Wenn die Dunkelheit endet - Constance Sayers - E-Book

Wenn die Dunkelheit endet E-Book

Constance Sayers

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Beschreibung

Frankreich im Jahr 1895: Hals über Kopf stürzt sich die junge Juliet LaCompte in eine leidenschaftliche Affäre mit dem verheirateten Maler Auguste Marchant. Juliets Mutter – eine Hexe – belegt Marchant mit einem Fluch, doch dabei macht sie einen fatalen Fehler: Versehentlich bindet sie Juliets Seele an die des Malers und verdammt ihre Tochter dazu, diese unglückliche Liebe wieder und wieder zu durchleben, bevor sie im Alter von 34 Jahren stirbt ...

Amerika im Jahr 2012: Kurz vor ihrem 34. Geburtstag ist Helen Lambert alles andere als zufrieden. Zwar ist die Chefredakteurin eines angesagten Lifestyle-Magazins beruflich erfolgreich, doch ihr Liebesleben liegt in Trümmern. Sie ist frisch geschieden und hat gerade ein Blind Date mit einem Typen namens Luke, der – als ob das alles noch nicht schlimm genug wäre – auch noch behauptet, sie zu kennen, obwohl Helen ihn noch nie gesehen hat. Sie ahnt nicht, dass sie und Luke ein Geheimnis verbindet, das weit in die Vergangenheit zurückreicht – bis ins Jahr 1895 ...

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Seitenzahl: 695

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Das Buch

Frankreich im Jahr 1895: Als sich die junge Juliet LaCompte in eine leidenschaftliche Affäre mit dem verheirateten Maler Auguste Marchant stürzt, ist ihre Mutter entsetzt, denn die Verbindung ist nicht nur nicht standesgemäß, sondern durchkreuzt auch ihre Pläne, Juliet mit dem wohlhabenden Bauernsohn Michel Busson zu verheiraten. In einem uralten Ritual belegt Juliets Mutter Marchant mit einem Fluch, doch dabei geht etwas schief: Statt die beiden Liebenden voneinander zu trennen, bindet sie ihre Seelen auf ewig aneinander und verdammt ihre Tochter dazu, diese unglückliche Liebe wieder und wieder zu durchleben.

Amerika im Jahr 2012: Helen Lambert ist alles andere als zufrieden. Zwar ist die Chefredakteurin eines angesagten Lifestyle-Magazins beruflich erfolgreich, doch ihr Liebesleben liegt in Trümmern. Sie ist frisch geschieden und hat gerade ein Blind Date mit einem Typen namens Luke, der – als ob das alles nicht schlimm genug wäre – auch noch behauptet, sie zu kennen, obwohl Helen ihn noch nie gesehen hat. Sie ahnt nicht, dass sie und Luke ein Geheimnis verbindet, das weit in die Vergangenheit zurückreicht – bis ins Jahr 1895 …

Die Autorin

Constance Sayers studierte Englisch an der George Mason University und Kreatives Schreiben an der University of Pittsburgh, das sie mit summa cum laude abschloss. Sie arbeitet erfolgreich in der Medienbranche, gründete das Literaturmagazin »Thoughtful Dog« und wurde bereits zweimal von Folio unter die hundert einflussreichsten Medienleute Amerikas gewählt bevor sie mit Wenn die Dunkelheit endet ihren Debütroman veröffentlichte. Sie lebt in der Nähe von Washington, D. C.

Constance Sayers

Wenn die Dunkelheit endet

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Charlotte Lungstrass-Kapfer

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

A WITCH IN TIME

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2020 by Constance Sayers

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH und Co. KG, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-25864-1V001

www.heyne.de

Für meine Schwester, Lois Sayers.

»Ich bin hoffnungslos verliebt in eine Erinnerung.

In ein Echo aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort.«

Michael Faudet

1

Helen Lambert

Washington D. C., 24. Mai 2012

Kurz nachdem meine Scheidung endgültig war, schickte mein bester Freund mich zu einem Blind Date. Also schlenderte ich durch Le Bar im Sofitel in der 15. Straße und fragte nach »der Varner-Reservierung«. Die Bedienung deutete auf einen Mann, der allein am Fenster saß.

Washington ist im Grunde seines Herzens eine ­vornehme Südstaatenstadt mit entsprechendem Dresscode. In einem Raum voller marineblauer Anzüge, Krawatten und vereinzelter sommerlicher Seersuckerjacketts stach Luke Varner fast schon grauenvoll hervor. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, was ihn wie einen Kunstschaffenden aus Soho wirken ließ, der an der Penn Station die falsche Bahn genommen hatte und sich nun zwischen übermäßig wohlgenährten Männern wiederfand, die träge den Bourbon in ihren Gläsern schwenkten und auf kalten Zigarren herumkauten.

Als er aufblickte, bemerkte ich, dass er weder umwerfend gut aussehend noch besonders sexy war. Die Gesichtszüge dieses Mannes hatten nichts Exotisches an sich, er wirkte beinahe farblos wie eine bequeme Khakihose. Ich fragte mich, was sich mein Freund Mickey wohl dabei gedacht hatte. Dieser Mann war so gar nicht mein Typ.

»Ich bin Helen Lambert.« Ich streckte ihm meine schweißfeuchte Hand entgegen – ein klares Zeichen dafür, dass dies meine erste Verabredung seit beinahe zehn Jahren war. Es würde eine schnelle Angelegenheit werden; nur ein Drink, um nicht unhöflich zu sein. Immerhin war ich gerade erst wieder auf dem Markt, da konnte ein Übungsdate nicht schaden.

»Hallo. Luke Varner.« Er stand auf und musterte mich mit verhaltener Überraschung.

Trotz meiner eigenen Enttäuschung über seine Person nahm mir das etwas den Wind aus den Segeln. Entsprach ich vielleicht auch nicht ganz Mickeys Beschreibung? Luke setzte sich wieder, wirkte aber nachdenklich und schweigsam, als wäre er in Gedanken mit einem schwierigen Rätsel beschäftigt. Nachdem er mich eingeladen hatte, Platz zu nehmen, breitete sich eine unangenehme Stille zwischen uns aus.

»Mickey hat mir von Ihrem Haus erzählt. Es muss ja wunder­schön sein«, begann ich wahllos vor mich hin zu plappern, während ich mir die Serviette auf den Schoß legte, sie wieder wegzog und schließlich auf dem Tisch ablegte. Entsetzt stellte ich fest, dass sie überall auf meinem schwarzen Rock weiße Fädchen hinterlassen hatte. Ich drehte mich zur Bedienung um und schwenkte die bösartige Serviette wie eine weiße Flagge.

Meine vergeblichen Versuche, die Aufmerksamkeit der Frau auf mich zu lenken, sorgten dafür, dass Luke Varners Mundwinkel amüsiert zuckten. Plötzlich kam mir meine Vorstellung so übertrieben vor wie bei einer Varietékünstlerin.

»Na ja, es ist alt«, meinte Luke.

»Hä?« Verwirrt sah ich ihn an.

»Mein Haus.« Nun lachte er wirklich. »Sie hatten doch nach meinem Haus gefragt.« Seine Stimme war ein wenig rau, als hätte er sich im Laufe der Jahre einige Zigaretten gegönnt. »Ich mag Häuser, denen man den Lauf der Zeit ansieht. Heutzutage nennt man das wohl ›Charakter‹.«

»Charakter.« Ich nickte verstehend. »Hat Mickey Ihnen erzählt, dass wir zusammenarbeiten?«

Luke lehnte sich zurück. In seinem Lächeln schwang leiser Spott mit. »Wie ich hörte, sind Sie Herausgeberin einer Zeitschrift.«

»In Frame.« Ich richtete mich auf. »Der Name geht auf einen Begriff aus der Fotografie zurück. Wir beschäftigen uns mit Trends, mit allem, was dabei ist, stärker in den Fokus zur rücken, egal ob Weltpolitik, Kultur, Religion, Mode oder Lifestyle. Unsere Reporter und Autoren sehen sich alle aufkommenden Trends an, und das rund um den Erdball. Und wir sind bekannt für unsere Fotos.«

Langsam klang ich wie eine lebende Werbebroschüre, also riss ich mich zusammen, bevor ich auch noch anfing, ihm auf die Nase zu binden, dass In Frame gerade den National Magazine Award gewonnen hatte und als »eine der bedeutendsten Zeitschriften – nicht nur national, sondern weltweit« bezeichnet worden war.

Endlich schaffte es die Kellnerin, mir eine frische, schwarze Serviette zu bringen, die ich auf meinem Schoß ausbreitete. Da ich ziemlich nervös war, überkreuzte ich die Beine, damit sie nicht zitterten. Warum war ich so angespannt wegen eines Mannes, an dem ich keinerlei Interesse hatte? Vermutlich lag es daran, dass ich überhaupt wieder Dates hatte. Doch da war noch irgendetwas anderes.

»In Frame, genau«, nickte er. »Die habe ich hin und wieder am Kiosk gesehen.«

»Unser Format ist größer als das der meisten anderen Zeitschriften«, plapperte ich weiter. »So springen einen die Fotos regelrecht an.«

Er atmete einmal tief durch und starrte dann auf den Tisch, bevor er sagte: »Du hast dich überhaupt nicht verändert. Ich meine, natürlich hast du dich verändert … vor allem deine Haare. Sie haben jetzt eher die Farbe von Kupfer.« Angestrengt musterte er seine Gabel. »Tut mir leid«, murmelte er.

»Entschuldigung?« Sicher hatte ich ihn missverstanden. »Wir haben uns gerade zum ersten Mal gesehen.« Lachend rückte ich mein eigenes Besteck zurecht.

Luke schlug die Speisekarte auf, überflog sie und ließ sie schwungvoll wieder auf den Tisch fallen. Mit leicht geneigtem Kopf sah er mich an. »Komme ich dir denn kein bisschen bekannt vor?«

Verlegen schüttelte ich den Kopf. »Sind wir uns etwa schon einmal begegnet? Ich habe ein wirklich grauenvolles Gedächtnis.«

»Überhaupt nicht? Wirklich?« Er beugte sich über den Tisch, wohl damit ich mir sein Gesicht genauer ansehen konnte. Seine leuchtend blauen Augen schwebten genau über der Kerze, die in der Tischmitte stand. Mir fiel auf, dass sein Gesicht gebräunt war, allerdings nicht gezielt, eher so als würde er viel im Garten arbeiten. Die blonden – oder grauen? – Bartstoppeln auf seinen Wangen waren mindestens einen Tag alt. Doch, in diesem Augenblick, bei diesem Licht, kam er mir tatsächlich vertraut vor. »Nein«, log ich.

»Ich hasse diesen Moment.« Angespannt rieb er über seine Oberschenkel. »Dreißig Jahre lang fürchte ich mich vor diesem Moment, dann rufst du mich, und wir machen das alles erneut durch.« Zur Veranschaulichung ließ er seinen schlanken Zeigefinger kreisen. »Ich habe dich so lange nicht ge­sehen.«

»Wie bitte …? Ich rufe Sie?«

»Oh ja. Zum ersten Mal hast du mich im Jahr 1895 in Frankreich gerufen.« Er unterbrach sich kurz. »Eigentlich war es damals deine Mutter, aber wir müssen uns nicht in die technischen Einzelheiten vertiefen.«

»Meine Mutter?« Vor meinem inneren Auge erschien Margie Connor, meine Mutter, die in diesem Moment wahrscheinlich ge­rade bei einem Treffen ihres Buchclubs in Bethesda weilte, wo sie Wein aus dem Tetra-Pak trank und sich mit geräuchertem Gouda vollstopfte. Diesen Monat sprachen sie über DieGiftholzbibel.

»Dann wieder in Los Angeles, 1935. Das letzte Mal in Taos, 1970. Ich wünschte wirklich, du würdest mal in Venedig wiederauftauchen, oder an einem anderen etwas interessanteren Ort. Ich meine, dieses Washington ist kaum mehr als ein Sumpf.« Stirnrunzelnd stellte er fest: »Mir ist klar, dass du in dieser Stadt eine gewisse Ähnlichkeit zu Paris siehst, aber …« Er verstummte und lehnte sich so gelassen zurück, als hätte er mir gerade nur erzählt, wie der Tag im Büro verlaufen war.

Ich stieß so geräuschvoll den Atem aus, dass ich unabsichtlich die Aufmerksamkeit des Mannes am Nebentisch auf mich lenkte. »Nur damit ich das richtig verstehe: Ich habe Sie gerufen, und zwar im Jahr 1895?« Sorgfältig legte ich meine Serviette auf den Tisch und schielte unauffällig nach meiner Jacke. Dann stand ich auf. »Es tut mir leid, Mr. Varner. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.«

»Helen.« Plötzlich lag erstaunlich viel Autorität in seiner Stimme. »Ich bin wirklich nicht gut in dieser Sache, aber diese Theatralik ist kindisch. Setz dich wieder hin.«

»Hinsetzen?« Ich beugte mich vor und stemmte beide Hände auf den Tisch. »Sie sind vollkommen irre, Mr. Varner. Ich kenne Sie nicht. Ich bin dreiunddreißig Jahre alt, keine hundert. Ich habe mich weder in Frankreich mit Ihnen getroffen … noch an einem anderen Ort. Und was meine Mutter angeht, die arbeitet für die Gesundheitsbehörde. Sie hat sie ganz sicher nicht … gerufen. Im Jahr 1895. Das kann ich Ihnen versprechen.«

»Helen«, wiederholte er etwas ruhiger. »Setz dich.«

Und seltsamerweise gehorchte ich, ließ mich wie ein artiges Kind wieder auf meinen Stuhl sinken.

Wir saßen uns gegenüber und sahen uns an. Die Kerzen auf den Tischen der Bar leuchteten wie winzige Straßenlaternen, und wieder überkam mich ein Gefühl der Vertrautheit. Dann tauchte ein Begriff in meinem Kopf auf. Gaslaternen? Mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte ich, das Bild loszuwerden, das ich plötzlich vor mir sah: das charakterstarke Gesicht dieses Mannes im Schein einer Gaslaterne. Wie Blitze schossen weitere Eindrücke durch meinen Geist: sein Lächeln, während wir in einer Kutsche über einen breiten Boulevard fuhren, untermalt von energischem Hufgeklapper auf dem Straßenpflaster; sanftes Licht überall, das sein Gesicht mit dieser leicht verwaschenen Farbe überzog, die entsteht, wenn man eine Taschenlampe unter die Bettdecke hält. Seine Kleidung passte nicht, sie sah beinahe aus wie eine viktorianische Kostümierung, und auch die Szenerie war falsch. Mir wurde schwindlig, und ich musste mich an der Tischkante festhalten. Dann wandte ich mich ab und sah aus dem Fenster. Selbst die mit Lichterketten geschmückten Bäume dort draußen, die sich leicht im Wind wiegten, funkelten verschwörerisch und verliehen Luke Varner den Glanz einer anderen Zeit, die Ausstrahlung des tragischen Helden eines Shelley-Gedichts.

Er schob die Speisekarte von sich. »Du hast mich vor einer Weile gerufen und mich gebeten, etwas für dich zu tun, und ich habe es getan.«

Als ich protestieren wollte, hob er abwehrend die Hand. »Wirklich, Helen? Wir wissen doch beide, wovon ich spreche, oder nicht?«

Und da fiel es mir ein.

2

Helen Lambert

Washington D.C., Januar 2012

Ende Januar eröffnete mir mein Ehemann Roger, dass es zwischen uns aus sei. Unsere Anwälte waren in Bereitschaft, doch obwohl wir seit einem Jahr getrennt waren, hatte keiner von uns die Scheidung eingereicht. Wir hatten es mit einer Therapie versucht, mit Zusammenleben, Getrenntleben, aber nichts konnte die Dinge zwischen uns wieder so ins Lot bringen, dass es sich wie eine dauerhafte Sache anfühlte. Was vor allem daran lag, dass ich ständig in dem Gefühl lebte, hinter seiner ersten großen Liebe zurückstehen zu müssen: der Hanover-Sammlung.

Roger war Chefkurator und Direktor der Hanover-Sammlung, eines Museums, das über dreitausend französische und amerikanische Gemälde und eine der größten Sammlungen im Bereich der Schwarz-Weiß-Fotografie beherbergte, die jemals in den Vereinigten Staaten zusammengestellt worden war. Es mag so klingen, als wäre das Hanover nur eine Einrichtung, doch es ist mehr als das. Roger war vollkommen besessen von der Hanover-Sammlung. Kein Ort dieser Welt war gut genug, um sie auszustellen, und der Tag hatte nicht genügend Stunden für ihn, um daran zu arbeiten. Lose Zettel mit Gebäudeskizzen und Entwürfen neuer Seitenflügel tauchten überall auf, teils auch bekritzelte Servietten – sogar auf unserer Toilette. Es war äußerst schwierig, sich Rogers Aufmerksamkeit zu sichern, wenn es um so profane Dinge wie etwa eine kaputte Spülmaschine ging. Drei Jahre lang leitete er eine Spendenkampagne, die schließlich fünfundachtzig Millionen Dollar einbrachte, mit denen das perfekte Heim für seine Sammlung gebaut werden sollte. Ein Erfolg, der größtenteils der Tatsache zu verdanken war, dass er Sara Davidz eingestellt hatte, die offenbar ein absolutes Genie im Auftreiben von Spendengeldern war. Roger war es gelungen, die Besucherzahl auf über 425 000 zu steigern, was nicht schlecht war, wenn man bedenkt, dass es sich beim Hanover um eine private Einrichtung handelte, die mit den vielen kostenlos zugänglichen Smithsonians in ganz Washington konkurrieren musste. Roger Lambert war der König der Museumsstadt. Ein Wunderkind in der Welt der Philanthropen, ein verrücktes Genie, das in der New York Times und der Washington Post erwähnt wurde und einen Artikel in The Chronicle of Philanthropy bekam. Er hielt sogar einen Vortrag auf der TED: Wie kleine Organisationen Gelder auftreiben können, solange sie nur fest an ihre Ziele glauben. Und dann hatte er die alteingesessenen Washingtoner – angeblich die größten Museumsbauer überhaupt – damit schockiert, dass er keinen amerikanischen Architekten anheuerte, sondern eine japanische Firma, die ihm im aufstrebenden Waterfront-Bezirk eine gläserne Blockkonstruktion kreieren sollte. Dass er die Sammlung von ihrem alten Standort in einer georgianischen Villa in der Reservoir Road in Georgetown in dieses trendige Viertel an der Maine Avenue verlegen wollte, hatte die Museumswelt kurzzeitig gegen ihn aufgebracht. Die Washington Post bezeichnete seinen geliebten Entwurf als »eine überteuerte Travestie, die an gestapelte Eiswürfel erinnert«. Da das hochherrschaftliche Haus mit den verschlungenen Korridoren in Georgetown nun leer stand, fingen Jugendliche an, die Fensterscheiben einzuwerfen, und letztlich sah sich die historische Gesellschaft gezwungen, die hässlichen Lücken mit Brettern zu vernageln. Dadurch fiel Roger Lambert noch stärker in Ungnade.

Roger und ich waren in Washington eine Art Institution; ein Paar, das berühmt war für seine Abendgesellschaften in seinem Heim auf dem Capitol Hill. Jeden Monat gaben wir ein Essen für jene Menschen, die in der letzten Ausgabe von InFrame vorgestellt worden waren – um sozusagen die Zeitschrift in die Wirklichkeit zu holen. In unserem Esszimmer fanden bequem sechzehn Menschen Platz, und die Einladungen zu diesen monatlichen Events waren heiß begehrt. Roger und ich gaben uns stets Mühe mit der Gästeliste, wir schufen bunte Mischungen aus Malern und Politikern, Mathematikern und Musikern. Einmal im Jahr veranstalteten wir ein reines Künstler- oder Politiker­dinner, aber den meisten Spaß machte es uns, vielseitige Gästelisten zu schreiben, die für eine gewisse Spannung sorgten. Die Einladung selbst bestand aus einem einfachen Anruf von Roger oder mir, und die Leute kamen tatsächlich aus aller Welt angeflogen, um bei uns am Tisch zu sitzen. Doch diese Vorgehensweise führte auch zu gewissen Problemen. Ein bekannter Fotograf schlug die Einladung aus und erklärte mir – bevor er einfach auflegte –, wir seien ihm »zu bourgeois« (womit er nicht ganz unrecht hatte, aber das gehörte zum Spaß dazu). Bei einer anderen Gelegenheit verließ ein berühmter Schauspieler empört unser Haus, weil wir ihn neben einem Wissenschaftler platziert hatten, der keine Ahnung hatte, wer sein Tischnachbar war. Dummerweise wird unser Haus in der Maryland Avenue nicht besonders oft von Taxis angefahren, und so musste er an einem frostigen Januarabend zehn Minuten draußen stehen, bis ihn ein nigerianischer Taxifahrer mitnahm – der ebenfalls keine Ahnung hatte, wer er war.

Doch das alles fand Ende Januar ein abruptes Ende, als Roger mich zu unserem Lieblingsvietnamesen in der Connecticut Avenue ausführte und mir erklärte, er habe sich in Sara verliebt. Wirklich überraschend kam das nicht. Ich hatte es erst geahnt, dann gewusst, hatte aber weder die Frau noch die Affäre sonderlich ernst genommen. Meiner Meinung nach machte Roger nur eine Phase durch.

Doch nun erläuterte er mir, seine Liebe zu Sara sei hoffnungslos und endgültig, eine Liebe, wie er sie nie gekannt habe, bevor sie durch seine Tür getreten sei. Ich nickte wie ein aufmerksamer Schüler in der ersten Reihe und löffelte meine Suppe, während er mich mit glühendem Blick anstarrte. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich seit Jahren nicht an ihm gesehen. Nein, das nehme ich zurück. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich noch nie an ihm ge­sehen.

Roger und ich hatten uns an der Georgetown University kennengelernt, als er sich im Seminar Amerikanische Geschichte seit 1865 neben mich setzte. Der Kurs war extrem unbeliebt, weil er von einem Professor abgehalten wurde, der dafür bekannt war, fast nie besser zu benoten als mit einer Drei. Roger hatte sich – obwohl er bereits im Hauptstudium war – sehr spät für seine Kurse eingeschrieben und war deshalb gezwungen, dieses Seminar zu belegen. Ich hatte Politikwissenschaften im Hauptfach belegt, und dieser Kurs war für mich Pflicht; am Ende bekam ich eine der extrem seltenen Einsen. Damals band ich meine roten Haare immer zu einem hohen Pferdeschwanz, hatte einen geraden Pony wie Bettie Page und trug neben einer Cateye-Brille auch immer eine Ausgabe von Robert Caros The Path to Power mit mir herum; einem von mehreren Büchern dieses Autors über Lyndon B. Johnson. Anfangs fand ich Roger eher nervtötend, weil er stets unvorbereitet zu den Sitzungen kam, aber er muss wohl gespürt haben, dass man mich mit politischen Manövern um den Finger wickeln konnte. Im Herbst beeinflusste er die Wahl der Homecoming-Queen zu meinen Gunsten, stopfte massenhaft Wahlzettel in die Urnen und brachte wahre Heerscharen von Studenten dazu, für mich zu stimmen. Diese Aktion hatte so viel Lyndon B. an sich, dass ich wirklich geschmeichelt war. Am Ende landete ich so auf einem respektablen zweiten Platz, und Roger wurde mit einem Date belohnt, das zehn Jahre andauern sollte.

Wenn ich nun die Augen schloss, sah ich unser gemeinsames Leben vor mir: mitternächtliche Frühstücksorgien in formeller Abendgarderobe bei Au Pied de Cochon auf der Wisconsin Avenue nach irgendeiner Gala; ein Essen bei 2Amys and Pete’s in Friendship Heights, bei dem wir ausdiskutierten, welches Restaurant die beste Pizza machte; den Kauf unseres großartigen alten Reihenhauses auf dem Capitol Hill, das wir uns kaum leisten konnten; Fahrten nach Charlottesville in Rogers Jeep, auf denen wir die alte Kassette mit House of Loves Babe Rainbow rauf und runter hörten; und schließlich, wie er mir total nervös mitten in den Barboursville Ruins einen Antrag machte, in der Pause von Shakespeares Was ihr wollt.

Aber es hatte auch schlechte Zeiten gegeben. Über mehrere Jahre hinweg hatten wir erfolglos versucht, ein Kind zu bekommen. Das wurde für mich schließlich wohl zu einer Art Besessenheit. Monatlich wurde Clomifen geliefert, das wie ein Hoffnungsschimmer im Kühlschrank wartete, direkt neben den Eiern. (Ja, die Ironie des Ganzen war mir bewusst.) Unsere Ehe hatte fünf wundervolle und zwei weniger tolle Jahre umfasst.

Dann hatten die Hanover-Sammlung und Sara alles verändert. Roger erklärte mir, dass er mit seinem Anwalt gesprochen habe, der die entsprechenden Papiere vorbereite, um die Scheidung zu beschleunigen. Er hoffe, dass wir innerhalb eines Monats vor Gericht erscheinen könnten, um »die Sache abzuschließen«. Ich umarmte ihn zum Abschied, kehrte in meine Wohnung zurück, rollte mich auf dem Bett zusammen und wünschte mir mit der unverstellten Heftigkeit eines Kindes, dass Sara etwas Schreckliches zustoßen möge oder dass sie sterben solle – ich weiß nicht mehr genau, was es war. Denn ich wollte die Sache mit Roger nicht abschließen. Ich wollte ihn wiederhaben. Die Götter sollten für Gerechtigkeit sorgen. Jetzt weiß ich, dass ich mit meinem Wunsch ziemlich schlampig war. Aber hat nicht jeder schon mal einem anderen Menschen den Tod gewünscht? Das meint man doch nicht wirklich ernst!

Es vergingen zwei Wochen, bis Roger sich wieder meldete. Unsere Gespräche waren nur noch geschäftsmäßig, also ging ich davon aus, dass er mich wegen des Gerichtstermins anrief, den er so herbeisehnte.

»Ich muss unseren Termin wegen des Hauses morgen ab­sagen«, erklärte er. »Johanna ist gestorben.«

»Das tut mir leid, Roger.« Ich zögerte kurz. »Kennen wir denn eine Johanna?«

»Saras Mutter Johanna«, blaffte er. »Saras Mutter ist gestorben.«

Da wurde mir klar, dass wir tatsächlich keine Johanna kannten.

Nach einer Trennung merkt man vor allem an den kleinen Dingen, dass man sich immer weiter voneinander entfernt: Wenn einer keinen Kaffee mehr trinkt, sondern Chai-Tee; wenn der Ex ein neues T-Shirt trägt, von dem man weiß, dass man es nie gewaschen hat; wenn plötzlich im Gespräch ein neuer Name auftaucht. Roger hatte nun ein ganzes Adressbuch voll neuer Namen, die mir nichts sagten. Einer davon war Johanna, die nun anscheinend tot war.

Ich fing gerade erst an, mich daran zu gewöhnen, ohne Roger zu sein. Meine bisherigen Erfahrungen mit Scheidungen hatten mir gezeigt, dass Freunde einem, wenn eine dritte Partei beteiligt ist – und Sara war definitiv eine dritte Partei –, aus treuer Ergebenheit jedes noch so kleine Detail verraten. Da sie nicht sicher sind, wie es mit deiner Ehe weitergeht, versuchen sie, ihr Blatt aufzubessern, und versorgen dich nur zu gerne mit Informationen – Namen, Orte, Autotypen, wo sie gesehen wurde, was sie anzieht und wo sie ihre Nägel machen lässt. Und ebenso plötzlich, wie die Informationsflut einsetzt, versiegt sie auch wieder. Eben jene Freunde schauen weg und wechseln das Thema, sobald der Name der anderen Frau fällt, sie verkünden, dass es Zeit für dich ist weiterzuleben, und dass es deinem Trauerprozess nur helfen kann, wenn sie dir die Details ersparen. Doch es bewirkt nur, dass du dir isoliert vorkommst. Während Roger weiter über Johanna schwafelte, wurde mir bewusst, wie schrecklich allein ich mich fühlte.

In der Woche darauf begegnete ich ihm im Büro meines Anwalts, wo er die Autopapiere abgegeben hatte. Sein Aussehen jagte mir einen regelrechten Schreck ein. Sein Gesicht schien mehrmals über eine Käsereibe gezogen worden zu sein, und zwar über eine alte, rostige, und seine Hände waren mit dicken Verbänden umwickelt. Offenbar war in Saras Haus eine Fensterscheibe zerbrochen, während er sie gerade geputzt hatte. Er erzählte die Geschichte im Flüsterton, ohne mir ein einziges Mal ins Gesicht zu sehen. Ich bin mir nicht sicher, ob das an den Schmerzen lag oder daran, dass er einfach genug von mir hatte, aber ich fand es beunruhigend, ohne genau sagen zu können, warum. Am Nachmittag rief ich unseren gemeinsamen Freund Mickey an und erkundigte mich, was er gehört hatte. Bei einem Mittagessen im Off the Record im Hay-Adams-Hotel brachte Mickey mich dann auf den neuesten Stand.

»Also, zuerst«, er beugte sich verschwörerisch vor, »ist Saras Mutter bei einem merkwürdigen Unfall gestorben. Sie ist während der Acquagymnastik im YMCA ertrunken, dabei war das Wasser gerade mal einen Meter tief. Ein Meter? Ich meine, wie kann man da ertrinken? Da kann man doch wohl noch stehen, oder nicht?« Achselzuckend fuhr er fort: »In ihrer Trauer hat Sara angefangen, das gesamte blöde Haus zu putzen, inklusive der Fenster. Seltsam, oder?« Mickey verdrehte die Augen. »Offenbar hat sie bodentiefe Fenster in dem neuen Anbau zu ihrem Fünfzigerjahre-Bungalow.«

Nun verdrehte ich die Augen. »Was auch sonst?«

»Jedenfalls ist eines dieser sagenhaften Fenster über Roger und ihr zusammengebrochen. Sie hätten beide dabei draufgehen können.« Um mir den Ernst der Lage noch drastischer zu verdeutlichen, zog Mickey einen Finger quer über seinen Hals. »Die Fenster heutzutage sind wohl auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

Und dann ließ er mit gesenkter Stimme die eigentliche Bombe platzen: »Sara hat verlangt, dass er geht. Sie glaubt wohl, über ihrer Beziehung läge ein schlechtes Karma.«

Auch wenn ich es nicht gerne zugab, musste ich Sara recht geben. Das Universum war in Bewegung geraten, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich das ausgelöst hatte – erst Johanna, dann das Fenster. Wahrscheinlich war ich schon total übergeschnappt und narzisstisch. Solche Dinge entzogen sich schließlich vollkommen meiner Kontrolle. Oder?

Doch dann traf ich ihn, und er bestätigte mir alles.

3

Helen Lambert

Washington D.C., 24. Mai 2012

Ich wollte etwas sagen, aber Luke hob mahnend den Zeigefinger. Als ich mich umdrehte, stand direkt hinter mir ein Kellner.

»Wir nehmen eine Flasche von dem Château Haut-Brion«, sagte Luke und gab dann in perfektem Französisch seine Bestellung auf. Der Kellner schrieb es auf und verschwand. »Wie ich bereits sagte“, fuhr Luke fort. »Du hast mich gerufen, hast dann aber alles wieder abgeblasen … hast deine Meinung geändert. Was mich inzwischen eigentlich nicht mehr überraschen sollte. Du bist nicht der rachsüchtige Typ, warst du noch nie.«

»Wovon reden Sie da, zum Teufel?«, zischte ich.

Luke zog nur eine Augenbraue hoch. »Ernsthaft, Red?« Er streckte den Arm über den kleinen Bistrotisch und strich mir eine Haarsträhne aus den Augen. »Ich meine mich daran zu erinnern, dass du dir etwas ziemlich Schlimmes gewünscht hast, als du dort eingerollt auf deinem Bett lagst.« Er holte tief Luft, dann fügte er hinzu: »Ich hatte ja gehofft, dass du dir seinen Tod wünschst, aber das hast du nicht. Dabei hätte ich ihn gerne umgebracht. Roger Lambert ist ein noch größeres Arschloch als Billy Rapp, noch ahnungsloser und langweiliger. Warum jedes Mal er, Red? Immer und immer wieder. Aber du kannst daran wohl gar nichts ändern, wie?«

»Wovon in aller Welt reden Sie denn da? Wer ist dieser Billy Rapp?«

Er musterte mich kurz und schien zu einem Entschluss zu gelangen. »Unwichtig.«

»Sie haben Saras Mutter ertränkt.« Mir versagte die Stimme.

»Nein. Streng genommen warst du es.«

Luke hatte offenbar eine Vorspeise bestellt, denn nun wurden Pommes frites mit Parmesan und Trüffel serviert. Er widmete sich den Fritten, als führten wir eine entspannte Unterhaltung über die Band, die wir gerade im Rock & Roll-Hotel gesehen hatten – aber nicht über den Mord an einer Frau. Allerdings sprach er erst weiter, nachdem der Kellner gegangen war.

»Ganz im Ernst, Helen, du solltest etwas vorsichtiger sein, wenn Servicekräfte zugegen sind.« Er nahm sich das nächste Kartoffelstäbchen von dem silbernen Tablett und deutete damit auf mich, bevor er es in die Mayonnaise tunkte. »Du warst ziemlich nachlässig. Du sagtest, du willst … mal sehen … wie hast du es noch gleich formuliert?« Grübelnd starrte er an die Decke. »›Dass Sara etwas Schlimmes passiert.‹«

»Ich sagte, ich will, dass sie stirbt.« Wie ein schmollendes Kleinkind nahm ich mir ein paar Fritten und stopfte sie mir in den Mund. Während ich langsam kaute, hoffte ich, damit meine Abscheu kundgetan zu haben.

»Nein.« Luke schüttelte den Kopf. »Das hast du ganz sicher nicht gesagt.« Nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte, fuhr er fort: »Hättest du das gesagt, wäre sie jetzt tot. Ende der Geschichte. Diese Kleinigkeiten vergisst du immer, wie? Wir sind bei diesen Sachen extrem korrekt.« Jetzt wedelte er doch tatsächlich mit seinen Pommes vor meiner Nase herum.

»Ich habe nie gesagt, dass ihre Mutter sterben soll«, sagte ich. Selbstgefällig lehnte ich mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich wiederhole deine Worte: ›Ich will, dass Sara etwas Schlimmes passiert.‹« Frustriert riss er die Arme hoch. »Das kann so ziemlich alles bedeuten. Du solltest mit so etwas nicht leichtfertig umgehen, Red. Das muss dir doch irgendwie auf zellularer Ebene bewusst sein.« Er streckte mir die Hand entgegen, als wollte er mir etwas überreichen. »Wenn du einfach nur Geflügel bestellst, kannst du ebenso gut Stubenküken bekommen wie gebratenen Truthahn, richtig? Hierbei geht es um Genauigkeit.« Mit der Geste eines Politikers reckte er die Finger, um seine Aussage zu unterstreichen. Und dann wechselte Luke Varner plötzlich das Thema wie ein irrer Schurke in einem schlechten Film: »Diese Bar gefällt mir.« Seine Miene hellte sich auf. »Erinnert mich an unsere gemeinsame Zeit 1938.«

»Sie sind verrückt«, stellte ich mit gedämpfter Stimme fest.

Ohne darauf einzugehen, informierte er mich: »Damals warst du Nora. Nora Wheeler.«

Dieser Name löste etwas in mir aus, wie ein Lied, das man vor langer Zeit einmal gehört hat, an das man sich nicht wirklich erinnert, nach dem man sich insgeheim aber noch immer sehnt. Natürlich sagte ich ihm das nicht, aber der Name Nora Wheeler war mir irgendwie vertraut. Seltsamerweise überkam mich der Drang, ihn zu korrigieren und zu sagen: Nein, Sie meinen Norma. Das alles hier war total verrückt und brachte mich langsam komplett durcheinander. Ich würde ihm noch fünf Minuten geben, dann behaupten, ich müsse auf die Toilette, und mich durch den Hintereingang verdrücken. Und morgen würde Mickey einiges zu hören kriegen, weil er dieses Date aus der Hölle arrangiert hatte.

Luke aß in aller Ruhe weiter, während der Kellner den Wein entkorkte und erst ihm, dann mir von dem Bordeaux einschenkte, bevor er die Flasche in der Tischmitte abstellte. »Darf ich dir nach dem Essen etwas zeigen?« Luke griff zum Glas und trank ohne jegliches Getue – er ließ den Wein nicht kreisen, roch nicht einmal daran, als hätte das Getränk rein gar nichts an sich, was ihn überraschen oder erfreuen könnte.

Wir aßen schweigend, und Luke bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen. Draußen vor dem Sofitel winkten wir ein Taxi heran, aber ich stieg nicht ein. »Ich nehme das nächste«, verkündete ich. Der Portier hatte bereits eines angehalten.

Achselzuckend meinte Luke: »Wir treffen uns auf der Maine Avenue, bei der Hanover-Sammlung.«

»Da kann ich nicht reingehen. Mein Exmann ist …«

»Roger Lambert. Glaubst du, das weiß ich nicht?« Kopfschüttelnd schob er sich auf die Rückbank des ersten Taxis. »Oh Mann, Red, manchmal …« Der Rest des Satzes verlor sich in brummelndem Gemurmel.

Das war meine Chance zur Flucht. Ich stieg ins Taxi und wies den Fahrer an, mich zu meiner Wohnung in der East Capitol Street zu bringen. Doch während der Wagen die New York Avenue hinunterfuhr, vorbei am Museum of Women in the Arts, packte mich plötzlich die Neugier. Wenn ich ganz ehrlich war, hatte Luke sich in meinem Kopf festgesetzt, nervtötend wie das leichte Kribbeln, bevor es richtig anfängt zu jucken. Trotz all der Verrücktheiten, die er von sich gegeben hatte, ging etwas Tröstendes von ihm aus. Seit meiner Scheidung fühlte ich mich, als würde ich ständig den Atem anhalten. Nun ließ ich zum ersten Mal seit einem Jahr die Luft wieder aus mir heraus. Deshalb beugte ich mich vor und gab dem Fahrer ein neues Ziel an. Wenige Minuten später stieg ich am oberen Ende der Maine Avenue aus, wo Luke bereits an einer Mauer lehnte und eine Zigarette rauchte. »Die Chancen, dass du auftauchst, standen fünfzig zu fünfzig«, stellte er fest.

»Sie haben fünfzehn Minuten Zeit, um mich zu beeindrucken.« Entschlossen faltete ich die Hände vor dem Körper. »Die Zeit läuft.«

Ich rechnete damit, dass man uns gar nicht reinlassen würde, denn das Museum hatte bereits geschlossen. Aber Luke ging so selbstverständlich vor mir durch die Tür, als würde er hier arbeiten. Nein, eher, als würde ihm das Gebäude gehören. Als wir durch den Metalldetektor gingen, wurde er vom Personal mit einem überfreundlichen »Willkommen, Mr. Varner« begrüßt. Ich stand regelrecht unter Schock, denn während unserer Ehe waren Roger und ich nie außerhalb der Öffnungszeiten hier gewesen. Ich blieb sogar in der Eingangshalle stehen, da ich nicht wusste, wie wir um diese Uhrzeit in die Ausstellungsräume kommen sollten, aber die Sicherheitsleute der Nachtschicht waren Luke nur zu gerne behilflich.

Das Gebäude der Hanover-Sammlung umfasste einen kompletten Block, war drei Stockwerke hoch und bot den Besuchern einen freien Blick aufs Wasser. Normalerweise verirrte ich mich in den vielen Räumen und landete früher oder später immer in der Abteilung der flämischen Meister. Luke Varner allerdings brauchte keinen Plan, um sich zurechtzufinden, er lief so zielstrebig durch die Gänge wie Pac-Man, ohne sich auch nur einmal nach mir umzudrehen. Er wusste, dass ich ihm folgen würde.

»Ich hasse dieses Gebäude.« Mein Tonfall erinnerte an ein bockiges Kind bei einem Schulausflug. Aber ich hasste diesen Kasten aus Glas und Marmor wirklich abgrundtief.

»Wieso?« Luke betrachtete den glatten Boden, der so frisch gebohnert war, dass seine Sohlen quietschten. Seine Stimme hallte durch die leeren Gänge.

Wieso? Das hatte ich mich bereits tausend Mal gefragt. Vermutlich machte ich die Hanover-Sammlung noch mehr als Sara oder das Unfruchtbarkeitsproblem dafür verantwortlich, dass meine Ehe gescheitert war. Die Erschaffung und Leitung dieses Museums hatte jahrelang wie eine schwärende Wunde zwischen Roger und mir gestanden. Ich war dagegen gewesen, die Sammlung hierher zu verlegen, und hatte Roger gedrängt, sie in ihrem alten Zuhause zu lassen. Roger hingegen hielt die alten Räumlichkeiten für zu klein, um »seine Meisterwerke« angemessen zu präsentieren, und war der Meinung, er müsse »die Nostalgie hinter sich lassen«. Schon bald war er völlig besessen von der Idee, ein großes, unbeflecktes Museum zu bauen, beseelt von dem Kontrast zwischen den alten Gemälden und dem neuen, sterilen Ausstellungsraum. Ja, Roger kam mir vor wie ein Besessener – immer wieder betonte er, er brauche mehr Raum, um sich zu entfalten. Als er begriff, dass ich seine Meinung nicht teilte, hörte er auf, mit mir über den Umzug zu sprechen. Er zeigte mir nicht einmal die Blaupausen. Sara hingegen hielt die Idee, die Sammlung in die Maine Avenue zu verlegen, für brillant. Immer öfter schlich sich ihr Name in unsere Unterhaltungen ein. Ihr gefiel das Grundstück, das sie gefunden hatten, der Grundriss, der Marmor. Sie begleitete Roger zur Grundsteinlegung und zu den Terminen auf der Baustelle. »Dieses Museum hat meine Ehe ruiniert«, rief ich Luke hinterher. »Es war wie eine Geliebte.« Ich blieb stehen und dachte über das nach, was ich gerade zum ersten Mal laut ausgesprochen hatte. »Bis er dann wirklich eine Geliebte hatte.«

»Das hat sich bestimmt noch mieser angefühlt, oder?« Luke ging weiter, durchquerte einen Raum nach dem anderen.

»Arschloch«, murmelte ich verstohlen, beschleunigte aber trotzdem meine Schritte, um nicht abgehängt zu werden.

»Das habe ich nicht gehört«, meinte er nur.

Rogers ganzer Stolz war die kürzlich fertiggestellte Auguste-Marchant-Ausstellung. Es war die weltweit größte Sammlung seiner Gemälde, nicht einmal in Frankreich, dem Herkunftsland des Künstlers, gab es etwas Vergleichbares. In all den Jahren, die ich Roger nun kannte, war er ein leidenschaftlicher Marchant-Sammler gewesen, wobei er schon sehr früh begonnen hatte, als dieser Maler noch in zweitklassigen Museen ausgestellt wurde und für einen Spottpreis zu bekommen war. Er hatte in Marchants sklavischer Hingabe an den weiblichen Akt etwas gesehen, das sich mir nie erschlossen hatte. Zwar war Marchants Arbeit von beinahe fotografischer Präzision, doch seine Darstellung blieb dabei so glatt und geschliffen, dass ihr jede Erotik fehlte. Roger und ich hatten bestimmt tausend Mal vor diesen makellosen, nackten Nymphen gestanden, und trotzdem hatte für mich sogar ein Plastikstuhl von Eames mehr Sexappeal. Nackte Nymphen und Bauersfrauen, die aussahen, als wären sie aus Stein gemeißelt und direkt auf die Leinwand transferiert worden, überwiegend in gedämpften Rot-, Grün- und Blautönen gehalten. Als Impressionisten wie Manet, Matisse und Degas damit begannen, Prostituierte und Säufer zu malen, wurde zum ersten Mal das echte Paris abgebildet, was Marchants Technik noch antiquierter wirken ließ. Ein besonders ungnädiger Rivale hatte Marchants Arbeiten als »so bedeutsam wie Vorhänge« bezeichnet. Die Tatsache, dass Marchant in seinen späteren Jahren tatsächlich eine Menge Geld verdient hatte, indem er sich für seine wohlhabenden Mäzene als Innenausstatter betätigte, ließ ihn bei seinen Standesgenossen natürlich noch mehr wie ein überkommenes Relikt erscheinen. Als einer der wenigen Künstler, die schon zu Lebzeiten reich wurden, kam Marchant in den Geschichtsbüchern nicht sonderlich gut weg – weshalb Roger seine Werke anfangs für wenig Geld erstehen konnte. Ich war immer skeptisch gewesen, ob sie überhaupt von Wert waren. Die übergroßen, wuchtigen Rahmen erinnerten mich an Hotellobbykunst. Unten im Tresor lagerten Marchants Staffeleien, Farben und Pinsel. Die Enkelin des Künstlers hatte die Sachen im Laufe der Jahre nach und nach verkauft, weil sie Geld brauchte. Auch dieses Zeug hatte Roger bei jeder sich bietenden Gelegenheit geduldig gesammelt.

Luke blieb vor einem riesigen Gemälde stehen, das mir nie zuvor aufgefallen war. Ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen mit rötlich braunem Haar blickte von einer leicht erhöhten Stufe auf uns herab. Der Farbton ihrer Haare passte zu dem ihrer Kleidung, die in schmutzigen Grün- und Brauntönen gehalten war, vermutlich verschlissen vom vielen Tragen und von unzureichender Reinigung. Ihre Füße waren nackt, die Arme hingen vor dem Körper herab, aber ihre weiche Haut leuchtete in einem zarten Rosa wie die eines Engels. Das Bild war so realistisch, dass man den Eindruck bekam, das Mädchen könnte jeden Moment aus dem Rahmen heraus und auf den Marmorboden treten. Offenbar war das Modell sehr gelenkig, denn einer der Ellbogen schien beinahe nach außen überstreckt zu sein. Dieses Detail sprang mir sofort ins Auge, da meine Arme ebenfalls so dehnbar waren.

»Also?« Luke hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben. Mir fiel auf, dass die feuchte Luft von Washington seine Haare kräuselte, obwohl er eine großzügige Menge Gel verwendet hatte.

»Es ist hübsch.« Ich zupfte an meinem abblätternden Nagellack herum.

Mit einem lauten Lachen legte er in einer Geste der Verzweiflung die Hand an die Wange. »Echt jetzt? Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Zu diesem Bild?« Er wandte sich ab, ging zu einer Bank, die in der Mitte des Saals stand, und ließ sich wie ein schmollender Teenager darauf fallen.

Wieder sah ich mir das Mädchen auf der Leinwand an. »Wie gesagt, es ist hübsch. Allerdings sollten Sie wissen, dass Auguste Marchant mich nie sonderlich beeindruckt hat. Das war auch so ein wunder Punkt zwischen Roger und mir.« Resigniert zuckte ich mit den Schultern. Meine Sohlen quietschten leise, als ich mich zu Luke umdrehte. Vorhin war ich noch mit meinem Outfit zufrieden gewesen – kurzer schwarzer Rock und Stiefel –, aber nun fühlte ich mich verkleidet. Beinahe glaubte ich, den weichen, abgetragenen Stoff des Kleides auf der Haut zu spüren, das dieses Mädchen trug, und wollte mich darin einhüllen.

»Oh, das ist wundervoll, beinahe poetisch. Marchant beeindruckt dich nicht. Ganze Zeitalter habe ich darauf gewartet, dich das sagen zu hören … ganze Zeitalter.« Er schüttelte den Kopf, dann fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare; nun wirkte er wie ein frustrierter Lehrer, der es mit einem besonders dummen Schüler zu tun hat. »Das bist du.« Luke zeigte auf das Gemälde, als wäre ich total beschränkt. »Siehst du das denn nicht?«

Ich wünschte, ich hätte Luke Varner in diesem Moment eine spektakulär tiefsinnige Antwort gegeben, aber so war es nicht. Stattdessen legte ich verwirrt den Kopf schief, wandte mich wieder dem Bild zu und sagte: »Hä?« Mit in die Hüfte gestemmten Händen marschierte ich zur Wand und las das Schild, das neben dem Gemälde angebracht war: Mädchen auf Treppe (barfuß), 1896. Dann bückte ich mich und tat etwas Merkwürdiges, etwas, das ich nie zuvor getan hatte – etwas, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich es beherrschte. Ich prüfte den Pinselstrich. Aus diesem Winkel konnte ich die Dicke der Farbe erkennen, die Schichtung, die Reduktion, und ich begriff instinktiv, wie dieses Gemälde entstanden war. Als ich mich wieder aufrichtete, war mir vollkommen schleierhaft, was mich dazu getrieben hatte, mir das Bild auf diese Weise anzusehen. Ich ging zur Bank hinüber und setzte mich neben Luke. Dann beugte ich mich zu ihm rüber und flüsterte verschwörerisch: »Da steht, dass es 1896 gemalt wurde.«

Unvermittelt stand er auf und fing an, vor mir auf und ab zu laufen, wobei er einen Finger in die Luft streckte, als hätte er gerade eine Idee gehabt. Ebenso plötzlich blieb er wieder stehen, beugte sich zu mir runter und sah mir in die Augen. Ich konnte den Wein in seinem Atem riechen, und dann war da noch ein Hauch von Aftershave; eine angenehme Überraschung. »Das Schild ist falsch. In Wahrheit ist das Bild schon 1895 entstanden. Wie wäre es mit ein wenig Vorstellungskraft? Komm schon, sieh genau hin! Konzentriere dich. Erinnere dich!«

Ohne mich von der Bank zu erheben, spähte ich an ihm vorbei zu dem Bild hinüber. Das Mädchen starrte zurück. Ihr Haar war zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich feine Strähnen gelöst hatten, die ihr Gesicht umrahmten. Ja, sie erinnerte mich an mich selbst mit dreizehn – vor der Zahnspange, der Korrektur meiner gebrochenen Nase und dem leuchtenden Kupferrot, das meine eher bräunlich rote Naturhaarfarbe aufhübschte. Dieses Mädchen hatte fantastische dicke Haare, die sicher schwer zu bändigen waren. Während ich sie mir so ansah, erwuchs in mir das Gefühl, als hätte ich eine ganze Menge getan, um möglichst nicht wie sie auszusehen. In ihren Augen spiegelte sich Schwermut wider. »Sie sieht unglaublich traurig aus.«

»Du warst unglaublich traurig.« Luke schien sich mit der Tat­sache abgefunden zu haben, dass ich ihm nicht glaubte.

Ich stand auf und strich meinen Rock glatt. Da ich meine Hände beschäftigen musste, zupfte ich ein paar imaginäre Flusen vom Stoff. »Das war ein sehr interessanter Abend, Mr. Varner. Wirklich sehr interessant.« Ich schenkte ihm ein letztes Lächeln, dann verließ ich den Saal und die Hanover-Sammlung. Das Klappern meiner Absätze hallte durch das leere Museum. Luke Varner folgte mir nicht.

Erst zu Hause bemerkte ich, dass mir einiges von dem, was er gesagt hatte, wirklich unter die Haut gegangen war. Natürlich glaubte ich nichts davon; aber ich glaubte es auch nicht nicht. Was er alles über Saras Mutter und Roger gewusst hatte … das war beunruhigend. Vermutlich hätte Mickey ihm davon erzählt haben können, aber das hielt ich für unwahrscheinlich. Dieser Mann schien Zugang zu meinen intimsten Gedanken zu haben.

An diesem Abend schlief ich ohne Probleme ein. Mein Körper fühlte sich merkwürdig schwer an, und meine Träume versetzten mich nach Frankreich: Felder draußen auf dem Land, Sonnenblumen, kleine Steinhäuser, Ziehbrunnen und kalte Kalksteinböden. Solche Gelb- und Grüntöne hatte ich in wachem Zustand mit Sicherheit noch nie gesehen. Der Wald leuchtete wie ein dunkles Juwel, die Büsche schimmerten bläulich-grün, das weiche Sommergras war üppig wie auf den Wiesen Irlands.

Dieses Gras war so realistisch, dass ich glaubte, mit der Hand darüberstreichen und es spüren zu können.

4

Juliet LaCompte

Challans, Frankreich, 1895

Für einen Morgen im Juni war es überraschend warm, als Juliet aus dem Haus trat. Statt angenehmer Kühle strahlten die Steine eine solche Hitze ab, dass sie erschrocken zurück in die Küche sprang. Ihre Mutter blickte kurz hoch und runzelte die Stirn, bevor sie weiter an ihrem Kessel herumschrubbte. »Beeil dich, und keine Trödelei auf dem Heimweg.«

Leichtfüßig ging Juliet wieder hinaus, was beim zweiten Versuch schon weniger schockierend war. Verstohlen sah sie zu ihrer Mutter zurück, dann rannte sie in Windeseile über die aufgeheizten Steinstufen und in das warme, feuchte Gras hinunter. Der Regen von letzter Nacht hing noch zwischen den Halmen, die bei jedem Schritt quietschten, als würde ihr Gewicht sie aufscheuern. Sorgfältig hielt sie ihren Eimer fest, während sie weiterlief. Der Weg zum Brunnen führte an Monsieur Marchants Haus vorbei. An der hohen Steinmauer blieb sie stehen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Obwohl sie dieses Jahr schon größer war, konnte sie noch immer nicht über die Barriere schauen. Nach einem abschätzenden Blick auf den Eimer drehte Juliet ihn um und stellte sich darauf, um besser auf das Grundstück sehen zu können. Die Haustür stand offen, und ein weißer Vorhang bauschte sich in den kleinen Garten hinaus. Die Gerüchte waren also wahr – Marchant war zurück.

»Gute Güte, Mädchen, du wirst noch stürzen und dir den Hals brechen. Wenn du hereinkommen willst, geh durch die Pforte.«

Vor lauter Überraschung verlor Juliet das Gleichgewicht und stürzte von dem Zinneimer.

»Verzeihung, Monsieur.« Ihr Blick fiel auf ihre Füße. Letztes Jahr hatte er sie so wundervoll gezeichnet. Als sie hochsah, starrte er sie an.

»Oh je … du bist seit letztem Sommer ziemlich gewachsen.«

Hastig bückte Juliet sich nach ihrem Eimer. Wie merkwürdig, dass dieser Mann ihr so fremd vorkam, wo er ihr im letzten Jahr doch so vertraut erschienen war, als er sie Dutzende Male gezeichnet hatte. Er trug ein blütenreines weißes Hemd und eine schlichte braune Hose. Das war wohl seine Kleidung für die Sommerfrische auf dem Land, dachte Juliet, nicht das, was er in den Pariser Salons trug. Er musterte sie noch immer. »Ich habe mich nur gefragt, Monsieur …« Sie sah ihn an. Über den Winter hatte er sich einen Bart wachsen lassen, der fast vollständig grau war. Sein Haupthaar, das eigentlich die Farbe des brachliegenden Feldes jenseits der Mauer hatte, hatte sich an den Schläfen ebenfalls grau verfärbt und hing ihm ins Gesicht, als hätte er vergessen, es zu schneiden oder auch nur zu kämmen. »Ich wollte Sie nur zu Ihrer diesjährigen Sommerfrische willkommen heißen.«

»Vielleicht möchtest du morgen Vormittag vorbeikommen, kleine Juliet. Richte deiner Mutter aus, dass ich wieder für deine Dienste bezahlen werde.« Damit wandte er sich ab und ging zur Gartenpforte, wobei er eine Pfeife aus der Hosentasche zog und anfing, sie zu stopfen. Plötzlich wurde Juliet sich ihres schmutzigen, einfachen Baumwollkleides bewusst. Der Saum war mit Matsch verklebt, weil sie die Hühner gescheucht hatte, und ihre knospenden Brüste drückten mit kindlicher Schamlosigkeit gegen den dünnen Stoff. Wie sie wohl auf Marchant wirken mochte? Hastig verschränkte Juliet die Arme vor der Brust. Sie wurde bald sechzehn und war ganz sicher kein Kind mehr.

Juliet sah zu, wie er um die Ecke bog und die Gartenpforte öffnete, bereits an seiner Pfeife saugend und ohne sie noch einmal zur Kenntnis zu nehmen.

Schnell hob sie den Eimer auf und rannte über die sanften, grünen Hügel hinunter zum Brunnen. Mit kräftigen Bewegungen bediente Juliet die Pumpe. Es hatte Jahre gedauert, bis sie stark genug geworden war und sich nicht mehr mit ihrem gesamten Gewicht an den Schwengel hängen musste. Der Anblick des klaren Wassers verriet ihr, dass wohl bereits ein Dienstbote der Bussons hier gewesen war und das abgestandene Wasser abgelassen hatte. Sorgfältig wusch sie den Eimer aus, und nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass kein Schmutz mehr darin klebte, füllte sie ihn bis zum Rand. Morgens das Wasser zu holen gehörte zu Juliets täglichen Aufgaben. Mit ihren neun Jahren war ihre kleine Schwester Delphine noch nicht dazu in der Lage, den vollen Eimer bis zu ihrem Haus zu schleppen. Der Metallhenkel schnitt auch tief in Juliets Hände ein, und so wechselte sie immer wieder die Seite, während sie möglichst schnell den Hügel erklomm. Sie schaffte einhundertzwei Schritte, bevor sie anhalten und die Hand wechseln musste – und sie hatte erst nach vierundfünfzig Schritten angefangen zu zählen. Vor Marchants Gartenpforte blieb sie abermals stehen und verlagerte den Eimer in die andere Hand. Dann spähte sie wieder zum Haus hinüber. Ihn konnte sie nicht sehen, dafür trat aber gerade Madame Marchant auf die Terrasse hinaus. Unter ihrem blauen Baumwollkleid wölbte sich ein schwerer Schwangerschaftsbauch. Juliet packte den Eimer und marschierte über den kleinen Pfad nach Hause.

Dort stellte sie ihre Last vorsichtig auf dem Tisch ab, ziemlich stolz darauf, keinen einzigen Tropfen verschüttet zu haben. Sie strich sich die nun verschwitzten, rotbraunen Locken aus der Stirn, während sie sorgfältig überlegte, was sie sagen wollte. Ihre Mutter schnitt gerade Karotten und Lauch.

»Monsieur Marchant ist wieder da.«

»Habe ich gehört.« Irritiert runzelte ihre Mutter die Stirn und schob sich mit dem Unterarm die dunklen Haare aus dem Gesicht.

Früher war ihre Mutter wohl eine schöne Frau gewesen, aber Juliet wusste, dass drei lebende und ein totes Kind ihren Tribut gefordert hatten. Jetzt hatten schlaflose Nächte dunkle Schatten unter ihre blauen Augen gegraben, und ihre Kleider hingen an einem Körper herab, der kaum kräftiger war als ein Skelett. Es überraschte Juliet, ihre Mutter an so einem Tag im Haus vorzufinden. Normalerweise kümmerte sie sich bei diesem Wetter um ihren großen Garten, in dem überwiegend Kräuter wuchsen – Rosmarin, Muskat, Lavendel und Basilikum, aber auch Exotischeres wie Akazie, Ginseng, Hibiskus, Alant und Beifuß. Selbst wenn ihre Hände rau waren von der vielen Arbeit, strahlte sie eine subtile Eleganz aus, die auf einen anderen Status in anderen Zeiten hindeutete. Obwohl sie nie eine gesehen hatte, war Juliet der Meinung, dass ihre Mutter die graziöse Haltung einer Primaballerina hatte. Ihre Eltern hatten eine Vorgeschichte, über die sie sich heutzutage nur noch mit Blicken und verstohlenem Flüstern austauschten.

Solange die Sonne vom Himmel schien, wanderte Juliets Mutter durch ihren Garten und untersuchte beinahe wie ein Bauer ihre Pflanzen. Doch während ihr Vater seinen Mais auf gröbere Probleme wie Wassermangel oder Hinweise auf Schädlingsbefall prüfte, strich ihre Mutter mit einer Innigkeit über welke Pflanzen, wie sie sonst Ärzte bei ihren Patienten zeigten.

Zwei Wochen lang wurden die Kräuter auf Papier getrocknet, bevor Juliets Mutter sie einlagerte. Manche davon verkaufte sie in Form von Pasten oder Ölen an die Apotheke im Dorf. Doch oft klopften auch bis tief in die Nacht hinein Frauen an die Tür des LaCompte-Hauses.

Während solcher Besuche, die oft mit der Zeit des Vollmonds zusammenfielen, schickte Juliets Mutter ihre Töchter immer nach oben, doch die beiden Mädchen setzten sich still auf die Treppe und beobachteten, wie ihre Mutter die Frauen in die Küche führte und dort diverse getrocknete Kräuter und Öle aus den Regalen holte, während sie leise mit der Besucherin sprach. Es waren immer dieselben Geschichten: Die älteren Frauen waren gebeugt vor Gram wegen eines untreuen Ehemannes, einer bösartigen Nebenbuhlerin, einer verdorbenen Ernte. Bei den Jüngeren gaben die monatlichen Blutungen Anlass zur Sorge – oder auch ihr Ausbleiben, je nachdem. Doch stets umgab diese nächtlichen Besucherinnen eine quälende Dringlichkeit, ihre Körper stanken nach Schweiß und Blut, nach schmutzigen Nägeln und Füßen. Juliets Mutter hatte für jede von ihnen die richtige Tinktur, um alles wieder in Ordnung zu bringen.

Wenn sie ins Dorf gingen, bemerkte Juliet oft, wie die Frauen ihrer Mutter Platz machten, ihr respektvoll zunickten oder ihr Körbe mit Gemüse überreichten, das gerade Saison hatte. Einmal sah Juliet eine der nächtlichen Besucherinnen am nächsten Tag mit einem in Papier eingewickelten Hasen, der wohl eine Art Opfergabe darstellte. Der Hof der LaComptes warf nicht so viel ab, wie er sollte, und Juliet wusste, dass es die nächtliche Magie ihrer Mutter war, die das Essen für die Familie auf den Tisch brachte, vor allem im Winter. Doch sie barg auch Risiken. In gewissen Geschäften in Challans kaufte ihre Mutter nicht ein. Mehr als einmal hörte Juliet, wie ihrer Mutter la sorcière hinterhergerufen wurde, wenn sie vorbeiging. Zwar begriff Juliet nicht ganz, wie Kräuterkunde auf dem Land gefährlich werden konnte, aber sie hatte von anderen sorcières gehört, die wegen Mordes angeklagt wurden, wenn ihr Zauber versagte. Die verurteilten sorcières wurden dann durch die Straßen geschleppt, auf improvisierte Scheiterhaufen gestellt und verbrannt.

Einmal hatte Juliet sogar gehört, wie ihr Vater ihrer Mutter mit drängender Stimme von einer jungen Hexe erzählte, die gezwungen worden war, sich so lange nackt auf glühende Kohlen zu setzen, bis die Dorfbewohner sicher waren, dass sie nie wieder »mit dem Teufel Unzucht treiben« könne.

Da ihre finanzielle Lage also oft problematisch war, wusste Juliet nun genau, wie sie vorgehen musste. »Marchant hat gesagt, er würde wieder dafür bezahlen, wenn ich für ihn posieren darf.«

»Hat er das?« Die Mutter wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.

»Und er hat gesagt, dass ich morgen Vormittag rüberkommen kann.« In der Hoffnung, möglichst hilfreich zu erscheinen, sammelte Juliet die Karotten- und Lauchabschnitte ein, die ihre Mutter entsorgen wollte.

»Ich denke nicht, dass es sich für ein Mädchen deines Alters noch schickt, für ihn zu posieren. Als du noch ein Kind warst, war das etwas anderes, aber jetzt würde sich das nicht mehr gut ausnehmen. Die Bussons könnten falsche Schlüsse daraus ziehen.«

Der Gedanke daran jagte Juliet einen kalten Schauer über den Rücken. Im Winter hatten Juliets Eltern entschieden, sie mit Michel zu verheiraten, dem ältesten Sohn der Bussons. Der Siebzehnjährige war spindeldürr, blass und rothaarig. Juliet konnte sich keine schlechtere Partie für sich vorstellen, aber seinen Eltern gehörte der Grund, den die LaComptes bewirtschafteten. Dass die Bussons eine solche Verbindung überhaupt in Erwägung zogen, war erstaunlich, da die Familie der Braut gesellschaftlich unter ihnen stand. Offenbar hatte Juliet ihre Abneigung zu deutlich gezeigt, denn ihre Mutter packte sie am Kinn und zwang sie, ihr ins Gesicht zu sehen. Ihre Hände waren warm und feucht.

»Es macht einen schlechten Eindruck. Immerhin wirst du nächstes Jahr Michel Bussons Frau.« Mit entschlossener Miene beendete ihre Mutter das Thema: »Hilf mir, die Kartoffeln zu schrubben, die dein Vater gestern Abend mitgebracht hat.«

Juliets Blick wanderte zu den erdigen Knollen, die wie Steine am Fenster aufgestapelt waren. Als sie hinüberging, kam sie an der offenen Tür vorbei, und ein kalter Luftzug strich über ihre Beine. Sie nahm sich einen Lappen, füllte eine Schüssel mit Wasser aus dem Eimer und fing an, den Dreck von den Kartoffeln zu reiben. Dabei musterte sie mit einem Seitenblick das grüne Kleid ihrer Mutter, an dem Erde aus dem Garten hing. Unwillkürlich musste sie an Madame Marchant und ihr tadellos sauberes blaues Kleid denken.

»Warst du schon mal in Paris?« Aus dem Augenwinkel registrierte sie, wie ihre Mutter blass wurde.

»Was für eine seltsame Frage.«

»Wieso?« Juliet war nicht entgangen, wie sich die Miene ihrer Mutter bei der Erwähnung der Hauptstadt verändert hatte. Sie selbst dachte immer öfter darüber nach, wie das Leben in der großen Stadt wohl sein mochte. Einerseits liebte sie das Gefühl von Gras und Erde unter ihren nackten Füßen, und ihr gefiel das ruhige Leben, das sie hier führte. Andererseits hatte sie zunehmend das Gefühl, dass ihr etwas fehlte; dass ihr Schicksal mehr für sie bereithielt als einen schlaksigen Michel Busson und den täglichen Gang zum Brunnen. Ihre Mutter machte stets ein großes Geheimnis aus der Zeit, bevor sie Juliets Vater begegnet war. Die väterliche Linie ihrer Familie kannte Juliet: die Großmutter, den Onkel und die Cousins. Doch über ihre Verwandten mütterlicherseits wusste sie rein gar nichts, weder über die lebenden noch über die verstorbenen. Beinahe war es so, als wäre ihre Mutter einer großen Muschel entstiegen, wie in dem Bild, das Marchant letzten Sommer gemalt hatte.

»Ich habe vor langer Zeit in Paris gelebt.« Ihre Mutter griff nach einer Zwiebel und fing an, sie klein zu schneiden.

»Das hast du mir nie erzählt.« Eigentlich hatte Juliet nicht damit gerechnet, überhaupt eine Antwort zu bekommen, und schon gar nicht diese. »Hat es dir dort gefallen?«

»Nicht besonders. Es ist ein brutaler Ort. Du würdest es dort nicht mögen, glaub mir. Michel Busson wird den Hof seines Vaters erben. Du wirst bei ihm ein gutes Leben haben, ein Leben in Sicherheit. Du wirst dir keine Gedanken über Hunger oder Kälte machen müssen. Paris ist ein raues Pflaster, die Stadt ist voller Betrüger und Scharlatane. Dieser Maler …« Sie schüttelte den Kopf. »Komm nicht auf dumme Gedanken, Juliet. Das kann nicht gut ausgehen.«

»Ich will kein Leben in Sicherheit. Ich will nach Paris gehen.« Halbherzig versuchte Juliet, mit ihrem Lappen die Schüssel zu reinigen, während sie vor allem damit beschäftigt war, sich einen Reim auf das zu machen, was sie gerade erfahren hatte. Da klopfte es an der Tür. Als Juliet sich umdrehte, stand Auguste Marchant auf der Schwelle. Er hatte sich für seinen Besuch eine braune Jacke übergezogen.

»Das liegt daran, dass du nichts anderes kennst als ein Leben in Sicherheit. Du hast keine Vorstellung davon, was Leid bedeutet.« Offenbar wollte ihre Mutter noch mehr sagen, aber nun blickte auch sie auf und entdeckte Marchant an der Tür. Sie schien nicht überrascht zu sein.

»Monsieur Marchant.« Mit schweren Schritten ging sie zu ihm hinüber, wischte sich die Hände an ihrem Rock ab und verschränkte anschließend abwehrend die Arme vor der Brust. »Mein Mann ist draußen auf dem Feld, falls Sie etwas von ihm brauchen. Er müsste zum Sonnenuntergang zurück sein.« Die Nachbarsfrauen, die bleich, zitternd und in weite Mäntel gehüllt mitten in der Nacht vor ihrer Tür auftauchten und die gesamte Familie aufweckten, wurden herzlicher aufgenommen als Monsieur Marchant in diesem Moment.

»Dürfte ich hereinkommen?« Marchant zögerte zwar kurz, wartete aber die Antwort von Juliets Mutter nicht ab, bevor er in die Küche trat. »Ah, die kleine Juliet.«

Juliet sah den finsteren Blick, den ihre Mutter auf seinen Rücken richtete.

»Mir ist bewusst geworden, dass ich mich heute Morgen der jungen Juliet gegenüber recht unziemlich benommen habe.« Er musterte zunächst das Gemüse auf dem Tisch, bevor sein Blick zwischen den beiden schweigenden Frauen hin und her wanderte. »Ich habe sie gebeten, morgen Vormittag zu mir zu kommen, da ich an einer neuen Serie arbeite. Doch natürlich hätte es dem Gebot der Höflichkeit entsprochen, zuerst hierherzukommen und das mit Ihnen zu besprechen, Madame. Höchst unpassend.« Marchant gehörte zu den Menschen, die ihre Worte stets mit Gesten untermalten. Juliet sah Farbflecken an seinen Fingern und Nägeln.

Schnell drehte sie sich zum Fenster, um ihr Lächeln zu verbergen.

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie gekommen sind, Monsieur Marchant, und wir sind aufrichtige Bewunderer des wundervollen Werks, das Sie letzten Sommer mit unserer Juliet erschaffen haben.«

»Das Bild befindet sich noch in Ihrem Besitz, nehme ich an?«

»Ja.« Irgendwie schien Juliets Mutter nicht ganz bei der Sache zu sein.

Marchant beugte sich leicht vor, als rechne er bereits damit, dass man ihm eine Absage erteilen würde.

Doch Juliets Mutter fuhr fort, bevor er den Mund öffnen konnte: »Allerdings wird Juliet nächstes Jahr heiraten, wenn sie siebzehn ist, und ich mache mir Sorgen, wie so etwas auf die Familie des Jungen wirken könnte. Das verstehen Sie doch sicher.«

»Aber gewiss doch, Madame LaCompte. Mir ist klar, wie das wirken könnte auf … die Familie des Jungen.« Er legte die Fingerspitzen ans Kinn und strich sich über den Bart. »Sehen Sie, in meiner neuen Serie lege ich den Schwerpunkt auf die Darstellung von Kindern. Von jüngeren Kindern. Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie doch ein weiteres Kind, das noch nicht besonders alt sein dürfte. Ein Kleinkind.« Diesmal wartete er ihre Antwort ab.

»Das stimmt, einen Sohn. Marcel wird bald drei.«

Juliet spürte, wie das Hochgefühl aus ihr herausströmte. Monsieur Marchant war gar nicht ihretwegen gekommen. Bei diesem ganzen Auftritt ging es nur um Marcel. Es überraschte sie, wie bitter die Enttäuschung war, die sie bei dieser Erkenntnis überfiel.

»Hervorragend.« Marchant schob die Hände in die Taschen. »Für die neue Serie brauche ich eine junge Frau und ein kleines Kind. Natürlich würde ich sie für die Mühen entschädigen, die ich Ihren beiden Kindern damit mache. Sagen wir, das Doppelte dessen, was ich letzten Sommer pro Sitzung bezahlt habe?«

Dieses Angebot schien ihre Mutter sprachlos zu machen.

»Sicher hält es niemand für unziemlich, wenn Ihre Tochter zusammen mit Ihrem kleinen Sohn ihre Zeit für mich opfert.«

»Ich … das muss ich natürlich zunächst mit meinem Mann besprechen.«

Juliet wusste, dass ein Tag ihrer Zeit im letzten Sommer mehr Geld eingebracht hatte, als ihre Familie mit einer Woche Feldarbeit verdiente. Der Lohn für Marcel und sie zusammen wäre zu üppig, als dass ihr Vater das ausschlagen könnte. Zumindest hoffte sie das. Marchant deutete eine Verbeugung an und trat auf den Hof hinaus. Sofort wollte Juliet etwas sagen, doch ihre Mutter hob abwehrend die Hand.

»Schweig. Deine Meinung in dieser Angelegenheit interessiert mich nicht.«

»Aber jetzt wären es hundert Francs pro Sitzung. Das ist mehr, als du an einem Tag auf dem Markt verdienst.«

»Mir ist durchaus bewusst, was Monsieur Marchant uns letztes Jahr bezahlt hat.«

»Wer weiß? Vielleicht hängt mein Bild bald in einem Salon in Paris.«

Diese Vorstellung schien Juliets Mutter einen regelrechten Schrecken einzujagen. »Ich will nicht, dass du für Gemälde posierst. Ich werde nicht zulassen, dass man in dir nichts anderes sieht als eines Künstlers …« Sie verstummte.

»Eines Künstlers was?«

»Eines Künstlers Hure