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Das uralte Wehrdorf Ramatuelle, ganz in der Nähe von Saint-Tropez, hat ein düsteres Geheimnis. Eine Organisation operiert von dort aus, um die Macht in Europa zu übernehmen. In der englischen Hafenstadt Dover untersucht Inspektor Boys von Europol den Tod von 45 Chinesen. Erst spät erkennt er, dass es eine Verbindung zwischen dem Dorf in der Provence und der englischen Hafenstadt gibt. Zwei Journalisten sind Europol immer einen Schritt voraus und kommen schließlich dem Geheimnis zu nahe. Nur knapp entgehen die beiden einem Mordanschlag. Andere haben weniger Glück bei dem Versuch, den Geheimbund zu enttarnen, der eine Maschine entwickelte, um Macht über Menschen auszuüben.
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Am 14. April 1912, gegen 23.40 Uhr, sank im Nordatlantik die RMS Titanic. Ihre Fahrt startete sie im englischen Southampton. An Bord befanden sich mehr als 2.200 Passagiere, 56 Tonnen Fleisch und Fisch, 40 Tonnen Kartoffeln, 360 Kilogramm Tee und eine ägyptische Mumie. Es war die Mumie einer verehrten Seherin aus der Zeit Amenophis IV. Sie war in Amarna gefunden worden, der Stadt des Pharaos Amenophis IV., der sich später Echnaton nannte und dessen Hauptfrau Nofretete war. Ein englischer Lord, es soll Lord Canterville gewesen sein, wollte die Mumie der ägyptischen Seherin offenbar aus England fortschaffen.
Prolog
Dover – die Ankunft
Stonehenge
Turnhalle, Castle Hill Road
Southampton
Bristol, Watershed
Bristol, Radiologisches Institut
Die Bibliothek
Gravitec S.à.r.l., Paris
Chymische Hochzeit – aber wo?
Bristol
Bristol, Police Station
Hotelwechsel, Bristol
Der Dom
Die Ägypter und die Chymische Hochzeit
Der Kanal
Der Strand von Pampelonne
Die Flucht aus Paris
Ramatuelle
Die Konferenz
Paris – Nizza
Kontiki, Plage Pampelonne
Die Botschaft des Druiden
Im Wehrdorf
Die Unterwelt
Gendarmerie St. Tropez
Das Labyrinth von Ramatuelle
Der Hund des Druiden
Der Code
Das Labyrinth der Rosenkreuzer
Countdown für den Tod
Die Botschaft
Die Rosenkreuzer
Rien ne va plus
Die Yacht Styx
Das Schloss
Der Weidenmann
Epilog
Ich begegnete ihm am Kölner Rheinufer, etwa in der Höhe des Rheinpegels. Er saß am Ende einer alten Bank, die längst hätte mal wieder gestrichen werden müssen. Sein Bart reichte ihm bis zu Brust, seine Kleidung hatte sicher schon einmal bessere Zeiten gesehen. Als ich mich auf das andere Ende der Bank setzte, schien er mich überhaupt nicht zu bemerken. Er fixierte mit starrem Blick einen Punkt am gegenüberliegenden Rheinufer. Ich sah in von der Seite an, versuchte darüber nachzudenken, welche Wunden ihm das Leben geschlagen hatte. Plötzlich wendete er den Kopf, sah mir direkt in die Augen. Kein Lächeln. Ich sagte »Guten Morgen«. Er sah mich weiter an. Ich hatte mir, bevor ich zum Rheinufer kam, ein Käse-Schinken-Baguette am Alter Markt gekauft. Das teile ich jetzt in zwei Hälften und hielt ihm eine Hälfte hin. Er nahm es stumm, biss hinein und sah mich wieder an.
»Das war nicht immer so...«, begann er plötzlich und sah mir weiter fest in die Augen. Er sprach mit einem starken englischen Akzent. Er wollte an diesem Morgen erzählen. Er schien auf einen Menschen wie mich gewartet zu haben und dann begann er mir eine unglaubliche Geschichte zu berichten. Eine wahre Geschichte. Als es schließlich langsam begann zu dämmern, schloss er seine Erzählung und bat mich sie keinem weiter zu erzählen. Ich konnte dieses Versprechen leider nicht halten und ich hoffe, er verzeiht es mir. Ich habe mich bemüht, die Personen der Geschichte so zu verändern, dass man sie im wahren Leben nicht erkennen kann. Die Fakten habe ich nicht verändert. Sie sind einfach zu ungeheuerlich, als dass sie verschwiegen werden sollten.
Es stank. Die Lungen wehrten sich. Er hielt die Luft an. Einziger Schutz vor dem Ersticken war der Atemreflex.
Grünlich schimmernde Fliegen versuchten durch die Ritzen in der Tür zu kommen, an der Stelle, an der die Türscharniere ausgeleiert waren. Ein Cargo-Matrose, der an dem Lkw dicht vorbeikam, weil nur wenig Platz zwischen dem Laster und der Bordwand war, hielt sich einen schmutzigen Öllappen vor den Mund. Eine plötzlich aufkommende Brise von See fand nirgends einen Durchlass in den stickigen Laderaum.
Die Wellen schäumten diesmal nicht und die weißen Kalkfelsen sah man schon einige Meilen vor Erreichen der Küstenlinie. Eine klare Sicht bis zu den aufgeschütteten Wellenbrechern. Wie zwei Arme umschlossen die graubraunen Mauern von Dover den Hafen. Langsam schob sich die Fähre in die Hafenöffnung vorbei an dem kleinen weißen Leuchtturm, der sich an Steuerbordseite zu ducken schien. Der Wind roch salzig und kühlte angenehm an diesem Tag. Von der frischen Luft, die vom Kiel des Schiffes zerschnitten wurde, war im Innern der P&O Fähre nichts zu spüren. Die Maschinen stoppten, die tonnenschwere Schiffsschraube drehte sich langsam in die entgegengesetzte Richtung, um die Fähre an die Kaimauer zu drücken.
John Dunnagan fuhr seit zwei Jahren den 40-Tonnen-Truck mit dem Container-Auflieger für die Hanjin-Container-Line. Die Spedition bezahlte gut und der ehemalige Bergarbeiter hätte in Liverpool sowieso keine Chance mehr, ein paar Pfund zu verdienen. John freute sich auf seine Familie. Die Touren zurück nach England übernahm er immer freiwillig. Die anderen Fahrer versuchten Touren nach Spanien oder Italien zu bekommen. Das brachte gutes Geld. Für John war die Familie wichtig. Was nützte allein ein volles Portemonnaie? Das Lachen seiner dreijährigen Tochter ließ sich nicht kaufen. Es war zwar ein unglaublicher Schlauch von Paris zur Insel mit Baustellen, Berufsverkehr rund um die größeren Städte und unerklärlichen Staus, die sich plötzlich genauso unberechenbar auflösten, wie sie entstanden waren.
Die Staus sitze ich mit einer Backe ab. Dafür bin ich anschließend zu Hause, dachte sich John.
Die Fähre legte an und die schwere Stahlrampe neigte sich auf den Kai. John kletterte auf seinen Bock, und den Mitreisenden zuliebe startete er den 300 PS starken Diesel noch nicht, sondern wartet, bis er an der Reihe war. Alle Laster, die vom Kontinent kamen, mussten noch vom Zoll gecheckt werden. Eine Prozedur, die John lästig fand. Die Zollbeamten sind für ihn Korinthenkacker. Alles wollten sie immer haarklein wissen, obwohl doch in den Papieren restlos jede Angabe gemacht wurde und zwar doppelt und dreifach.
» Guten Tag, kann ich Ihre Papiere sehen? «
Der Beamte hatte nicht das übliche ausdruckslose Gesicht, sondern rang sich ein Lächeln ab. Vielleicht habe ich ja diesmal Glück und es geht schnell, dachte John. Er stieg aus seinem Führerhaus und ging mit dem Zollbeamten um den Container des Lkws herum.
Riechen Sie das?«, fragte der Zollbeamte.
»Was soll ich riechen?« John sah den Beamten an. Eine Ärgerfalte grub sich zwischen seinen Augenbrauen ein. Rätselraten war alles andere als ein Hobby von ihm.
»Schließen Sie einmal den Container auf!«
Widerwillig entriegelte John die hintere Klappe und öffnet sie.
Eine eiskalte Hand schlug ihm ins Gesicht.
Die Hand einer Leiche. Der Gestank, der aus dem Container quoll, ließ John sofort seine Nase mit Daumen und Zeigefinger zuhalten und den Mund verschließen.
Der Zollbeamte leuchtete mit seiner Lampe in den Container.
» Oh – Gott...«, presste er hervor.
Zehntausend Dinge
entstehen und vergehen
Sein wird geboren
aus Nichtsein
Lao-tse
Allzu weit konnte es nicht mehr sein. Sein Gefühl für Entfernungen war allerdings in England gestört. Die Meilenangaben irritierten Mark Bernsen. Er fuhr auf der rechten Fahrspur und zog vorbei an einem kleinen Vauxhall. »Immer schön rechts überholen«, sagte er leise zu sich selbst. Die ersten Meilen auf englischem Boden sind immer die schwersten. Nach einer halben Stunde hatte er sich an den Linksverkehr gewöhnt.
»Komisch«, unterhielt er sich mit sich selbst, »ich hätte schwören können, dass das ein
Opel war.«
Das Hinweisschild auf Heathrow sah er gerade noch auf der linken Seite und wenig später kam die Ausfahrt. Für Mark stellte sich dabei wieder die Frage, warum er nicht geflogen war. Eine eher rhetorische Frage, denn sie hatte etwas mit Geld zu tun. Vor ein paar Monaten, als er noch Redaktionsleiter bei dem kleinen Sender VOX war, wäre er sicher geflogen. Kein Problem. Aber er hatte gekündigt, er wollte nicht mehr nur am Schreibtisch sitzen und die wissenschaftlichen Filme anderer verwalten. Die Fernseharbeit änderte sich mehr und mehr. Es wurde nicht mehr über das Ereignis berichtet, die Fernsehmacher selbst schufen das Ereignis. Dafür gab es denn auch gleich ein neues Wort: Event. Für Mark Bernsen war der Event der, der von sich aus entstand und über den er berichten konnte. Da kannst du lange warten, sagte die Kollegen zu ihm. Die Zeiten sind vorüber.
Mark liebte lange Einstellungen, in denen man in dem Bild leben kann.
»Mann – der Take steht ja schon vier Sekunden – gähn...«, sagte der Cutter zum ihm im Schneideraum. Ein jüngerer Kollege.
»Okay. Wenn du ‘nen ordentlichen Hip-Hop unterlegst...«
Jetzt recherchierte Mark wieder selbst und drehte mit seinem Kameramann die Filme. Sie lachten bei der Arbeit. Etwas, das er in den vergangenen Jahren oft vermisste.
»Albert Schweitzer ist schuld«, hatte er seinen Kollegen gesagt; verstanden hatten sie es nicht. Irgendwo in einem Bioheft oder in einem Kalender, hatte er die paar Zeilen gelesen, die Albert Schweitzer, dem großen Humanisten aus Lambaréné, nachgesagt wurde:
Lieber will ich den Schwierigkeiten des Lebens entgegentreten
als ein gesichertes Dasein zu führen,
lieber die gespannte Erregung des eigenen Erfolgs
statt die dumpfe Ruhe Utopiens.
Er würde sich heute wundern, wohin die Pygmäen entschwunden sind und sich in dem Gebiet seines Hospitals die Bantus aufhalten. Die brauchten die Hilfe der Mediziner genauso. Nachdem klar war, dass Mark den Sender verlassen würde, gab es ein Gerangel um die neue Rangordnung. Jeder in der Redaktion glaubte, dass er einen Anspruch auf den Posten des Redaktionsleiters habe. Mit Ausnahme der Redaktionsassistentin. Einer schrieb sogar in seiner Bewerbung, dass er die Sendung entscheidend geprägt habe. Weit mehr als 200 Filme hatte Mark zu dem Zeitpunkt ins Programm gebracht – der dreiste Bewerber zehn. Das numerische Verhältnis sprach gegen ihn. Sein Größenwahn für ihn.
»Verdammt, muss der sich jetzt gerade vor meine Nase setzten!«
Der Vauxhall war nach rechts ausgeschert, um den Laster zu überholen. Anschließend setzte sich der Wagen wieder vor den Überholten. Der Lkw war Mark schon vorhin kurz hinter Heathrow aufgefallen, weil er eine eher ungewöhnliche Bemalung hatte. An der rechten Seite der Ladefläche war eine ägyptische Kartusche aufgemalt. So eine typische mit einem Ägypter drin, einem Palmwedel und den Rest konnte Mark jetzt im Überholvorgang nicht so genau erkennen. Der Fahrer war nicht zu sehen. In England sitzt er auf der anderen Seite. Als Mark anschließend den Vauxhall überholte, blickte ihn eine dunkelhaarige junge Frau am Steuer kurz an. Die Haare waren ihm sofort aufgefallen: schwarze Korkenzieherlocken.
Mark musste lachen.
»Die Ägypterin ist mit ihrem Hausrat nach England unterwegs«, sagte er zu sich selbst und wischte eine Lachträne aus dem rechten Augenwinkel. Von seinem Kameramann hatte Mark schon vor einiger Zeit ein T-Shirt mit der Aufschrift: K. Lauer geschenkt bekommen. Er bewies es wieder einmal. Das erste Hinweisschild auf Bristol tauchte auf. Bald würde er da sein. In Bristol fand alle zwei Jahre ein Naturfilmfestival statt und Mark nahm nun zum ersten Mal als freier Autor und Produzent daran teil. Chancen rechnete er sich nicht aus. Er hatte seinen Film über die Affen von Gibraltar eingereicht. Er war nicht nominiert, sonst hätte er schon längst von dem Festivalkomitee Post bekommen. Aber die Teilnahme war Mark wichtig. Sie bestätigte wieder das Bekenntnis zum freien Leben von Albert Schweitzer. Hier wehte kein Hauch der dumpfen Ruhe Utopiens – aber wo blieb die freudige Erregung des Erfolgs?
Ich will dem Risiko begegnen,
mich nach etwas sehnen und es verwirklichen,
Schiffbruch erleiden und Erfolg haben.
Ich lehne es ab, mir den eigenen Antrieb mit einem Trinkgeld abkaufen zu lassen.
»Und wenn ich dann kein Geld mehr in der Tasche haben«, sagte Mark zu seinen Ex-Kollegen, »dann esse ich den Spruch und würge ihn hinunter.« Das war jetzt Monate her und er war mit seiner ersten eigenen Produktion auf dem Festival. Sein Film würde morgen in Bristol gezeigt werden. In England ein Film über Gibraltar, die englische Enklave auf dem Kontinent sollte funktionieren, dachte Mark. Und dann noch mit süßen englischen Untertaten im Pelz...
»Salisbury, Salisbury... woher kenne ich den Namen. Salisbury, klar, Stonehenge!«
Mark gab Gas, rutschte zwischen einem Jaguar und einem Ford auf die linke Spur und bog auf die Ausfahrt. Es war Nachmittag, noch Zeit genug für einen Abstecher. Nach der Hetze auf der Autobahn war es entspannend durch die sanfte Hügellandschaft auf der A 344 zu schweben. Die Fahrt ging vorbei an diesen typischen kleinen englischen Häusern mit den uniformen Vorbauen, diese kleinen Erker. Mark stellte sich vor, dass es an einem verregneten Nachmittag sicher Spaß macht, im Erker zu sitzen und ein spannendes Buch zu lesen.
Auf einem Schild entdeckte er ein braunrotes viereckiges Karree mit Noppen. Darunter der Schriftzug Stonehenge. Mark folgte den Hinweisen und kam in eine komplett baumlose Landschaft. Er kannte England eigentlich bisher nur bewaldet, sogar auf den Feldern stehen immer wieder Bäume. In dieses Bild hatte er sich verliebt. Vor allem wenn Nebel zwischen den Bäumen aufstieg. Es war mystisch. Wenn der Nebel sich durch einen leisen Windhauch teilte, musste Merlin auftauchen, phantasierte Mark. Aber diese Landschaft war baumlos. Komplett kahl, mit dem Charme einer riesigen Kuhweide. Die Sonne stand jetzt tief, berührte aber noch nicht den Horizont. Ein Fingerbreit trennte die Sonne noch von der Kante der Welt. Busse kamen ihm entgegen. Da sind bestimmt Japaner drin, dachte er unwillkürlich. Japaner sind überall und gruppenweise. Schließlich sah er das Hinweisschild auf den Parkplatz von Stonehenge. Er bog ab. Der Parkplatz war leer. Alle Japaner waren weg. Als Mark ausstieg, sah er keinen einzigen Megalithen von Stonehenge aber einen Eingang mit Drehkreuz, daneben ein Häuschen. Mark bezahlte vier Pfund und bekam ein Prospekt an den Eintrittsbon getackert. Er bog nach rechts ab in einen Fußgängertunnel, der mit Bildern an den Wänden an den Aufbau von Stonehenge erinnert. Ohne Wald. Auf der anderen Seite der Straße kam Mark wieder ans Tageslicht.
Da standen sie!
Riesige Steinblöcke, majestätisch, erhaben im Kreis. Neun Querblöcke lagen auf den gigantischen Megalithen. Wie waren die nur da oben rauf gekommen? Einen Superkran hatten die Menschen in der Bronzezeit ja wohl kaum. Noch unwahrscheinlicher war, dass die tonnenschweren Steine aus den 30 Kilometer entfernten Hügeln der Marlborough Downs stammen. Irgendwie müssen sie es geschafft haben. Und es muss einen Grund für diese enorme Anstrengung gegeben haben. Mark schlenderte um die Steine herum. Das Bild vor seinen Augen verschob sich. Die Steine bewegten sich. Scheinbar. Mark blieb stehen, als er die Sonne zwischen den Säulen sah. Er war in der Mitte von Heelstone und Opferstein. Es wurde plötzlich kälter. Mark verschränkte unwillkürlich die Arme vor seiner Brust, um die Kälte nicht unter die Jacke kriechen zu lassen. Es half nichts. Die Kälte schien von den Steinen auszugehen, obwohl die Sonne jetzt ganz tief stand und genau über den Altarstein zum ihm hin strahlte. Aber sie wärmte nicht. Wenn er sich bewegte, blitzten die Strahlen zwischen den Steinöffnungen hindurch.
Am Altarstein bewegte sich etwas. Dunkel huschte es im Schatten des inneren Zirkels. Hatte er wirklich etwas gesehen? Er war sich sicher, dass es eine Gestalt in einem Umhang war oder zumindest etwas, was hinter der Silhouette zu flattern schien. Am Rande der äußeren Steine tauchte die Gestalt wieder auf und verschwand. Er hatte das Gefühl, dass es zwei verschiedene Umrisse waren, die er kurz sah. Zu hören war nichts. Nicht einmal Wind pfiff durch die Steine. Auch keine Vogelstimme. Alle Geräusche schienen in dem inneren Zirkel der Steine geschluckt zu werden. Mark ging von dem Weg, der um Stonehenge herumführte, ab und bewegte sich vorsichtig auf die Steine zu. Er setzte einen Fuß vor den anderen in das weiche Gras. Je näher er kam, desto größer erschienen ihm die 30 Sarsensteine, die die Pfeiler der kreisförmigen Konstruktion bilden. Die Kälte nahm weiter zu. Behutsam schritt er durch die mittlern Steinblöcke, genau auf der Linie des Sonnenstrahls. Er war jetzt genau zwischen den dunkelgrauen Steinen. Einige Meter über ihm lag der Querblock. Mark sah kurz nach oben »Wenn der jetzt aus seiner Verankerung rutscht...«
Mark tastete sich weiter vor. Jetzt sah er direkt vor sich auf den Altarstein.
»Hallo? Ist da jemand?«, rief Mark.
Seine Worte wurden geschluckt. Er hatte einen Hall erwartet, ein Echo. Aber das war natürlich Blödsinn, dachte er, schließlich ist das keine Halle. Es kam ihm dennoch so vor, als wären diese Steine, die Grundmauern eines Domes. Nicht von einer alten christlichen Kirche, sondern eines Erddomes. Ein anderes Wort fiel Mark in diesem Augenblick nicht ein.
Es raschelte ganz in seiner Nähe.
Und dann sah er es. Direkt vor ihm auf dem Altarstein.
»Wir habe hier keine Pathologie!« Hafenmeister Perry Walker war schockiert und wütend zugleich.
»Es hat in Dover noch nie einen solchen Fall gegeben.«
Und er hatte noch nie so etwas Grausames gesehen. In dem weißen Mercedes-Kühlaster, den die Zöllner am Sonntagabend, zwei Minuten vor Mitternacht, kontrollierten, entdeckten sie ein Knäuel menschlicher Körper. Sie waren im Todeskampf erstarrt. Der Gestank, der aus dem Laster drang, verschlug jedem den Atem, der in die Nähe der geöffneten Türen kam. Rund um den Lkw wurde von der Polizei sofort eine weiträumige Absperrung gezogen. Sie war nicht weit genug vom Laster entfernt, um den Verwesungsgeruch verwehen zu lassen. Alle verfügbaren Leichenwagen aus Dover und der gesamten Umgebung wurden in den Hafen beordert. Als sie eintrafen, hoben die Beamten mit Hilfe der Leichenbestatter einen nach dem anderen leblosen Körper aus dem Laster. Ein unwirkliches Bild in den frühen Montagmorgenstunden. Die Männer der Spurensicherung trugen weiße Schutzmasken vor Mund und Nase, damit milderten sie den Geruch ab. Ohne den Schutz konnte keiner normal atmen. Vierundfünfzig tote Menschen zogen sie von der Ladefläche. Vierundfünfzig tote Chinesen, die alle qualvoll erstickt waren. Der Fahrer des Lasters, der einer niederländischen Spedition gehörte, wurde sofort verhaftet. John Dunnagan beteuerte seine Unschuld:
»Ich habe damit nichts zu tun. Ich habe das nicht gewusst.«
Der Beamte, der ihm die Handschellen angelegte, sah in ungläubig an.
»Sie können mir doch nicht erzählen, dass Sie nichts gehört haben. Sie sind doch nicht nur mit der Fähre übergesetzt und haben an die Bar Limo getrunken. Die ganze Strecke über die Autobahn – was war denn damit?«
»Ich habe die Fuhre - Sorry, das ist wohl jetzt nicht so passend – also den Laster in Rotterdam abgeholt und bin sofort nach Zeebrügge gefahren, um überzusetzen. Ich habe nichts gehört. Nichts. Gar nichts. Meistens höre ich die ganze Strecke Musik. Kennen Sie Canned Heat? ... Nicht? Und außerdem hat der Container auf der Ladefläche auch keine Verbindung zum Führerhaus. Ich kann wirklich nichts hören. Glauben Sie mir...«
Der Beamte drückte ihn in den Fond des Streifenwagens, der sich sofort zum Revier nach Dover aufmachte. Dabei fuhr er fast frontal auf einen anderen Wagen zu, dem er erst in letzter Sekunde auswich. Eine grauer Morris, der kleine Mini, den man schon mal gerne im Straßenverkehr übersah. Ein Relikt aus den sechziger Jahren und seitdem auch nicht mehr geputzt. Möglicherweise hielt die Patina alles noch zusammen. Von liebevoller Pflege jedenfalls keine Spur.
Inspektor Stephen Boys von Europol hatte überhaupt keine Zeit, um sich um solche Verkehrs-Lappalien zu kümmern. Er war Schlepperbandenspezialist, gehörte zum Dezernat OK, Die Abkürzung stand nicht dafür, dass hier alles in Ordnung gebracht wurde, sondern für Organisierte Kriminalität. Und eine OK lag hier sicher vor. Boys ermittelte bereits seit fünf Jahren gegen die Schlangenköpfe. Er fand die Tätowierung auf der Brust der Mitglieder der Organisation albern, irgendwie pubertär. Es erinnerte ihn immer an den ersten Karate-Kid-Film. Die Bösen von Cobra Kai hatten eine Kobra mit weit aufgerissenem Maul als Maskottchen. Auch Stephen Boys Sohn Robin, war dem Karatevirus verfallen und lief sogar auf seiner Schule ab und zu als Karate-Kid herum. Der Karatetrainer nahm die Stelle des Vaters ein, der wegen seines Berufes immer unterwegs war. Jetzt war es zu spät für Boys noch irgendetwas daran zu ändern. Die vergangene Zeit lässt sich nicht mehr zurückholen, aber vielleicht wird sein Sohn irgendwann einmal Verständnis dafür aufbringen können, dass er als Inspektor bei Europol nicht anders handeln konnte. Jetzt war er wieder unterwegs. Boys hoffte, dass die Schlepper diesmal den entscheidenden Fehler gemacht hatten. Die Schlepper schmuggelten Asiaten über Russland, Polen nach Deutschland und von dort aus weiter nach Großbritannien.
»Inspektor Boys. Europol«, sagte er den Beamten hinter der Absperrung, holte kurz seinen Ausweis heraus und beugte sich unter das Absperrband. Als er näher an die geöffnete Tür des Lasters kam, holte er ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und hielt es sich vor die Nase. Es konnte den süßlichen Geruch kaum filtern. Er nickte.
»Sieht ganz so aus wie das Geschäft der Schlangenköpfe. Scheint diesmal was schief gegangen zu sein.«
Inspektor Boys dreht sich um und sah einen weiteren Leichenwagen an die Absperrung fahren. Der Fahrer des Wagens öffnete die Heckklappe und zog eine Bahre heraus, an der an der Unterseite ein Gestell mit Rädern herausklappte. Am Heck des Lasters hatten die Beamten eine Lücke im Absperrband gelassen. Das war nötig als Schneise für die Leichenwagen, die nicht nur einmal heranfahren mussten. Der Fahrer des Leichenwagens setzte rückwärts an den Laster heran und zog auf die Ladefläche eine weitere Leiche. Es gab keine Bodysacks mit dichten Reißverschlüssen, die Körperflüssigkeiten und Gerüche zurückhielten. Es gab in ganz Dover nur zwei Sacks. Keiner hatte mit dem massenhaften Aufkommen von Leichen an der Küste von Dover gerechnet. Warum auch? So verzichteten die Leichenwagenfahrer ganz auf die professionellen Aufbewahrungs-Säcke der Leichen. Sie schlugen die Körper in graue Umzugsdecken ein. Inspektor Boys sah dem Fahrer mit der Bahre nach und fragte sich, wer die Decken nachher reinigt.
»Wo bringen Sie die Chinesen hin?«
»In die Turnhalle, oben an der Pfarrkirche St. Mary. Ist nicht zu verfehlen, gleich bei Dover Castle. Wenn Sie dahin müssen, nehmen Sie am besten die Castle Hill Road.«
Inspektor Boys musste zu der Turnhalle. Er wollte sich die Leichen genauer ansehen. Als der Fahrer die Leiche aus dem Laster hob, war ihm etwas aufgefallen. Er konnte nicht sagen was es war. Irgendetwas stimmte mit den Leichen nicht. Er verabschiedete sich von den Beamten vor Ort.
»Ihr lasst doch noch die Spurensicherung kommen...?« Das war eine rhetorische Frage von Inspektor Boys. In der Frage versteckte er den Befehl, obwohl der in dem Fall überflüssig war. Die Beamten bestätigten, dass sie bereits die Spurensicherung angefordert hatten, aber Scotland Yard habe sich mittlerweile ebenfalls eingeschaltet und daher werde es etwas dauern, bis die Beamten der Schnüffelabteilung aus London angereist seien.
»Hier passiert nichts. Wir fassen nichts an dem Laster an«, sagte ein älterer Polizeibeamter, nahm die Mütze von Kopf und wischte sich den Schweiß mit einem Taschentuch von der Stirn. » Sie können ganz beruhigt sein.«
Inspektor Boys war nicht zufrieden. Bis die Kollegen vom Yard aus London da waren, verging viel zu viel Zeit. Aber ändern konnte er daran jetzt sowieso nichts.
»Wird sicher `ne Mordsschlagzeile im Daily Mirror«, rief ihm der Beamte nach.
»Das glaube ich nicht. Das würde wohl eher passieren, wenn in dem Laster vierundfünfzig Dalmatinerwelpen erstickt wären...«
Inspektor Boys wusste, dass die Engländer nicht besonders erfreut über die illegalen Einwanderer waren. Queen Mum hätte sicherlich gesagt: »We are not amused!« Die Tories machten immer wieder Front gegen Scheinasylanten. Selbst die Bewohner der Londoner Chinatown, in der Nähe des Piccadilly Circus, wehrten sich gegen neu eingewanderte Landsleute. Die meisten Neuankömmlinge können kein Englisch und finden daher keine Jobs. » We are not amused!« Und dabei dachte Inspektor Boys, als er nach Den Haag zu Europol ging, dass er auf die Sonnenseite der kriminalistischen Welt angekommen wäre: mit vielen netten Dienstreisen und Dienstgesprächen in erlesenen Gourmet-Restaurants. Eine kriminalistische Tour d’Europe.
Inspektor Boys stieg in seinen Morris und fuhr die Castle Hill Road hoch. Die Turnhalle war tatsächlich nicht zu verfehlen. Zwischen dem alten Gemäuer links und rechts fiel der große kastenförmige Bau sofort auf. Außerdem: wann stehen schon mal drei Leichenwagen aufgereiht vor einem Gebäude? Es sei denn die Cosa Nostra hat auf Sizilien eine Familienangelegenheit geregelt. Als Inspektor Boys die Turnhalle betrat, bot sich ihm ein merkwürdiger Anblick. Die Leichen der chinesischen Männer waren auf graue Umzugswolldecken gelegt worden. Alle trugen die gleiche Kleidung: blaue weitgeschnittene Hosen und darüber graue Sweatshirts. Inspektor Boys ging durch die Leichenreihen und versuchte nicht in die verzerrten Gesichter zu sehen. An den Ärmeln der Sweatshirts sah er immer wieder weiße Fäden heraushängen wie kleine schmale Raupen. Inspektor Boys hockte sich neben einer Leiche und besah sich den linken Ärmel genauer.
»Tatsächlich«, sagte er leise.
An dem Ärmel musste einmal ein Sticker aufgenäht worden sein. Er war nicht mit Sorgfalt abgetrennt worden. An den kleinen Einsticklöchern war zu erkennen, dass es sich um einen kreisrunden Aufnäher gehandelt haben musste. Inspektor Boys ging von Leiche zu Leiche. An jedem linken Ärmel fanden sich die Einstichlöcher der Nähnadel und weißes durchtrenntes Nähgarn.
»Was war das? Eine chinesische Armee? Eine Vorhut, um England zu erobern?«
»Keine Ahnung, Sir«
Inspektor Boys drehte sich um. Hinter ihm stand ein Constable. Inspektor Boys hatte ihn nicht bemerkt.
»Ist Ihnen sonst irgendetwas bei den Leichen aufgefallen?«, fragte Inspektor Boys nach.
»Nur, dass sie alle die gleiche Kleidung anhaben. Sir. Und...« Der Constable sah betreten nach unten, als sei er ertappt worden.
»Und was?«, wiederholte Inspektor Boys.
»Und, na ja ich meine ja nur... ich habe mir Chinesen immer etwas kräftiger vorgestellt. Wir habe in Dover ja keine Chinesen wie Sie in London...«
»Ich bin nicht aus London«, korrigierte Inspektor Boys und sah die dünnen Glieder der Leiche vor sich.
»Wie haben Sie sich denn Chinesen vorgestellt. Als asiatische Herkulesse oder jeder zweite als drahtiger Bruce Lee?« Inspektor Boys sah den Constable an und zog die Augenbrauen hoch.
»Nein, Sir - aber ich finde ... die sind sehr klein«, stellte der Constable fest und wirkte dabei sehr unsicher. Solche Feststellungen standen ihm nicht zu, fand er. Das war Sache des Yard. Er war für einen korrekten ordentlichen Ablauf und Sicherstellung zuständig und nicht mehr. Das war Aufgabe genug.
Inspektor Boys sah noch einmal über die Reihen der Leichen. Kleiner als andere Chinesen kamen sie ihm nicht vor. Mit einem Schlag war ihm klar was ihm merkwürdig vorkam, als er daran dachte wie die Fahrer der Leichenwagen, die toten Chinesen aus dem Laster zogen. Ein Mann mit einer Größe von etwa 1,70 Meter musste durchschnittlich ein Gewicht zwischen 60 und 70 Kilogramm haben. So in etwa, überschlug Inspektor Boys. Somit hätten die Fahrer der Leichenwagen, die Körper nicht so einfach aus dem Laster ziehen können, als seien es lebensgroße Stoffpuppen. Und eine Warenlieferung für ein neues Plastinaten-Gruselkabinett Körperwelten in Dover war es sicher nicht. Diese ausgestellten und ausgeweideten Leichen sah sich Inspektor Boys nie an. Er bezweifelte, dass die Körper freiwillig als Dauerleihgabe von ihren Besitzern zur Verfügung gestellt wurden. Außerdem – wer will sich schon in seiner knappen Freizeit auch noch mit seinem kriminalistischen Beruf befassen? Inspektor Boys las noch nicht einmal Kriminalromane.
Inspektor Boys hockte sich noch einmal neben eine Leiche. Er bewegte seine Hand ganz langsam zum Oberschenkel und fasste ihn an. Er ertastete den Oberschenkelknochen. Es waren so gut wie keine Muskeln vorhanden. Er griff an den Oberarm. Hier waren Muskelstränge, aber nicht besonders ausgeprägt. Inspektor Boys stand wieder auf und sah über die lange Reihe der Leichen, die auf dem Boden der Turnhalle in ihren grauen Decken lagen. Er untersuchte noch drei andere Leichen in der Reihe. Überall dasselbe. Keine Beinmuskulatur. Nur Knochen. Inspektor Boys wandte sich an den Constable. »Ich möchte, dass alle Leichen obduziert werden.«
»Das werden sie in solch einem Fall sowieso, Sir«, erwiderte der Constable mit einem leicht beleidigten Unterton.
»Wo wird die Untersuchung durchgeführt?«, hakte Inspektor Boys nach.
»Wir haben in Dover keine forensische Pathologie. Wir werden sie nach Southampton bringen müssen. Das konnten wir allerdings bisher noch nicht veranlassen«
»Wieso nicht?«
»Sir, es ist 4.30 Uhr. Morgens. In der Pathologie ist noch niemand. Der Dienst beginnt um 8.00 Uhr.«
Inspektor Boys ging hinaus und atmete vor der Turnhalle durch. An Leichen würde er sich nie gewöhnen. Als junger Polizist sagte man ihm, das Unwohlsein beim Anblick einer Leiche lege sich. Irgendwann würde es zur Routine. Das sei halt wie in jedem anderen Beruf auch. Bei Inspektor Boys funktionierte das mit der Routine nicht. Als er vor der Halle stand, begann der Tag die Dunkelheit der Nacht wegzudrücken. Es entstand ein diffuses Grau. Die Lichter der Laternen mussten nicht mehr gegen das Schwarz der Nacht ankämpfen. Sie wirkten müde und warteten darauf ausgeschaltet zu werden, um sich zu erholen. Inspektor Boys atmete noch einmal die kühle Luft des Morgens ein, drehte sich um und blickte auf die Tür zur Turnhalle. Er war sich sicher, dass nur Hüllen in der Turnhalle lagen und die Menschen wieder Bestandteil des großen Ganzen geworden waren. So genau hatte er sich davon keine Vorstellung gemacht, was nach dem Tod kommt. Aber er fühlte, dass der Tod nur ein Übergang zu etwas anderem war. Es musste größer sein, als das, was wir auf dem Planet Erde erfahren. Inspektor Boys hatte die Vorstellung von einem ruhig dahinfließenden Lebensstrom, auf dem wir lediglich kleine Blasen sind. Die Blasen sind immer verbunden mit dem Strom und wenn sie zerplatzen, werden sie wieder ein Teil des großen Stromes. An anderer Stelle entsteht schließlich wieder eine kleine Blase, die wiederum eine Zeit lang mit dem Strom schwimmt, bis auch sie zerplatzt. Voilà. Das war ein Bild, das ihn den Tod ertragen ließ.
Würde Inspektor Boys rauchen, hätte er sich nun eine Zigarette angezündet und den Rauch genüsslich in die Morgendämmerung geblasen. Das Rauchen hatte er sich vor mehr als zehn Jahren abgewöhnt. Er war stolz darauf, dass er es geschafft hatte und er würde sicher nie wieder mit dem Rauchen anfangen. Aber in solchen Momenten erinnerte er sich an die kleinen Rauchfahnen und wie sie halfen, das Erlebte zu verarbeiten.
Der Tag vertrieb die Nacht. Die Lichter der Laternen verlöschten. Inspektor Boys fühlte sich müde. Die lange Fahrt von Den Haag - die Untersuchung...
Es klingelte. Inspektor Boys versuchte den kleinen Knopf an seinem Reisewecker zu erwischen. Er ärgerte sich jedes Mal, dass der Knopf auf der Rückseite des Weckers angebracht war. Jedes Mal fingerte er schlaftrunken an der Rückseite und drückte regelmäßig an der kleinen Drehschraube, mit der die Zeit eingestellt wurde. Es klingelte weiter von seinem Nachtischchen. Mittlerweile hatte er sich an den Weg gewöhnt. Er diente ihm der Orientierung an der Rückseite des Weckers. Gleich neben dieser Stellschraube lugte der Abstellknopf für die Klingel aus dem Blech. Er tastete ihn und drückte. Es klingelte wieder. Inspektor Boys hob den Kopf aus dem Kissen und registrierte wie das Telefon auf seinem Nachtischchen einen unangenehmen Ton von sich gab. Er nahm den Hörer von der Gabel und klemmte ihn zwischen Kissen und Ohr.
»Sind Sie dieser Inspektor Boys von Europol?« Es klang als spräche jemand in eine Blechdose.
»Wer will das wissen?«, fragte Inspektor Boys zurück.
»Ich bin Pathologe hier, Gitter, Ernest Gitter. Könnten Sie jetzt vorbeikommen?«
Inspektor Boys wurde hellwach. Es war bereits nach elf Uhr. Seinen Wecker hatte er gleich auf acht Uhr gestellt, als er sich am Morgen ein Zimmer im Moat House Hotel nahm. Es lag in der Northam Road und war somit nicht allzu weit von der Gerichtsmedizin von Southampton entfernt. Er hatte aber mal wieder vergessen, dass bei seinem neuen Wecker nicht die Uhrzeit, sondern die Anzahl der Stunden bis zum Klingeln eingestellt werden musste. So wäre er gegen 14 Uhr statt um 8 Uhr geweckt worden.
Das Haus des gerichtlich bestellten Pathologen lag in der Graham Road und nur drei Straßen weiter als das Hotel. Es war ein rotes Backsteinhaus mit einem angemauerten Kamin an der Außenseite, der in zwei Tonröhren hoch über dem Dach endete. Davor eine verrottete Wildnis, aus der zwei Lebensbäume wie grüne Riesen herauswuchsen. Einen Weg mit grauen Ornamentsteinen führt zu einer ebenfalls grauen Holztür. Inspektor Boys wollte gerade klingeln, als sich die Tür öffnete.
»Sie müssen Inspektor Boys sein!«, stellte der Pathologe fest und erwartete keine Antwort. »Ja - und Sie waren schon bei der Arbeit?«, fragte Inspektor Boys eher rhetorisch.
»Selbstverständlich, ich habe gleich nach dem Anruf des Constable aus Dover einen Leichenwagen geordert und mir einen der Chinesen bringen lassen. Arme Teufel. Ich hoffe nicht, dass Europol von mir verlangt alle vierundfünfzig Chinesen zu untersuchen. Ich wüsste nicht wohin mit ihnen.«
Der Pathologe Ernest Gitter war Ende Vierzig. Er dachte nicht mehr über Heirat nach oder ob er sich wieder der Allgemeinmedizin zuwenden sollte. Gitter wollte nur seine Ruhe. Die Leichen quengelten nicht herum. Geschichten erzählten sie ihm, aber er musste sie suchen, sie ausgraben, sie in einem Labyrinth von Organen, Blut und Knochen freilegen. Das war ruhig, sehr ruhig. Er trug einen weißen Kittel, der erstaunlich sauber war, stellte Inspektor Boys fest. Sie gingen durch einen langen Flur, der in ein Nebengebäude führte, das von der Vorderseite des Hauses nicht zu sehen war. Als der Pathologe Gitter die Türe am Ende des Flures öffnete, spürte Inspektor Boys einen kalten Lufthauch an den Beinen.
»Ich habe hier natürlich keine Heizung«, sagte Gitter und führte Inspektor Boys bis zu einem Tisch aus grauem Edelstahl. Der tote Körper lag auf dem Rücken, die Hände an den Seiten angelehnt. Zwischen den Füßen der Leiche war ein Abfluss. Gitter stellte sich neben den Tisch. Auf einem Beistelltisch an der Seite der Sezierfläche, lag das Werkzeug aufgereiht. Es hätte auch das Handwerkszeug eines Gärtners sein können, bis auf das Skalpell. Inspektor Boys betrachtete das Handwerkszeug. Die gebogene Schere, der Wundhaken und die Knochenzange würden sich sicher auch im Garten bewähren.
»Ihr Arbeitsplatz sieht vermutlich gemütlicher aus«, sagte der Pathologe und verzog keine Miene.
»Vor allem liegt zwischen Computer und Telefon keine Leiche. Das macht schon einen enormen Unterschied«, erwiderte Inspektor Boys. Gitter sah nur kurz hoch und setzte anschließend seine Brille auf. Für Humor hatte er noch nie Verständnis gehabt. Er nahm einen Notizblock, der auf zwei Behältern mit unsterilen Kompressen lag. Der Raum musste vor zwanzig Jahren einmal ein Operationssaal gewesen sein. Inspektor Boys fragte sich, was wohl passiert war.
»Es ist mir natürlich sofort aufgefallen«, sagte Gitter, »der Chinese ist für einen jungen Mann von 25 Jahren gesund - sozusagen - bis auf den jetzigen Zustand. Rechts und links sind vor allem im Schulterbereich Schürfwunden, die aber älteren Datums sind. »Sehen Sie hier... gut verheilt aber...«
Inspektor Boys fiel ihm ins Wort: »...die Muskulatur?«
»Richtig. Alles ist soweit normal bis auf die Muskulatur. Das ist ja selbst für eine Laien einfach festzustellen.«
Dabei blickte Gitter über seine Brille hinweg Inspektor Boys an. Er wirkte wie ein Arzt in Pension, der aus Hobby noch ein wenig forensische Pathologie betrieb, um nicht ganz aus der Übung zu kommen. Möglich, dass seine chirurgischen Fähigkeiten doch noch einmal gebraucht würden.
»Während Bizeps und Trizeps zwar schwach ausgebildet sind - unser junger Freund war offensichtlich kein Bodybuilder - sind die Unterschenkelstrecker, Schienbeinmuskel, Unterschenkelbeuger und Schneidermuskel und Zwillingswadenmuskel praktisch nur noch angedeutet. Ich frage mich, wie hat er sich überhaupt aufrecht halten können?«
»Haben Sie denn feststellen können, ob er vielleicht durch eine Krankheit an Muskelschwund litt?«
»Sie meinen Muskelatrophie? Da käme eigentlich nur die Duchenne-Aranschen Muskelatrophie in Frage. Sie tritt vor allem bei Männern im mittleren Alter auf. Sie beginnt bei den Handmuskeln und erreicht sie schließlich die Atemmuskulatur... führt sie zum Tod. So könnte es hier auch aussehen. Schließlich ist dieser Chinese, soweit ich das jetzt schon feststellen kann, qualvoll erstickt. Das war die Todesursache. Der Muskelschwund war hauptsächlich in den Beinen.«
Inspektor Boys sah sich eine Apparatur mit Schläuchen und mit einer Art Blasebalg an. Die Maschinen war lange nicht mehr benutzt oder gereinigt worden. Überall erkannte er eine dicke Staubschicht. Für einen kurzen Moment dachte Inspektor Boys darüber nach, was eine Beatmungsmaschine bei einem Leichenbeschauer zu suchen hatte.
»Als ich in Dover mir die anderen Leichen ansehen konnte, habe ich festgestellt, dass sie alle so gut wie keine Muskulatur an den Beinen hatten. Ich möchte, dass sie auf jeden Fall die anderen ebenfalls untersuchen. Sie können sie ja einzeln von Dover hierher bringen und dann wieder zurückfahren lassen.«
»Das wird ein Chinesenleichen-Linienverkehr....«
War das jetzt ein Anflug von Humor? Oder ein sprachliches Versehen? Inspektor Boys entschied sich für ein Versehen.
»Ich möchte auch, dass Sie damit keine Zeit verlieren und sofort beginnen. Ihren abschließenden Bericht erwarte ich spätestens in einer Woche. Geht das? Geben Sie mir im Hotel Bescheid. Die Nummer haben sie ja.« Inspektor Boys wollte den Befehlston eigentlich nicht. Er wollte die Sache hier nur abschließen und so schnell wie möglich aus der kalten Halle raus.
»Mir wäre es ganz recht, wenn ich noch eine Computertomografie machen könnte. Dann hätte ich ein komplettes Bild. Vor allem auch im Computer, so dass ich jederzeit noch einmal Untersuchungen anstellen kann, ohne mir gleich wieder die Chinesen kommen zu lassen. So lange werden die ja auch nicht auf Eis liegen.«
»Von mir aus. Wenn Sie das für nötig halten, machen Sie noch einen Computertomografie. Trotzdem brauche ich Ihren Bericht so schnell es geht. Meinetwegen zunächst noch ohne die abschließenden Ergebnisse der Tomografie.«
Gitter grummelte vor sich hin, sagte aber nichts zu Inspektor Boys, der sich verabschieden wollte und in Richtung Tür ging.
»Ach ...«, sagte Gitter, »eines ist mir noch aufgefallen. Der junge Chinese auf meinem Tisch hat eine Tätowierung am rechten Oberarm. Kannte ich aber nicht. Chinesische Schriftzeichen..«
»Das ist bei einem Chinesen, glaube ich, nicht ungewöhnlich oder?«
»Schon - aber erstens sind die tätowierten Schriftzeichen eingerahmt, sie sind in einer Kartusche und zweitens habe ich das Schriftzeichen abgezeichnet und heute Morgen zu einem Sinologen in London gefaxt und er rief mich an, kurz bevor Sie kamen...«
»Ja und? Was bedeutet das Schriftzeichen? Hähnchen süßsauer ja wohl nicht.« Er fand seine Bemerkung unpassend, gleich als er sie aussprach. Aber der Pathologe hatte sie sowieso offensichtlich überhört.
»...er war direkt aufgeregt und fand es sehr ungewöhnlich. So etwas habe er noch nie gesehen und er habe auch in verschieden Fachliteraturen wieder und wieder nachgesehen, bis er sich schließlich sicher war und es keinen Zweifel mehr geben konnte. Es ist zwar ein chinesisches Schriftzeichen, aber es ist quasi auch die chinesische Übersetzung eines alten ägyptischen Wortes aus den Zeiten der großen Pharaonen. Es ist das Wort Ankh.«
Kein Bindfädenregen. Kein Nebel. Kein grauer Himmel. Wo waren die ganzen Klischees geblieben? Am nächsten Morgen herrschte kein typisch englisches Wetter in Bristol als Mark in der Stadt am Fluss Avon ankam, der sich mitten im Zentrum der City versucht, gegen die Gezeitenkräfte zu wehren. Er reiste nach Bristol wegen des Festivals der Tierfilmer. Eine Woche lang würde sich alles um unsere Mitgeschöpfe in der Welt drehen, außer um Menschen. Wer die Menschen kennenlernt, liebt die Tiere, war zu Marks Lebensweisheit geworden, die er sich angeeignet hatte. Er buchte ein Einzelzimmer in einem schlichten Hotel. Das Holiday Inn Express Hotel erwies sich für Mark dabei in jeder Hinsicht günstig. Es lag am Temple Gate und war preiswert. Kollegen hatten Mark zwar gewarnt und verschwörerisch vorausgesagt, dass das Reinigungspersonal in dem Hotel eher die Eigenschaft von Elstern habe und alles was blinkt plötzlich verschwinde. Aber Mark hatte sowieso nichts wirklich Wertvolles dabei, außer seiner Canon Spiegelreflex. Die Kamera packte er gleich in seine neue Tasche, die er bei der Registrierung in Delegiertenbüro bekommen hatte.
Alle zwei Jahre gab es eine Tasche vom Festival. Mark sammelte sie, obwohl er die Taschen nach dem Festival nie mehr benutzte. Während des Festivals war es ein weithin sichtbares Zeichen, das man dazugehörte: I’m a delegate. Das erste was er aus der prallgefüllten Tasche herausnahm, war die Bibel. So nannten alle Delegierten des Festivals den dicken Ordner indem alle Teilnehmer standen, alle eingereichten Filme beschrieben waren. Zudem fand sich in der Bibel auch das Programm der Festivaltage inklusive der verschiedenen Partys. Wichtig für alle, die Wichtig sind und sich dafür halten. An diesen Rumstehgesellschaften hatte Mark noch nie Interesse gehabt. Er wusste, dass es besser für ihn gewesen wäre, an den Partys teilzunehmen, um Kontakte zu knüpfen. Er konnte es dennoch nicht.
Mark spazierte zum Watershed. Das war früher mal ein Stapelhaus für Waren aller Art und nun befanden sich darin der Treffpunkt der Delegierten, aber auch die beiden kleinen Kinos, in denen die nominierten Dokumentarfilme gezeigt wurden. Mark schlenderte im Zeitlupentempo. Das Wetter war einfach zu schön. Auf seinem Weg lag St. Mary Redcliff, die alte Kirche, die auf rote Klippen gebaut worden war. Sie sah an diesem Tag besonders festlich aus. Erinnerungen an kleine St. Martinslaternen stiegen Mark ins Gedächtnis, als er die Fenster der Kirche sah, durch die sich Strahlen der Sonne ihren Weg bahnten. Er dachte plötzlich an ein Fenster mit dem Motiv eines Drachentöters. Irgendwo in irgendeiner Kirche dieser Welt hatte er dieses Motiv schon einmal gesehen. Mit einem Schlag erinnerte es ihn an den gestrigen Tag! Er sah dieses Zeichen auf dem Altarstein von Stonehenge jetzt wieder ganz deutlich vor sich.