Wenn der Morgen die Dunkelheit vertreibt - Brittainy C. Cherry - E-Book

Wenn der Morgen die Dunkelheit vertreibt E-Book

Brittainy C. Cherry

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Beschreibung

Jackson Emery glaubt nicht an Versprechen. Und ich glaube nicht mehr an die Liebe. Ich bin zu zerbrochen für ihn. Er ist nicht der Richtige für mich. Und doch sind wir perfekt füreinander. Weil wir wissen, dass das zwischen uns nicht für immer sein wird. Weil wir die Hoffnung längst aufgegeben haben, dass uns jemand für den Rest unseres Lebens lieben könnte. Bis der Moment des Abschieds gekommen ist und wir plötzlich merken, dass wir nie wieder ohneeinander sein können.

"Ich liebe Brittainy C. Cherrys Bücher, ihre Worte und wie tief sie ihre Leser bewegt. Dieses Buch wird euch nicht enttäuschen!" UNDER THE COVERS BOOK BLOG

Der neue Roman von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry

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Seitenzahl: 523

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Zitat

Prolog

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Dank

Die Autorin

Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX

Impressum

BRITTAINY C. CHERRY

Wenn der Morgen die Dunkelheit vertreibt

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katja Bendels

Zu diesem Buch

Glücklich und verliebt verließ Gracelyn Harris mit ihrem Ehemann ihren Heimatort – allein und mit einem gebrochenen Herzen kehrt sie nun zurück nach Chester, wo alles, was sie tut, und jede Träne, die sie vergießt, von der gesamten Stadt neugierig beobachtet werden. Grace ist verloren, sie weiß nicht, wie sie alleine weiterleben soll. Auf der Suche nach Halt stolpert sie in die Arme von Jackson Emery – dem Mann, von dem sie sich am allermeisten fernhalten sollte. Denn Jackson hält nichts von Beziehungen. Er ist nicht der Richtige für sie. Doch Grace glaubt längst nicht mehr an so etwas wie Liebe. Und genau deshalb sind sie perfekt füreinander. Weil sie wissen, dass das zwischen ihnen nicht für immer sein wird. Weil sie keine Hoffnung mehr haben, dass jemand die vielen Scherben ihrer zerbrochenen Herzen wieder zusammensetzen könnte. Alles, was zählt, ist der Augenblick. Jede einzelne kleine Berührung, die sie beide vergessen lässt. Bis der Moment des Abschiednehmens gekommen ist und weder Grace noch Jackson wissen, wie sie jemals wieder ohneeinander sein können …

Für alle, die zurückgelassen wurden:

Möget ihr niemals den Klang eures eigenen Herzens vergessen.

»Irgendwann, irgendwo wirst du dich selbst finden, und dieser, allein dieser Moment, kann der glücklichste oder der schrecklichste deines Lebens sein.«

Pablo Neruda

PROLOG

JACKSON

Zehn Jahre alt

Was für ein dummer Hund.

Jahrelang hatte ich meine Eltern bekniet, mir ein Haustier zu kaufen, aber sie waren der Meinung, ich sei noch zu jung, um die Verantwortung für ein Tier zu übernehmen. Ich versicherte ihnen, dass ich schon damit klarkommen würde, auch wenn das nicht stimmte.

Woher hätte ich denn wissen sollen, dass kleine Hunde nie Ruhe gaben oder taten, was man von ihnen wollte?

Dad sagte, das wäre ungefähr so wie bei Kindern – ich würde auch nie den Mund halten oder tun, was sie von mir wollten. »Aber die Liebe ist es wert«, sagte er jedes Mal, wenn ich mich über unser neues Familienmitglied beschwerte. »Die Liebe ist es immer wert.«

»Immer und jederzeit«, stimmte meine Mutter ihm zu.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich ihnen glauben konnte, denn dieser Hund war eine echte Nervensäge.

Es war schon spät, und ich hätte längst im Bett liegen sollen, aber ich wollte den Sonnenuntergang noch fertig malen. Ma hatte mir eine neue Technik mit Wasserfarben gezeigt, und ich wusste, dass ich es richtig gut hinkriegen würde, wenn ich nur länger wach blieb und weiter übte.

Tucker fiepte und winselte, während ich versuchte, noch ein wenig Orange auf das Bild zu tupfen. Er stupste zuerst gegen mein Bein und stieß dann den Wasserbecher um.

»Mist!«, stöhnte ich und lief los, um ein Handtuch zu holen und die Sauerei aufzuwischen.

Dummer Hund.

Als ich wieder in mein Zimmer kam, stand Tucker in der Ecke und pieselte.

»Tucker, nein!«

Ich packte ihn im Nacken und zog ihn mit hängenden Ohren zur Gartentür.

»Ach, komm schon«, knurrte ich, während ich versuchte, den Hund aus dem Haus zu schieben, damit er sein Geschäft draußen im Regen verrichtete. Er stand da wie festgewachsen. Dieser große schwarze Labrador verhielt sich wie ein kleines Kind, aber er war schließlich auch erst vier Monate alt. Außerdem hatte er Angst vor Gewitter.

»Nun geh schon!«, rief ich und gähnte. Ich wollte das Bild unbedingt noch fertig malen, damit ich es Ma am nächsten Morgen zeigen konnte. Sie würde so stolz auf mich sein.

Eines Tages würde ich genauso gut malen können wie sie – wenn dieser dämliche Hund mich nur einfach mal in Ruhe lassen würde!

Tucker fiepte und versuchte sich hinter meine Beine zu schlängeln. »Ach, komm schon, Tuck! Stell dich nicht so an!«

Ich versuchte ihn in den Garten zu schieben, aber er stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Der Regen prasselte auf die Veranda, und als der nächste Donner über den Himmel grollte, schlüpfte Tucker an mir vorbei und rannte ins Wohnzimmer.

Stöhnend schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn und lief hinter ihm her. Doch je näher ich dem Wohnzimmer kam, desto unruhiger wurde ich, denn ich konnte meine Eltern dort drinnen streiten hören. In letzter Zeit stritten sie sich ziemlich oft, aber immer, wenn ich das Zimmer betrat, taten sie so, als wäre nichts gewesen.

Doch das war es nicht. Ich konnte es spüren, denn Dad lachte nicht mehr so häufig wie sonst, und Ma musste sich immer die Tränen aus dem Gesicht wischen, wenn sie mich sah. Ein paarmal hatte ich sie dabei überrascht, wie sie allein im Zimmer gesessen und so heftig geweint hatte, dass sie nicht sprechen konnte. Ich hatte versucht, ihr zu helfen, aber sie hatte vor lauter Schluchzen kaum Luft bekommen.

Dad hatte mir erklärt, dass Ma manchmal Panikattacken hatte, aber ich verstand nicht, wo diese Attacken überhaupt herkamen. Es gab nichts, wovor sie Angst haben musste; Dad und ich würden immer gut auf sie aufpassen.

Ich hasste es, wenn Ma so traurig war, dass sie nicht atmen konnte.

Mit der Zeit hatte ich gelernt, sie in den Arm zu nehmen, bis es vorbei war. Und dann saßen wir einfach nur da und atmeten zusammen.

Manchmal dauerte es eine ganze Weile.

Und manchmal dauerte es noch länger.

Ich schlich mich leise ins Wohnzimmer, setzte mich hinter der Couch auf den Boden und hörte zu, wie meine Eltern stritten. Tucker kam zu mir und kletterte auf meinen Schoß. Er zitterte noch immer vor Angst vor dem Gewitter. Oder vielleicht auch, weil meine Eltern sich so anschrien.

Dummer Hund.

Ich schlang die Arme um ihn, denn auch, wenn er ein dummer Hund war, war er immer noch mein dummer Hund. Und wenn er Angst hatte, dann tröstete ich ihn.

Mein Magen verkrampfte sich, als ich hörte, wie Dad Ma anflehte, nicht zu gehen.

Gehen? Wohin sollte sie gehen?

»Du kannst uns nicht einfach so verlassen, Hannah«, sagte Dad, und seine Stimme klang so schrecklich müde. »Du kannst nicht einfach deine Familie im Stich lassen.«

Ma seufzte, und es klang, als würde sie weinen. Atme, Ma. »Wir können nicht so weitermachen, Mike. Wir drehen uns im Kreis. Ich …«

»Sag es«, flüsterte er. »Sprich es aus.«

Sie schniefte. »Ich liebe dich nicht mehr.«

Ich sah, wie Dad zurücktaumelte und sich mit zwei Fingern in den Nasenrücken kniff. Ich hatte Dad noch nie weinen gesehen, aber an diesem Abend wischte er sich die Tränen aus den Augen.

Wie konnte Ma ihn nicht mehr lieben?

Er war mein bester Freund.

Sie waren beide meine besten Freunde.

»Es tut mir so leid, Mike. Ich kann einfach nicht mehr … Ich kann mich und meine Familie nicht länger anlügen.«

»Du verwendest das Wort Familie in letzter Zeit ziemlich freigiebig.«

»Hör auf damit, Mike. Jackson ist mein Ein und Alles, und du weißt, wie wichtig du mir bist.«

»Ja, bloß nicht wichtig genug, um bei uns zu bleiben.« Ma sagte nichts dazu, und Dad fing an, im Zimmer auf und ab zu laufen. »Du willst Jackson also wegen eines anderen Mannes verlassen?«

Ma schüttelte den Kopf. »Du sagst das so, als würde ich meinen Sohn im Stich lassen.«

»Was genau tust du denn sonst? Deine Koffer stehen gepackt im Flur, Hannah. Du verlässt uns!«, fuhr er sie an, was er sonst nie tat. Dad war immer so besonnen und wurde sonst niemals laut. Er holte tief Luft, senkte den Kopf und verschränkte die Hände im Nacken. »Weißt du was? Mach, was du willst. Wenn du gehen willst, dann geh. Aber ich schwöre bei Gott: Komm nicht wieder zurück, denn ich bin es satt, dich anzubetteln, bei mir zu bleiben.«

Er ging hinaus, und meine Brust schmerzte wie wahnsinnig. Ma griff nach ihren Koffern, und ich sprang hinter dem Sofa hervor und rannte zu ihr. »Nein! Ma! Geh nicht!«, schrie ich und fühlte mich, als würde alles in mir brennen. Ich durfte sie nicht verlieren. Ich konnte unmöglich zusehen, wie meine Mom durch diese Tür ging und meinen Dad und mich zurückließ. Wir waren ein Team, eine Familie. Sie konnte uns doch nicht einfach verlassen. Sie konnte doch nicht einfach so gehen …

»Jackson, was machst du denn hier? Du solltest doch im Bett sein!«, rief sie erschrocken.

Ich warf mich schluchzend in ihre Arme. »Geh nicht. Bitte, verlass mich nicht. Bitte, Ma, bitte geh nicht. Bitte …« Ich zerrte verzweifelt an ihren Kleidern, und sie schloss mich in ihre Arme. Doch während sie mich tröstete und ich mich zitternd an sie drückte und sie anflehte zu bleiben, spürte ich, wie sie sich von mir zurückzog.

»Jackson, beruhige dich, okay? Alles ist gut«, versprach sie, aber es war gelogen, denn wie konnte alles gut sein, wenn sie fortging?

»Es tut mir leid, dass Tucker gestern ins Haus gemacht hat! Und es tut mir leid, dass ich euch nicht mehr im Haushalt geholfen habe, aber ich verspreche, ich mache es besser, und ich werde auch besser auf Tucker aufpassen. Ich schwöre, Ma. Bitte, es tut mir so leid. Aber bitte geh nicht!«, heulte ich und versuchte sie noch enger an mich zu ziehen. »Bitte, Ma. Bitte bleib hier. Bitte …«

»Jackson, Liebling.« Ihre Stimme war so sanft und so tröstlich, aber auch sie weinte. »Du hast nichts falsch gemacht. Du bist perfekt.« Sie küsste meine Nase. »Du bist mein Ein und Alles. Das weißt du, nicht wahr?«

»Warum gehst du dann weg?«, krächzte ich.

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht weg, mein Schatz. Ich verspreche dir, dass ich immer da sein werde. In den nächsten Tagen werden wir beide in Ruhe miteinander reden, und ich werde dir helfen, es zu verstehen. Aber ich kann heute Nacht nicht hierbleiben. Wir … dein Vater und ich …«

»Du liebst ihn nicht.«

»Ich … wir …« Sie seufzte. »Du bist noch zu jung, um das zu verstehen. Aber manchmal passiert es, dass Eltern sich … selbst wenn sie sich alle Mühe geben … einfach nicht mehr lieben.«

»Aber er liebt dich noch. Vielleicht kannst du ja wieder anfangen, ihn zu lieben.«

»Jackson … Du bist noch zu jung, um das zu verstehen. Aber glaub mir: Ich gehe nicht weg. Nicht wirklich. Wir werden einfach eine neue Normalität finden. Am Anfang wird es vielleicht ein bisschen holprig werden, aber wir werden einen Weg finden. Ich verspreche es dir. Okay? Du wirst sehen, alles wird gut. Wir werden sogar noch glücklicher sein! Und, mein Schatz, vergiss niemals: Du hast nichts falsch gemacht. Du musst jetzt ein tapferer Junge sein und dich um deinen Vater kümmern, in Ordnung? Kannst du das für mich tun?«

Ich nickte.

»Ich hab dich lieb, Jackson.« Sie gab mir noch einen Kuss auf die Nase und zog mich fest in ihre Arme. »Immer und jederzeit.«

Sie sagte diese Worte, und ließ mich trotzdem los.

Dann griff sie nach ihren Koffern und ging hinaus in den Regen. Und ließ uns zurück.

Ich warf mich auf den Boden und weinte, und Tucker kam zu mir und leckte mir die Tränen ab. »Geh weg, Tuck!«, rief ich und schob ihn fort, aber er kam zurück und wedelte mit dem Schwanz. Es war ihm egal, dass ich ihn fortstieß, er kam einfach wieder zurück. Schließlich erlaubte ich ihm, auf meinen Schoß zu klettern, weil er sowieso keine Ruhe gegeben hätte. Er war so nervig. Ich schlang die Arme um ihn und weinte.

Nach einer Weile stand ich auf. Tucker folgte mir, als ich in die Küche ging, wo Dad stand, die Hände auf den Küchentresen gestemmt. Vor ihm standen ein Glas und eine Flasche mit etwas, dass ich nicht trinken durfte.

»Dad? Alles okay?«, fragte ich und sah, wie seine Haltung sich verkrampfte, aber er drehte sich nicht um, sondern umklammerte die Kante des Küchentresens nur noch fester.

Dad schniefte leise, trank sein Glas leer und füllte es wieder auf. »Du solltest schon lange im Bett liegen, Jackson«, sagte er mit strenger Stimme.

»Aber, Dad …« Mir war übel. Ich fühlte mich, als müsste ich mich jeden Moment übergeben. »Ma ist …«

»Ich weiß.«

»Wir müssen hier hinterherlaufen. Wir müssen sie zurückholen … Wir …«

»Hör auf!«, brüllte er, schlug mit der Hand auf den Tresen und starrte mich böse an. Seine Augen waren rot und voller Emotionen. »Geh ins Bett, Jackson.«

»Aber, Dad!«, rief ich.

»Ins Bett!«, fuhr er mich an, und seine Wut ließ mich zurückweichen. Ich hatte Dad noch nie wütend gesehen, erst recht nicht auf mich. Er atmete tief durch und starrte mich an. Nie zuvor hatte ich diesen Ausdruck in seinen Augen gesehen. Er sah so … zerstört aus. Nach einer Weile zog er die Brauen zusammen, wandte sich wieder seinem Glas zu und seufzte. »Geh einfach ins Bett, Junge.«

Ich ging zurück in mein Zimmer und ließ mich auf mein Bett fallen. Tucker legte sich neben mich. »Geh weg, du dummer Hund«, knurrte ich mit Tränen in den Augen. Doch er rückte sogar noch ein wenig näher und schob den Kopf unter meinen Arm. Meine Brust schmerzte so sehr. »Geh einfach weg.«

Doch egal, was ich sagte oder tat, er blieb.

Guter Junge, dachte ich und hielt ihn ganz fest. Guter Junge.

1

GRACE

Gegenwart

Im leeren, dunklen Flur standen fünf zusammengewürfelte, abgenutzte, ramponierte Koffer, und jeder von ihnen beinhaltete einen Teil von mir. Der lilafarbene Koffer stammte von unserem ersten Trip nach Paris, unserer Hochzeitsreise. Wir hatten in einem winzigen Hotelzimmer gewohnt, in dem wir nur die Arme ausstrecken mussten, um beide Wände berühren zu können. Viele Nächte hatten wir betrunken in diesem kleinen, schmutzigen Zimmer verbracht und uns mit jeder Sekunde mehr ineinander verliebt.

Der Koffer mit dem Blumenmuster stammte von unserem Trip in die Berge nach meiner ersten Fehlgeburt. Er hatte mich mit dieser kleinen Flucht überrascht, um mir zu helfen, wieder zu Atem zu kommen. Die Luft in der Stadt war stickig, und mein Herz war gebrochen, doch obwohl es auch in den Bergen gebrochen blieb, fiel es mir dort oben ein wenig leichter zu atmen.

Den kleinen schwarzen Koffer hatte er für mich gepackt, als ich meinen ersten richtigen Job als Lehrerin bekommen hatte. Er packte ihn auch nach meiner zweiten Fehlgeburt; diesmal ging es nach Kalifornien.

Der grüne Koffer stammte von der Hochzeit meiner Cousine Tina in Nashville, bei der er mich mit meinem verstauchten Knöchel über die Tanzfläche getragen und wir die ganze Nacht gelacht hatten. Und, lastbutnotleast, der winzige dunkelblaue Koffer, den er bei sich gehabt hatte, als er bei mir an der Uni in meinem Zimmer im Wohnheim übernachtete. In dieser Nacht hatten wir zum ersten Mal miteinander geschlafen.

Mit klopfendem Herzen lehnte ich mich gegen die Wand und starrte auf die gepackten Koffer. Fünfzehn Jahre in fünf Koffern; fünfzehn Jahre voller Glück und Leid, die man mir gestohlen hatte.

Er kam mit eiligen Schritten und einer Tasche über der Schulter aus dem Schlafzimmer und sah auf die Uhr. Sein Körper schob sich dicht an mir vorbei.

Er sah so unglaublich gut aus.

Aber Finn hatte immer gut ausgesehen. Viel besser als ich, und das sage ich nicht aus einem Mangel an Selbstwertgefühl heraus. Ich mochte, wie ich aussah, einschließlich jeder Kurve und jedes zusätzlichen Kilos auf meinen Hüften, aber Finn war einfach schöner als ich. Bei jedem Paar sah eine Hälfte besser aus als die andere, und bei uns hatte Finn diese Rolle übernommen.

Er hatte kristallblaue Augen, die leuchteten, wenn er lächelte. Ich liebte es, wenn er ein olivgrünes Oberteil trug, denn er hatte eine Spur von Jade in seiner Iris. Seine blonden Haare waren immer raspelkurz, und sein Lächeln …

Dieses Lächeln war der Grund, warum ich mich in ihn verliebt hatte.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich. »Mit dem Gepäck?«

»Nein«, antwortete er knapp, ohne mich auch nur ein einziges Mal anzusehen. »Ich komme schon zurecht.« Sein ganzer Körper war angespannt, abweisend. Es war schrecklich, dass er mir gegenüber so kalt war, aber ich war es gewesen, die ihn so hatte werden lassen. Ich hatte ihn zu lange zurückgewiesen, und irgendwann hatte er losgelassen.

Er trug das gelbe Poloshirt, das ich so hasste. Es war unter dem Arm gerissen und hatte einen Fleck unten am Saum, der nicht mehr rausging, wie sehr ich mich auch darum bemüht hatte. Ich schloss für einen winzigen Moment die Augen und versuchte mir das Bild des Poloshirts einzuprägen.

Ich würde es vermissen, auch wenn ich es hasste.

Seufzend sah ich zu, wie er seine Koffer aus dem Haus zog. Als er den letzten in seinem Auto verstaut hatte, kam er noch einmal zurück und sah sich in der Diele um, als hätte er etwas vergessen.

Mich.

Er hatte mich vergessen.

Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und murmelte: »Ich denke, das war’s. Wir sollten zur Bank fahren, um die Papiere zu unterzeichnen. Und dann mache ich mich lieber auf den Weg nach Chester, und du wahrscheinlich auch.«

»Okay«, sagte ich.

»Okay«, antwortete er.

Chester, Georgia, war unser Zuhause, die kleine Stadt, in der wir aufgewachsen waren, uns ineinander verliebt und uns die Ewigkeit geschworen hatten. Vor acht Monaten war Finn wieder dorthin zurückgekehrt, weil er eine Stelle als Assistenzarzt im Krankenhaus bekommen hatte. Vor acht Monaten hatte er mir erklärt, er wolle sich von mir trennen. Vor acht Monaten hatte er gesagt, wir sollten das Haus verkaufen. Vor acht Monaten war er aus meinem Leben verschwunden, und ich hatte erst wieder von ihm gehört, als unser Haus in Atlanta einen Käufer gefunden hatte.

Er war gegangen, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen – bis er durch den Hausverkauf dazu gezwungen wurde.

Und trotzdem liebte ich ihn, auch wenn er nicht dasselbe für mich empfand.

Zu Hause wusste niemand, dass wir uns getrennt hatten – nicht einmal meine beste Freundin Autumn oder meine Schwester Judy. Ich erzählte den beiden alles, bis auf die Dinge, die mich nachts wachliegen und weinen ließen. Ich hatte einfach nicht die Kraft, allen zu sagen, dass mein Mann schon seit Monaten nicht mehr mein Mann war. Es hätte mein Versagen offiziell gemacht, und dabei wollte ich doch nur, dass Finley mich aufs Neue liebte.

Oft fragte ich mich, wann er wohl damit aufgehört hatte.

War es an einem einzigen Tage geschehen oder in vielen einzelnen Momenten?

War es Herzschmerz gewesen oder Langeweile?

Oder hatte sich unsere Verbindung irgendwo gelöst?

Konnte etwas, das sich einmal gelöst hatte, wieder verbunden werden?

»Wollen wir noch eine letzte Runde durchs Haus machen?«, fragte ich, als wir zusammen im leeren Wohnzimmer standen. Er war nur gekommen, um den Verkauf des Hauses abzuschließen, und hatte die ganze Zeit kaum ein Wort mit mir gesprochen.

Bei seiner Ankunft war mir flau im Magen geworden. In Gedanken hatte ich mir ausgemalt, wie er mit Blumen im Arm und einer Flasche Wein auf mich zukam und mich bat, wieder die Seine zu sein … aber in Wirklichkeit war er schlecht gelaunt und mit leeren Händen erschienen, in Gedanken schon wieder weg.

»Nein, ich denke, das ist nicht nötig. Lass uns zur Bank fahren, die Formulare unterzeichnen und dann abhauen. Ich habe noch fünf Stunden Autofahrt vor mir und muss morgen wieder arbeiten«, murmelte er und fuhr sich erneut mit den Händen durchs Haar.

Ich hatte keine Ahnung, wieso er so genervt war.

Finn hatte mich seit Monaten nicht gesehen, doch kaum war er in meiner Nähe, wirkte er unglücklich.

Er vermied es sogar, mich anzusehen.

Was gäbe ich darum, wenn er nur ein einziges Mal in meine Richtung blicken würde …

»Ich mache nur schnell noch einen letzten Rundgang durchs Haus«, sagte ich und versuchte nicht zu leidend zu klingen, obwohl alles in mir schmerzte.

»Das haben wir doch jetzt schon zweimal gemacht.«

»Nur noch ein letztes Mal, für die Erinnerung.« Ich lächelte und stupste ihm leicht gegen den Arm. Er lächelte nicht zurück, sondern sah nur auf die Uhr.

»Wir haben keine Zeit für so was. Ich fahr schon mal vor zur Bank«, erklärte er und ging raus, ohne sich noch einmal umzudrehen, als wäre mich zu verlassen das Einfachste, das er je getan hatte.

Vielleicht wurde es, wenn man es einmal getan hatte, mit jedem weiteren Mal leichter.

Ich stand nur da, doch als ich ihn sich räuspern hörte, drehte ich mich um.

Er sah mich an, und nun wünschte ich mir, er hätte es nicht getan. In seinen Augen lag derselbe Schmerz, der in meiner Brust brannte. »Hör zu, ich wollte nicht, dass es so endet«, sagte er.

Ich seufzte.

Ich will überhaupt nicht, dass es endet.

Aber ich schwieg. Egal, was ich jetzt sagte, es wäre immer noch aus zwischen uns.

Er hatte sich entschieden. Gegen mich.

»Ich … es ist nur … nach allem …« Er räusperte sich erneut und suchte nach Worten, die er nicht fand. »Du hast mich ausgeschlossen, Grace. Du hast es mir unmöglich gemacht, dir nahezukommen, und … ich meine, Herrgott – wir hatten seit einem Jahr keinen Sex mehr!«

»An deinem Geburtstag.«

»Ja, du hast mit mir geschlafen, weil ich zweiunddreißig geworden bin – was soll denn das für ein Leben sein? Und dabei hast du noch die Socken und das Unterhemd angelassen.«

»Ich friere eben schnell.«

»Grace.« Er klang ernst und genervt, und ich fragte mich, wann ich angefangen hatte, ihm auf die Nerven zu gehen. Erst in letzter Zeit oder schon seit Jahren?

»Es tut mir leid.«

»Hör auf damit«, stöhnte er und fuhr sich wieder mit den Händen durchs Haar. »Hör auf, dich zu entschuldigen. Ich weiß, was du durchgemacht hast, war schrecklich, aber verdammt noch mal, ich war für dich da, und du hast mich nicht an dich rangelassen.«

Damit hatte er nicht unrecht. Ich hatte mich von ihm abgeschottet. Ich hatte mich von allen abgeschottet; es war die einzige Möglichkeit gewesen, die totale Selbstzerstörung zu verhindern.

»Es tut mir leid«, wiederholte ich.

Er trat einen Schritt auf mich zu, und ich betete, es würden noch mehr werden. »Grace … sag etwas, irgendwas, nur nicht, dass es dir leidtut. Das macht mich ja so wütend. Du hast so eine passiv-aggressive Einstellung zu allem. Du redest nicht; du behältst deine Gefühle für dich.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach ich. Jedenfalls hatte es eine Zeit gegeben, in der es anders gewesen war, in der ich ihm meine Gefühle offen gezeigt hatte. Doch irgendwann war ihm alles zu viel geworden. Er hatte nie ein Wort gesagt, aber sein Gesichtsausdruck hatte es mir verraten. Jedes Mal, wenn ich weinte, verdrehte er die Augen, und wenn ich mit ihm über meinen Schmerz reden wollte, sagte er, es sei spät und wir sollten besser am nächsten Morgen darüber sprechen.

Doch diese Gespräche am Morgen hatten nie stattgefunden, und irgendwann war ich verstummt.

Aber vielleicht war Liebe so. Vielleicht wurde Liebe mit der Zeit einfach immer leiser, bis sie am Ende auf gespenstische Weise verstummte.

»Es ist wahr«, erklärte er selbstbewusst. Alles, was Finn tat, tat er voller Selbstbewusstsein; und das war ein weiterer Grund, warum ich mich in ihn verliebt hatte. Er wandelte über diesen Planeten, als ob er keine Sekunde daran zweifelte, dass er hierhergehörte, und das war ein sehr bemerkenswerter Charakterzug. Finn war zwei Jahre älter als ich, und als wir uns auf dem alljährlichen Sommerfest meiner Eltern zum ersten Mal begegnet waren, hatten alle Anwesenden nur Augen für Finley James Braun gehabt. Er gehörte zur Crème de la Crème von Chester. Die Frau, die ihn am Ende bekommen würde, wäre vom Glück gesegnet. Er war klug, selbstbewusst und sah auch noch gut aus.

Die Mädchen waren ohne Ausnahme verrückt nach ihm. Es war meine Mutter, die mich ihm damals, mit fünfzehn, sprichwörtlich in die Arme getrieben hatte. Allein hätte ich niemals den Mut gehabt, einen Jungen wie Finn anzusprechen.

Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich gut genug für ihn sein könnte. Und ich glaubte es immer noch nicht.

Finn kniff sich, offensichtlich von mir genervt, mit zwei Fingern in den Nasenrücken. »Du öffnest dich nie. Alles, was du tust, ist passiv-aggressiv.«

»Ach ja? Und alles, was du tust, ist mich mit anderen Frauen zu betrügen«, gab ich zurück. Die Worte platzten aus mir heraus, als hätte ich nur auf den richtigen Moment gewartet, um sie abzufeuern.

Oh, das hatte gesessen. Aber zu sehen, wie getroffen er war, schmerzte mich im Grunde nur selbst.

»Tut mir leid«, sagte ich. Ich war kein gemeiner Mensch – ganz und gar nicht. Ehrlich gesagt, hatte ich bis zu diesem Moment gar nicht gewusst, dass ich überhaupt dazu fähig war, einem anderen Menschen gegenüber gemein zu sein. Meine Eltern hatten meine Schwester und mich zu sanftmütigen, rücksichtsvollen und mitfühlenden Menschen erzogen. Niemand würde auf die Idee kommen, mich als grausam zu bezeichnen, aber wenn einem das Herz brach, sagte man eben Dinge, die man sonst nicht sagen würde.

Finns Körper versteifte sich auf eine Art, die ich nicht von ihm kannte. Mit einer unsicheren Bewegung wich er einen Schritt zurück, seine Augen glänzten. Finn hasste es, daran erinnert zu werden, dass er mich betrogen hatte, und seit Monaten tat ich nichts anderes, als ihn daran zu erinnern. Manchmal, wenn ich meinen Schmerz und meine Verzweiflung nicht länger unter Kontrolle hatte, hinterließ ich ihm eine Nachricht auf der Mailbox und fragte ihn, warum er sich für eine andere Frau entschieden hatte. Ich fragte ihn, ob sie besser war als ich. Ob ihre Küsse jemals so schmeckten wie meine.

Das ärgerte ihn maßlos und war womöglich der letzte Anstoß für ihn gewesen, mich zu verlassen: meine Unfähigkeit, diese andere Frau aus dem Kopf zu bekommen.

Mein Mann hatte mich nie betrogen. Außer mit ihr.

Ihr.

Ich hasste sie, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer sie war.

Ich hasste sie so sehr, wie ich mir nie hätte vorstellen können, einen fremden Menschen zu hassen.

Wie konnte sie es wagen, mir etwas wegzunehmen, auf das sie kein Recht hatte? Wie konnte sie es wagen, meinen Mann mit Haut und Haaren zu verschlingen, während ich versuchte, seinen Geruch einzuatmen? Wie konnte sie es wagen, mir das Herz zu brechen und sich einen Dreck darum zu scheren, wie tief die Scherben in meine Seele schnitten?

»Ist es wirklich das, was du mir sagen willst? Willst du wirklich, dass das das Letzte ist, was du zu mir sagst?«, fragte er, noch immer unter meinen Worten taumelnd.

Oh, wie ich sein Gesicht hasste, weil ich es noch immer liebte.

So viele Gefühle durchströmten mich – so viel Verwirrung, so viel innerer Kampf, so viel Schmerz. Ich fühlte mich schon einsam, bevor er sich umdrehte und davonging. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken, ohne einen Sinn zu ergeben.

Bleib. Verschwinde. Verlass mich nicht. Geh weg. Liebe mich. Hauche mir wieder Leben ein. Lass mich sterben.

Bleib.

Verschwinde …

»Es tut mir leid«, sagte ich leise. Ich wusste, dass er diese Worte nicht hören wollte, aber etwas anderes fiel mir nicht ein.

»Ach, komm schon.«

»Es tut mir leid, dass ich nicht …

»Grace.« Er trat einen Schritt auf mich zu, doch ich hob die Hand und bedeutete ihm, nicht näher zu treten. Wenn er noch näher käme, würde ich mich in seine Arme stürzen, doch ich war mir sicher, dass er mich nicht auffangen würde. Er holte tief Luft und flüsterte: »Ich habe einen Fehler gemacht. Sie hat mir nichts bedeutet.«

Sie.

»Sag mir, wie sie heißt«, verlangte ich. Mir war klar, dass es nicht besonders würdevoll klang, aber das war mir egal. Ich war es so leid. Ich war es leid, dass Finn ständig versuchte, dieses Thema zu vermeiden. Und es machte mich wahnsinnig, dass er so tat, als wäre es meine Schuld, dass er seine Lippen auf die einer anderen Frau gepresst hatte – auf ihre Brüste, ihre Hüften, ihren Hals, ihren Bauch, ihre Schenkel …

Hör auf.

Ich hasste meine Gedanken. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mir die Lippen meines Mannes so lebhaft auf denen einer anderen Frau würde vorstellen können. Aber was soll man sagen – die Fantasie eines Menschen ist eine Massenvernichtungswaffe.

»Wie bitte?«, fragte er und stellte sich dumm. Finn mochte manches sein, aber dumm ganz sicher nicht. Er wusste genau, was ich gefragt hatte.

»Auch nach all der Zeit hast du mir nie gesagt, wie sie heißt, weil ihr Name die ganze Sache real machen würde. Unwiderruflich.«

Sein Mund öffnete sich für eine Sekunde, während die Argumente in seinem Kopf miteinander stritten, und er überlegte, wie groß er das alles werden lassen wollte. Dann sagte er: »Das kann ich nicht tun.«

Es war nur ein Flüstern … seine Worte, seine Schuldgefühle, sein Widerwille.

»Wenn du mich je geliebt hast, sagst du es mir.«

»Ich …« Er verzog das Gesicht. »Ich kann nicht. Ich kann das nicht tun, Grace. Außerdem ist es sowieso aus und vorbei.«

»Es ist keine große Sache, wirklich. Im Grunde ist sie mir vollkommen egal. Ich hoffe bloß, sie war hässlich«, scherzte ich, doch er sah nicht das Feuer in meiner Brust, das mich von innen heraus verzehrte.

Mein Herz …

Wie konnten all die Scherben noch weiter brechen?

Ich schniefte.

Er seufzte. »Wir sollten uns auf den Weg machen.«

»Ich gehe nur noch ein letztes Mal durchs Haus«, sagte ich.

Er öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Er hatte die Streitereien genauso satt wie ich. Irgendwann war all das Reden nur noch ermüdend, weil keine Seite mehr wirklich zuhörte. »Wir treffen uns in der Bank, okay?«

Ich wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war, und ging dann langsam durch das Haus. Sanft glitten meine Finger über jede einzelne Oberfläche, jeden Türrahmen, jede Wand. Als ich den letzten leeren Raum erreichte, trat ich ein und starrte auf die vier Wände, für die ich so viele Pläne gehabt hatte – die vier Wände, in denen ich meine Zukunft gesehen hatte.

»Und hier stellen wir die Kommode und den Wickeltisch hin, und das Bettchen kommt dorthin! Wir könnten eins kaufen, das man später in ein normales Kinderbett umwandeln kann, und darüber möchte ich den Namen des Babys schreiben. In dicken, schwarzen Blockbuchstaben, und irgendeinen hübschen Spruch, und …« Ich war atemlos vor Aufregung, und Finn kam zu mir, legte die Arme um meinen Körper und zog mich an sich.

Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Denkst du nicht, wir sollten warten, bis wir tatsächlich schwanger sind, bevor wir das Kinderzimmer planen?«

»Ja«, stimmte ich zu und kaute auf meiner Unterlippe. »Aber nach zehn positiven Schwangerschaftstest in zwei Tagen, denke ich, wir sind auf dem richtigen Weg.«

Finns Augen leuchteten. Ich liebte seine wunderschönen blauen Augen. Auch nach so langer Zeit ließen sie immer noch die Schmetterlinge in meinem Bauch flattern.

»Du bist …?«

Ich nickte.

»Du meinst, wir sind …?«

Ich nickte.

»Also werden wir ein …?«

Ich nickte.

Seine Augen wurden feucht, und er hob mich hoch, wirbelte mich durch die Luft und bedeckte mich mit Küssen. Als er mich wieder auf den Boden stellte, sah er mich mit einem Blick an, bei dem ich auch ohne Worte spüren konnte, wie sehr er mich liebte.

»Wir bekommen ein Baby«, flüsterte er und drückte sanft seine Lippen auf meine.

»Ja.« Als er ausatmete, atmete ich tief ein. »Wir bekommen ein Baby.«

Es wurde dunkel im Zimmer, als ich das Licht ausschaltete, und als ich hinausging, hingen die Erinnerungen noch immer in der Luft.

Ich war davon überzeugt gewesen, immer mit Freude an diesen Tag zurückzudenken, doch mit der Zeit verwandelte sich diese schöne Erinnerung in einen tiefen Schmerz.

Nachdem ich alle Lichter ausgeschaltet hatte, griff ich nach dem letzten Koffer, der noch in der Diele stand – einem schwarzen mit rosafarbenen Blumen. Er stammte ebenfalls von unserer Hochzeitsreise, weil wir zu viele Andenken gekauft hatten.

Ich zog den Koffer hinter mir her aus dem Haus, von dem ich geglaubt hatte, dass es für immer mein Zuhause sein würde, und trauerte um eine Zukunft, die nicht länger mir gehörte.

2

GRACE

Es dauerte nur wenige Minuten, die Formulare zu unterschreiben und dem Bankangestellten die Schlüssel zu unserem Haus zu übergeben. Ich saß neben Finn, und doch fühlte es sich an, als sei er meilenweit entfernt. Als wir aufbrachen, ging er zu seinem Auto, und ich zu meinem.

»Finley«, rief ich, ohne zu wissen, wieso mir sein Name auf der Zunge gelegen hatte. Er blickte auf und sah mich fragend an. Mein Mund öffnete sich, doch die Worte, die ich sagen wollte, tanzten weiter durch meinen Kopf. Lass uns einfach nur was essen und vielleicht ins Kino gehen, mehr nicht … bis du mich wieder liebst.

»Nichts. Schon gut.«

Er seufzte. »Was ist, Grace?«

»Nichts.« Ich rieb mir mit der Hand über den Arm.

»Wie immer«, murmelte er, und es tat mir weh.

»Was soll das denn heißen?«

»Du machst genau das, was du immer machst.«

»Was mache ich?«

»Du setzt an, um etwas zu sagen, deine Gefühle auszudrücken, und dann ruderst du zurück und sagst: ›Schon gut.‹ Hast du eigentlich eine Ahnung, wie unmöglich es ist, so mit dir zu kommunizieren?«

»Tut mir leid«, flüsterte ich.

»Natürlich tut es das«, erwiderte er. »Hör zu, ich muss los. Wenn wir wieder in Chester sind, können wir unseren Eltern sagen, dass wir uns getrennt haben. Am besten machen wir es nicht zusammen, sondern jeder für sich. Schließlich schadet es nichts, sich daran zu gewöhnen, solche Dinge allein zu regeln, nicht wahr?«

Reiß dich zusammen. Du darfst jetzt nicht weinen.

»Okay.«

Ich würde den Sommer in Chester verbringen, da meine neue Wohnung in Atlanta erst ab August bezugsfertig sein würde. Der Gedanke, nach Chester zurückzukehren, machte mir ein wenig Angst. Innerhalb kürzester Zeit würden alle dort wissen, dass Finn und ich nicht mehr zusammen waren. Zugleich freute ich mich insgeheim, mit ihm in derselben Stadt zu sein, durch dieselben Straßen zu laufen, in denen wir uns ineinander verliebt hatten. Vielleicht würde diese Verbindung dazu führen, dass er mich wieder so sah, wie er mich früher gesehen hatte. Ich hatte einen Sommer lang Zeit, um meinen Mann dazu zu bringen, sich zum zweiten Mal in mich zu verlieben.

Ich stieg ins Auto, doch als ich den Zündschlüssel drehte, hustete der Motor nur kurz. Oh nein. Ich versuchte es noch einmal, und diesmal erklang ein kratzendes Geräusch. Finn sah fragend zu mir herüber, doch ich bemühte mich, ihn zu ignorieren. Mein Auto war ein uralter kleiner rosafarbener Buick, der mich seit dem Tag begleitete, an dem ich zu Hause ausgezogen war, um aufs College zu gehen. Der Einzige, der mich länger begleitet hatte als dieses Auto, war Finn, und nun, da er mich verlassen hatte, war Rosie an die erste Stelle gerückt.

An diesem Vormittag hatte sie Husten.

»Soll ich mal in den Motor schauen?«, fragte Finn, aber ich sah ihn nicht einmal an. Ich konnte nicht, nicht nachdem er mich so angefahren hatte, dass ich mich schämte, überhaupt zu existieren.

»Danke, es geht schon«, entgegnete ich.

»Schafft die alte Karre es überhaupt noch bis Chester? Du hättest dir einen Mietwagen nehmen und die Kiste hier verschrotten sollen.«

»Es geht schon«, wiederholte ich, drehte erneut den Zündschlüssel und hörte wieder das grässliche Geräusch.

»Gracelyn …«, begann er. Meine Nerven waren kurz davor, mich im Stich zu lassen.

»Fahr einfach, Finn. Du hast mehr als deutlich gemacht, dass du nicht hier sein willst, okay? Also fahr.« Es sei denn, du bleibst …

Er runzelte die Stirn und straffte die Schultern. »Okay, dann fahre ich jetzt.«

»Ja. Das solltest du.« Es sei denn, du bleibst …

Ich war so erbärmlich.

Seine Mundwinkel sackten nach unten. »Na dann.« Und damit drehte er sich um und ließ mich zurück, beendete unsere gemeinsame Geschichte, die ich noch immer umschreiben wollte.

Meine Brust zog sich zusammen. »Finley«, rief ich, und er drehte sich zu mir um.

»Ja?«

Meine Finger umklammerten das Lenkrad. Die Worte in meinem Kopf wollten raus. Sie wollten, dass meine Lippen zu ihrem Kampfplatz wurden, aber ich konnte es nicht tun. Ich konnte meinen Mann nicht anflehen, bei mir zu bleiben, nicht nach allem, was geschehen war. »Wie ist es passiert? Wo sind wir vom Weg abgekommen?«

»Ich weiß es nicht.« Er verzog das Gesicht. »Vielleicht sind manche Dinge einfach nicht für die Ewigkeit gemacht.«

Doch was, wenn wir zwar dafür gemacht gewesen waren, unser Boot aber, statt es zurück ans sichere Ufer zu ziehen, absichtlich hatten davontreiben lassen?

Tränen liefen mir über die Wangen, und ich wollte nicht, dass er sie bemerkte, andererseits sollte er meinen Schmerz ruhig sehen und erkennen, wie sehr er mich verletzt hatte. Ich musste ihn sehen lassen, wie weh es mir tat; zugleich musste ich mich daran erinnern, dass er nicht länger derjenige war, der mich trösten konnte.

Er rieb sich den Nacken. »Grace?«

»Ja?«

»Ich liebe dich.«

Ich nickte langsam. »Ich weiß.«

Und ich glaubte ihm. Judy hätte jetzt gesagt, ich sei naiv, meinem Mann zu glauben, dass er mich noch liebte, aber ich wusste ein paar Dinge über die Liebe, die meine kleine Schwester nie gelernt hatte. Liebe war ein kompliziertes Gefühl, das nie den geraden Weg ging. Sie verlief in Wellen von Höhen und Tiefen. Sie war ein widersprüchliches Gefühl, das selbst in den gebrochenen Herzen und tiefsten Wunden noch existieren konnte.

Finn liebte mich, und ich liebte ihn, auf eine verquere, schmerzvolle Weise. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, das zu ändern – der Liebe den Hahn zuzudrehen und mein Herz dazu zu bringen, nichts mehr zu fühlen.

Doch es fühlte.

Und es brannte.

Im dunklen Kofferraum seines Wagens lagen fünf zusammengewürfelte abgenutzte, ramponierte Koffer, und jeder von ihnen beinhaltete einen Teil von mir.

Ich sah ihnen nach, als sie davonfuhren.

Da saß ich nun auf diesem Parkplatz mit nichts als meinem Wunsch und einem stillen Gebet, dass mein Auto anspringen würde. Doch zum Glück hatten meine Eltern mich gelehrt, dass man nur eines im Leben brauchte: Hoffnung, nicht größer als ein Senfkorn, dass am Ende alles gut werden würde.

Wieder und wieder drehte ich den Zündschlüssel. Doch irgendwann ließ ich die Hand sinken.

Lieber Gott, ich bin es, Gracelyn Mae …

Als Rosie schließlich nach fünf weiteren Versuchen ansprang, schloss ich für einen Moment die Augen und atmete tief durch, bevor ich losfuhr. »Danke«, flüsterte ich.

Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass es, auch wenn ich mich einsam fühlte, etwas gab, das größer war als ich, und an das ich glauben konnte.

»Hoffentlich war das die richtige Entscheidung«, murmelte ich, während ich Rosie Richtung Chester steuerte, wo alle davon überzeugt waren, dass Finn und ich uns liebten und glücklich miteinander waren.

Er hatte keiner Seele etwas von unserer Trennung gesagt, und ich auch nicht – vielleicht weil wir die Menschen in dieser kleinen Stadt kannten. Vielleicht hatten wir niemandem etwas erzählt, weil wir beide noch nicht bereit gewesen waren, uns ihren Urteilen, Gedanken und Meinungen zu stellen.

Ihren Ratschlägen.

Chester war eine kleine Stadt in Georgia, etwa fünf Stunden von Atlanta entfernt. Und mit klein meine ich, dass jeder den zweiten Vornamen des anderen kannte, oder wann wer sich zum ersten Mal geküsst hatte – die märchentaugliche Version, nicht unbedingt die wahre.

In einer Stadt wie Chester erzählten alle immer nur die halbe Wahrheit – die Hälfte, in der man selbst gut wegkam.

Alle wussten, dass ich wieder in der Stadt sein würde, weil sie wussten, dass Finn die Stelle im Krankenhaus bekommen hatte. Was sie nicht wussten, war, dass ich meinen Kopf nicht länger neben seinen betten würde.

In der naiven Hoffnung, dass Finn zu mir zurückkehren und wir uns wieder ineinander verlieben würden, hatte ich mich noch nicht einmal darum gekümmert, wo ich wohnen würde. Doch auch wenn es nun wohl nicht dazu kommen würde, machte ich mir keine allzu großen Sorgen, denn meine Familie würde mich aufnehmen und für mich da sein. Immer und jederzeit.

Der Mittelpunkt von Chester war die Zionskirche. Sie war sozusagen das Herz der Stadt, und mein Vater, Samuel Harris, stand ihr vor, so wie Grandpa James und dessen Vater Joseph es vor ihm getan hatten. Dad hatte es nie ausgesprochen, aber ich war mir sicher, dass er ein wenig enttäuscht war, keinen Sohn zu haben, der eines Tages die Leitung der Kirche von ihm hätte übernehmen können.

Er hatte mich gefragt, doch ich hatte höflich abgelehnt. Finn hatte damals gerade einen Studienplatz an der Medical School in Tennessee bekommen, und als gute Ehefrau war ich ihm gefolgt, wohin es ihn verschlug. Ich folgte ihm durch seine gesamte Ausbildung und hatte geglaubt, Atlanta würde unsere letzte Station sein. Als er mir dann eröffnete, dass er sich auf eine Stelle in Chester beworben hatte, war ich offen gestanden überrascht.

Finn hatte immer erklärt, er wolle nie wieder in einer Kleinstadt leben, weil das Leben dort ihn ersticken würde.

Dad hatte meine Entscheidung respektiert und gesagt, dass er stolz auf mich sei, und Mama gefiel es, dass ich an der Seite meines Mannes bleiben wollte. Es hatte schon seinen Grund, dass ihr Lieblingslied »Stand By Your Man« von Tammy Wynette war.

Die Kirche hatte in der Geschichte meiner Familie immer eine wichtige Rolle gespielt, und die ganze Stadt versammelte sich dort mehr als einmal pro Woche zur Predigt, zu Gebets- oder Bibelkreisen und zu ziemlich jedem Kuchenbasar, der in der Stadt organisiert wurde. Sonntagsmorgens in die Kirche zu gehen war genauso selbstverständlich wie das Footballspiel am Freitag und der Whiskey am Samstag.

In gewisser Hinsicht gehörte meine Familie zum Adel von Chester. Wer die Kirche kannte, kannte unsere Familie, und wenn man unsere Familie kannte, wusste man, dass wir Geld hatten.

Daddy erklärte immer, Geld sei nicht wichtig. Ihm ginge es darum, der Gemeinde etwas zurückzugeben und Gott zu dienen, aber Mamas Schuhe mit den leuchtend roten Sohlen und ihr funkelnder Schmuck erzählten eine andere Geschichte.

Sie liebte es, zur Crème de la Crème von Chester zu gehören. Sie war Königin Loretta Harris, und, glaubt mir, sie nahm diese Rolle todernst.

Je weiter ich mich Chester näherte, desto stärker wurde das flaue Gefühl in meinem Magen.

Es war Jahre her, seit ich meine Sachen gepackt und mit Finn zusammen fortgezogen war, und der Gedanke, alleine nach Hause zurückzukehren, machte mir Angst. Ich hasste meine Selbstzweifel, die in letzter Zeit so laut geworden waren, und ärgerte mich darüber, dass ich mir überhaupt Gedanken darüber machte, wie die Stadt mich wohl aufnehmen würde.

Was würden die Leute über mich denken?

Was würden sie sagen?

Und, das Schlimmste, wie würde Mama reagieren?

3

JACKSON

»Fünfhundert heute, die anderen fünfhundert nächste Woche«, erklärte ich der Tussi nüchtern, die immer wieder mit ihren falschen Wimpern klimperte. Sie gab sich alle Mühe, ihre Brust rauszudrücken, aber es half nichts. Ich wusste, wie es unter ihrem Kleid aussah. Da war nicht viel, was man rausdrücken konnte.

»Aber …«, begann sie, doch ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Es interessierte mich nicht, was sie zu sagen hatte. Nichts an diesem Kleinstadtleben interessierte mich im Geringsten.

Alles an Chester, Georgia, ging mir auf den Sack, und ich hasste es, hier festzusitzen.

Es war einfach alles so verdammt nervtötend, von den provinziellen Spießern bis zu ihrem bornierten Kleinstadttratsch. Die Leute hier bestätigten jedes Filmklischee – aber selbst Klischees mussten ja irgendwo herkommen. Vielleicht hatte Chester ja als Fallstudie für diese Schrottfilme gedient. Wie auch immer, jedenfalls hasste ich diese Stadt.

Dabei konnte man nicht mal behaupten, dass die Leute in Chester keine Ahnung von der wirklichen Welt hatten. Sie wussten sehr gut, was außerhalb der Stadt passierte.

Sie wussten, dass sich die Vereinigten Staaten in einem katastrophalen Zustand befanden. Sie wussten von der Armutswelle, die durch das Land schwappte, und kannten die Stories über den Drogenhandel. Sie wussten von den Waldbränden, den Schießereien in den Schulen, den Demonstrationen in Washington und dem Kampf für sauberes Trinkwasser. Sie kannten unsere Präsidenten, den jetzigen und den davor. Ja, die Leute in Chester, Georgia, wussten alles über die reale Welt, aber sie redeten einfach viel lieber darüber, warum Justine Homemaker zu müde gewesen war, um Cupcakes für den Kuchenbasar am Freitag in der Kirche zu backen.

Sie liebten es, über unnützes Zeug zu tratschen, was einer der vielen Gründe war, warum ich es hasste, hier zu leben.

Bei all dem Hass, den ich gegen diese Stadt empfand, war es gut zu wissen, dass er auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Bürger von Chester hassten mich mindestens ebenso sehr, wie ich sie.

Ich kannte die Gerüchte über mich, aber es war mir egal. Sie nannten mich die Brut des Teufels, und früher hatte es mir wehgetan, das zu hören, aber je älter ich wurde, desto besser gefiel es mir. Seit fünfzehn Jahren lebten die Leute in vollkommen grundloser Angst vor meinem Vater und mir. Sie bezeichneten uns als Monster, und mit der Zeit hatten wir uns daran gewöhnt, dieser Rolle gerecht zu werden. Wir waren die schwarzen Schafe von Chester. Mir ging dies am Arsch vorbei, es machte mir keine schlaflosen Nächte.

Ich hielt mich möglichst bedeckt und führte mit der Hilfe meines Onkels die Werkstatt meines Vaters. Der unangenehmste Teil daran war der Kontakt mit den Leuten aus der Stadt. Natürlich hätten sie ihren Wagen auch in eine Werkstatt außerhalb von Chester bringen können, aber sich in die Welt da draußen vorzuwagen jagte ihnen mehr Angst ein, als sich mit meinem Vater und mir auseinanderzusetzen.

Was bedeutete, dass ich mich ständig mit Idioten beschäftigen musste.

»Ich sage nur, dass du mir bis heute Abend fünfhundert Dollar schuldest. Ich akzeptiere Visa, Mastercard, Schecks und Bargeld«, erklärte ich Louise Honey, die in rosa Kleid und High Heels vor mir stand und mit ihren aufgeklebten Fingernägeln auf meinen Schreibtisch trommelte.

»Ich dachte, wir hätten letzten Donnerstag eine Abmachung getroffen?«, fragte sie mich verärgert, weil ich so kühl war. »Als ich vorbeigekommen bin, um ein bisschen zu plaudern …«

Mit plaudern meinte sie vögeln, und das hatten wir dann auch den Rest des Abends getan.

Weswegen sie auch nicht zum Bibelkreis gegangen war – weil sie ihre kleinen Titten lieber vor meinem Gesicht geschaukelt hatte.

Die Frauen der Stadt hatten kein Problem damit, mich tagsüber zu hassen und in der Nacht meinen Namen zu stöhnen. Ich war ihre heimliche Flucht aus ihrem verlogenen Leben, eine Provokation für ihre braven Südstaaten-Seelen.

»War das, bevor oder nachdem du mir einen geblasen hast?«, bemerkte ich trocken.

»Während«, flüsterte sie und wurde rot. Sie spielte die Schüchterne, was Teil ihrer Show sein musste, um den Preis zu drücken, denn sie war kaum schüchtern gewesen, als sie mich gebeten hatte, sie zu fesseln und ihr den Hintern zu versohlen.

»Jeder Deal, der gemacht wurde, während deine Lippen sich um meinen Schwanz schlossen, ist ungültig«, erklärte ich. »Leg mir das Geld einfach auf den Schreibtisch. Die Hälfte heute, den Rest nächste Woche, okay? Oder ich klingle mal bei deinem Freund an und schau, ob er die Rechnung vielleicht übernehmen will.«

»Wag es bloß nicht!«, schrie sie. Ich sagte nichts, und sie straffte die Schultern und zog ihr Scheckbuch aus der Tasche. »Du bist ein Monster, Jackson Emery!«

Wenn ich für jedes Mal, wenn ich das hörte, einen Dollar bekäme …

»Danke für Ihren Besuch. Wir hier bei Mike’s Auto Shop wissen Ihr Vertrauen in uns zu schätzen. Einen wunderschönen Tag noch, Schätzchen. Du findest den Weg nach draußen sicher allein, Louise …«

»Ich heiße Justine, du Arschloch!«

Oh. Justine …

Ich gab nicht viel auf Namen. Sie machten alles so persönlich, aber ich hatte es nicht so mit persönlichen Beziehungen.

»Solange der Name auf dem Scheck stimmt, ist alles gut«, antwortete ich.

»Du bist ein schrecklicher, schrecklicher Mensch, und du wirst einsam und allein sterben!«, schrie sie und stürmte aus der Werkstatt.

»Sehr witzig«, brummte ich. »Die meisten Menschen sterben alleine.«

Ich kehrte zu dem Wagen zurück, an dem ich gearbeitet hatte. Tucker lag in seinem Körbchen in der rechten hinteren Ecke der Werkstatt und schlief. Wenn mein schwarzer Labrador eines gut konnte, dann in seinem Körbchen liegen und schlafen.

Mit seinen fünfzehn Jahren war er mittlerweile ein alter Mann, trotzdem war ich ohne Zweifel der Griesgram von uns beiden. Tucker nahm das Leben immer noch so entspannt, wie er es immer getan hatte. Wenn ich in Finsternis versank, war er mein Lichtschein am Ende des Tunnels.

Mein treuer Begleiter.

Irgendwann kam mein Vater herein. Er konnte kaum noch aufrecht stehen. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit ich ihm am Tag zuvor ein paar Lebensmittel vorbeigebracht hatte. Sein Haus war ein einziges Chaos gewesen, aber das hatte mich nicht überrascht. Es sah bei ihm immer so aus.

Mein Vater und ich sahen uns sehr ähnlich, nur dass er spindeldürr war und immer blutunterlaufene Augen hatte. Jetzt kratzte er sich den dunklen, von grauen Haaren durchzogenen Bart und grunzte: »Wo ist mein Autoschlüssel?«

Ich hatte ihm den Schlüssel vor vier Tagen abgenommen –krass, dass es ihm jetzt erst aufgefallen war.

»Du kannst hier in der Stadt überallhin laufen, Dad. Du brauchst kein Auto.«

»Sag mir nicht, was ich brauche und was nicht«, nuschelte er und streckte die Hand aus. Er trug ein schmutziges T-Shirt und eine alte zerrissene Jogginghose, sein übliches Erscheinungsbild, obwohl ich ihm regelmäßig neue Klamotten kaufte.

»Was brauchst du? Ich besorge es dir«, sagte ich, um zu verhindern, dass er sich hinters Lenkrad setzte. Man hatte ihm den Führerschein schon vor langer Zeit weggenommen, aber manchmal versuchte er immer noch, selbst zu fahren.

Seit er beim Founder’s-Day-Umzug an einen der Wagen gepinkelt hatte, suchten die Leute hier nur nach einem Grund, ihn wegsperren zu lassen, und das konnte ich gerade nicht gebrauchen.

»Ich brauch was zu essen.«

»Ich habe dir gestern den Kühlschrank aufgefüllt.«

»Den Scheiß will ich nicht. Ich will Pizza.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Ich wollte mir auch gleich Pizza holen. Ich bring dir eine mit.«

Er nuschelte noch irgendwas vor sich hin und drehte sich dann wieder zur Tür um. »Und Bier.«

Das Bier vergaß ich immer ganz zufällig einzukaufen.

»Wie wär’s, Tuck, Lust auf einen Spaziergang?«, fragte ich meinen Hund. Der hob den Kopf, wedelte mit dem Schwanz, sank wieder zurück in sein Kissen und schlief weiter.

Ein klares Nein.

Durch die Stadt zu laufen war für mich nie besonders entspannt. Im Lauf der Jahre hatte mein Vater es geschafft, so ziemlich alle Einwohner von Chester gegen uns aufzubringen. Er war der Saufbold der Stadt, der letzte Abschaum, das Monster. Ich selbst war vierundzwanzig Jahre alt und trug mehr Hass in meinem Herzen als die meisten anderen Menschen. Mein Vater war mir ein guter Lehrmeister gewesen.

Niemand hatte Interesse daran, mich kennenzulernen, denn schließlich kannten alle meinen Vater. Und auch ich war nie scharf darauf gewesen, mich ihnen und ihrem Urteil zu stellen.

Außerdem war ich selbst ein Monster, und es dauerte nie lange, bis mein Gegenüber es merkte.

Ich kam eben ganz nach meinem Dad.

Auf dem Weg zur Pizzeria hörte ich, wie die Leute um mich herum flüsterten. Sie wichen jedes Mal zurück, wenn sie mich sahen, und nannten mich einen Junkie, weil ich früher mal Drogen genommen hatte. Sie nannten mich einen Säufer, weil mein Vater einer war. Und sie bezeichneten mich als White Trash, weil es die einzige Bezeichnung war, die ihnen einfiel.

Aber es war mir egal, weil ich einen Dreck darum gab, was diese Leute über mich dachten.

Kleinbürgerliche Spießer.

Früher hatte ich mich oft mit Leuten geprügelt, die irgendeinen Mist über meinen Vater und mich erzählt hatten, aber irgendwann war mir klar geworden, dass sie meine Zeit und meine Fäuste nicht wert waren.

Außerdem tat ich ihnen damit nur einen Gefallen. Jedes Mal, wenn meine Faust einen dieser Idioten ins Gesicht traf, nutzten sie es als Beweis für ihre Lügengeschichten. »Seht ihr? Der Kerl ist brutal. Abschaum.«

Und da ich ihnen diese Macht über mich nicht geben wollte, hielt ich mich zurück – was ihnen nur noch mehr Angst zu machen schien.

Wenn sie tuschelten, sagte ich nichts.

Wenn sie nach mir spuckten, ging ich weiter, auch wenn ich innerlich kochte. Manchmal knurrte ich sie an. Dann machten sie sich vor Angst fast in die Hose. Ich bin mir sicher, ein paar von denen hielten mich tatsächlich für einen Werwolf oder so was.

Idioten.

»Genau wie sein Vater – der letzte Dreck«, murmelte jemand.

»Würde mich nicht überraschen, wenn Mad Mike irgendwann tot in seiner eigenen Kotze liegt«, bemerkte ein anderer Kunde leise, aber nicht leise genug, als dass ich ihn nicht gehört hätte.

Ich blieb stehen und atmete tief durch.

Solche Worte trafen mich besonders hart, denn mich hätte es auch nicht überrascht.

Während sie darüber sprachen, wie mein Vater wohl sterben würde, kamen Erinnerungsfetzen aus meiner Vergangenheit ans Licht. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf meinen Atem. Ich spürte das Verlangen. Nur ein wenig, um mein Hirn wieder zu erden. Nichts Heftiges, nur einen winzigen Schuss …

Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen, verprügelte mich förmlich von innen heraus, schrie nach Betäubung, schrie mich an, ihm wieder den Trost zu liefern, der ihm so fehlte.

Ich blickte auf mein Handgelenk, an dem ich eins dieser dämlichen Plastikarmbänder trug. Darauf standen die Worte: Momente der Kraft. Dr. Thompson hatte es mir vor ein paar Jahren gegeben, als ich meine Therapie gemacht hatte. Fast konnte ich sein Gesicht mit den grauen Haaren und seine gütigen Augen vor mir sehen, mit denen er tief in meine sah und mir sagte, dass ich stärker war als meine schlimmsten Momente.

»Die Momente, in denen du dich verloren und schwach fühlst, in denen du Angst hast – die sind es, die dich wirklich vorwärtsbringen. Versteckt unter diesen dunklen Momenten liegt deine Kraft. Nutze diese schwachen Momente und mache sie stark. Mache sie zu Momenten, die etwas bedeuten, Jackson. Lass zu, dass sie zählen.«

Dr. Thompson hatte gesagt, ich sollte das Armband gegen mein Handgelenk schnippen, wann immer ich mich schwach fühlte oder das Bedürfnis hatte, nach Drogen zu greifen.

Mein Handgelenk war schon knallrot.

Trotzdem hörte ich nicht auf, denn es erinnerte mich daran, dass meine nächste Handlung so real war wie der Schmerz. Die nächste Entscheidung, die ich traf, würde die Richtung für alle folgenden Entscheidungen vorgeben.

Ich durfte mich nicht für die Drogen entscheiden.

Ich benutzte sie nicht mehr, um meine Gefühle zu betäuben.

Ich benutzte sie nicht mehr, um mich innerlich leer zu fühlen.

Mittlerweile war ich seit Jahren clean, und ich wollte auch nicht, dass sich daran etwas änderte. Schon gar nicht wegen der Bürger von Chester.

In dem Versuch, diese Ignoranten zu ignorieren, blickte ich aus dem Fenster und erstarrte, als ich sah, wie ein Auto in einem Affenzahn die einzige Ampel in der Stadt überfuhr. Und mit Ampel meine ich eine leuchtend gelb blinkende Ampel. Wie der Wagen unterwegs war, schien er nicht vorzuhaben, irgendwann anzuhalten.

Ich stöhnte. »Das geht nicht gut«, murmelte ich, bevor ich seufzte und hinter dem schlingernden Wagen herrannte. »Das kann nicht gut gehen, verdammt!«

4

GRACE

Das kann nicht gut gehen!

»Nein, nein, nein!«, murmelte ich und versuchte mein ausgebrochenes Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bekommen. Wenige Sekunden, bevor ich den Ortseingang von Chester passiert hatte, hatte Rosie plötzlich angefangen zu mucken, doch ich war davon ausgegangen, dass ich es noch bis zum Haus meiner Schwester schaffen würde, bevor Rosie den Geist aufgab. Ich hatte mich geirrt.

Ich trat die Bremse durch, doch nichts passierte.

»Nein, nein, nein«, flehte ich und spürte, wie der Wagen anfing zu vibrieren. Ich schoss über die gelb blinkende Ampel an der Kreuzung Grate Street und Michigan und schrie auf, als die Leute aus dem Weg sprangen, damit ich sie nicht umfuhr. Bei dem Versuch, den Wagen irgendwie auf der Straße zu halten, rammte ich ein paarmal den Bordstein, aber nichts geschah. Ich holte tief Luft und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, doch offenbar war meine Verbindung zu Gott gerade ein wenig gestört.

Mit panisch schlagendem Herzen raste ich auf die Werkstatt am Rande des Stadtzentrums zu.

Wie krass war das denn? Mit dem Auto in eine Werkstatt zu rasen.

Ich griff nach meinem Handy in der Ladestation und musste feststellen, dass das Auto es nicht wieder aufgeladen hatte. Der Akku war komplett leer. Na großartig.

»Nimm den Fuß von der Bremse! Die reagiert sowieso nicht mehr«, sagte eine tiefe Stimme. Mein Kopf wirbelte zu meinem Seitenfenster herum.

»Ich kann nicht anhalten!«, schrie ich mit zitternder Stimme.

Er lief neben mir her und hielt tatsächlich mit meinem außer Kontrolle geratenen Fahrzeug Schritt. »Ach was, Sherlock. Entriegele deine Tür und rutsch rüber«, befahl er.

»Aber ich kann den Fuß nicht von der Bremse nehmen, ich …«

»Los!« Sein Ton jagte mir Schauer über den Rücken.

Ich gehorchte. Er sprang auf den Fahrersitz, vollführte irgendeinen magischen Trick mit dem Schlüssel und brachte den Wagen zum Stehen.

»Wie hast du das gemacht?«, keuchte ich.

»Ich habe die verdammte Karre auf Parken gestellt und den Motor ausgemacht. Dafür muss man kein Genie sein«, antwortete er mit bestürzender Verachtung in der Stimme, bevor er die Fahrertür öffnete und ausstieg. »Ich schieb dich an den Straßenrand.«

»Aber …« Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. »Brauchst du Hilfe?«

»Wenn ich Hilfe bräuchte, hätte ich es gesagt«, knurrte er genervt.

Na dann.

Als das Auto sich in Bewegung setzte, musste ich mich immer wieder umdrehen, um zuzuschauen, wie er das zwei Tonnen schwere Fahrzeug vor sich herschob. Er wirkte grimmig und finster in seinem schwarzen T-Shirt, der tiefschwarzen Jeans und den schwarzen Chucks. Seine Kappe verbarg den Großteil seiner Haare, aber ein paar Locken lugten unter dem Rand hervor. Er hatte eine tiefe Zornesfalte auf der Stirn, und sein Gesicht war kalt wie Stein und sah aus, als wüsste er nicht mal, wie man lächelte. Seine Oberarmmuskeln strafften sich, als er mich unter enormem Kraftaufwand an den Straßenrand schob. Kaum war ich dort angekommen, sprang ich aus dem Wagen.

Ich wusste, wer er war – die ganze Stadt wusste es –, auch wenn wir nie etwas miteinander zu tun gehabt hatten. Das hier war Jackson Emery, die Teufelsbrut von Chester. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, dann hatte er im Sommer 2013 das Feuer im Park gelegt und war der Grund für so manche Scheidung in dieser Stadt. Es war kein Geheimnis, dass er bereits einen beträchtlichen Teil der weiblichen Bevölkerung von Chester flachgelegt hatte.

Jackson Emery schien Ärger anzuziehen.

»Danke, aber das wäre nicht nötig gewesen«, erklärte ich mit einem Lächeln.

Er sah mich nicht an, sondern knurrte nur: »Das sehe ich anders. Vielleicht solltest du nicht so eine Schrottkarre fahren. Das Ding ist lebensgefährlich.«

Kein Lächeln.

Kein spöttisches Grinsen.

Kein sarkastischer, witziger Unterton.

»Wie bitte?«, fragte ich, ein wenig schockiert.

Sein Gesichtsausdruck blieb so abweisend wie zuvor, und seine Oberlippe zuckte. Er setzte die Kappe ab und hielt sie sich vor die Brust, während er sich mit der anderen Hand durch das Haar fuhr. Mit nicht zu überhörender Feindseligkeit in der Stimme sagte er: »Du hättest jemanden umbringen können, so dämlich, wie du gefahren bist.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass das passieren würde!«, erwiderte ich aufgebracht.

Als sein eiskalter Blick meinen traf, lief mir ein Schauer über den Rücken. Sein Blick war so intensiv, so dunkel, dass seine Augen fast hohl wirkten. Anfangs sah er aus, als würde meine Existenz ihn verwirren, doch dann wirkte er beinahe fasziniert, als erinnerte ich ihn an jemanden aus einem Traum in einem Traum. Jetzt war sicher nicht der richtige Moment, um die Mimik von Jackson Emery zu entziffern, aber ich konnte einfach nicht anders. Noch nie war ich einem Menschen begegnet, der so finster war wie er. Sein verwirrter Blick irritierte mich. Sein faszinierter Blick machte mich nervös.

»Du bist eine von den Harris-Frauen, oder?«, fragte er. Es fühlte sich seltsam an, nach so vielen Jahren als Gracelyn Mae Braun plötzlich Harris genannt zu werden.