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Deutsche Gemütlichkeit trifft auf italienisches Dolce Vita… Eine Serie von Anschlägen auf berühmte Gäste hält Venedig und seine Bewohner in Atem. Sind die Taten das Werk eines Wahnsinnigen oder doch eine außergewöhnliche Demonstration gegen den Tourismus in der Lagune? Das schräge Ermittlerteam aus dem chaotischen deutschen Kommissar Max-Heinrich Hempel und der entschlossenen Majorin Barbara Goldoni der Carabinieri steht vor einem Rätsel – es gibt weder Zeugen noch wirkliche Hinweise auf den Täter. Doch eines haben sie ausreichend: Verdächtige. Und so macht sich das ungleiche Ermittlerduo an die Arbeit – dabei rettet die italienische Kollegin den Deutschen aus den sozialen und kulturellen Fettnäpfchen, in welche er zu Genüge tritt… »Ein Venedig-Krimi mit Charme, Witz und ganz viel Sprizz.« rheinischer-spiegel.de Der humorvolle Venedig-Krimi für alle Fans von Donne Leon.
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Seitenzahl: 257
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Eine Serie von Anschlägen auf berühmte Gäste hält Venedig und seine Bewohner in Atem. Sind die Taten das Werk eines Wahnsinnigen oder doch eine außergewöhnliche Demonstration gegen den Tourismus in der Lagune? Das schräge Ermittlerteam aus dem chaotischen deutschen Kommissar Max-Heinrich Hempel und der entschlossenen Majorin Barbara Goldoni der Carabinieri steht vor einem Rätsel – es gibt weder Zeugen noch wirkliche Hinweise auf den Täter. Doch eines haben sie ausreichend: Verdächtige. Und so macht sich das ungleiche Ermittlerduo an die Arbeit – dabei rettet die italienische Kollegin den Deutschen aus den sozialen und kulturellen Fettnäpfchen, in welche er zu Genüge tritt…
Über den Autor:
Stefan Maiwald, geboren 1971 in Braunschweig, gehört zu den vielseitigsten deutschen Autoren. Er ist Journalist, passionierter Golfer, Venedigkenner und viele seiner Bücher wurden Bestseller.
Die Website des Autors: www.postausitalien.comDer Autor bei Facebook: stefan.maiwaldDer Autor auf Instagram: @buch_und_wein
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eBook-Neuausgabe Juni 2025
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Stefan Maiwald
Wenn die Gondeln untergehen
Kriminalroman
dotbooks.
Widmung
Ein Leben voller Ähs
Drei bedauerliche und sehr rätselhafte Vorkommnisse
Die Finger des Colonello
Ein verlockender Anruf von der Alpensüdseite
EC 89, 9.34 Uhr ab München Hbf
Auf ein Glas Wein mit der Majorin
Der Questore, der Colonello und der Senior
Zur Audienz bei der Grauen Eminenz
Auf ein Glas Wein mit den Gondolieri
Herostrat
Ein Influencer wird gepiekst, eine Diva wird geschubst
Eine Patrone per Post
Der König der Kreuzfahrer
La Belgisch-Deutsche Vita
In Stahlgewittern
Der Royal Peril Fund of London bittet zum Afternoon-Tea
Bratwurst und Baccalà
Die Unterwelt des Internets
Armstrong, Mitchells & Co.s hydraulischer Kran
Das Überfallkommando
Das Verhör
Fünf Espressi und ein Chinese
Die Masken, die Hochzeit und die Insel
Die Feuer vom Lido
Ein süßlich duftender Morgen
Jean-Claude hat ein Asien-Problem
Auf Kollisionskurs
Drama in der ersten Reihe
Das Ende einer Ära
Der Zehn-Millionen-Zuschauer-Kuss
Eine langschwänzige Katze
Lesetipps
Für Laura
Mittwoch, 16 Grad, sonnig mit verhaltener Prognose für den Nachmittag, erste Optimisten in den Biergärten
Es gab Blumen. Wie immer hatte jemand sie in Frau Ettlichs Laden unten an der Ecke gekauft, jener Frau Ettlich, neben deren sauertöpfischem Gesicht jeder Strauß wie ein farbenfrohes Feuerwerk wirkte. Frau Ettlichs Hund, ein zwanzig Jahre alter Mischlingsrüde, der stets mitten im Verkaufsraum lag, einer Ratte mit Afrolook ähnelte und auch genauso roch, verlieh jedem Bouquet ein zusätzliches, wenig behagliches Odeur. »Meister-Floristin« stand draußen am Laden angeschrieben. »Kauf verwelkende Pflanzen und nimm einen kleinen Anflug von Depression gratis dazu mit« hätte besser gepasst.
Der leitende Polizeidirektor Dr. Alfred Paul, Typ Stock aus Titanstahl im Hintern, hielt eine kurze Rede und überreichte den leicht hündisch müffelnden Strauß. Max-Heinrich Hempel beugte sich vor, um das Geschenk entgegenzunehmen. Fotos wurden gemacht. Dann wurde es still. Ein paar Anwesende räusperten sich. Man erwartete von Max-Heinrich zweifellos eine Dankesrede. Also räusperte sich auch er.
»Äh«, lautete sein erstes Wort. Und das sollte recht lange sein einziges bleiben, jedenfalls länger, als es jede rhetorische Pause gerechtfertigt hätte.
Denn eigentlich war sein ganzes Leben ein einziges Äh. In der Schule Mittelmaß (seit jeher der freundliche Ausdruck für »immerhin kein Förderunterricht«), auf dem Gymnasium das Abitur mit verheerendem Notenschnitt absolviert, das Jurastudium, zu das ihn Heinrich senior gedrängt hatte, nach zwei Semestern aufgegeben. Die Aufnahmeprüfungen für den gehobenen Polizeidienst dank Heinrich seniors Kontakten bestanden, wenn auch knapp. Dann aber, wer hätte das gedacht, keinen spitzenmäßigen, aber immerhin respektablen Abschluss hingelegt, sehr zur Freude des Notars im Ruhestand, der sich mit viel Liebe, aber auch viel Ehrgeiz um seinen einzigen Sohn kümmerte, denn er konnte nicht einsehen, dass der nur so wenig von Heinrich seniors unbestrittener Brillanz geerbt hatte.
Nach einigen Ähs zum Aufwärmen legte Max-Heinrich los: »Äh, also, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich ganz herzlich bei euch und bei Ihnen bedanken. Denn ohne eure stete Unterstützung wäre es mir nicht möglich gewesen, den Fall aufzuklären. Gut, dass diesen dreisten Kunstfälschern das Handwerk gelegt worden, nein, wurde. Denn wer einen Tinto ..., einen Tinto ..., äh, also, einen Tintoretto fälschen kann, der kann auch viel schlimmere Dinge ... und wer weiß, äh ...«
Die anwesenden Kolleginnen und Kollegen verabredeten sich tuschelnd zum Mittagessen und ließen Max-Heinrich nach und nach allein. Es war ein Elend. Er suchte eine Vase für die Blumen.
Bei der Pressekonferenz am späten Nachmittag verzichtete man dankend auf Max-Heinrichs Anwesenheit. Und so las man bald in den Zeitungen, die scharfsinnigen Ermittlungen des Teams um Hauptkommissar Ottokar Zepter hätten zur Zerschlagung eines international operierenden Kunstfälscherrings geführt, der von Europa aus die Superreichen des Orients und des Fernen Ostens mit Bildern bestückte. Und in der weiteren Berichterstattung fiel dann auch die Sache mit dem Team bald weg.
Es war vielleicht kein Wunder, dass Kriminalkommissar Max-Heinrich Hempel bei der Münchner Polizei, Dienststelle III/Kriminaldelikte, nicht weiterkam und lieber zum Aktenstudium in die Archive geschickt wurde – eine »eminent wichtige Arbeit«, wie ihm nicht nur sein direkter Vorgesetzter Ottokar Zepter, sondern auch Polizeidirektor Dr. Alfred Paul immer wieder versicherte. Max-Heinrichs Erscheinung machte an sich durchaus was her: Er war fast einhundertneunzig Zentimeter groß und eher schlank als kräftig, mit wachen blauen Augen und dickem, zerzaustem graublondem Haar. Nur mit Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis, so hieß es überall, habe er es nicht so, manche sprachen ihm gar den nötigen Grips für die kriminale Arbeit ab; daher ließ man ihn generell ungern auf die Leute los. Auch plauderte er allzu freundlich mit den Reportern der Boulevardblätter, was schon zwei-, dreimal auf der Dienststelle für »Verstimmung« (schweren Ärger mit knallenden Türen) gesorgt hatte.
An den Schreibtischen, möglichst weit weg von heikler sozialer Interaktion, glaubte man ihn besser aufgehoben. Also sollte er sich jene Fälle vornehmen, die ins Stocken geraten waren, insbesondere diese unangenehme Sache mit den gefälschten Bildern, die offenbar von Bayern aus in die Welt geschickt wurden, was, auch wegen der Vergangenheit – Beutekunst und so –, ein paar deutsche Diplomaten in wichtigen ölfördernden Handelspartnerländern ins Schwitzen brachte, als die Fälschungen im Februar dieses Jahres nach und nach aufflogen. Denn diese Superreichen, das waren ja oft Angehörige der Herrscherhäuser, ließen sich ungern um ein paar Millionen Euro beschubsen. Dass ihm nun beim Stöbern in den Archiven ein paar Hinweise aufgefallen waren, die auf ein paar weitere Hinweise deuteten, die wiederum auf ein paar weitere Hinweise deuteten, die zum Zerschlagen des Kunstfälscherrings geführt hatten, der sich auf venezianische Kunst der Spätrenaissance spezialisiert und weltweit für Aufsehen gesorgt hatte, bewertete man intern als »pures Schwein«. Max-Heinrich war gut, wenn man ihn nur ließ. Bloß: Man ließ ihn viel zu selten. Gerade vierzig Jahre alt geworden, sah er insgesamt deutlich besser aus als seine Karriere.
Doch egal, wie der Tag war, am Abend war es meistens ganz schön, denn dann war Max-Heinrich mit Lena zusammen. Lena war sein Ein und Alles. Er hielt es manchmal kaum aus vor Liebe zu ihr und musste sich regelrecht zurückhalten, sie nicht ständig zu umarmen und abzuknutschen, was sich angesichts ihres Alters ja nicht mehr ziemte.
»Wie war es in der Schule?«, fragte Max-Heinrich, wie an jedem Abend. Am liebsten hätte er gefragt, ob man sich nicht gemeinsam unter der Bettdecke zusammenkuscheln, Die drei??? lesen und friedlich einschlafen wollte, Arm in Arm. Doch Max-Heinrich kannte die Antwort auf diese stumme Frage, ohne dass er sie je gestellt hätte: Seine Teenietochter würde sie mit einem Augenrollen abschmettern.
Zurück zur echten Frage: Ja, wie war es in der Schule? Lena hatte eine Fünf in Latein bekommen, aber auch eine Zwei in Englisch, eine Mitschülerin war beim Rauchen erwischt worden und hatte einen Verweis kassiert, vor der Schule hatte jemand angeblich versucht, Marihuana zu verkaufen, und kurz vor der sechsten Stunde waren Außerirdische gelandet, hatten die halbe Lehrerschaft aufgefressen und die andere Hälfte dazu verdonnert, in einem Steinbruch auf einem Planeten in einem fernen Sonnensystem als Sklaven zu arbeiten.
Lenas Standardantwort lautete jedoch, wie schon seit zwei Jahren: »Ganz okay.«
»Schön«, antwortete Max-Heinrich. Man aß weiter, Nachfragen vom Vater liefen ins erwartete Leere, aber keinen von beiden störte das. Es war ein harmonisches, gut eingespieltes Schweigen.
Max-Heinrichs Frau, Lenas Mutter, war vor einigen Jahren mit Wally Obermaier durchgebrannt, einem Szenewirt aus dem Münchner Schlachthofviertel, mit dem Max-Heinrich schon seit Schulzeiten befreundet gewesen war. Dieser Umstand hatte Max-Heinrich diverse weitere Ähs entlockt. Gemeinsam hatten die Turteltäubchen eine Strandbar auf Ibiza eröffnet, die sie im Internet dreist als Yoga-Retreat anpriesen, denn Lenas Mutter hatte, wie es sich derzeit gehörte, ein Wochenendseminar belegt und war nun zertifizierte Yogalehrerin. Den Schein für die staatlich geprüfte Ernährungsberaterin hatte es nach einem hübschen Augenaufschlag obendrauf gegeben. Lena war beim Vater geblieben, was allen Beteiligten – auch Lena selbst – nur recht war.
Nach dem Abendessen schauten Lena und Max-Heinrich gemeinsam Ruckzuck ist die Lippe dick, die neue Kultkrimiserie auf Netflix über einen homosexuellen Boxer aus Berlin, der außerhalb des Rings spektakuläre Kriminalfälle löst. Und Lenas vierzehnjähriger Kopf lehnte sich an Max-Heinrichs Schulter, was ihm jeden Tag das Allerliebste war und alles, was auf der Dienststelle passierte, zu einer ganz anderen Ecke des Universums machte.
Donnerstag, 19 Grad, wolkenlos. Ein guter Tag, um große Dinge zu vollbringen
Was für ein Traumtag! Die tief stehende Frühlingssonne fächerte ihre Strahlen verschwenderisch über die bunten Fassaden von Burano, jener vorgelagerten Insel von Venedig, die für ihre Seidenstickereien berühmt war – und für ihren Bewohner Pierre-Paul Chaud.
Dem Beobachter, der sich hinter einer Säule verbarg und immer wieder auf sein Smartphone in der linken Hand starrte, um beschäftigt zu tun, entgingen all diese Bestandteile des schönen Vormittags. Zum einen hatte er Wichtigeres vor, woran ihn die Angelschnur erinnerte, deren Ende er in der rechten Hand hielt. Zum anderen zwickte ihn sein etwas zu enges Shirt unter dem Hemd, denn seine apokrinen Drüsen neigten zu übermäßigem Schwitzen. Vor allem in Stresssituationen. Nun hob er den Kopf, rümpfte die Nase und blickte an der Säule vorbei. Auf den Ständen des kleinen Marktes duftete es leicht salzig und modrig nach fangfrischem Fisch. Er konnte den Geruch nicht ausstehen.
Gerade schoss nicht fern von ihm eine Möwe übermütig übers Wasser, ein paar Fischer plauderten mit Marktfrauen über die nächtlichen Fänge und die neuesten Einfälle der römischen Senatoren und den anstehenden Spieltag, als er endlich kam, der große französische Designer.
Pierre-Paul Chaud war wie immer mit großem Aufwand unrasiert und trug einen legeren hellgrauen Kapuzenpulli (der in Wirklichkeit maßgefertigt war, fünfhundert Euro pro Stück kostete – er hatte immer mehrere identische Modelle – und ihm regelmäßig aus einer Manufaktur in Prato zugeschickt wurde; das wusste der Beobachter hinter der Säule, der ihn über Wochen genauestens studiert hatte). Er war wie jeden Morgen auf dem Weg zur Anlegestelle, um im Fondaco dei Tedeschi nach dem Rechten zu sehen. Das Fondaco, ein Palazzo direkt an der Rialtobrücke und das ehemalige Handelskontor all jener, die die ganz alten Venezianer abschätzig tedeschi nannten (Deutsche, Polen, Ungarn, Tschechen und ähnlich kulturferne Völker, die ihre Minestrone noch mit der Mistgabel auslöffelten), war in den letzten Jahrzehnten zwischen diversen Investorengruppen wie eine heiße Kartoffel hin und her gereicht worden, bis sich endlich ein chinesischamerikanisches Konsortium mit zu viel Spielgeld aus der Bitcoin-Blase erbarmt und die beiden besten Architekten beauftragt hatte, die für Geld zu haben waren.
Dort hatte Pierre-Paul Chaud gemeinsam mit dem belgischen Co-Superstar Rem Kohlhiesel ein neues Luxus-Einkaufszentrum gebaut, das kurz vor der Eröffnung stand. Chaud und Kohlhiesel: Das ist, als ließe man Cristiano Ronaldo und Lionel Messi in einer Mannschaft spielen.
Aus einem Grund, den sich der Beobachter hinter der Säule nicht erklären konnte, blickte Pierre-Paul Chaud für einen kurzen Augenblick nach oben. Dabei hatte es gar keinen offenkundigen Anlass für sein Misstrauen gegeben.
Der Himmel stürzte auf den Designer ein, und zwar in Gestalt der heiligen Muttergottes, einer zwei Meter großen Marienstatue, die in Burano an vielen Häuserecken die Vorbeikommenden segnete und die sich in diesem Moment in all ihrer marmornen Schwere auf Pierre-Paul Chauds lustig belockten Kopf senkte.
Mit einem Reflex, den ihm der Beobachter nie zugetraut hätte und die wohl aus seiner Zeit als agiler Linksaußen in der E-Jugend des katholischen Fußballvereins Étoile des Trois Lacs herrührte – auch das hatte der Beobachter erfahren –, drehte Chaud Kopf und Schultern weg. Es war so knapp, dass der kühle Marmor ihn am Arm streifte und auf seinen rechten Fuß fiel. Der Beobachter hinter der Säule steckte sein Handy ein, zog die Schnur an sich, die sich wie geplant nach dem Sturz gelöst hatte, und entfernte sich rasch.
Später sollte er erfahren, dass die Ärzte in der Raucherpause mit dem Röntgenbild der Designerfußknochen Puzzle spielten. Doch ein Trümmerbruch im Fuß war natürlich immer noch besser als ein Trümmerbruch im Schädelbereich.
Ein paar Stunden später und etwa fünf Kilometer Luftlinie entfernt schälte sich Chris Cock aus dem Bett. Wie immer hatte er ausgiebig seinen Jetlag ausgeschlafen und würde erst weit nach Mittag sein Frühstück zu sich nehmen. Und wie immer bei seinen Aufenthalten in Venedig hatte er die Suite im vierten Stock des Luxushotels Gabrieli gebucht. Über die finanzielle Situation des Luxushotels, eines der ältesten der Stadt, wurde gerade laut gemurmelt oder noch lauter geschwiegen; es gab Schwierigkeiten und die eine oder andere nebulöse Meldung im Wirtschaftsteil der Presse. Das wussten die Gäste eigentlich nicht, seine Agentin hatte ihm aber vorgeschlagen, schon einmal nach einem anderen Hotel Ausschau zu halten, doch mit solchen Entscheidungen wollte sich Cock erst gar nicht belasten. Heute würde sich Cocks neue Assistentin vorstellen, denn die alte Assistentin war untragbar geworden, nachdem sie beim Sortieren der Gummibärchen nach Farben immer wieder kleine, aber störende Fehlerchen gemacht hatte.
Cocks erster Handgriff führte in das Gefrierfach der Minibar, wo er jeden Abend zwei Silberlöffel platzierte, die er sich nach dem Aufwachen auf die Lider legte, um die Tränensäcke zurückzudrängen. Denn auch ein Chris Cock wurde älter, und Tränensäcke konnten in diesem harten Business schnell das Aus bedeuten. Er war noch nicht bereit dafür, den Vater des Hauptdarstellers zu spielen, sondern wollte immer noch gefälligst selbst der Hauptdarsteller sein. Dazu hatten diese verfluchten Paparazzi das himmelschreiende Talent, ihn stets im ungünstigsten Winkel bei schlimmstmöglichem Licht zu fotografieren – gerade hier in Venedig, wo an strahlenden, sonnigen Tagen mit harten Schatten kein gnädiger Nebel die Gesichtszüge in komplizenhafter Unschärfe verschwimmen ließ. Die Fotos, die er sich einmal wöchentlich zukommen ließ, bereiteten ihm zusehends schlechte Laune.
Nachdem er fünf Minuten mit den Silberlöffeln auf den Lidern rücklings auf dem Bett zugebracht hatte, schluckte er die erste der fünf Pillen, die er brauchte, um als gut gelaunter Hollywoodstar durch den Tag zu kommen. Die Pillen steckten in goldenen Röhrchen, waren von seinen Ärzten und Psychiatern speziell für ihn dosiert und in einer genau vorgeschriebenen Reihenfolge einzunehmen.
Fünf aufgekratzte Zimmermädchen brachten ihm einen Cappuccino mit Sojamilch und einem Glas stillem Wasser in Raumtemperatur. Chris Cock wunderte sich schon lange über nichts mehr. Nicht über die vielen Zimmermädchen, nicht über die verschwundene Schmutzwäsche aus seinen Koffern und nicht über die Blicke, die vielen Blicke, die Millionen Blicke. Sein Leben war eine Truman-Show, aber erstens halfen die Pillen, und zweitens würde er ja bald wieder in Como sein, wo er halbwegs in Ruhe gelassen wurde. Die paar Paparazzi, die sich täglich auf den Booten vor seinem Anwesen sehen ließen, waren zu verkraften. Jedenfalls verglichen zu dem, was ihn bei all seinen Aufenthalten in Venedig erwartete. Natürlich hatte es sich bereits herumgesprochen, dass er seit dem Vorabend in der Stadt war. Wie ein virtueller Kugelblitz war die Nachricht durch die weltweiten Serverfarmen gerast und hatte unter dem Hashtag #chriscockishere für einen zusätzlichen Ansturm der Touristen gesorgt. Vor dem Gabrieli, ein paar Schritte östlich vom Markusplatz gelegen und daher gut fußläufig zu erreichen, dürften sich wie jeden Tag Japanerinnen, Italienerinnen sowie Schulklassen drängen, die zufällig gerade in der Stadt waren und für ihn die Besichtigung des Markusdoms sausen ließen. Gut, dass es einen zwar nicht geheimen, aber für Touristen schwer zu erreichenden Seitenkanal gab, an dem die Privatboote anlegen und Superstars wie ihn dezent fortschaffen konnten.
Während Chris Cock sich bereitmachte, das Hotelzimmer zu verlassen – seine Agentin wartete bereits unten in der Lobby bei einem Lapsang-Souchong-Tee, mit der aufgeregten neuen Assistentin, die sich an einem Caffè nero festhielt –, passierte etwas Ungewöhnliches: Eines der Fenster auf den Bacino di San Marco hinaus zersprang in abertausend millimetergroße Stücke und prasselte auf den schicken, schweren Teppichboden. Außerdem vernahm er ein Surren nah an seinem Ohr. Wie alle Schauspieler war Chris Cock nicht der Allerhellste, aber aus seiner Jugend in Kentucky war ihm dieses Surren von den Jagdausflügen mit seinem Vater vertraut. Auch ließ das kleine Einschlagsloch an der Wand, knapp unter der Decke mit ihren Holzintarsien, keinen Zweifel.
Er verständigte, wen sonst, seine Agentin, während sich draußen auf dem Bacino di San Marco ein Motorboot mit hoher Geschwindigkeit entfernte und ein Mann zunächst ein Fernglas und dann ein Gewehr mit heißem Lauf in einer mit Kieselsteinen gewichteten Ledertasche verstaute, um dann beides ein paar Meilen außerhalb, fast schon auf dem offenen Meer, dezent über Bord zu entsorgen.
Und noch ein weiterer Superstar war in der Stadt. Sebastian Übelkrähe, ehemaliger Bayern-München-Verteidiger, Fußballweltmeister von 2014 (wenn auch ohne Einsatz) und inzwischen Spielertrainer in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Er hatte vor einigen Jahren in Venedig geheiratet, nun suchte er ein Apartment für sich und seine Frau, den spanischen Tennisstar Lisalena Garcia-Vorhantova. Es sollte eine Geldanlage, ein Feriendomizil und vor allem eine Überraschung sein. Daher hatte er ihr nichts gesagt und war inkognito unterwegs. Lisalena spannte derweil auf einer Schönheitsfarm oberhalb des Gardasees aus, denn auch ihre aktive Karriere ging so langsam zu Ende; gegen die neunzehnjährigen osteuropäischen Aufschlagmonster war nicht mehr viel zu holen.
Hinter der Sonnenbrille blieb Sebastian Übelkrähe an diesem Spätnachmittag weitgehend unerkannt, und man ließ ihn in Ruhe, was ihn beinahe ein wenig enttäuschte. Ein, zwei Deutsche erkannten ihn auf dem Weg vom Hotel zur Bootsanlegestelle am Ca’ d’Oro dann doch, er posierte routiniert fürs Selfie, bevor er das Motorboot bestieg, das er schon gestern vorbestellt hatte, nachdem die Maklerin fleißig gewesen war. Sie hatte ihm eine Zweihundert-Quadratmeter-Etage in einem Palazzo mit Blick auf den Canal Grande schmackhaft gemacht; die Bilder, die sie ihm letzte Woche per Mail geschickt hatte, waren betörend.
Das Wassertaxi mit seinen hölzernen Beschlägen stammte von der kleinen Werft Serenella auf Murano. Anderswo waren die Rivaboote Statussymbole, hier jedoch beherrschten die noblen, flotten Serenellas die Wasserwege. Das Boot schoss in einer Geschwindigkeit dahin, die selbst für einen Fußballer mit zwei Porsches 911 Carrera S à 420 PS in der Garage gewöhnungsbedürftig war. Hart knallte der Rumpf gegen die Wellen der anderen Schiffe, sodass Übelkrähes Hintern mehrmals den Kontakt zum gepolsterten Sitz am Heck verlor. Da er ohnehin, wie alle ehemaligen Leistungssportler, »Rücken« hatte, war ihm das entschieden zu flott.
»Scusa«, wandte er sich an den rasenden Kapitän, der Giuseppe Esposito hieß. Es hätte natürlich scusi heißen müssen, fiel es ihm dann doch noch ein, aber der Kapitän machte ihn nicht auf den kleinen Fehler aufmerksam. Erstens, erkannte Übelkrähe, wäre das einem zahlenden Kunden gegenüber unhöflich gewesen und hätte die Aussicht auf ein ordentliches Trinkgeld möglicherweise geschmälert, zweitens aber – und noch viel entscheidender: Der Kapitän schien in genau diesem Moment einen Schwächeanfall erlitten zu haben und sackte über seinem Steuer zusammen. Dabei riss er mit seinem auf die Streben des Steuers krachenden Oberkörper das Boot so hart nach Backbord, dass es, zur Steuerbordseite eine gewaltige Bugwelle aufwerfend, gegen einen Poller krachte. Unvermittelt schleuderte es den Fußballer und den Kapitän hoch in die Luft. Es ging alles so schnell, dass Übelkrähe weder Angst empfinden noch sich wundern konnte. Und dann, in der Luft, verlangsamte sich die Zeit plötzlich, sodass er den Blick aus dieser ungewöhnlichen Perspektive auf den Canal Grande regelrecht genoss. Bis beide Körper und Übelkrähes schicke Sonnenbrille, ein Geschenk Lisalenas, ins Wasser krachten.
Übelkrähe tauchte auf und schwamm mit mehreren kräftigen Kraulzügen vom Wassertaxi weg. Dann sah er zurück und erstarrte. Ein Vaporetto der Nummer 1, das gerade am Ca’ d’Oro abgelegt hatte und auf sie zuhielt, schien zwar mit voller Kraft zu bremsen und seine Vorwärtsfahrt abbrechen zu wollen, doch der Bremsweg war zu lang, und keine Sekunde später kollidierte es mit dem führerlosen Serenella-Motorboot. Und während Sebastian Übelkrähe vor Entsetzen die Augen aufriss, wurde der Kopf des Kapitäns, der zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt an die Oberfläche gestiegen war, zerquetscht wie eine überreife Wassermelone, ein Bild, das durch die rötliche Lache, die sich auf dem Kanal bildete, nur noch unterstrichen wurde. Es gab jede Menge Augenzeugen des tragischen Unfalls, auch wenn die Aussagen später nicht viel hergaben. Schade, dass niemand auf die Idee kam, den schwitzenden Mann im Poloshirt zu befragen, der dem Unglücksboot in sicherer Entfernung in einem schon etwas älteren Boot gefolgt war und nach dem Unglück schnell abdrehte.
Montag, 18 Grad, leichter Nieselregen, welcher die Touristen längst nicht mehr abschreckte
Majorin Barbara Goldoni versuchte, es sich in dem antiken Stuhl, der selbst unter ihrem bescheidenen Gewicht knirschte, bequem zu machen. Denn sie ahnte, dass jetzt einer der größeren Auftritte ihres Chefs kommen würde, und richtig: Schon trommelten die manikürten Finger des Colonello auf den Mahagonischreibtisch.
Hände wie Schreibtisch waren von ungeheurer Größe. Auch der Besitzer von beidem hatte die Statur eines antiken Wandschranks. Alles an ihm war opulent, eigenartigerweise wirkte er dennoch nicht dick, sondern auf eine beruhigende Weise kräftig. Das hatte viel mit seinem exzellent geschnittenen Maßanzug zu tun, Feinmaß wohlgemerkt, bei dem sogar die Knopflöcher von Hand genäht waren und der ihn drei volle Monatsgehälter gekostet hatte, wie auf der Dienststelle getuschelt wurde. Er hielt sich, wie Barbara immer wieder feststellte, sehr beachtlich für seine dreiundfünfzig Jahre, und er wirkte, als wollte er die vier Jahre bis zu seiner Pensionierung mit Würde, Grandezza und möglichst wenig Stress hinter sich bringen.
Pasquale Innocenti war lange in Neapel gewesen und hatte sich dort mit echter Kriminalität herumschlagen müssen. Venedig schien ihm geeigneter für die letzten Meter.
An diesem Morgen, nur ein schlafloses Wochenende nach den außergewöhnlichen Vorkommnissen (so die offizielle Sprachregelung), saßen in seinem Büro mit der italienischen Flagge, dem Bild des Staatspräsidenten, dem schon erwähnten blitzblank schimmernden Mahagonischreibtisch und einer gewaltigen gerahmten Venedigkarte aus dem Jahr 1797, kurz nach der Eroberung der Stadt durch Napoleon angefertigt, zwei für knifflige Ermittlungen zuständige Carabinieri: Capitano Carmine Boldi und Maggiore Barbara Goldoni, die gespannt darauf wartete, wie sich dieser Tag entwickeln würde.
Sie hatte bereits beim Eintreten gesehen, dass ein Teil der Tischplatte des Mahagonischreibtischs von nationalen Presseerzeugnissen verdeckt wurde. Barbara hatte die relevanten Artikel längst gelesen, schließlich waren sie und Carmine seit dem Wochenende zu den Ermittlungen herbeizitiert worden – mit völlig unklaren Zuständigkeiten, wie immer in solchen brisanten Fällen, wo alle Entscheidungsträger lieber auf Zehenspitzen tanzten. Alles war sehr verwirrend, und niemand, mio dio, wollte von einer Serie reden. Vorkommnisse, das Wort war nicht schlecht.
Da Barbara und Carmine nun bei Innocenti saßen, hieß das unausgesprochen, dass sie ganz vorn dabei waren.
Immerhin war es den Carabinieri-Einheiten gelungen, die Sache mit Chris Cock und dem Schuss geheim zu halten, man sprach lediglich von einem plötzlich zerspringenden Fenster, vielleicht durch eine aus der Flugbahn geratene Möwe, was bedeutete, dass kein Journalist Spekulationen anstellte, sondern nur von einer Reihung bedauerlicher Ereignisse – Vorkommnissen – berichtete. Das war vorerst eine große Erleichterung.
Nun stand der Colonello auf und schritt zum Fenster, eine Geste, die er sich, wie Barbara vermutete, von den Krimis im Fernsehen abgeschaut hatte. Wer zum Fenster schreitet, hat danach immer etwas Gewichtiges zu sagen. Aus dem Fenster der Procuratie Nuove (»neu« heißt hier: erbaut 1582) blickte er auf den Markusplatz. Selbst für das an hübschen Bürolagen nicht arme Venedig war der Blick ein Traum.
»Mir gefällt es nicht, wenn Menschen sterben«, wandte er sich endlich an seine Untergebenen. »Und schon gar nicht, wenn Menschen in Venedig sterben. Das macht nur Scherereien.«
Barbara und Carmine nickten.
»Ich habe mich auf Venedig gefreut, auf ein paar Taschendiebe und Hütchenspieler und vielleicht ein paar übermütige amerikanische Touristinnen, die man aus dem Canal Grande fischen muss, weil sie ein unerlaubtes Bad nehmen. Aber Anschläge dieser Art? Drei an einem Tag?«
»Sind es denn Anschläge?«, fragte Carmine. »Oder eher Warnungen?«
»Dann ist aber mindestens eine Warnung gründlich schiefgegangen, meinen Sie nicht?«, rüffelte Innocenti seinen Untergebenen.
»Drei solche Vorkommnisse« – Barbara sprach das Wort aus, als gurgelte sie mit saurer Milch – »scheinen mir etwas zu üppig für einen einzigen Tag.«
»Gibt es eine Spur? Einen Anhaltspunkt, eine Verbindung, irgendetwas? Ich weiß nicht, wie lange wir die Journalisten ruhig halten können, und auch der Bürgermeister ist besorgt.«
Die Anschläge hatten sich am Donnerstag der letzten Woche ereignet, was für die ermittelnden Carabinieri viel Wochenendarbeit bedeutet hatte. Heute sollten Carmine Boldi und Barbara Goldoni die gesammelten Erkenntnisse der Spürarbeit vortragen, doch sie standen buchstäblich mit leeren Händen vor dem Colonello und seinem Mahagonischreibtisch.
Carmine Boldi räusperte sich, und Barbara sah zu ihm. Carmine war bis zum Rang eines Capitano aufgestiegen, trug die prächtige schwarze Carabinieri-Uniform, deren Knöpfe und Epauletten mit dem Mahagonischreibtisch um die Wette funkelten. Einem Capitano war das Tragen der Uniform im Allgemeinen freigestellt, doch Carmine trug sie, wann immer er konnte. Er selbst war von eher kleinem, drahtigem Wuchs, legte Wert auf einen flachen Bauch, hatte kurze graue Haare und trug eine Brille mit 3,5 Dioptrien. Er stammte aus Mestre, hatte jung geheiratet.
Barbara mochte ihn: Er war ein ehrlicher Kerl, der die Vorschriften gut kannte. Wie so oft in ernsten Momenten betrachtete sie Carmines Ohren, denn er konnte gut mit beiden Ohren wackeln; er beherrschte das sogar so gut, dass er das Orchester in Venedigs Opernhaus La Fenice dirigieren könnte, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. Mag sein, dass diese Fähigkeit bei Ermittlungen nur selten zum Tragen kam, aber auf Kindergeburtstagen war er ein gern gesehener Gast. Bei dem Gedanken daran musste Barbara ein Lachen unterdrücken, was zu einem glucksenden Geräusch führte, das die beiden männlichen Anwesenden ganz signorile überhörten.
Sie selbst war einen halben Kopf größer als ihr Kollege, trug ihr schwarzes, gewelltes und bei feuchtem Wetter geradezu gelocktes Haar etwas länger als in diensthabenden Kreisen üblich und verzichtete auf die Uniform, wann immer es ging. Nach drei sehr unglücklichen Beziehungen hatte sie von Männern die Nase voll. Neben ihrem schönen Haar fiel ihr Leberfleck auf der rechten Wange auf, der so perfekt mittig platziert war, dass er aufgeklebt wirkte. Sie war Maggiore, Majorin, und damit nominell einen klitzekleinen Rang höher als Carmine. Allerdings war sie nicht seine Vorgesetzte, da sie in der Tutela Patrimonio Culturale tätig war, der Sondereinheit »Schutz des nationalen Kulturerbes«, die ihren Sitz im Stadtteil Cannaregio hatte. Die meiste Zeit mussten die Mitglieder dieser Sondereinheit Betrunkene von Statuen ziehen, aber manchmal mussten sie auch ermitteln, weil Gemälde und Statuen aus Museen verschwanden. Oder irgendwo Meisterwerke auftauchten, obwohl die Originale noch an Ort und Stelle waren. Die kaputte Statue auf Burano fiel offiziell in ihr Fachgebiet, und Innocenti schien froh, sie mit dieser Entschuldigung im Team zu haben.
»Die Statue, die Monsieur Chauds Fuß zertrümmert hat, haben wir auf Fingerabdrücke untersucht und auch ein paar gefunden. Ein Abgleich mit der Datenbank ergab aber keine Treffer. Hier können wir nicht ausschließen, dass es sich um ein Unglück handelte«, erklärte sie nun. »Die Statue war aus der Halterung gelöst, aber ob dies absichtlich geschah, ist noch unklar.«
Innocenti grunzte.
»Ich war auch beim Dottore in der Klinik. Er ist noch ziemlich mitgenommen, kann es sich nicht erklären. Es gab ein paar harsche Presseartikel wegen des Kaufhauses, aber keine persönlichen Drohungen.«
»Und sein Fuß?«
»Der Chirurg hat mir gesagt, es wird alles verheilen, aber mit Ballett braucht er nicht mehr anzufangen.«
»Wir warten noch auf die ballistische Untersuchung der Patrone, die wir in Chris Cocks Hotelzimmer gefunden haben. Eine Befragung aller Fährschiffer, die um die fragliche Zeit vor dem Hotel Gabrieli kreuzten, hat keine Spur ergeben«, referierte nun Carmine, ohne den Blick zu heben. »Im Körper des toten Kapitäns wurden Spuren von Opiaten gefunden – die Gerichtsmediziner warten noch auf die genauen Laborbefunde. Allerdings war der Zustand der Leiche derart beklagenswert, dass der Rechtsmediziner unmöglich sagen konnte, ob die Opiate die Ohnmacht ausgelöst hatten, die zum Unglück führten. Oder ob es sich um einen Schlaganfall handelte und die Opiate damit gar nichts zu tun hatte. Wie Sie wissen, der Kopf, der ist, also sozusagen, nicht mal mehr in Spuren ...«
»Das ist nicht gerade viel«, erkannte der Colonello völlig zutreffend, als Carmine nicht mehr weitersprach. »Haben Sie die Angehörigen des Kapitäns befragt?«
»Er lebte allein, hatte wenig Freunde und offenbar keine Laster, seine Verwandtschaft stammt aus Bari, Stammgast im Santo Bevitore. Mehr gaben die Befragungen bislang nicht her«, sagte Carmine.
»Bleiben Sie dran«, befahl Innocenti.
»Aber eine Spur haben wir vielleicht doch«, meldete sich die Majorin zu Wort. »Eine Spur, die auf eine Serie hindeutet.«
»Vorkommnisse, bitte. Keine Serie. Worum handelt es sich?«
»Um die Graue Eminenz.«
Die vier Wörter hingen eine Zeitlang im Raum wie der Gestank einer verrottenden Zwiebel.
»Die Graue Eminenz«, seufzte der Colonello schließlich. »Was ist mit dem Kerl?«
Die Graue Eminenz hieß Vittorio Carducci und war Venedigs führender Kunstkritiker, ein Mann von landesweit bestem Ruf mit einer eigenen Fernsehsendung und einer eigenen Zeitschrift. Seine Haarpracht, silbern und mit halblangem Pony, als wären die Siebzigerjahre nie vergangen, war trotz seiner achtundsechzig Jahre spektakulär. Außerdem war er sehr, sehr reich, bestens vernetzt und mochte die Carabinieri so gern wie einen Kaugummi unter der Schuhsohle, denn er hatte es nicht so mit Autorität, die nicht von ihm selbst kam.
»Gerade am Mittwoch, einen Tag vor den Anschlägen, ist die neue Ausgabe von