlicher Politik hinausgeht. Schockierend war an den PISA-Ergebnissen, dass die Auswirkungen des sozioökonomischen Status auf die Schüler- und Schulleistungen im Ländervergleich sehr unterschiedlich waren, und dass es Länder gab, die diesen Effekt sehr viel wirksamer zu mildern schienen als Deutschland. Damit zeigte die PISA-Studie, dass Verbesserungen möglich waren und lieferte die erforderlichen Impulse für Veränderungen.

Die Studie sorgte in Deutschland für eine neue Einstellung gegenüber Daten und Fakten. Bemerkenswert ist, dass in einem Land, in dem der Bund bei der Schulbildung gewöhnlich wenig mitzureden hat, es die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, war, die außergewöhnliche Führungsstärke bewies, als sie eine langfristige Vision zur grundlegenden Veränderung des Bildungswesens in Deutschland vorlegte.

Zu Beginn der 2000er Jahre verdoppelten sich die Ausgaben des Bundes für Bildung in Deutschiand nahezu. Doch über die Bereitstellung finanzieller Mittel hinaus legte die Debatte zugleich auch den Grundstein für ein breites Spektrum an Reformanstrengungen im Land, von denen einige grundlegende Veränderungen bewirkt haben. So erhielt die frühkindliche Betreuung eine stärkere Bildungsdimension, es wurden nationale Bildungsstandards für Schulen eingeführt (was in einem Land, in dem die Eigenständigkeit der Bundesländer immer sakrosankt war, bis dahin kaum vorstellbar war), und benachteiligte Schülerinnen und Schüler, darunter insbesondere jene mit Migrationshintergrund, erhielten stärkere Unterstützung. 2009 – neun Jahre später – schnitt Deutschland sehr viel besser ab. Es hatte sich in punkto Qualität und Chancengerechtigkeit deutlich gesteigert.

Deutschland war nicht das einzige Land, dem es gelang, sein Bildungssystem in recht kurzer Zeit zu verbessern. Koreas Durchschnittsergebnisse waren bereits im Jahr 2000 hoch, die Koreaner waren allerdings darüber besorgt, dass nur eine kleine Elite im PISA-Lesekompetenztest die oberste Leistungsstufe erreicht hatte. In weniger als zehn Jahren gelang es Korea, den Anteil der besonders leistungsstarken Schülerinnen und Schüler zu verdoppeln.

In Polen hat eine grundlegende Reform des Schulsystems dazu beigetragen, die Leistungsvarianz zwischen den einzelnen Schulen zu reduzieren, in den am schlechtesten abschneidenden Schulen eine Wende herbeizuführen und die Gesamtleistung in einem Umfang zu erhöhen, der dem Lernfortschritt von mehr als einem halben Schuljahr entspricht. Portugal und auch Kolumbien und Peru gelang es, ihr uneinheitliches Schulsystem zu konsolidieren und das Leistungsniveau insgesamt anzuheben. Selbst diejenigen, die behaupteten, die Rangfolge der Länder in der PISA-Studie sei hauptsächlich sozialen und kulturellen Faktoren zuzuschreiben, mussten nun einräumen, dass Verbesserungen im Bildungswesen tatsächlich möglich sind.

Estland und Finnland wurden zu beliebten Zielen für Pädagogen und Politikverantwortliche in Europa. In diesen beiden Ländern gehen die Kinder erst im Alter von 6 Jahren in die Schule und haben weniger Unterrichtsstunden pro Jahr als ihre Kameraden in den meisten anderen Ländern. Mit 15 Jahren zählen die Schülerinnen und Schüler aus dem gesamten sozioökonomischen Spektrum in diesen Ländern dann aber zu den leistungsstärksten der Welt. Da es zwischen den Schulen praktisch keine Leistungsvarianz gibt, gelingt es diesen Ländern auch, in ihren Schulsystemen generell eine Kultur der Exzellenz und Chancengerechtigkeit zu pflegen.

Die meisten Bildungssysteme, die in den ersten PISA-Erhebungsrunden sehr gut abschnitten und rasch Verbesserungen erzielten, fanden sich in Ostasien. Durch diese Ergebnisse wurde die im Westen gängige Meinung infrage gestellt, wonach der Erfolg dieser asiatischen Länder dem hohen Druck zuzuschreiben sei, der auf den Schülerinnen und Schülern laste oder dem Auswendiglernen. Denn von einigen Beobachtern wurde fälschlich als Drill und Wiederholung beschrieben, was in Wirklichkeit die Festigung des Gelernten ist3.

Um in PISA erfolgreich zu sein, reicht Auswendiglernen nicht aus. Als 2012 zum ersten Mal eine Bewertung der Kompetenzen im Bereich kreatives Problemlösen in die PISA-Studie aufgenommen wurde, sagten viele Beobachter voraus, dass dies die Ranglisten umkehren oder sich zumindest herausstellen würde, dass die Bildungssysteme in Ostasien ein sehr viel niedrigeres Leistungsniveau erreichen. Die Prognose hat sich aber nicht bewahrheitet; Singapur wurde Testsieger – das Land, das sich innerhalb von einer Generation von einem Entwicklungsland zu einem modernen Industriestaat entwickelt hat.

Als ich diese Ergebnisse im März 2014 in Singapur vorstellte, unterstrich der damalige Bildungsminister Heng Swee Keat, welch große Bedeutung Singapur der Förderung von kreativem und kritischem Denken, sozialen und emotionalen Kompetenzen sowie guten Charaktereigenschaften beimisst. Zwar mag unser Bild von Singapur noch immer durch ein begrenztes Engagement der Zivilgesellschaft und eine geringe politische Beteiligung geprägt sein, doch hat sich im Bereich der Bildung eine stille Revolution vollzogen, die im Westen fast vollständig unbemerkt blieb. Heute ist das Land richtungsweisend, was die Qualität seiner Bildungseinrichtungen und die Mitwirkung seiner Pädagogen bei der Gestaltung und Umsetzung innovativer Bildungspolitiken betrifft.

Japan zählt zu den leistungsstärksten Ländern der PISA-Erhebung. Die Ergebnisse zeigten aber, dass die Schülerinnen und Schüler zwar in der Regel bei Aufgaben sehr gut abschnitten, bei denen die Wiedergabe von Unterrichtsinhalten gefragt ist, ihre Leistungen bei Aufgaben mit frei zu formulierenden Antworten, bei denen sie ihr Wissen in neuen Situationen anwenden mussten, deutlich weniger gut waren. Dies Eltern und einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, die Hochschulzulassungsprüfungen im Multiple-Choice-Format gewohnt sind, war eine große Herausforderung. Die Politikverantwortlichen in Japan reagierten mit der Aufnahme von Aufgaben im PISA-Format in das nationale Prüfungssystem, d.h. Aufgaben, die frei formulierte Antworten erfordern. Diese Anpassung scheint sich auch in einer Veränderung der Unterrichtsmethoden niedergeschlagen zu haben. Zwischen 2006 und 2009 war Japan das Land, das bei der Bewältigung von Aufgaben mit frei zu formulierenden Antworten unter den OECD-Ländern die größten Fortschritte erzielt hat. Ich halte diese Verbesserung für immens wichtig, da sie zeigt, wie politische Neuerungen als Reaktion auf eine Schwäche bis in den Klassenraum hineinwirken und zu Veränderungen im Unterrichtsgeschehen führen können.

Im Westen unterschätzen wir häufig immer noch, wie stark der Antrieb Ostasiens ist, das Leben durch Bildung zu verändern. Bei meiner Rede auf dem Treffen von Führungsverantwortlichen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftskooperation in Wladiwostock in Russland im September 2012 wurde mir klar, dass dieses Thema nicht nur Pädagogen interessiert, sondern ihm auf höchster Regierungsebene sehr viel Aufmerksamkeit beigemessen wird.

In den Vereinigten Staaten stießen die ersten PISA-Erhebungen aufvergleichsweise geringe Aufmerksamkeit. Das änderte sich mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA-Studie 2006. Bob Wise, ehemaliger Gouverneur von West Virginia und Vorsitzender der Alliance for Excellent Education, hatte die National Governors Association, den Council of Chief State School Officers, den Business Roundtable und die Asia Society am 4. Dezember 2007 im National Press Club versammelt, um sich die PISA-Ergebnisse anzuhören.

Einige Monate später, im Februar 2008, hielt ich auf dem Wintertreffen der National Governors Association einen Vortrag über die PISA-Studie und stellte unter den Gouverneuren der Bundesstaaten großes Interesse an internationalen Vergleichen fest. Im selben Monat saß ich mit dem mittlerweile verstorbenen Senator Edward Kennedy in seinem Büro in Washington und erläuterte ihm, wie Polen es geschafft hatte, den Anteil seiner schlecht abschneidenden Schülerinnen und Schüler innerhalb von sechs Jahren um die Hälfte zu reduzieren. Seine Augen begannen zu strahlen. Mein Termin mit ihm, für den 20 Minuten anberaumt waren, dauerte nahezu 3 Stunden. Im Mai 2008 veranstalteten der Fraktionsvorsitzende der Mehrheit im US-Senat Harry Reid und Senator Kennedy ein Mittagessen, bei dem ich die PISA-Ergebnisse mit etwa 20 Senatoren diskutierte.

Das Interesse an der PISA-Studie gewann an Dynamik. Auf einer Tagung mit dem Committee on Education and the Workforce des amerikanischen Repräsentantenhauses im August 2009, an der ich als externer Sachverständiger teilnahm, gab es lebhafte Diskussionen über mögliche bildungspolitische Lektionen, die die Vereinigten Staaten von den weltweit führenden Bildungsakteuren lernen könnten. Einen Monat später begleitete ich hohe Bildungsverantwortliche aus den Bundesstaaten nach Finnland auf eine Tagung, die vom Council of Chief State School Officers veranstaltet wurde4. Jetzt führten wir keine abstrakten Diskussionen mehr. Amerikanische Spitzenverantwortliche waren ins Ausland gereist, um sich mit ihren Amtskollegen aus den leistungsstärksten Bildungssystemen der Welt auszutauschen.

Es dauerte aber noch bis zur nächsten PISA-Erhebungsrunde im Jahr 2009, bis die amerikanische Regierung, allen voran Arne Duncan, US-Bildungsminister von 20092015, den Ergebnissen wirklich Aufmerksamkeit schenkte. In seiner Initiative „Race to the Top“ (Wettlauf an die Spitze)5 ging es nicht in erster Linie um die Ankurbelung des Wettbewerbs unter amerikanischen Bundesstaaten, sondern vielmehr darum, den Blick der Bundesstaaten über das eigene Land hinaus auf die besten Bildungssysteme der Welt zu richten. Ich saß für den Bundesstaat Massachusetts im Beratungsausschuss dieser Initiative, d.h. den Staat, der im Allgemeinen als das Bildungsschlusslicht in den Vereinigten Staaten gilt. Die Diskussionen in diesem Ausschuss waren voll und ganz darauf fokussiert, wie Massachusetts die nach wie vor erhebliche Kluft zwischen seinen Ergebnissen und denen der leistungsstärksten Bildungssysteme in der Welt schließen könnte.

Als Mitglied des Prüfungsausschusses für die Common Core education standards (Gemeinsame Kernstandards für die Bildung)6, der damit beauftragt war, ein Rahmenkonzept für die schulischen Lerninhalte in den einzelnen Jahrgangsstufen zu erarbeiten, ist mir klar geworden, welche Auswirkungen Vergleiche mit leistungsstarken Bildungssystemen überall auf der Welt auf die Zielvorgaben haben, auf die die Schülerinnen und Schüler in den Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert hinarbeiten sollten.

Es ist nicht verwunderlich, dass das Interesse an der PISA-Studie sich weltweit erhöht hat, da die Medien das Thema breit aufgriffen. (Deutschland hat sogar ein Fernsehprogramm rund um die PISA-Studie eingerichtet7, das erstaunlich beliebt wurde.) Auf diesem Weg ist aus einer Fachdebatte zu Bildungsfragen eine öffentliche Diskussion über die Beziehungen zwischen Bildung, Gesellschaft und Wirtschaft geworden.

Einige Länder haben die PISA-Ergebnisse als Ausgangspunkt für einen Peer Review genutzt, um ihre Politiken und Praktiken im Vergleich zu denen anderer Länder zu analysieren, die sich ähnlichen Herausforderungen gegenüb ersehen, diese aber besser meistern. Diese Peer Reviews, die jeweils in einen Katalog spezifischer Politikempfehlungen münden, sind das Markenzeichen unserer Arbeit in der OECD geworden.

PISA hat den gegenseitigen Lernprozess nicht nur unter Politikverantwortlichen und Wissenschaftlern gefördert, sondern auch, und das ist vielleicht am wichtigsten, unter Fachleuten, darunter insbesondere Lehrerverbände und Lehrergewerkschaften.

Nicht zuletzt hat PISA die Öffentlichkeit dazu gebracht, ein besseres Bildungsangebot zu fordern. Dabei haben Elternverbände in vielen Ländern eine aktive Rolle gespielt. Neben meiner Teilnahme an Parlamentsanhörungen in Deutschland, Italien, Japan, Mexiko, Norwegen, Schweden, dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten und dem Europäischen Parlament traf ich auch mit vielen Organisationen und Wirtschaftsführern zusammen, die in der Bildung nicht nur einfach eine Fabrik zur Herstellung künftiger Arbeitskräfte für ihre Unternehmen sehen, sondern auch die fundamentale Rolle anerkennen, die Bildung bei der Gestaltung der Gesellschaften spielt, in denen wir leben und arbeiten.

■Die Kosten politischer Untätigkeit erhöhen

1997, als wir mit PISA begannen, erhielt ich einen Anruf vom Büro des brasilianischen Präsidenten: Brasilien war an einer Teilnahme an der PISA-Studie interessiert. Brasilien war das erste Nicht-OECD-Land, das ein derartiges Interesse bekundete, und ich war einigermaßen überrascht. Der damalige Präsident Fernando Henrique Cardoso muss sich bewusst gewesen sein, dass sein Land in den globalen Ranglisten ganz unten landen würde. Als ich dann aber später mit ihm darüber sprach, sagte er mir, dass das größte Hindernis, das der Verbesserung des brasilianischen Bildungssystems zu jener Zeit im Wege stand, nicht ein Mangel an Ressourcen oder Fähigkeiten war, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler trotz schlechter Leistungen gute Noten bekamen. Keiner dachte also, dass Verbesserungen erforderlich oder möglich seien. Für Präsident Cardoso war es wichtig, dass die Menschen die Wahrheit begriffen. Folglich veröffentlichte Brasilien nicht nur die nationalen PISA-Ergebnisse, sondern informierte zugleich jede Sekundarschule darüber, wieviel noch zu tun war, um bis 2021 in der PISA-Erhebung das OECD-Durchschnittsniveau zu erreichen.

Seither hat Brasilien in den PISA-Tests bemerkenswerte Fortschritte erzielt. Neun Jahre nach seiner ersten PISA-Teilnahme war Brasilien das Land, das im Bereich Lesekompetenz seit der ersten PISA-Erhebung im Jahr 2000 die stärksten Verbesserungen aufweisen konnte.

Mexiko machte eine ähnliche Erfahrung. Im Elternfragebogen von 2007 gaben 77% der Eltern an, dass die Qualität des Bildungsangebots der Schule ihrer Kinder gut oder sehr gut sei, obwohl, gemessen an der PISA-Erhebung 2006, etwa die Hälfte der 15-Jährigen in Mexiko Schulen besuchte, deren Leistungen auf oder unter der untersten PISA-Kompetenzstufe lagen. Für eine derartige Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen Bildungsqualität und den Leistungen im internationalen Vergleich mag es viele Gründe geben. Möglicherweise ist die Qualität der Schulen, die mexikanische Kinder heute besuchen, höher als die ihrer Eltern.

Der entscheidende Punkt ist hier aber, dass es nicht einfach ist, öffentliche Investitionen zu rechtfertigen, wenn in der Öffentlichkeit keine Nachfrage danach besteht. Im Februar 2008 traf ich den damaligen Präsidenten Mexikos, Felipe Calderon, der plante, eine PISA-basierte internationale Leistungsreferenzskala für Sekundarschulen in Mexiko zu erstellen. Diese Leistungszielmarken ließen die Lücke zutage treten, die zwischen nationalem Leistungsniveau und internationalen Standards klaffte. Verbesserungen zur Schließung dieser Lücke, darunter Anreize für das Lehrpersonal und ein besserer Zugang zur beruflichen Weiterbildung, wurden engmaschig überwacht.

Viele Länder folgten diesem Beispiel und stellten ähnliche PISA-basierte Leistungsziele auf. Dies zeigt, dass Länder die Wirksamkeit ihrer Bildungssysteme nicht mehr allein anhand von Vergleichen aktueller Leistungen mit vergangenen Lernergebnissen messen. Sie orientieren sich heute bei der Aufstellung ihrer Ziele und der Messung ihrer Fortschritte auf dem Weg dorthin an den weltweit am besten abschneidenden Bildungssystemen.

Worum geht es?

■Bildung und das Wohlergehen des Einzelnen und der Nationen

Der Wohlstand einer Gesellschaft hängt u.a. maßgeblich davon ab, wie sie das Wissen und die Kompetenzen ihrer Bevölkerung nutzt und zur Entfaltung bringt. Die Ergebnisse der Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener – ein Produkt der aus der PISA-Studie hervorgegangenen Internationalen OECD-Vergleichsstudie der Kompetenzen Erwachsener (PIAAC) – belegen, dass der Zugang zu besser bezahlten und attraktiveren Arbeitsplätzen für Menschen mit niedrigerem Kompetenzniveau erheblich eingeschränkt ist. Die Digitalisierung verstärkt dieses Muster gerade. Neue Branchen steigen auf, andere werden zurückfallen. Der Schutzschild gegen diese Schocks ist Bildung. Bei meinem Treffen mit dem schwedischen Premierminister Stefan Löfven im Mai 2016 hob er genau diesen Punkt hervor. Er stellte fest, dass das Einzige, was Menschen helfen könne, das mögliche Verschwinden ihres Arbeitsplatzes zu akzeptieren, das Vertrauen in ihr Wissen und ihre Kompetenzen sei, die sie befähigen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden oder zu schaffen.

Wenn große Teile der Erwachsenenbevölkerung ein niedriges Kompetenzniveau aufweisen, wird es schwieriger, die Produktivität zu steigern und Technologien besser zu nutzen. Dies wiederum steht einer Anhebung des Lebensstandards im Wege. Es geht hierbei aber um sehr viel mehr als Einkommen und Beschäftigung. Unsere Auswertungen der Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener haben ergeben, dass gering qualifizierte Arbeitskräfte nicht nur anfälliger gegenüber dem Wandel auf dem Arbeitsmarkt sind, sondern dass sie sich auch mit größerer Wahrscheinlichkeit ausgegrenzt fühlen und in politischen Prozessen als machtlos betrachten (ABB. 1.2)

Die Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener zeigt ferner, dass mit geringeren Qualifikationen generell ein Misstrauen gegenüber anderen und gegenüber Einrichtungen einhergeht. Auch wenn der Zusammenhang zwischen Bildung, Identität und Vertrauen komplex ist, spielt diese Verbindung eine wichtige Rolle, da Vertrauen das ist, was moderne Gesellschaften zusammenhält. Ohne Vertrauen in Menschen, öffentliche Einrichtungen und gut regulierte Märkte ist es schwierig, die Bevölkerung für die Unterstützung innovativer Politikmaßnahmen zu gewinnen, insbesondere wenn diese mit kurzfristigen Opfern verbunden und langfristige Vorteile nicht unmittelbar ersichtlich sind. Pädagogen plädieren naturgemäß lieber aus moralischen Gründen für Bildung, allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass zwischen der Qualität der Bildung und der Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft ein starker Zusammenhang besteht. Dies ist keine hypothetische Annahme, sondern messbar. Laut den Berechnungen von Eric Hanushek, Ökonom und leitender Wissenschaftler an der Hoover Institution der Stanford University, könnten die OECD-Länder über die Lebensdauer der 2018 geborenen Generation 260 Bill. USD an Produktionsleistung einbüßen, weil die Schulsysteme in den Industriestaaten nicht das bieten, wozu die leistungsstärksten Bildungssysteme nachweislich in der Lage sind (vgl. Kapitel 4)8,9. Mit anderen Worten haben Defizite in unseren Bildungssystemen ähnliche Auswirkungen wie eine große Wirtschaftsrezession, und dieser Effekt ist dauerhaft.

ABBILDUNG 1.2 ERWACHSENE MIT HOHER LESEKOMPETENZ ERZIELEN EHER POSITIVE SOZIALE UND WIRTSCHAFTLICHE ERGEBNISSE

Erhöhte Wahrscheinlichkeit (Quotenverhältnis), dass Erwachsene, die die Kompetenzstufen 4 bzw. 5 in Lesekompetenz erreichen, höhere Einkommen, ein größeres Vertrauen und politisches Effektivitätsbewusstsein, einen guten Gesundheitszustand, ehrenamtliche Tätigkeiten und eine Beschäftigung angeben, als Erwachsene, die lediglich die Kompetenzstufe 1 oder darunter erreichen.

Die Quotenverhältnisse sind um Alter, Geschlecht, Bildungsniveau, Migrationsstatus und sprachlichen Hintergrund bereinigt. Hohe Löhne sind definiert als Stundenverdienste der Arbeitskräfte, die über dem Median des jeweiligen Landes liegen.

Quelle: Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener (PIAAC) (2012,2015), Tabellen A5.13, A5.14.

StatLink  http://dx.doi.org/10.1787/888932903633

■ Schülerinnen und Schüler auf ihre Zukunft vorbereiten, nicht auf unsere Vergangenheit

Bereits Konfuzius und Sokrates haben den doppelten Auftrag der Bildung erkannt. Pädagogen sollen jungen Menschen Sinn und Bedeutung der Vergangenheit vermitteln und sie auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Als wir noch davon ausgehen konnten, dass das in der Schule Gelernte für ein ganzes Leben reicht, stand die Vermittlung von inhaltlichem Wissen und kognitiven Routinekompetenzen zu Recht im Mittelpunkt des Bildungsauftrags. Heute sind Wissensinhalte über Suchmaschinen zugänglich, kognitive Routineaufgaben werden digitalisiert und ausgelagert. Entsprechend muss der Schwerpunkt dahin verlagert werden, Menschen zu befähigen, lebenslang Lernende zu werden.

Beim lebenslangen Lernen geht es darum, beständig zu lernen, Gelerntes wieder zu verlernen und umzulernen, wenn die Rahmenbedingungen sich ändern. Es ist ein kontinuierlicher Prozess des Reflektierens, Antizipierens und Agierens. Reff ektierende Praxis ist erforderlich, um bei einer Entscheidung oder Handlung eine kritische Haltung einzunehmen. Dabei gilt es, einen Schritt zurückzutreten von dem, was bekannt ist oder angenommen wird und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Antizipation mobilisiert kognitive Kompetenzen, wie analytisches oder kritisches Denken, um vorherzusehen, was in Zukunft möglicherweise erforderlich ist oder welche Folgen heute ergriffene Maßnahmen in der Zukunft haben könnten. Sowohl die reflektierende Praxis als auch Antizipation tragen zur Bereitschaft bei, verantwortungsvoll zu handeln – in der Überzeugung, dass wir alle in der Lage sind, den Lauf der Dinge zu gestalten und zu verändern. So entsteht Handlungsfähigkeit. Moderne Schulen müssen den Schülerinnen und Schülern also dabei helfen, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu wachsen, und in einer sich wandelnden Welt ihren Platz zu finden und ihn zu gestalten10.

Heute müssen Schulen die Schülerinnen und Schüler auf einen rascheren Wandel vorbereiten als je zuvor, um sie zu befähigen, für Arbeitsplätze zu lernen, die es noch gar nicht gibt, gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen, die wir uns derzeit noch gar nicht vorstellen können und Technologien einzusetzen, die noch gar nicht erfunden wurden. Ferner müssen sie die Schülerinnen und Schüler auf eine vernetzte Welt vorbereiten, in der sie unterschiedliche Sichtweisen und Weltbilder verstehen und wertschätzen, erfolgreich und respektvoll miteinander umgehen und sich mit verantwortungsvollem Handeln für Nachhaltigkeit und das Wohlergehen aller einsetzen können.

Durch die Stärkung der kognitiven, emotionalen und sozialen Resilienz kann Bildung Menschen, Organisationen und Systemen helfen, in einem unvorhersehbaren disruptiven Umfeld zu bestehen und vielleicht sogar zu wachsen. Sie kann Bevölkerungsgruppen und Einrichtungen die erforderliche Flexibilität, Intelligenz und Reaktionsfähigkeit verleihen, um am sozialen und wirtschaftlichen Wandel erfolgreich teilzuhaben.

Natürlich wird aktuelles Wissen immer wichtig bleiben. Innovative oder kreative Menschen verfügen im Allgemeinen in einem bestimmten Wissensgebiet oder Praxisbereich über spezifische Kompetenzen. So wichtig es auch ist, zu lernen, wie man lernt, lernen wir immer, wenn wir etwas lernen. Beim schulischen Erfolg geht es aber nicht mehr in erster Linie um die Wiedergabe von konzeptuellem Wissen, sondern darum, auf der Basis unserer Kenntnisse zu extrapolieren und dieses Wissen in neuen Situationen kreativ anzuwenden. Epistemisches Wissen – z.B. das Denken wie ein Naturwissenschaftler, Philosoph oder Mathematiker – wird wichtiger als das Sachwissen über spezifische Formeln, Namen oder Orte. So muss es in der Schule heute sehr viel stärker darum gehen, Denkmethoden (die Kreativität, kritisches Denken, Problemlösefähigkeit und Urteilsfähigkeit erfordern), Arbeitsmethoden (insbesondere Kommunikation und Zusammenarbeit), Arbeitsinstrumente (darunter die Fähigkeit, das Potenzial neuer Technologien zu erkennen und voll auszuschöpfen) und die Fähigkeit zu entwickeln, in einer facettenreichen Welt als aktiver und verantwortungsvoller Bürger zu leben11.

Die herkömmliche Strategie der Schulen besteht häufig darin, Probleme in überschaubare Teile zu zerlegen und den Schülerinnen und Schülern dann beizubringen, diese Puzzleteile zu bearbeiten. In modernen Gesellschaften erfolgt Wertschöpfung, indem verschiedene Wissensgebiete zusammengeführt und Ideen miteinander verknüpft werden, die zuvor in keinem Zusammenhang zueinander zu stehen schienen. Dies setzt voraus, mit anderen Bereichen vertraut und aufgeschlossen für sie zu sein.

In den Schulen von heute ist es generell so, dass die Schülerinnen und Schüler individuell lernen und wir ihnen ihre persönlichen Leistungen am Schuljahresende bescheinigen. Je stärker die Welt aber von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt ist, desto mehr brauchen wir Menschen, die hervorragend zusammenarbeiten und Personen, die das Miteinander koordinieren. Innovationen werden heute selten von Einzelpersonen hervorgebracht, die isoliert arbeiten, sondern sind vielmehr ein Produkt unserer Fähigkeit, Wissen zu aktivieren, zu teilen und zusammenzuführen. Das Wohlbefinden von Gesellschaften hängt zunehmend davon ab, ob Menschen zu gemeinsamem Handeln in der Lage sind. Schulen müssen daher in Zukunft besser gerüstet sein, um das Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler für die Vielfalt des modernen Lebens zu schärfen. Konkret bedeutet dies, dass ihnen Teamarbeit vermittelt werden muss und sie dafür wie auch für individuelle schulische Leistungen belohnt werden sollten. So lernen sie, sowohl selbstständig zu denken als auch für und mit anderen zu handeln.

In der Realität sitzen Schülerinnen und Schüler aber die meiste Zeit einzeln an ihrem Pult, und die Zeit für das Lernen in der Gruppe ist begrenzt. Dies wurde in der ersten PISA-Erhebung der Kompetenzen im Bereich Problemlösen im Team 2015 überraschend deutlich. Im Durchschnitt der OECD-Länder war nicht einmal jeder zehnte 15-Jährige in der Lage, Problemlösungsaufgaben zu bewältigen, bei denen verlangt wurde, Gruppendynamik wahrzunehmen, aktiv Hindernisse zu überwinden und Unstimmigkeiten mit anderen auszuräumen – selbst wenn diese Aufgaben inhaltlich recht einfach waren12 (vgl. Kapitel 6).

Generell hat mit den sich wandelnden Kompetenzanforderungen die Bedeutung sozialer und emotionaler Kompetenzen zugenommen. Diese Kompetenzen sind gefragt, um Ziele zu erreichen, im Zusammenleben und in der Zusammenarbeit mit anderen sowie im Umgang mit Gefühlen. Sie umfassen Charaktereigenschaften wie Durchhaltevermögen, Empathie bzw. Einfühlungsvermögen, Achtsamkeit, ethisches Verhalten, Mut und Führungsstärke. Was viele der Eliteschulen auszeichnete, die ich besucht habe, war eben die Entwicklung dieser Art von Kompetenzen. Für die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler bleibt die Charakterbildung in der Schule aber eine Frage des Zufalls und hängt davon ab, ob sie für ihre Lehrer eine Priorität darstellt. Denn es gibt nur sehr wenige Bildungssysteme, die solche übergeordneten Ziele zu einem integralen Bestandteil dessen gemacht haben, was sie von den Schülerinnen und Schülern erwarten.

Wiederum haben soziale und emotionale Kompetenzen wichtige Schnittstellen zu Fragen der Vielfalt. Diese Kompetenzen können Schülerinnen und Schülern helfen, in einer Welt zu leben und zu arbeiten, in der die meisten Menschen mit vielfältigen Ideen, Betrachtungsweisen und Werten zurechtkommen und mit Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft zusammenarbeiten müssen. In dieser Welt werden Zeit und Raum häufig mithilfe der Technologie überbrückt und jeder Einzelne kommt in seinem Leben mit Problemen in Berührung, die über nationale Grenzen hinausgehen. Wirksames Kommunizieren und ein angemessenes Verhalten innerhalb vielfältig zusammengesetzter Teams sind auch in vielen Berufen ein Schlüssel zum Erfolg. Dies wird auch so bleiben, da die Technologie es den Menschen immer einfacher macht, rund um den Globus miteinander in Verbindung zu sein. Arbeitgeber suchen zunehmend Lernende, die sich leicht anpassen und in der Lage sind, ihre Kompetenzen und ihr Wissen unter neuen Bedingungen anzuwenden und auf diese zu übertragen. Um in einer vernetzten Welt beschäftigungsfähig zu sein, müssen junge Menschen die komplexe Dynamik der Globalisierung verstehen und Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund offen gegenübertreten.

Die Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen und Weltanschauungen verlangt von jedem Einzelnen, Ursprung und Wirkung der eigenen Ansichten und die der anderen zu hinterfragen. Das wiederum erfordert tiefen Respekt voreinander und Interesse am anderen, an seiner Vorstellung von der Realität und seinen Sichtweisen. Den Standpunkt oder die Überzeugung einer anderen Person anzuerkennen bedeutet nicht unbedingt, diesen oder diese zu akzeptieren. Jedoch eröffnet die Fähigkeit, die Welt durch unterschiedliche Brillen zu sehen, Möglichkeiten, die eigenen Sichtweisen zu vertiefen und in Frage zu stellen und reifere Entscheidungen zu treffen. Überall dort, wo wir in dieser Hinsicht nicht erfolgreich sind, bauen wir unsere Bildungssysteme auf Sand. Fazit ist, dass wir zwar versuchen können, Grenzen zu behaupten, wir sie angesichts der Realität der Interdependenz aber nicht aufrechterhalten können.

Die Herausforderung besteht darin, dass es für die Entfaltung dieser kognitiven, sozialen und emotionalen Kompetenzen einer ganz anderen Lern- und Lehrtechnik und auch Qualität der Lehrkräfte bedarf. Besteht die Lehrtätigkeit darin, vorgefertigtes Wissen zu vermitteln, können sich Länder weniger gute Lehrkräfte leisten. In diesem Fall schreiben die Regierungen den Lehrkräften generell auch genau vor, was zu tun ist und wie es getan werden soll. Um die von ihnen gewünschten Ergebnisse zu erzielen, greifen sie auf eine industrielle Arbeitsorganisation zurück. Heute besteht die Herausforderung darin, den Lehrerberuf zu einer Tätigkeit zu machen, die von herausragenden Wissensarbeitern ausgeübt wird, die in einer Kultur der Zusammenarbeit mit einem hohen Maß an professioneller Selbstständigkeit arbeiten. Sie agieren als kompetente Lehrkräfte, verantwortungsvolle Pädagogen, kooperative Lernende, innovative Entwickler, transformationale Führungskräfte und Community Builder.

Solche Lehrerinnen und Lehrer werden aber nicht als austauschbare Figuren in Schulen mit einer tayloristischen Arbeitsorganisation tätig sein, die zur Steuerung ihrer Arbeit hauptsächlich auf eine administrative Rechenschaftslegung und bürokratische Kontrollsysteme zurückgreifen. Um die von ihnen benötigten Kräfte zu gewinnen, müssen moderne Schulsysteme die Arbeitsorganisation in ihren Schulen dergestalt umwandeln, dass bürokratische und administrative Formen der Kontrolle durch professionelle Kontrollstandards ersetzt werden. In der Vergangenheit ging es um überbrachtes Wissen, in der Zukunft geht es um nutzergeneriertes Wissen.

In der Vergangenheit dominierte das Trennende – Lehrer und Lehrinhalte waren auf Fächer aufgeteilt, die Lernenden nach ihren künftigen Berufsaussichten getrennt. In den Schulen sollten die Schülerinnen und Schüler unter sich und der Rest der Welt draußen bleiben. Es mangelte an Zusammenarbeit mit den Familien, und Partnerschaften mit anderen Schulen wurden mit Vorbehalten gesehen. Die Zukunft muss ganzheitlich gestaltet werden – dabei sollte der fächerübergreifende Unterricht und die Integration der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund stehen. Die Zukunft muss außerdem vernetzt sein, damit das Lernen in engem Zusammenhang zur realen Welt und aktuellen Fragen steht und offen ist für die vielfältigen Ressourcen der Gemeinschaft. Effektive Lernumfelder schaffen immer wieder Synergien und öffnen neue Wege, um das berufliche, soziale und kulturelle Kapital gemeinsam mit anderen zu stärken. Dies erfolgt im Kontakt mit Familien und Gruppen, Hochschulen, Unternehmen und insbesondere anderen Schulen und Lernumfeldern. Es geht dabei um die Schaffung innovativer Partnerschaften. In einer Welt komplexer Lernsysteme begrenzt Isolation das Entfaltungspotenzial erheblich.

In der Vergangenheit war der Unterricht fachbezogen, in Zukunft muss er stärker projektorientiert sein und Erfahrungen vermitteln, die Schülerinnen und Schülern das fächerübergreifende Denken erleichtern. Die Vergangenheit war hierarchisch geprägt, die Zukunft ist partnerschaftlich organisiert: Lehrer und Schüler werden gleichermaßen als Wissensquelle und Wissensschaffer anerkannt.

Früher wurden unterschiedliche Schüler auf die gleiche Art und Weise unterrichtet. Heute müssen Schulsysteme der Vielfalt mit differenzierten Lernmethoden begegnen. Damals standen Standardisierung und Regelkonformität im Vordergrund. Die Schülerinnen und Schüler wurden in Alterskohorten nach demselben Standardlehrplan unterrichtet, und alle wurden gleichzeitig beurteilt. In Zukunft sollten die Unterrichtsinhalte auf den Interessen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler aufbauen. Ihr Lernen und die Beurteilung ihrer Leistungen sollten individuell angepasst werden können, damit Engagement und Talent gefördert werden. Worauf es ankommt, ist, Schülerinnen und Schüler zu ermutigen, kreativ zu sein.

Die Schulen müssen stärker anerkennen, dass jeder anders lernt und in unterschiedlichen Phasen seines Lebens anders an Aufgaben herangeht. Sie müssen neue Wege der Bildungsvermittlung eröffnen, die dem Lernenden das Lernen näherbringen und seinen Lernfortschritt bestmöglich fördern. Lernen ist kein Ort, sondern eine Aktivität.

In der Vergangenheit waren Schulen technische Inseln. Der Einsatz von Technologien beschränkte sich häufig auf bereits bekannte Praktiken, und was ihre Anwendung und Nutzung betraf, waren die Schülerinnen und Schüler der Schule oft voraus. Heute müssen die Schulen das Potenzial der Technologien nutzen, um das Lernen von überkommenen Konventionen zu befreien und die Lernenden auf neue und dynamische Weise zu verbinden: mit Wissensquellen und innovativen Anwendungen und untereinander.

Früher lag der Schwerpunkt der Bildungspolitik auf der Bildungsvermittlung. Heute muss der Fokus auf den Ergebnissen liegen, d.h. die Blickrichtung muss sich verlagern. Der Blick darf nicht mehr nach oben in die bürokratische Hierarchie, sondern muss nach außen gerichtet werden, auf die Kollegen, Schulen und Bildungssysteme nebenan. In der Vergangenheit stand bei den Behörden das Schulmanagement im Mittelpunkt, heute muss der Fokus auf einer Vorreiterrolle bei der Unterrichtsgestaltung liegen, wobei es Aufgabe der Schulleitungen ist, hoch qualifizierte Lehrkräfte zu unterstützen, zu fördern und zu evaluieren sowie ein innovatives Lernumfeld zu schaffen. Damals ging es um Qualitätskontrolle, in der Zukunft geht es um Qualitätssicherung.

Was die Aufgabe erschwert, ist, dass ein derartiger Systemwandel weder von der Regierung vorgeschrieben werden kann – das Ergebnis wäre eine äußerliche Regelkonformität – noch ausschließlich von unten nach oben entstehen kann.

Die Regierung kann zwar nicht direkt für Innovationen im Klassenzimmer sorgen, sie kann sich aber für Veränderungen stark machen und ein Leitbild für das Lernen im 21. Jahrhundert formulieren. Sie hat eine Schlüsselfunktion als Plattform und Vermittler, als Impulsgeber und Triebkraft. Die Regierung kann Mittel gezielt einsetzen, für ein günstiges politisches Klima sorgen und Veränderungen in der Rechenschafts- und Berichtspflicht nutzen, um neue Praktiken zu fördern.