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Eigentlich kam Helmut Mülfarth per Zufall zum Wandern. Die Natur mochte er schon immer, schließlich hatte er mehr als 70 Reportagen und Dokumentationen in der Welt gedreht und dabei ging es ihm immer darum, die Schönheit der Natur zu zeigen. Und dann zog er nach Altenbödingen und gleich ein paar Meter von seiner Wohnung entfernt gab es einen Wegweiser auf den Natursteig Sieg. Er begann den Geschichten an diesem Wanderweg nachzugehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Eine mehr als 200 Kilometer lange Wanderung begann. Vorbei an einem alten Thingplatz, nahm Kontakt mit Mährobotern auf, sah Vermächtnisse von Druiden und durchschritt Burgen von Rittern. Zumeist auf schmalen Pfaden. Oft begegnete Helmut Mülfarth über Stunden keinem Menschen, dafür aber Wildschweinen und Rehen. All das verbindet er in Gedanken auch mit seinen eigenen Erinnerungen in der Welt, so beispielsweise mit einem Klosteraufenthalt in Japan oder seinen Begegnungen mit den Indianern in den Wäldern von British Colombia in Kanada. Mit Charme, Humor und ein wenig Selbstironie machte er sich auf den Weg.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Buch
Eigentlich kam Helmut Mülfarth per Zufall zum Wandern. Die Natur mochte er schon immer, schließlich hatte er mehr als 70 Reportagen und Dokumentationen in der Welt gedreht und dabei ging es ihm immer darum, die Schönheit der Natur zu zeigen. Und dann zog er nach Altenbödingen und gleich ein paar Meter von seiner Wohnung entfernt gab es einen Wegweiser auf den Natursteig Sieg. Er begann den Geschichten an diesem Wanderweg nachzugehen.
Autor
Helmut Mülfarth ist gelernter Journalist, studierte Kulturwissenschaften und war mehrere Jahre Reporter beim Kölner Stadt-Anzeiger, bevor er Reporter beim WDR wurde. Später arbeitete er als Dokumentarfilmer und Redakteur bei Spiegel TV in Hamburg.
Von Helmut Mülfarth erschien bisher bei Twentysix :Wen die Schwerkraft tötet, ein Scifi-Thriller
Es geht los! Erinnerungen an Japan kommen mit
Es wird alpin und die Burg ist in Sicht
Troubadix mit Sohn und Wohnfässchen
Ohne Brötchen verlaufen und Steinelefanten
Thingplatz, Toast Hawaii, zerschossene Fassaden
Schmale Pfade und tote Bäume
Mit Rousseau zu Schafen und Bikern
Der ermordete Graf und Walthers Rachegelüste
Mähroboter, Sockenbällchen und Master Po
Strullernde Rindviecher und tolle Ausblicke
Kein Problembär im Ruhewald des Grafen
Wölfe, Indianer und Druiden
Nochmal Druiden und die Sehnsucht nach Italien
Ritter, Quelle und ein Deppenhütchen
Wegmarken zum Natursteig
Nachwort
VON SIEGBURG NACH HENNEF
Großartig! Genauso hatte ich mir das vorgestellt. Es ging aufwärts und dabei setzte ich tatsächlich keinen Fuß vor den anderen. Sanft trug mich der Boden empor. Die Schwere des Rucksacks war kaum noch zu spüren, weil kein Schritt die Schwerkraft ahnen ließ. Ich stand einfach ruhig da, während die Rolltreppe den Wanderer, der ich ja ab sofort war, nach oben auf den Natursteig Sieg hievte. Ich wollte damit keinesfalls bemerken, dass ich eventuell faul wäre oder zur Bequemlichkeit neige. Nun - aber warum soll man sich denn plagen, wenn Stufen den wahren Wanderer von alleine weitertragen. Natürlich wäre die Treppe, rein figürlich betrachtet, wesentlich günstiger gewesen. Man hört immer wieder, dass das tägliche Treppensteigen etliche Kalorien verbrennt, die man ohne schlechtes Gewissen am Nachmittag wieder in Form von Käsekuchen zu sich nehmen kann. So hat der Mensch, der was auf sich hält, immer etwas zu verbrennen. Was sich vor allem in den Sommermonaten zeigt. Es ist auch die Zeit in der mein Nachbar regelmäßig ein großes tonnenförmiges Monstrum nach draußen in den Innenhof unserer alten Fachwerkanlage karrt. Früher war die Wohnanlage einmal ein landwirtschaftlicher Betrieb, der von Vieh-Haltung auf Mieter-Haltung umgestellt wurde. Zurück zu meinem Nachbarn und seinem Tönnchen. Es verfügt über einen schwarzen Deckel, den er immer wieder anhob. Dann qualmte es. Er stand in Gummischlappen und dreiviertellangen Shorts und einem Rippenshirt davor. Von Zeit zu Zeit schwang er eine große, ziemlich überdimensionierte Holzgabel mit der ein Neandertaler ohne weiteres ein großes Tyrannosaurus-Rex-Steak, ein wenig blutig versteht sich, hätte wenden können. Bis zu meiner kleinen Terrasse konnte ich das verbrannte Fleisch riechen: Steaks, Würstchen, Schaschlik-Spieße als vorgefertigte Zehnmann-Portion. Ich drehte mich um und sah die anderen Gärten und Höfe. Hinter jeder Hecke stiegen Rauchzeichen in den Himmel, die kein Indianer hätte deuten können. Ich schon. Es ist Grillwochenende. Ich beschloß, dem verbrannten Fleisch auf Rosten wandernd zu entfliehen.
Die Rolltreppe des Siegburger Bahnhofs trug mich weiter in die Höhe und in meinem Gesichtsfeld wurden die Umrisse des Ausgangs sichtbar. Zunächst sah ich nur Füße, die ich wirklich nicht näher beschreiben möchte; der Siegburger Chic lässt hier und da ein wenig an gehobene Lässigkeit denken. Schließlich war ich oben angekommen und entstieg in voller Größe der Rolltreppe. Es folgte der erste selbstständige Schritt auf meinem ganz persönlichen »Camino«, wie der geneigte Jakobspilger gerne seinen Weg nennt. Als ich der Rolltreppe entstieg, fühlte ich mich mit meinem beladenen grünen Rucksack wie eine Comicfigur aus »Ninjaturtel«, diese kleinen bunten Schildkröten mit Gesichtsmasken.
Hoffentlich treffe ich keinen Bekannten, der sagt:
»Hey, was machst du denn hier? Du siehst ja aus wie ein in die Jahre gekommener Leuchtkäfer, mit deinem quietschgrünen Rucksack!«
»Sehr witzig!«
Nein, ich hatte Glück. Es bemerkte mich niemand, der mich kannte. Keine Erklärungsnot, warum ich nicht um diese Jahreszeit ein wenig nett Urlaub auf Mallorca mache, statt auf eine Wanderung von 239 km zu gehen.
»Weißt du«, hätte ich geantwortet, »ich liege völlig im Trend. Alle gehen in diesem Jahr auf den Camino, du weißt schon, den nach Santiago di Compostela. Ich dachte, das könnte ich auch mal. Dann ist mir eingefallen, dass es da vielleicht gerade an diesem Wochenende ein wenig voll sein könnte.«
Mein Gegenüber wäre dann natürlich schwer beeindruckt.
Tatsächlich habe vor der Wanderung eine Buchhandlung betreten und fand einen halben Regalmeter über den Camino, über den wahren, über den einzigen, über den an der Küste entlang und über den, der von Holland aus startet und - ja man könnte ihn ebenfalls vom Kölner Dom aus starten und käme nach einem halben Jahr in Santiago de Compostela an. Gesunde Füße vorausgesetzt.
»Ich bin den schon zweimal gegangen«, sagte ein älterer Herr neben mir, als ich gerade nach einem Reiseführer inklusive Packliste für den ernsthaften Pilger griff.
»Angeber!«, dachte ich und lächelte ihn freundlich an. Was interessiert mich das?
Meine Antwort: »Ich bin den Camino schon gehüpft, die Beine zusammengebunden und in einem alten Kartoffelsack.«
Ich setzte noch einen drauf: »Sogar dreimal! Einmal davon rückwärts.«
Er ging wortlos. Ich dachte noch eine Weile an den Camino aller Caminos nach, sozusagen die Mutter aller Pilgerwege. Er wurde bereits per Pferd geritten, per Fahrrad gesaust und gejoggt - alles schon da gewesen. Ich glaube mit der Draisine hat noch keiner den Camino bewältigt. Das schien mir aber nicht unbedingt eine Alternative für meine Zukunftspläne zu sein.
Kurz: Ich entschied mich für den Natursteig Sieg.
Nicht allzu weit vom Eingang des Siegburger Bahnhofes stand der erste Wegweiser. Ein weißes großes »S« auf gelbem Grund wies mir den Weg zum Natursteig. Die gelben Markierungen sind die Zuwege, also die Wege, die auf den eigentlichen Natursteig führen und die blauen Markierungen zeigen den Weg des Natursteigs.
Der Wegweiser am Eingang des Bahnhofes zeigte geradewegs in Richtung Siegburger Marktplatz. Ein paar Meter vor mir liefen Jugendliche wie ferngesteuert hinter ihrem Handy her, das sie in der rechten Hand vor sich hielten. Irgendwo gab es vielleicht auf Facebook oder Instagram den Aufruf: »Folget dem Handy!« Möglicherweise wird es in ein paar Jahren neue Behandlungsmethoden für den »Handy-Arm« geben. Junge Mädchen trugen dazu in der rechten Armbeuge noch eine modische Tasche, so dass es aussieht, als wolle der Arm mit dem Handy am Ende eigentlich gerade sein, aber die Tasche zöge die Armbeuge unweigerlich nach unten. Die Jugendlichen liefen zu zweit, zu dritt nebeneinander, den Blick jeweils fest auf ihr Handy. Sie bogen wie bei einem Synchronballett nach links ab und verschwanden in einem Geschäft, dort stellten sie sich hintereinander auf. Auch hier sehe ich am Eingang ein großes gelbes Zeichen, ein »M« allerdings auf grünem Grund. Nein, auf keinen Fall! Ich bin gesund unterwegs, ich will wandern und mich nicht mit einem plattgedrückten Fleischklops mästen. Obwohl … fast hätte ich nicht bemerkt, dass der Zuweg zum Natursteig nach rechts abbog. Er folgte der Sieg, die durch Siegburg etwas verschämt mäandert, kaum sichtbar, versteckt unter der Fußgängerzone durch. Ich wünschte mir, die Sieg könnte wieder völlig frei fließen. Das eine oder andere Geldinstitut würde dabei unterspült, die palastähnlich und in immer gleichem Baustil über Siegburg thronen: heller Beton mit Stelen, dahinter versteckt Glasaquarien mit einer Menschenart, die vornehmlich in kleinen schwarzen Kostümen oder Anzügen daherkommt. Knallgelbe Schwimmwesten, bei freier Unterspülung durch die Sieg, würden doch einen sehr schönen Farbtupfer auf der Einheitskleidung geben. Ich dachte kurz über ein Demo-Pappschild nach:
»Her mit Farbe, weg mit Grau!«
Nun ja - jedenfalls käme es wohl nur so, wenn die Sieg durch Siegburg mäandern dürfte.
Ich begleitete den Fluß weiter und bildete mit meinem leuchtend grünen Rücksack sicher ein visuelles Kontrastprogramm: Ninjaturtle im Kampf gegen das Grau. Der Weg bog nach links ab und ein großes löchriges Wasserschaufelrad aus Metall und Holz wurde sichtbar. Als Siegburg noch ein Dorf war, mahlten die Menschen an dieser Stelle mit Wasserkraft das Korn, um später kleine Brötchen zu backen. Jetzt stand das Rad festgerostet und das Mühl-Haus wurde zu einer hippen Wohnanlage. Neben und über dem Mühlrad drücken sich Stahlbalkone mit Holzplanken aus dem Mauerwerk. Vor Jahren erlebte der »Mühlentopf« der Sieg, so heißt das Areal vor dem Schaufelrad, mal eine ganz andere Nutzung. Zu Ostern 2010 beschloß Pfarrer Joachim Knitter, von der benachbarten evangelischen Auferstehungskirche, dass er es mit der Taufe doch noch einmal ganz genau nehmen wollte. Das tat er natürlich auch sonst, aber bisher hielt er Säuglinge oder Kleinkinder weihevoll über das Taufbecken. Aber an diesem ganz speziellen Ostern wollten sich sechs Erwachsene taufen lassen. Eine ganz besondere Herausforderung für einen evangelischen Pfarrer. Das Wasser aus einer Karaffe über den Kopf zu gießen, war bei Erwachsenen etwas schwieriger. So kam der Pfarrer auf die Idee, die Täuflinge doch im Mühlenbach zu dippen. Das fanden die Täuflinge nicht so gut, denn man hätte zu dieser österlichen Jahreszeit und zu dieser speziellen Taufe einen Neoprenanzug gegen die Kälte gebraucht. Aber Pfarrer Knitter ließ nicht von der Idee ab und so marschierten die Täuflinge mit hängenden Köpfen hinter dem Pfarrer im warmen Talar und reformiertem Beffchen würdevoll im Gänsemarsch zum Mühlenbach. Die halbe Gemeinde trottete ebenfalls, mehr oder weniger andächtig, hinterher. Sie wollten sehen, ob der Pfarrer das tatsächlich durchzog. Die erwartungsfrohe Spannung stieg, je näher der Zug dem Wasser nahe kam. Am Mühlenbach, gegenüber von dem großen Schaufelrad angekommen, zog er wie durch ein Wunder einen Schöpfeimer aus der Sieg in die Höhe. Kein Mensch hat je erfahren, wo der Eimer herkam. Die Täuflinge gingen drei Stufen zum Bach hinunter. Es war die Osternacht und Fackeln erleuchteten die Szenerie. Der Pfarrer schöpfte Wasser und ergoß es in einem Schwall über jeden Täufling und sprach die traditionellen Worte: »Ich taufe dich im Namen des …» Es war genau zu sehen, dass die versammelte Gemeinde frenetisch applaudieren wollte. Man hielt sich krampfhaft zurück. Ein Täufling ließ sich nach dem Schwall kalten Wassers aus dem Bach zu einem »Puhhh« hinreißen und die Spannung der Gemeinde entlud sich in einem freundlichen Gelächter. Die Prozession schritt wieder zurück in die Kirche: ein Pfarrer, sechs nasse Häupter und eine kichernde Gemeinde hinten dran.
Mich brachte der gelb markierte Zuweg zu dem Berg, auf dem die Abtei Michaelsberg vor fast 1000 Jahren gebaut worden war. Um ganz korrekt zu sein - als Abtei des Benediktinerordens bestand sie seit dem Jahr 1064. Hunde begrüßten mich freundlich, tollten über die Wiese unterhalb der Abtei und dann sah ich den Grund dafür. Vor der Wiese stand ein großes Hinweisschild mit einem Hund, der auf einem Töpfchen saß. Darunter stand »Hundewiese.« Ich denke an den kleinen Pfad, der hinaufgeht in den abgelegenen, fast verwunschenen Johannisgarten. Ich habe vor längere Zeit einmal in Siegburg gewohnt und immer, wenn ich ein wenig Ruhe haben wollte, bin ich diesen kleinen Pfad hinaufgestiegen, gleich hinter der Hundewiese. Er war sehr schmal und ging in einer Serpentine auf den Berg. Die schlossartige Abtei erhebt sich schließlich rund 40 Meter über der Stadt Siegburg. Senkrecht. Es gab eine kleine Pforte in der Klostermauer und durch die schritt ich ein. Ich fühlte mich irgendwie so, als ob ich etwas Verbotenes getan hätte und eine fremde, sonst verschlossene Welt betrat. Ich freute mich jedesmal, dass die kleine Pforte nicht verschlossen war, sonst hätte ich den Serpentinenpfad wieder unverrichteter Dinge hinabsteigen müssen. Aber die kleine Pforte stand immer offen. Zwei Bänke warteten auf mich im Garten, gleich vor einer Mauer mit einem kleinen Türmchen, dem Johannistürmchen. Die Tür zum Türmchen war oft verschlossen. Ich war natürlich neugierig und wollte wissen, was sich dahinter verbirgt. An einem Tag sah ich es. Es war so, als ob die Tür extra wegen mir aufgeschlossen wäre. Sie gab den Blick frei auf eine Madonna-Statue. Eine kleine Inschrift an der Innenseite der Holztüre verriet, dass diese Madonna Wünsche erfüllen könne. Natürlich wünschte ich mir etwas. Ich kann natürlich unmöglich sagen, was es war, denn wie Sie wissen, geht es sonst nicht Erfüllung. Die Tür mit der kleinen Madonna-Statue war all die Jahre wirklich nur einmal auf. Ich fragte mich, ob ein netter Benediktinermönch sie versehentlich aufgelassen hatte. Ich stellte mir vor Bruder - sagen wir Eusebius - hatte gesehen, wie ich immer wieder enttäuscht vor der verschlossenen Tür stand. Als er mich wieder einmal ganz mühsam den kleinen Pfad herauf kommen sah, hob er schnell seine Mönchskutte und sauste zu dem kleinen Turm, um die Tür des Türmchens aufzuschließen. Unserer beider Freude muß an diesem Tag sehr groß gewesen sein. Ich danke an dieser Stelle Bruder Eusebius ganz herzlich. Nachdem ich nun an der kleinen Madonnafigur einige dringliche Wünsche losgeworden bin, so in etwa:
»Bitte, lass mich am Wochenende im Lotto gewinnen, ich brauche die Million wirklich sehr dringend. Ich muss unbedingt eine Hütte auf den Bahamas haben, aus gesundheitlichen Gründen, weil mir das rheinische Klima nicht so gut bekommt …«
Für jemandem, dem nichts unmöglich ist, sind das doch eher bescheidene Wünsche, befand ich. Aber ich sagte es ja schon, dass ich meinen wahren Wunsch hier nicht verraten darf. Wegen der erforderlichen Erfüllung. Ich warte immer noch darauf. Vermutlich liegt es aber daran, dass der bescheidene Wunsch noch nicht erfüllt ist, weil jemand anderes auch eine solchen Wunsch hatte und die Madonna nur der Reihe nach die Wünsche erfüllen kann. Ist ja klar. Jetzt weiß ich leider nicht, wann ich dran bin. Möglicherweise hätte es mir damals einer der Mönche sagen können, aber die Benediktinermönche sind nach 964 Jahren nicht mehr da. Im Jahre 2011 haben sie die Abtei aufgegeben, wegen Mitgliederschwund und weil die Kosten für die Erhaltung dermaßen hoch gewesen sind, dass die Abtei Michaels so nicht mehr zu halten war. Eine lange, eine sehr lange Geschichte ging zu Ende.
Im Jahre 1064 gründete der Kölner Erzbischof Anno II. die Benediktinerabtei. Er regierte von Siegburg aus über Köln und machte sich vor allem bei den Kölner Kaufleuten wirklich nicht beliebt, so dass es sogar zu einem Aufstand der Kölner gegen den verhassten Erzbischof in Siegburg kam. Aber, kein Grund zur Sorge, er wurde nach seinem Tod trotzdem heiliggesprochen. Seine Gebeine sind noch heute im Annoschrein der Abteikirche zu sehen. Der scheint mir fast so prächtig wie der Schrein der »Heiligen Drei Könige« im Kölner Dom. Jedenfalls schienen genug Gold und Edelsteine in der Schatzschatulle gewesen zu sein, damit es ordentlich funkelt. Die Geschichte auf dem Michaelsberg war und ist bis heute sehr wechselhaft. Die Schweden guckten mal vorbei, besetzten die Gegend und machten eine Festung draus. Dann wurde das Gemäuer ein Gefängnis, später eine Irrenanstalt, wie man damals sagte, und nun ist das »Katholisch Soziale Institut« von Bad Honnef auf den Michaelsberg gezogen.
Als im Jahre 2011 das letzte Inventar aus den Klosterzellen verkauft wurde, drängelten sich die Menschen vor der Eingangspforte. Der junge Benediktiner, der alles ruhig, die Betonung liegt hier auf ruhig, abwickeln sollte, war völlig überfordert. Ich sah eine Frau, die zerrte gleich drei Holzkreuze in der Größe eines Schrankkoffers aus den Zellen nach draußen. Der junge Benediktiner sagte gerade noch den Preis. Ich habe es nicht genau gehört, aber ich glaube »Zehn Euro« gehört zu haben und schon drängelte der nächste Fledderer nach draußen, in der Armbeuge zwei Gebetsstühle. Hier wurde offenbar versucht Geld zu machen, denn wer verwendet schon zwei Gebetsstühle gleichzeitig?
Ich schritt durch die leeren Gänge der Abtei, die Türen der Zellen standen auf, an der Wand die Abdrücke der Kreuze, die dort vermutlich hunderte Jahre gehangen hatten. Ausgehöhlt, verwundet und tot wirkten die Zellen, die Jahrhunderte angefüllt waren mit spirituellem Leben. Jetzt sind »Unbeschuhte Karmeliter« aus Indien geholt worden. Alle sechs indischen Mönche tragen Sandalen mit Wollsocken.
»Sind traditionell keine Schuhe«, sagte mir einer der Mönche in gebrochenem Deutsch-Englisch. Der Mini-Karmelorden, zumindest was die Anzahl in Siegburg angeht, zog in das Gästehaus der ehemaligen Benediktiner-Abtei. Geführt wurden sie von Prior Pater Austin, einem kleinen sehr freundlichen indischen Ordensbruder. Prior Pater Austin lächelte mich an.
»Wir freuen uns sehr hier zu sein.«
Nun ja - was hätte er auch anderes sagen sollen. Die Unbeschuhten Karmeliter leben in dem Gästehaus sehr zurückgezogen und haben ihren festen Rhythmus im Tagesablauf. Zu sprechen sind sie zwischen 18 und 20 Uhr. Außer an ihrem großen Karmeltag! Das ist jeder erste Samstag im Monat. Der Karmeltag ist so etwas wie der verkaufsoffene Sonntag, da haben sie schon von 9.30 Uhr an Zeit. Aber nur bis 20 Uhr, dann schließen sich wieder die Pforten des neuen Gäste-Karmel-Hauses. Prior Pater Austin sauste später wieder davon und zwar in Richtung Schweiz. »Das wär’ so«, hieß es offiziell vom Orden aus. Man solle sich offenbar nicht zu schnell, wie beispielsweise die Benediktiner, mit ihrer mehr als 900 Jahren Verweilzeit, heimisch fühlen. Denn ratzfatz ist der Orden nachher aufgelöst. Kennt man ja. Haben die Siegburger gesehen.
Nun heißt der neue Prior Pater Dr. Antony Kavungavalappil. Das kriegt der Siegburger natürlich nicht so leicht über die Lippen. So heißt es nur kurz »Pater Dr. Antony.« Möglicherweise ist der aber bald wieder weg. Vor allem, wenn jemand mitbekommt, wenn er sagt: »Das ist aber schön hier!« Und zack - fott iss er.
Der Michaelsberg ist für die neuen Mönche kein Problem. Berge sind den Karmelitern vertraut. Sie wurden zu Beginn des 13. Jahrhunderts an einem Berg gegründet. Nun wie könnte er heißen? Richtig … »Karmel.« Die höchste Erhebung ist dort der Rom Carmel mit 546 Metern. Also ein wenig höher als der Siegburger Michaelsberg. Damals lebten an dem Berg Karmel oder besser gesagt in dem Karmel-Gebirge etliche Eremiten und die schlossen sich schließlich zu dem Orden der Karmeliter zusammen.
Ich blickte noch einmal vom Johannisgarten ein wenig wehmütig über Siegburg. Die Abtei gibt einem immer noch das Gefühl auf einer Insel, außerhalb der Welt, zu sein. Mittlerweile ist der große Baukran über der Abtei verschwunden, der drohte, das neue Wahrzeichen von Siegburg zu werden. Jetzt drückt ein grauer Klotz aus der Seite der alten Abtei, wie ein Geschwür im alten Gemäuer, eine Straße wurde durch die Wiese unterhalb gepflügt, damit die Bediensteten und Seminarteilnehmer des Erzbistums bequem bis an ihre Büros und Tagungsräume gelangen. Räume in denen vorher die Bescheidenheit und Schlichtheit zuhause war. Wie sagte noch der heilige Benedikt von Nursia:
»Es ist für uns an der Zeit aufzuwachen und uns zu erheben.«
Demut hat er übrigens ganz groß geschrieben. Nun ja, auch die Karmeliter, die Unbeschuhten tragen Socken in den Sandalen. Ich werfe noch einen Blick in die Klosterkirche und genieße die Stille und kann mich noch gut daran erinnern, wie die alten Mönche hinterm Altar im Halbrund saßen, andächtig, ehrfurchtsvoll, gebeugt durch ihr Alter und in Dankbarkeit. Die bunten Kirchenfenster in Blau und Rot warfen warmes Licht in die Apsis. Ein friedliches Bild, das es so nicht mehr geben wird. Ich trollte mich und verließ die Kirche, stieg wieder hinunter vom neuen Siegburger Karmel. Diesmal musste ich über den normalen Zufahrtsweg, am Gästehaus vorbei. Ich blieb kurz stehen, in der Hoffnung ein gemurmeltes Gebet zu hören, aber es blieb still. Ich schritt weiter und bog um den Rosengarten herum, der tatsächlich voller Rosenblüten war. In diesem duftenden Garten feierte manchmal die evangelische Gemeinde aus Siegburg Openair-Gottesdienste mit Klampfe und Pfarrer. Am Fuße der Katholikenfestung war das geduldet. Das hatte ein wenig Tradition. Im Krieg war die evangelische Kirche in Siegburg völlig zerstört worden und die Benediktiner erlaubten der abtrünnigen Konfession in ihrer Kirche Gottesdienste abzuhalten. Eine Ökumene aus der Not der Zerstörung durch den Krieg geboren. Hinter dem Rosengarten bog der Weg im scharfen Winkel nach rechts und ich steuerte auf den Hexenturm zu. Das runde Gemäuer heißt zwar so, ist aber eher ein Spitzname, denn in oder an ihm sind nachweislich niemals sogenannte Hexen getötet worden. Das gilt natürlich nicht für Siegburg. Ab dem Jahre 1636 sollen 32 Frauen und fünf Männer gefoltert und qualvoll getötet worden sein. Der ganze Wahn dauerte in Siegburg rund zwei Jahre. Der Hexenturm hat somit schon einen wahren historischen Hintergrund.