Weltwissen der Siebenjährigen - Donata Elschenbroich - E-Book

Weltwissen der Siebenjährigen E-Book

Donata Elschenbroich

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Beschreibung

Strahlende Intelligenz, sagte Sigmund Freud, sei charakteristisch für Kinder in den Jahren vor der ­Schule. Nie ist die Neugier, die Lust am Forschen und die Offenheit für neue Erfahrungen, für »Welt-Wissen« in einem umfassenden Sinn, größer als in dieser Zeit. Doch so lauthals die Defizite von Schulkindern beklagt werden, so selten stellen sich Erzieher und Kulturpolitiker die Frage, welche Bildungsgelegenheiten wir Kindern in den frühen Jahren zu Beginn des 21. Jahrhunderts schulden. Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können, wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein? Donata Elschenbroich hat über Jahre in einer großangelegten Studie Menschen aller Schichten, jeden Alters und verschiedenster Bildungshintergründe befragt. Ausgangs- und Zielpunkt der vielstimmigen Recherche: eine Wunschliste für »Weltwissen«, die lebenspraktische, soziale, motorische Fähigkeiten und Erfahrungen ebenso umgreift wie kognitive und ästhetische Angebote. Die Ideen, die sich Menschen in Deutschland über die basic skills und über die Zukunft der nachwachsenden Generation ­machen – Eltern, Großeltern, Pädagogen, Jugendliche, Hirnforscher, Entwicklungspsychologen, Unternehmer, Verkäufer, Arbeitslose – haben die Liste verändert, erweitert, vertieft –, und dieses Buch ist eine Einladung, sie fortzuschreiben. Nicht um einen Lernzielkatalog, eine Checkliste abzuprüfender Fähigkeiten geht es hier, wohl aber um ein Panorama von Bildungserlebnissen, die wir Erwachsenen – Eltern, Erzieher, Nachbarn, Politiker – Kindern in den frühen Jahren schulden. Donata Elschenbroich wirft deshalb auch ­einen Blick auf beispielhafte Initiativen in Ländern wie England, Japan, Ungarn und den USA und bietet in fünfzehn »Bildungsminiaturen« eine Fülle von Anregungen, wie sich Weltwissen im Alltag für und mit unseren Kindern entwickeln lässt – ein Spiel mit offenem Ende, dessen Gewinner wir alle sind.

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Donata Elschenbroich

Weltwissen derSiebenjährigen

Wie Kinder die Weltentdecken können

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Inhalt

  I  Welt-Bildung

Die Eltern

Schleusen der Kultur

Bildungsauftrag

Weltwissen: Die Recherche

Eine erste Liste

Ein Panorama nach 150 Gesprächen

Kanon-Bildung

Ein Kanon des Weltwissens: der Orbis Sensualium Pictus von Comenius

Ein Orbis im 21. Jahrhundert

Das Wissen des Weltwissens

 II  Je mehr man von der Welt weiß, umso interessanter wird sie

Gespräche mit Fachleuten aller Art

Ein Bildungskanon für die frühen Jahre?

Kinder als Lebens-Unternehmer

Aus mehreren Quellen leben können

Lebens-Erwartung und ihre Wurzeln in der Kindheit

Gewinnen wollen und verlieren können

Das Kinderparlament

Kinder als Forscher, Sammler, Erfinder

Wenn ich ans Erfinden geh, bin ich wieder ein Kind

Sach-kundig

»Nichts« gibt es nicht! Chemie im Vorschulalter

Sehen und tun: Die Kinder-Akademie Fulda

Computerschulen für Kinder

Wie entsteht Gott im Kind? Religions-Bildung

»Das Kreuzzeichen machen können«

Die Entstehung Gottes im Kind

Kinder haben unsere Gemeinde verändert

Den Kindern in Deutschland fehlt…

Selma sollte sich ein Spiel ausdenken müssen

Die Kinder in Deutschland haben kein general knowledge

»Strahlende Intelligenz« im Vorschulalter. Und wie geht es weiter?

Ich bin der einzige Siebenjährige in unserer Familie

Sie will allen Dingen auf den Grund gehen

Wie ging es weiter?

III  Bildungsminiaturen

Das Ich-als-Kind-Buch

Die Dinge

Weltverbesserer

Heimweh in Teneriffa

Fensterplatz

Aufgeräumt

Weniger war mehr

Geburt

Nochmal!

Die Apfelsine

Waldtag

Schrift und Zeichen

Die Stille als Teil der Musik

Meine Hand

IV  Kindheit und Pädagogik der frühen Kindheit in anderen Ländern

USA

England

Japan

Ungarn

 

Nachwort: Das Kind erfinden

Dank

Anmerkungen

Literatur

IWelt-Bildung

 

 

 

 

Menschen sind Wesen, die nicht nur geboren werden, sondern noch zur Welt kommen müssen. Frühgeboren zu sein ist eines unserer wesentlichen Gattungsmerkmale. Um uns in der Welt schrittweise einquartieren zu können, sind wir darauf angewiesen, dass man sie uns zeigt. Die menschlichen Nachkommen wiederum sind die einzigen jungen Lebewesen, die auf die Dinge zeigen. Eine Aufforderung, eine Bitte, ein schon vor dem Spracherwerb begonnener Dialog: Der Säugling, das noch nicht ich-sagende Subjekt, bittet, fordert: Erklär mir. Antworte! Der Finger, die Hand des Kindes – es kann den Kopf schon heben, drehen –, sie wählt aus. In der Umwelt, in die das Kind hinausgetreten ist, in diesem aktuellen Ausschnitt von Welt überhaupt, wählt es zielgerichtet: den erstaunlichen Gegenstand, da! das Fahrrad, der Föhn: da! Das Kind staunt. Und verwandelt sein Staunen in eine Geste, in ein Fragezeichen: ein geborener Lerner. Das Kind inszeniert den Dialog: Der Blick wandert vom Phänomen zum Erwachsenen, dem weltsicheren älteren Gattungsgenossen. Mit instinktivem Vertrauen in dessen Macht, sein Weltwissen und seine Gutartigkeit, fordert es: Gib ab davon! Teile mit mir. Du bist jetzt dran! Und der Erwachsene, er kann nicht anders. Die Mutter, biologische Mäzenin über neun Monate, setzt ihr Mäzenat als ein elementar pädagogisches fort. Nicht nur die Mutter, wir alle sind geborene Lehrer. Wir können uns nicht verweigern. Intuitiv verfallen wir im Dialog mit Säuglingen in den Singsang einer bis zu einer Oktave angehobenen Kopfstimme, wir dehnen und wiederholen die Silben und bieten dem Säugling damit die bestmögliche Propädeutik für den Spracherwerb. Wir bringen automatisch unser Gesicht im richtigen Winkel und im richtigen Abstand für die Augen der Neugeborenen so in Stellung, dass sie die Botschaften des menschlichen Gesichts entziffern lernen. Und wir springen an auf ihre gestischen Fragen, den deutenden Finger, den zwischen dem fixierten Gegenstand und unseren Augen wandernden Blick. Wir sind dran! Wie die Hirten auf dem Felde machen wir uns auf den Weg, wir Erwachsenen im Umgang mit den Neugeborenen, und tun, wie uns gesagt wurde. Den Einjährigen benennen wir die Dinge, wir kommentieren ihre Hantierungen wie Sportreporter, obwohl es von ihrem Wortschatz her noch keinen Sinn macht. Für das Gespräch mit den Nachkommen sind wir programmiert.1 Nur in Verwöhnungssystemen können wir als Gattung gedeihen.

Den Kopf heben, Aufhorchen – das sind weltbildende Gesten. Das Kind hebt den Kopf und sieht die Welt aufgehen. Das Kind bildet dabei einen Horizont, die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Wirklichen und dem Möglichen. Terrain gewinnen, den Horizont voranschieben, unterwegs zu einem Zuwachs an Welt, unablässig: Das heißt lernen. Der Mensch, sagt Sloterdijk, ist ein »Mehrwelttier« und die Welt-Aneignung eine »Fortsetzung der Geburt mit anderen Mitteln«.2

Die Welt ist der Inbegriff von allem, womit man Erfahrungen macht, wenn man in ihr ist. Dieses progressive Welteinwohnen beschäftigt uns lebenslang, aber in den frühen Stadien des Lebens ist es besonders abenteuerlich, verheißungsvoll, pionierhaft. In den frühen Jahren ist genetisch alles darauf gerichtet, dass das biologisch nicht angepasste menschliche Junge, ausgestattet mit verschwenderisch reichhaltigem Potenzial, die Signale aufnehmen kann, die in Borneo, Boston oder Bremen Sinn machen für seine jeweilige Existenz. In diesen frühen Jahren ist es stärker noch, deutlicher noch als später angewiesen auf den Anderen, den Informations-Bereiter. Für das Entschlüsseln des Gesichtsausdrucks und das Decodieren der Sprache ist viel Gehirnkapazität vorgesehen. Das menschliche Gehirn lernt gern von anderen Menschen. Nicht die biologische Mutter muss es sein, da hat die Natur gut vorgesorgt. Jeder andere Mensch mit einem Vorsprung an Weltwissen kann mitspielen.

Sigmund Freud nannte es die »strahlende Intelligenz« der Kinder im Vorschulalter: ihre großzügige Ausstattung mit Talenten, ihre unerschrockene Erfinderlust, ihre Begeisterung fürs Lernen. Kennen Sie ein Krabbelkind, das null Bock aufs Krabbelnlernen hatte? Ehrliche Lerner. Sie mogeln nicht, sie lassen sich nicht einsagen…

»Wüchsen die Kinder fort wie sie sich andeuten, wir hätten lauter Genies«, bemerkt Goethe in Dichtung und Wahrheit im Hinblick auf das verschwenderische Entwicklungspotenzial von Kindern in frühen Jahren. Der »Horizont« ist durchlässig. Die Fülle des Vorhandenen spricht zum Kind von der Macht des Möglichen. Weltbewusstsein ist immer auch Überschussbewusstsein. Wer angefangen hat, in der Welt zu sein, ist unterwegs zu einem Zuwachs an Welt.

Die Eltern

Was sollte ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können, wissen?

Wer fragt so? Eltern. Auch für Eltern sind Kinder eine Botschaft des Möglichen.

Das ist nicht nur Verheißung, das ist beunruhigend. Hat dieses Kind, was es braucht? Wenn ein kleiner Abstandsschritt zum Alltag mit einem Kind möglich ist, fragen sich das alle Eltern, irgendwann nach den ersten Jahren. Anfangs war man noch damit beschäftigt, das Kind kennenzulernen, seinen Rhythmus, sein Temperament. Und das Kind war vollauf beschäftigt mit seinem mitgebrachten Programm, seinen frühen ontogenetischen Entwicklungsaufgaben. Jede, kaum bewältigt, löste schon die nächste Aufgabe aus: Fixieren, Greifen, Sitzen, Beißen, Laufen…

Aber dann, je weiter das Kind in der Sprache vordringt, weitet sich der Horizont atemberaubend schnell, und die Möglichkeiten und Alternativen der Anregung vervielfältigen sich. Was wir nicht tun, ist das eine Unterlassung, ist das Vernachlässigung? Was wir nicht anregen, wird das brachliegen? Dabei sein, im Weg sein, umgehen mit allem, was zur Hand war, so war das Kind unterwegs zur Welt, es hatte Stoff, ganz offensichtlich. Aber reicht das für die Zukunft?

Keine Mutter, kein Vater, die nicht insgeheim mehr von sich erwarten. Mehr wovon? Das Gleiche wie in der eigenen Kindheit kann es nicht sein. Wie machen es andere Eltern? Was sagen die Fachleute? Was braucht dieses Kind? Auf einmal beginnt die Zeit knapp zu werden. In den ersten Monaten und Jahren konnte es den Eltern oft nicht schnell genug gehen – bis der Nachtschlaf wieder ungestörter wurde, bis das Kind von sich aus gern einmal in einem anderen Haus übernachtete. Nun läuft die Zeit davon. In Gedanken überschlägt man die restliche Kindheit: wieviel Jahre noch, bevor die Schule beginnt? Sollen das zwei, drei Jahre Spielparadies sein, soll man das Kind schützen vor Ansprüchen, es »in Ruhe« lassen? Aber die Zweitsprache, die jemand in dieser Familie spricht – wenn sie dem Kind je zu einer zweiten Muttersprache werden soll, dann müsste man sie jetzt einführen. Von »Entwicklungsfenstern« hat man gelesen, von optimalen Zeitpunkten für den Erwerb kognitiver Grundfähigkeiten, den mathematischen, sprachlichen, musikalischen. Wird sich mit jeder Kerze auf der Geburtstagstorte ein Entwicklungsfenster schließen? Macht man es sich zu leicht, was hat man übersehen? Die vierjährige Cousine in England unterschreibt schon auf der Postkarte mit ihrem Namen und einem Gruß…

Eltern, nicht anders als Tiere bei der Aufzucht, sondieren das Terrain, in das sie die Jungen schicken. Sie umkreisen es in Gedanken, konzentrisch, wie der Vogel das Nest umflattert. Wo sind heutzutage die nahrhaften Weideplätze, wann ist der ungefährlichste Zeitpunkt für den nächsten Entwicklungsschritt nach draußen? Auf Probegängen erkunden Eltern diesen nächsten Weltausschnitt, den der russische Entwicklungspsychologe Lev Vygotsky die zone of proximal development nannte.

Zugleich wissen wir, dass, anders als Spatzen oder Kängurubabys, der Nesthocker Mensch bei seinem Aufwachsen keinem verlässlichen genetischen Programm folgen kann. Zur Überlebensfähigkeit und zum Glück des Menschen gehört seine Entscheidungsfähigkeit, die Freiheit zu wählen und Nein zu sagen. Nur die eigenen Fragen, nur die eigenen Lösungen des Kindes machen es zu einem Zeitgenossen, zu einem menschlichen Weltwissenden. Ausgesetzt auf der Datenautobahn geht das Kind ein. Wissen ist immer persönliches und soziales, subjektgebundenes Wissen.

Diese gattungsspezifische, diese zeitgenössische Entwicklungsaufgabe begriffen zu haben, heißt alles für das Kind Geplante mit einem Vorbehalt versehen. Ein pädagogisches Zögern, die Skepsis gegenüber Belehrung und Verschulung, ein leise ironisches Verhältnis zur Pädagogik überhaupt, das ist ein Erbe des 20. Jahrhunderts, des »Jahrhunderts des Kindes«. Die Traumstraßen und Irrwege des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach idealen Kindheiten haben uns auch die Erkenntnis hinterlassen, dass Kinder nicht belehrbar sind. Sie können nur selber lernen. Die Frühlese-Trainingsprogramme der 70er Jahre haben die Kinder nicht intelligenter gemacht. Zum Ende des Jahrhunderts haben viele Erwachsene die Entwertung ihres Wissens erfahren, und sie müssen zweifeln an ihrem generationalen Wissensvorsprung. »Er sah, daß sein Kind ihm in vielem voraus war. Und er war der Zeit, der Gegenwart, dafür dankbar«, heißt es 1980 bei Peter Handke in der »Kindergeschichte«.3

Zwanzig Jahre später bemühen sich in einem Vortragssaal fünf Erwachsene vergeblich, einen Video-Beamer in Gang zu setzen. Hilfesuchend: »Ist hier vielleicht irgendwo ein Kind?«

Wie wird man solche Erkenntnisse integrieren bei der Unterstützung im Aufbau von Welt-Wissen? Im Kind die Kraft zu bestärken, sein eigener Lehrer zu sein, darum geht es. Wieviel Überlegung, Zeit, Energie fordert das jungen Erwachsenen ab, die selbst mit ihren Neuanfängen, ihrem eigenen Verlernen und Lernen zu tun haben!

Schleusen der Kultur

Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können, wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?

So fragen auch ganze Kulturen. Zumindest beantworten Gesellschaften die Frage faktisch durch das, was sie Kindern in ihrem ersten Lebensabschnitt ermöglichen oder verweigern. Die Organisation von Kindheit, die Gestaltung dieser Lebensphase eines Teils der Bevölkerung, ist eine gesellschaftliche Daueraufgabe. Durch welche Schleusen schicken Gesellschaften ihre Kinder weltwärts?

Kinder sind ein Schlüssel zum Verständnis eines Landes, nicht nur der Sitten einer Gesellschaft, sondern auch ihrer kollektiven Intelligenz, ihrer Zukunftsfähigkeit. Was wird investiert in die frühen Jahre jeder Generation – wieviel Fürsorge, in Form von Zeit, Phantasie, Geld sind sie den Erwachsenen wert? Welche Freiheiten gestatten sie den Heranwachsenden, bei welchen Gelegenheiten dürfen sie Nein sagen?

Die psychologischen Wissenschaften vom Kind und die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung haben bisher noch nicht viel zur Selbsterkenntnis im internationalen Vergleich beigetragen. Die Indikatoren sind noch zu grob. Man erhebt zwar weltweit die Quoten der Säuglingssterblichkeit, und man weiß etwas über die Familienformen, in denen Kinder zwischen Kalkutta, Kalifornien und Kenia aufwachsen. Aber wie zum Beispiel teilen sich in verschiedenen Gesellschaften die Generationen den Raum? Den Raum innerhalb der Wohnungen, den Raum in den Städten? Wieviel Raum wird Kindern in öffentlichen Diskursen, in den Medien, zugestanden – sind Kinder vor allem ein Frauenthema, etwas für die Wochenendbeilage, oder ein Thema für die erste Seite, für die gute Sendezeit? Mit welchen kulturellen Phantasien werden die ersten Lebensjahre der Kinder besetzt: Dominieren Leistungserwartungen oder eher regressive Phantasien über eine spannungsfreie Oase, ein »Kinderparadies«? Wieviel Zeit, Mütter-Zeit, Beziehungs-Zeit, wird für Kinder aufgewendet, und was ist sie einer Gesellschaft wert, wird diese Zeit geachtet, wird sie vergütet? In welchem Ansehen stehen diejenigen, die sich beruflich mit Kindern beschäftigen – gilt ihr Beruf als attraktiv oder eher als »zweite Wahl«?

Für solche Filter in den Kulturen des Aufwachsens fehlen uns vergleichende Untersuchungen. Eine Zukunftsaufgabe.

Bildungsauftrag

Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Jahren erfahren haben, können, wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?

So fragt auch die Berufsgruppe der Erzieher in Kindergärten. So umfassend fragt sie noch nicht lange, erst seitdem eine neue Bildungsdiskussion allmählich mehr Aufmerksamkeit auch auf die frühen Jahre lenkt.

Seit 1996 hat jedes in Deutschland lebende Kind ein Recht auf einen Kindergartenplatz. Ab dem Alter von spätestens vier Jahren gilt nun jedes in Deutschland lebende Kind als »Kindergartenkind«.

Rund 4.000 wache Stunden verbringen Kinder heute vor dem Schuleintritt in einem Kindergarten. In diesen Stunden sollen sie ausdrücklich mehr als nur »betreut« werden: Das Kindergartengesetz von 1996 formuliert einen Bildungsauftrag an alle Kindergärten. Damit ist die historische Trennung in verschiedene Typen von Kindergärten – Betreuung von Kindern, während die Mütter in der Fabrik oder auf dem Feld arbeiten einerseits, Anregung und Bildung der Kinder in ausgesuchten Kindergärten gegen höhere Gebühr oder über unbezahlte Mitarbeit von Müttern andererseits –, diese Trennung, die immer eine Klassentrennung war, überwunden, zumindest vom Anspruch her. Seit das Kindergartengesetz in Kraft getreten ist, gibt es keinen Trägerverband, keine Fortbildungsakademie, die diesem neuen »Bildungsanspruch an die frühen Jahre« nicht jährlich mehrere besorgte Tagungen widmet.

Erzieher sind in Deutschland keine verwöhnte Berufsgruppe. In den vergangenen 30 Jahren haben sich die Beschäftigten in diesem Berufsfeld vervierfacht. Aber am Status der Erzieherinnen – zu 95% sind es Frauen – hat sich nichts geändert, sie verdienen bestenfalls zwei Drittel des Gehalts von Grundschullehrerinnen, und ihre Ausbildung an Fachschulen, fern von Kunst und Wissenschaft, macht es ihnen unmöglich, in einem anderen europäischen Land zu arbeiten. Deutschland bildet, was den Status der Erzieherausbildung angeht, mit Österreich das Schlusslicht der europäischen Länder. In den Beruf der Kindergärtnerin lenkt man junge Frauen, die keine guten Erfahrungen mit dem Lernen gemacht haben. Die Bildungsexpansion, die gestiegenen Quoten von Abiturientinnen haben dem Berufsfeld viele selbstbewusste, unternehmungslustige junge Frauen entzogen.

Kindheit war im 20. Jahrhundert einige Male ein Hoffnungsthema, es mobilisierte Visionen und Energien weit über die unmittelbar mit Kindern Beschäftigten, wie Eltern und Erzieher, hinaus. Der letzte große historische »Kindheitsaufbruch« in diesem Sinne waren die Jahre nach 1968.

Viele der heute in Politik und Medien Erfolgreichen haben in den 70er Jahren in Kinderläden gearbeitet. Es gab damals diesen fast intuitiven Konsens: Um den autoritären Charakter, wie ihn Nationalsozialismus und 50er Jahre hervorgebracht haben, zu überwinden, muss man im Kindergarten anfangen. Ein demokratischer Charakter kann nur in frühen Jahren sozial und psychologisch grundgelegt werden.

Der Umgang mit Kindern wurde liberaler, andere Themen gelangten in den Horizont ihres Aufwachsens. In den 80er Jahren jedoch erlahmte die reformerische Energie. Um Kinder und Kindheit wurde es stumm. Als Rentenverdiener war noch von ihnen die Rede, von den immer weniger werdenden Kindern und Rentenverdienern. Darüber hinaus zogen Kindheit und Kinder wenig Phantasie auf sich. Eine soziale Minderheit, um die sich die Angestellten in den sozialen Berufen schon kümmern würden. In der westdeutschen Fachszene der Kindergärten ging es in den 80er Jahren vor allem um »Betreuung« auf »Betreuungsplätzen« mit »bedarfsgerechten Öffnungszeiten« – während die Mütter arbeiteten oder studierten.

Das Interesse verlagerte sich von den Kindern auf die Frauen. »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« war die Devise. Der Kindergarten – ein Dienstleistungsbetrieb.

In der Fachdiskussion der Berufserzieher in diesen Jahren ging es vorwiegend um »Rahmenbedingungen der Kinderarbeit«. Unsinnlich bis in die Sprache hinein, hießen Kindergärten fortan »Einrichtungen«, in denen »bedarfsgerecht betreut« werden sollte, mit der »Elternschaft« wurden »Betreuungsansätze« und »Öffnungszeiten« gemäß deren »Erwartungshaltung« »ausgehandelt«, und den Kindern im Kindergarten begegnete man nicht mehr in Räumen, sondern in »Räumlichkeiten«. Erträglich für die Kinder sollte ihre betreute Unterbringung allerdings sein, soviel wollte man in einem reichen Land verlangen können. Der Kindergarten sollte vor allem ein spannungsfreies und ein unterhaltsames Milieu sein. Lernen, wenn überhaupt, sollte spontan, unbemerkt zustande kommen. Erwartungen an Begegnungen mit Kunst und Wissenschaft wurden auf spätere Jahre verschoben. Die Erzieherinnen hatten da nichts beizutragen, sie waren fürs Soziale zuständig. Lernen, Bildung wurden gleichgesetzt mit »Leistungsanspruch«, und diesen nicht »vorzuziehen« galt als die besondere Aufgabe von Erziehern. »Kreativ«, »gewaltfrei«, waren die Stichworte. Wenig Zukunftssorgen scheint man sich um Kinder in den 80er Jahren gemacht zu haben, in diesen Jahren der Wachstumsgewissheit der alten Bundesrepublik, den Jahren mit der niedrigsten Arbeitslosenrate der deutschen Geschichte.

Die Kindheit nicht verschulen! Noch heute entwerfen Erzieherinnen in ihren Zukunftsszenarios bevorzugt Rückzugsecken, geschützte Raumebenen in Kindergärten mit gedimmertem Licht, snoezle rooms, Klangmulden, Duftkojen, gepolsterte Nester, Hängematten … Beruhigungspädagogik, Freizeitpädagogik. Dagegen: das Kind als Forscher, Erfinder, stimuliert durch Schreibecken, Werkbänke, Exploratorien – in diese Richtung gehen die Entwürfe noch selten. Und doch ist die Berufsgruppe in Bewegung und sucht: wie den neuen Bildungsauftrag verstehen? Die jungen Eltern – selbst noch aufgewachsen im leistungskritischen Klima der 80er Jahre – haben in ihrer Ausbildung und am Arbeitsplatz den Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft längst erfahren. Die rapiden Umwälzungen der Alltagsgewohnheiten beschäftigen die Erzieher genauso wie die Eltern ihrer Kindergartenkinder. Man hat auch gehört, dass in internationalen Vergleichsstudien das deutsche Bildungswesen schwach abschneidet. Ein neues Kindheitsbild, ein neues Selbstbild der Erzieher ist im Entstehen: »Lernen zu lernen« – wie kann das aussehen in den viertausend Stunden?

Die deutsche akademische Elementarpädagogik kommt den 400.000 Erzieherinnen bei ihrer Suche nicht zur Hilfe. Mit einer Hand voll Lehrstühle führt die Pädagogik der frühen Kindheit in Deutschland ein Schattendasein. Selbst wenn man nicht alles Heil von akademischer Pädagogik erwartet: Es gibt in diesem Feld kaum Dissertationen, Kongresse, keine Habilitationen, in den Bibliotheken fehlen internationale Zeitschriften. Man kann deshalb in Deutschland auf breiter Ebene bisher nur wenig lernen von guter Praxis in anderen Ländern. Von den Early Excellence Centers in England etwa, von der Reggio-Pädagogik in Italien, von den Projekten zum emergent curriculum (Curriculumforschung für den Elementarbereich) in den USA, von der sorgfältigen Kleinkindpädagogik in Japan wissen nur wenige. Die deutsche elementarpädagogische Szene ist abgeschnitten von solchen Anregungen, sie kennt mehr oder weniger nur sich selbst.

Weltwissen: Die Recherche

Was sollte heute ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren wissen, können, erfahren haben? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?

Drei Jahre lang, zwischen 1996 und 1999, haben wir das Menschen allen Alters, aller Schichten und Bildungshintergründe gefragt. Eltern, Großeltern, Erzieher, Jugendliche. Hirnforscher, Entwicklungspsychologen, Medizinsoziologen und Grundschuldidaktiker. Den Direktor eines Altenheims, einen Erzbischof, Mütter in der Müttergenesungskur, arbeitslose Väter, Unternehmer, den General der Schweizer Armee, den Verkäufer im Bahnhofskiosk, die Verkäuferin im Media-Markt, eine türkische Analphabetin, die Studentin der Betriebswirtschaft – welche Wünsche haben sie, Fachleute aller Art, an das Weltwissen der heute Siebenjährigen?

(Warum Siebenjährige? Eine magische Zahl. Ein erster Lebensabschnitt in vielen Kulturen. In Deutschland markiert er eine Schwelle vom beiläufigen zum formalisierten Lernen; dieser Lebensabschnitt mündet ins erste Schuljahr.)

Eine solche Recherche muss vielstimmig sein. Alle hatten dazu etwas zu sagen, und alle waren sie Autorität. (Nur ein einziger Experte hat das Gespräch verweigert, ein Zukunftsforscher. Ob er als Vater von drei Kindern oder als Zukunftsforscher befragt werden sollte? Beides zugleich, wie vorgeschlagen, war für ihn undenkbar. Er blieb bei seiner Ablehnung.)

In über hundertfünfzig Gesprächen wurde der Horizont der Siebenjährigen umwandert. Gespräche über Weltwissen, das man den Nachkommen wünscht, sind, wie alle Erziehungsgespräche, immer auch Selbstgespräche. Die Frage war prismatisch, sie hat ein Spektrum von Lebenserfahrungen und Berufserfahrungen aufgebrochen.

In Kindern begegnen Erwachsene sich selbst. Sie interessieren sich für sie mit den Fragen, die ihnen ihr Erwachsenenleben gerade aufgibt. Schillers Thema (Über naive und sentimentalische Dichtung) ist die »Freiwilligkeit« von Existenz, und fasziniert sieht er sie verkörpert in Kindern. Dass wir Kindern, sagt er, ähnlich wie Mineralien, Tieren und Landschaften, »eine Art von Liebe und rührender Achtung« entgegenbringen, sei die glückliche Empfindung bei der Anschauung eines »freiwilligen Daseins«. Für Schiller sind die Kinder Boten einer Existenz nicht »von Gnaden«. Sie verheißen Existenz nach eigenen Gesetzen, »das Bestehen der Dinge durch sich selbst«: Einheit mit sich selbst, bürgerliche Selbstgewissheit, »Menschenwürde«. Er sagt auch: Es ist nicht die Kindheit, sondern »es ist die durch sie dargestellte Idee«, die wir lieben.4

Das Kind als Erlöser – das ist kein neues Motiv. Kindermund tut im Sprichwort Wahrheit kund, und dass Kinder dem Himmelreich nahe stehen, war ein Topos durch die Jahrhunderte. Aber Kindheit als Modell für die Emanzipation des Menschen, das war bei Schiller ein historisch neues Konzept, das das 20. Jahrhundert, als das »Jahrhundert des Kindes«, noch in vielen Variationen beschäftigen sollte. Vorläufig zum letzten Mal in den 70er Jahren, als eine neue Variante leidenschaftlicher Subjektivierung anstand, die Emanzipation aus beengenden Familienstrukturen. Nun nahm man Kinder wahr wie Liebhaber in der italienischen Oper, ihre leidenschaftliche Eifersucht, ihren Trennungsschmerz. Sexualität, Beziehungen, ambivalente Affekte – für die Dramatik der Beziehungen zwischen den Generationen ist der alltägliche Blick der Erwachsenen auf die Kinder seitdem sensibel geworden. Wie wird aus einem egozentrischen Triebbündel ein soziales Wesen?

Heute scheint Thema der Erwachsenen vor allem das unablässige Neuanfangen, Umlernen-müssen zu sein, ihre ständige kognitive Anspannung in einer innovationsbeschleunigten Umwelt, und so interessiert man sich neuerdings für Kinder vor allem als Erkenntniswesen, für ihre Lernstrategien, für ihre kognitiven Leistungen. Autodidakt sein, »Selbstbildungsprozesse in Gang setzen«, sein eigener Lehrer werden, »Problemlösen« – wie geht das, wie machen es uns die Anfänger auf dieser Welt vor?

Kinder zeigen uns die Dinge, als seien sie gerade erst entstanden und die Empfindungen frisch vom Erzeuger. In Japan, einer Gesellschaft, die die spontanen Lebensäußerungen der Erwachsenen in das Korsett einer rigiden sozialen Grammatik spannt, genießt man die Kinder im vorschulischen Alter ganz besonders. Man ist nicht nur entzückt von ihrer Anmut, man verehrt nachgerade die elementaren Wutausbrüche von Kindern: Taifune, Erdbeben… toben so nicht manchmal die Götter?

Die Natur belohnt uns für die Mühen des Kinderaufziehens. Noch einmal dürfen wir es mit den Neuankömmlingen erleben: Herzklopfen angesichts ihrer ersten durch Zeichen vermittelten Botschaft. Die Beklommenheit beim Anblick des zitternden Spinnenbeins, der erhabenen Bewegungen des Tiefseefisches, der rätselhaften Kräfte eines Magnetfelds…

Wie geheimnislos ist uns erwachsenen Altlesern das Lesenkönnen geworden, manchmal zu einem geradezu lästigen Reflex. Dagegen der Triumph des ersten Lesens: aus Zeichen, zu einem Text zusammengesetzt, steigt die Welt auf! Nicht nur wir zeigen. Auch die Kinder zeigen uns die Dinge frisch. Die Dinge und unseren menschlichen Blick auf Dinge und Phänomene. »Wenn ich ans Erfinden gehe, bin ich wieder ein Kind«, soll der Erfinder Otto Wankel gesagt haben.

Unsere Gesprächspartner sind gern auf die einfache Frage nach dem »Weltwissen« angesprungen. Auch ihnen hat das Umwandern der elementaren Bildungserlebnisse wieder eine Welt eröffnet. Die Überlegungen zum wissenswerten Weltwissen sind raumbildend und raumerweiternd zugleich. Die Komplexität der auf das Kind andrängenden Reize und Informationen zu vereinfachen, probehalber, das ist immer zugleich auch Selbstfürsorge, Selbstvergewisserung. Ein Projekt »in bester Absicht« verband die Gesprächspartner. Vortasten in eine gute Zukunft als stillschweigendes Versprechen: Das Allerbeste wollen wir euch ins Gepäck stecken!

Die Gespräche wurden meist in Gang gesetzt mit einem ersten Blick in ein Panorama des Weltwissens von Siebenjährigen. Ich hatte versuchshalber einige Beispiele für »Weltwissen« – lebenspraktisches, soziales, motorisches, kognitives, ästhetisches – zusammengestellt, meine eigene erste Wunschliste.

Weltwissen: eine erste Liste (1996)

… Ein siebenjähriges Kind sollte vier Ämter im Haushalt ausführen können (etwa: Treppe kehren, Bett beziehen, Wäsche aufhängen, Handtuch bügeln). Es sollte ein Geschenk verpacken können. Zwei Kochrezepte umsetzen können, für sich und für einen Freund, für sich selbst und für drei Freunde. Es sollte einmal ein Baby gewickelt oder dabei geholfen haben. Es sollte gefragt haben können, wie Leben entsteht. Es sollte eine Vorstellung davon haben, was bei einer Erkältung in seinem Körper vorgeht, und eine Wunde versorgen können. Das Kind sollte wissen, wie man drei verschiedene Tiere füttert, und Blumen gießen können. Ein siebenjähriges Kind sollte schon einmal auf einem Friedhof gewesen sein. Es sollte wissen, was Blindenschrift ist, und vielleicht drei Wörter in Blindenschrift (oder Gehörlosensprache) verstehen. Es sollte zwei Zaubertricks beherrschen. Drei Lieder singen können, davon eines in einer anderen Sprache. Es sollte einmal ein Musikinstrument gebaut haben. Es sollte den langsamen Satz einer Sinfonie vom Recorder dirigiert haben und erlebt haben, dass die Pause ein Teil von Musik ist. Es sollte drei Fremdsprachen oder Dialekte am Klang erkennen. Drei Rätsel, drei Witze erzählen können. Einen Zungenbrecher aufsagen können. Es sollte drei Gestalten oder Phänomene in Pantomime darstellen können und Formen der Begrüßung in zwei Kulturen. Ein Gebet kennen. Reimen können, in zwei Sprachen. Ein chinesisches Zeichen geschrieben haben. Eine Sonnenuhr gesehen haben. Eine Nachtwanderung gemacht haben. Durch ein Teleskop geschaut haben, zwei Sternbilder erkennen. Wissen, was Grundwasser ist. Was ein Wörterbuch ist, eine Wasserwaage, eine Lupe, ein Katalysator, ein Stadtplan, ein Architekturmodell. In einer Bücherei gewesen sein, in einer Kirche (Moschee, Synagoge…), in einem Museum. Einmal auf einer Bühne gestanden haben und einem Publikum mit anderen etwas Vorbereitetes vorgetragen haben.

Ein siebenjähriges Kind sollte einige Ereignisse aus der Familiengeschichte kennen, aus dem Leben oder der Kindheit der Eltern oder Urgroßeltern. Und etwas aus der eigenen Lebensgeschichte: zwei Anekdoten über sich selbst als Kleinkind erzählen können. Wissen, zu welcher Zeit – der Eltern, der Großeltern – das Haus gebaut ist, in dem man wohnt.

Einen Streit aus zwei Positionen erzählen können. Ein Beispiel für Ungerechtigkeit beschreiben.

Konzepte kennen: Was ist ein Geheimnis, was ist Gastfreundschaft, was ist eine innere Stimme, was ist Eifersucht, Heimweh, was ist ein Missverständnis. Ein Beispiel kennen für den Unterschied zwischen dem Sachwert und dem Gefühlswert von Dingen…

Empörung löste diese Liste zunächst oft aus. Übersteigerte Ansprüche! Wörter in Blindenschrift lesen, ein chinesisches Zeichen schreiben – das kann ich ja selbst nicht. »Das hat jemand geschrieben, der keine Kinder hat.« Eine Sinfonie vom Recorder dirigieren – bildungsbürgerlich! Zwei Zungenbrecher aufsagen, drei Lieder kennen – warum nicht sechs, oder gleich fünfzehn? »Grundwasser – den Kindern die Schlechtigkeit der Welt aufladen. Welche Ökonudel hat sich das ausgedacht.« Allein die Form, eine Liste – wie pedantisch! »Ein Theoriefurz.« Sollen damit künftig alle Kinder durchgecheckt werden?

Den Gesprächen gab der Ärger Energie. Und muss man sich nicht wehren gegen die Zumutung, gegen diese prometheische Anmaßung? Wird man bei der Konstruktion einer optimalen Kindheit nicht immer zugleich das Negative, das Defizit definieren? Erzeugt man beim Ausphantasieren des Guten nicht zugleich das Schlechte, die depravierte, die ungebildete Kindheit? Wendet sich das Ideal nicht immer gegen den konkreten Menschen, das konkrete Kind? Kann eine ideale Kindheit besser sein als die reale, die erlebte? Ist nicht der wirkliche Mensch der höhere Wert als der wünschbare Mensch? Ist der optimale Siebenjährige ein totalitäres Konstrukt?

Ein Missverständnis! haben wir entgegnet. Das ist keine Checkliste der bei den Kindern abzuprüfenden Fertigkeiten und Erfahrungen. Eher schon ist es eine Checkliste der Pflichten der Erwachsenen. Es soll ihrer Selbstverpflichtung dienen: Welche Bildungsgelegenheiten schulden wir den Siebenjährigen? Ein Versprechen: dafür zu sorgen nehmen wir uns vor, wir Eltern, Erzieher, Nachbarn. Angeboten soll es den Kindern werden. In den Horizont der Erwachsenen sollten diese Möglichkeiten in den ersten sieben Lebensjahren ihrer Kinder irgendwann einmal getreten sein…

Fülle spricht von der Macht des Möglichen. Nicht alle Beispiele für Bildungs-Anlässe können in ein einziges Kinderleben gepresst werden, »bulimisch«, wie ein Vater befürchtete. Das überstimulierte Kind, bis zum Anschlag gefördert, belagert, pädagogisch umkreist, überfordert … Nein, als Generation sind die Siebenjährigen gemeint! Und doch: Keine dieser Gelegenheiten sollte in einem Kinderleben grundsätzlich von vorneherein ausgeschlossen sein.

Nur so kann ein Bildungskanon für die frühen Jahre heute aussehen. Die Überlegenheit des Möglichen über das Wirkliche muss immer spürbar bleiben. Das Wirkliche darf das Mögliche nicht so reduzieren, dass sich der Horizont schließt.

Diese Beschränkung ist im »Situationsansatz« angelegt, der bei westdeutschen Kindergartenerziehern seit den 70er Jahren beliebt ist. Bequem vereinfacht hört sich das pädagogische Konzept so an: »Die Kinder interessiert nur, was sie selbst fragen. Wir greifen nur das auf, was ihrer Lebenssituation entspricht…« Das legt Kinder fest auf den Zufall ihrer Geburt, ihrer Schicht. Wir kommen nicht umhin, selbst gegenüber den Kindern Schicksal zu spielen. Beeren vom Busch pflücken, Orgelspiel in einem Dom hören, ein Stück Mauer bauen, eine Nachtwanderung – das sind elementare Bildungserlebnisse, die die aktuelle »Lebenssituation« vieler Kinder nicht spontan hergibt.

Die erste Liste – aber auch die zweite, nach hundertfünfzig Gesprächen erweiterte Liste, die nun gleich vorgestellt wird – endet, wie Robert Musil den Mann ohne Eigenschaften enden lassen wollte: »mit einem Komma«. Open end. Ein Kanon der den Kindern geschuldeten Bildungserfahrungen kann heute kein geschlossener Kreis sein, kein »orbis« wie zu Zeiten von Comenius. Das konzentrische Kreisen um das Nest der Vierjährigen, der Sechsjährigen ist eine fortlaufende Bewegung. Die Erwachsenen üben dabei diese Bewegung des Umkreisens, des Abtastens, der ausschweifenden Vorsorge. Diese Horizontumkreisung ist auch ein nie zu Ende gespieltes Spiel. Mit der Welt-Einwohnung ist es ähnlich wie mit dem Wohnen. Das ist noch nicht fertig, sagen Erwachsene entschuldigend, wenn sie durch ihr neues Heim führen. Fertige Wohnungen, heißt es in einer »Bildungsminiatur« in diesem Buch, sind eine Kampfansage an Kinder. Das Umrunden des Horizonts wird nie beim Anfang landen, der Kreis wird sich nie ganz schließen, weil man auf der Reise immer ein wenig die Richtung gewechselt hat. Es kann einen vollständigen Kanon ebensowenig geben wie ein vollständiges Weltbild. Emergent curriculum nennt die amerikanische Pädagogik diese spiralförmige pädagogische Bewegung.

Aber das beliebig Mögliche darf die Wirklichkeit auch nicht überwältigen. Das »Allmögliche« löst die Qualität ebenso auf wie das Unmögliche.

Die Recherche hat übertrieben. (Auch Kinder übertreiben gern. Dieses Recht haben wir von ihnen ausgeborgt.) Wird nun die Liste durch jede zusätzliche Anregung immer länger? Wie jemals vom Konditional zum Indikativ umschalten, mit welchem Maß?

Die meisten unserer Gesprächspartner haben das pragmatisch für sich selbst gelöst. In vielem konnten sie sich bestätigt fühlen. »Etwas spenden, das machen wir sowieso. Handtücher werden bei uns nicht gebügelt. Wo kämen wir da hin. Aber Schuhe putzen, das hat meine Tochter schon mit fünf Jahren gern gemacht. Vieles davon gab es bei uns auch.« – »Einen Friedhof besuchen. Warum nicht.« – »Ein Baumhaus bauen, das fehlt noch auf Ihrer Liste.« – »Chinesisches Zeichen schreiben – Unsinn. Aber Blindenschrift … darüber kann man nachdenken«.

Menschen haben das vor sich, was sie vorhaben. Prophezeiungen, einmal ausgesprochen, haben die Tendenz, sich zu bewahrheiten. Die Enttäuschung über ihre Nichterfüllung wäre anstrengender als die Mühe, sie zu verwirklichen. Von der Weltwissen-Liste ging eine tonisierende Wirkung aus, der Ansporn der »operativen Illusionen«, wie Sloterdijk es nennt.5 Man kann Qualität in gewissem Sinn auch herbeireden. Auf dem Weg des Redens leben wir uns in ferne Horizonte ein. Wer sich nichts mehr vormacht, hat nichts mehr vor sich.

Expectations matter, sagte die berühmte amerikanische Bildungsforscherin Diane Ravitch.6 Auf die Erwartungen kommt es an. Zwar setzen politische Erwartungen an Bildung in Deutschland nach wie vor zuallererst an der Universität an, um dann abwärts auf immer kleinerer Flamme herunterdefiniert zu werden übers Gymnasium bis allenfalls zur Grundschule. Für die frühen Jahre bleibt nichts mehr übrig. Als das Bildungsministerium in der Delphi-Studie (1996–1998), einer mehrstufigen Befragung von über tausend Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, die Einschätzungen zur Zukunft des Wissens und den vermuteten Rückwirkungen auf das Bildungssystem abfragte, war im Entwurf des Fragebogens unter achtzig Fragen nicht eine einzige auf die vorschulische Zeit gerichtet. Keine einzige Frage sprach die Grundlegung von Neugier und Interesse in der frühesten Bildungsphase an. Im letzten Moment wurden noch zwei Fragen zu Bildungserfahrungen in vorschulischer Zeit aufgenommen. Dann allerdings war in diesem Punkt das Plädoyer der Experten einhellig: für gesteigerte Erwartungen an Bildung in frühen Jahren.7

Mittlerweile haben sich – gemessen an der Betreuungspädagogik und der fun morality der 80er Jahre – die Erwartungen an die Vorschulzeit als eine elementare Bildungszeit deutlich erhöht. Problemlösungsbereitschaft, Kooperationsfähigkeit, Lernen zu lernen – dass die Voraussetzungen dafür bis in die frühe Kindheit zurückreichen, daran zweifelt eigentlich niemand mehr. Basic skills zu vermitteln, Schlüsselqualifikationen – jeder ahnt, was mit diesen Begriffen gemeint sein könnte, und niemand hat etwas dagegen. Nur: bei welchen Gelegenheiten, und wie baut man solche Fähigkeiten auf? Da braucht es konkrete Anregungen für spontane und geplante Bildungsgelegenheiten, Bilder, Beispiele, die das Mögliche als das Realisierbare vorstellen.

Für solche Beispiele und Anregungen danken wir den Gesprächspartnern. Und noch etwas haben sie beigesteuert: überraschende Wendungen. Da wünscht sich eine Vierzehnjährige, dass jedes Kind Verantwortung für ein Tier übernehmen kann: »Weil man lernt vom Tier zum Menschen«. Eine Großmutter: »Die Kinder, wenn sie heute so lange vor dem Fernseher sitzen, dann verpassen sie so viel Zeit für sich selbst«. Ein Betriebswirtschaftsstudent sagt es ähnlich wie Goethe: »Je mehr man von der Welt weiß, um so interessanter wird sie«. Und eine Urgroßmutter: »Uber meine Urenkelin Rebecca wollen Sie mit mir sprechen? Die ist nun schonfünf Jahre sehr klug.«

Nach hundertfünfzig Gesprächen (1996-1999) haben wir die erste Liste erweitert:

Weltwissen: ein Panorama nach 150 Gesprächen

Was Siebenjährige können/erfahren haben sollten.

Bildungsgelegenheiten – Anregungen – Erfahrungen – Ahnungen – Fragen

Zu viel? Was möchten Sie von der Liste streichen?