Wenn ich groß bin, bin ich erleuchtet - Leela Goldmund - E-Book

Wenn ich groß bin, bin ich erleuchtet E-Book

Leela Goldmund

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Beschreibung

Das Schweizer Mädchen Leela ist sieben Jahre alt, als seine Eltern Ende der 1970er Jahre der Sekte des „Sex-Guru“ Bhagwan Shree Rajneesh beitreten, heute bekannt unter dem Namen Osho. Doch was mit freier Liebe, Meditation und bahnbrechenden Denkansätzen beginnt, wird mehr und mehr zu einem totalitären System. Mit Phantasie, Mut und Neugier umschifft Leela die Schwierigkeiten ihres zunehmend dogmatischen Kommunenlebens. So sehr sie ein normales Zuhause vermisst: Ihre größte Angst ist es, die Kommune verlassen und zurück in die grausam unterentwickelte „Draußen-Welt“ zu müssen. Deshalb will Leela unbedingt eine vorbildliche Sannyasin werden. Denn Erleuchtung, was auch immer das sein mag, ist nun mal das Wichtigste auf der Welt! Anmerkungen der Autorin: Osho gilt heute vor allem im Westen als spiritueller Wegbereiter. Doch hinter dem beliebten Weisheits-Kalenderspruchlieferanten verbirgt sich das von der Osho-Community wohl behütete Geheimnis des suchtkranken und ausbeuterischen „Sex-Guru“ Bhagwan. Sein geschäftstüchtiges Kommunen-Imperium der 80er-Jahre hinterließ der Welt neben Instant-Erleuchtungs-Methoden und Millionenschäden hunderte vernachlässigte und häufig missbrauchte Kinder. Von einer solchen Kindheit erzählt „Wenn ich groß bin, bin ich erleuchtet - Oshos vergessene Kinder“. „Think twice before posting that Osho quote!“ Dr. Janja Lalich, international authority on cults & coercion (International führende Sekten-Expertin)

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Sparkys Edition

 

 

Das Buch

 

Das Schweizer Mädchen Leela ist sieben Jahre alt, als seine Eltern Ende der 1970er Jahre der Bhagwan-Sekte beitreten. Für die kleine Leela beginnt eine wilde Achter-bahnfahrt in einem abgeschotteten Paralleluniversum, an deren Ende im Idealfall die Erleuchtung winkt.

 

Wenn ich groß bin, bin ich erleuchtet – Oshos vergessene Kindererzählt aus kindlicher Perspektive, wie die Bewegung um den indischen „Sex-Guru“ Bhagwan Shree Rajneesh zuerst mit freier Liebe, bewusstseinserweiternder Meditation und bahnbrechenden Denkansätzen das Leben des „New Man“, des vollständig erwachten Menschen, feiert – und sich dann mehr und mehr in ein totalitäres System verwandelt.

 

Mit Phantasie, Mut und Neugier umschifft Leela die Schwierigkeiten ihres wilden, bunten und zunehmend dogmatischen Kommunenlebens in Zürich und Rajneeshpuram, der legendären Sannyas-Stadt in der Wüste Oregons. Ihre größte Angst: Es darf auf keinen Fall herauskommen, wie sehr sie ein normales Leben mit Mama, Papa, Haus und Katz vermisst. Sonst nämlich muss nicht nur sie, sondern auch ihre linientreue Mutter den Kreis der Auserwählten verlassen und in die grausam unterentwickelte „Draußen-Welt“ zurück.

 

Und das wäre der Untergang. Deshalb will Leela unter allen Umständen eine echte Sannyasin werden. Denn Erleuchtung, was auch immer das sein mag, ist nun mal dasWichtigsteauf der Welt!

 

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck, auch auszugsweise, nicht gestattet.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und der Autorin unzulässig. Dies gilt auch für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

E-Mail: [email protected]

1. Auflage Dezember 2020

2. Auflage April 2021

Insektenglück, Copyright © 2020 by Leela Goldmund

 

Umschlaggestaltung: Designwerk-Kussmaul, Weilheim/Teck,  

Herstellung und Verlag: Sparkys Edition,

Zu den Schafhofäckern 134, 73230 Kirchheim/Teck

Druck: Stückle Druck Ettenheim

© 2024 Sparkys Edition

ISBN: Softcover: 978-3-949768-23-1

 

 

 

Für Wulf (? 2010)

 

 

 

 

„Kinder müssen mit Erwachsenen sehr viel Nachsicht haben.“

Antoine de Saint-Exupéry

 

 

 

 

 

 

A New Man is emerging. The image of the New Man is not yet clear, but the horizon is becoming red and the sun will soon be there. The morning mist is there and the image of the New Man is vague, but still a few things are very crystal clear about the New Man.

 

He will be meditative. The New Man will become discontinuous with this insane past. He will believe in love, not in war. He will believe in life, not in death. He will be creative, not destructive. His science, his art – all will serve creativity. He will not create bombs. He will not be political, because politics is out of hatred.

Bhagwan Shree Rajneesh/Osho

 

 

Vorwort

 

Was ich hier wiedergebe, entspringt meiner eigenen Erinnerung, persönlichen Erzählungen von Zeitzeugen sowie einzelnen Medien- und anderen Zeitdokumenten. Ich habe mich entschlossen, bei meinem Bericht die subjektive, in weiten Teilen kindliche Sicht der Dinge beizubehalten. Dadurch ergibt sich eine sicher perspektivisch eingeschränkte, dafür aber authentische Geschichte.

Wahr und wirklich geschehen an der vorliegenden Erzählung sind alle genannten Fakten, zeitlichen Abläufe und Anekdoten. Hingegen versteht es sich von selbst, dass ich mich an die wiedergegeben Dialoge nicht wortwörtlich erinnere. Doch fasse ich heute meine kindlichen Eindrücke von damals, so gut es geht, in Worte. Um die Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten zu schützen, habe ich alle Namen bis auf die der beiden Personen des öffentlichen Zeitgeschehens, Bhagwan/Osho und Sheela, geändert.

Da sich Bhagwan erst im Jahr 1989 in Osho umbenannte, läuft er in diesem Buch unter dem Namen Bhagwan – den aber heute kaum noch jemand kennt. Ich möchte daher mit dem Titel „Wenn ich groß bin, bin ich erleuchtet – Oshos vergessene Kinder“ explizit eine Brücke schlagen zwischen dem heute geachteten und vielzitierten Mystiker und dem ehemals in der westlichen Welt eher verrufenen Sex-Guru, Rolls-Royce-Sammler, Kriminellen und Lachgassüchtigen Bhagwan. Ja, das ist ein und dieselbe Person (...und genau genommen hieß er weder Bhagwan noch Osho, sondern Chandra Mohan Jain.)

Tatsächlich hat Bhagwan schon damals stark polarisiert: Für die einen war er der Jahrhunderterleuchtete, für andere eben der Sex-Guru, für wieder andere ein teuflischer Sektierer. Und manchen war er auch einfach nur schnurzegal. Ich sehe mich nicht als Anwalt, nicht als Richter und auch nicht als Opfer der Bhagwan-Bewegung. Ich war einfach nur eins ihrer zufälligen Kinder.

Formale Hinweise:

Für einen ungestörten Lesefluss wurden nur die schwierigeren schweizerdeutschen Passagen in Fußnoten übersetzt.

 

Typische Sannyas-Begriffe stehen bei der ersten Nennung in einfachen Anführungszeichen, typische Sannyas-Redewendungen sind kursiv gehalten. Allgemeine englische Passagen sind nicht hervorgehoben. Englische Substantive im deutschen Text wurden zugunsten der besseren Lesbarkeit großgeschrieben.

 

Prolog

2008, München

 

Kurz vor meinem 35. Geburtstag brach ich von einem Tag auf den anderen einfach zusammen. Bis dahin hatte ich geglaubt, genau dies mache es aus, das Leben: Hinfallen. Aufstehen. Mund abwischen. Weiterlaufen. Tag um Tag. Mal um Mal. Jahr um Jahr. So rannte ich immer weiter. Und ich kam ziemlich weit. Und ich war auch ziemlich schnell. Ich hätte nie geglaubt, dass ich eines Tages so erschöpft sein würde, dass außer Zurückblicken nichts mehr möglich war.

Dabei fing alles so harmlos an. Als ich der Crux am Leben zum ersten Mal begegnete, war ich sieben Jahre alt. Alles begann damit, dass meine Katze eines Tages ohne Schwanz nach Hause kam. Wir lebten am Rande eines kleinen Schweizer Dorfes, in der Nähe von Thun im Kanton Bern. Unser Zuhause lag in einem neu entstandenen Wohnquartier. Mein Vater, Zimmermann und Holzingenieur, hatte das Haus im Rohbau übernommen und selbst ausgebaut. Damals steckte eine kleine Tanne auf dem Dachgiebel, und meine Eltern und ein paar Freunde tranken Sekt auf der Baustelle. Später entstand ein riesiger Garten, der, wie mir schien, um das ganze Haus herumreichte, ja, das Haus lag in einem einzigen Garten voller Blumen, Gemüse und Erdbeeren, sodass ich manchmal ganz vergaß, wo vorne und wo hinten war. Für mich als Kind war es nicht das kleinbürgerliche, popelige Einfamilienhaus, als das ich es heute wohl sehen würde, sondern unser Haus. Mein Haus. Das Haus, das mein Vater für uns gebaut hatte: meine Mutter, mich und meine kleine Schwester.

Wenn man morgens die Tür öffnete, blickte man direkt auf die blühenden Oleanderbüsche. Mir kommt es heute so vor, als ob meistens leichter Bodennebel herrschte. Die Luft war sehr frisch, direkt von den Bergen. Meine rabenschwarze Katze Mischa wartete immer schon draußen, und miaute, wenn sie meine Schritte hörte. Dann lief ich hin, schloss die Tür auf, und die Katze, mir dankend zunickend, rannte schnurstracks in die Küche, um dort ihre frische Morgenmilch vorzufinden. So war es auch an diesem Morgen: wie ein Pfeil schoss sie an mir vorbei. Doch sie würdigte mich keines Blickes. Und von hinten sah ich, meinen Augen kaum trauend, ihren Schwanz, oder vielmehr das, was noch davon übrig war: ein Stummel, daraus ein paar Knochensplitter und blutige Fetzen, statt dem samtigen, tiefschwarzen, wendigen Schwanz nur noch eine Wunde. Ich schlug die Hände vor die Augen, riss den Mund auf und schrie, so laut ich konnte, wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Ein Telefon klingelt, weit weg. Ich bin so müde. So viele Orte. So viele Menschen. So viele Leben. Ist all das wirklich passiert? Bin all das wirklich ich? Bin ich die Summe von all dem? Es sind nun schon viele Tage vergangen. Gedankenfetzen blitzen vorüber. Gedanken sollten wie Wolken sein, die über den Himmel ziehen, like clouds in the sky, doch das sind sie nicht, sie peitschen haltlos aus dem Nichts heran und verschwinden wieder, sodass ich sie vergesse, noch ehe ich sie zu Ende denken kann. Ich bekomme keine Luft mehr. Dann schlafe ich wieder, manchmal zwanzig Stunden am Stück.

Wieder versinke ich in einem Zeitloch. Ich sehe einen Garten, das Licht ist diesig, als blende die Sonne, das Bild ist grün und voller sich im lauen Wind wiegender Blumen. Ein kleines Mädchen sitzt versunken vor den schmalen Beeten entlang der Steinplatten zum Haus, sie gräbt in der sonnenwarmen Erde, es gibt kleine Käfer, und Bienen erzählen von ihren Reisen. Sie kann sich an nichts erinnern, aber sie hört es summen, weiter weg ruft jemand nach ihr, es ist ihre Mutter, aber das Mädchen weiß, diese erwartet nicht wirklich, dass sie kommt, sie wird sie in Ruhe hier sitzen lassen und spielen. Und so vergisst sie das Rufen im selben Augenblick. Die Haut des kleinen Mädchens ist sehr hell, sie hat weißblonde feine Haare, trägt eine Latzhose mit einem gelben Blumenflicken auf der Brust und hat ein Pflaster am Kinn. Jetzt ist sie wieder alleine mit den Blumen und den Bienen, hat schon wieder vergessen, wer sie ist, aber in einem fernen Winkel ihres Herzens weiß sie, dass sie ein Glückskind ist. Ja, und das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Sie wird ein glückliches Leben haben. Sie weiß es. Ganz genau.

 

 

 

Eine ganz normale Familie

1979, Berner Oberland

 

„Brigittli, was wotsch üüs verzelle?“

Mann, war ich froh, als meine Lehrerin endlich den Startschuss gab. Damals hieß ich noch Brigitte, oder eben, in unserer Schweizer Dorfschule, Brigittli. Mit wirrem Haar und Herzen stand ich an jenem Morgen Ende der 1970er Jahre vor meiner Zweiten Klasse, die mich aus großen Augen ansah, und erzählte von meiner Katze Mischa, die heute früh mit nur noch halbem Schwanz von ihrem nächtlichen Streifzug heimgekehrt war. Immer wieder wurde ich unterbrochen und ergänzt von meiner lieben Lehrerin Frau Schneider, die der Geschichte Hand und Fuß gab. „Drum isch’s Brigittli hüt sehr uf’gregt, gäll, Brigittli“, schloss sie am Ende.

Es bereitete mir einen gewissen Trost, mich derart verstanden zu wissen. Erschöpft ließ ich mich auf meinen Stuhl sinken. Vom restlichen Unterricht bekam ich dann nichts mehr mit. Ich stand wohl noch immer unter Schock.

Am Nachmittag fuhren wir zum Tierarzt, der erklärte, nun würde alles wieder gut. In Wirklichkeit war dies eine sehr gewagte Behauptung, denn unter „gut“ stellte ich mir etwas gänzlich anderes vor – eine Katze mit ganzem Schwanz, zum Beispiel. Dabei schnitt der Doktor der Katze sogar noch ein Stückchen Schwanz ab, zog das Fell über den Stummel und verknotete das Ganze – „gut“, nehme ich an.

Meine arme Mischa. Sie war eine sehr liebe Katze und mein nächster Angehöriger. Nachts kam sie immer heimlich zu mir, um auf meiner Bettdecke zu schnurren, obwohl meine Mutter uns beiden das nachhaltig und wiederholt verboten hatte. Und jetzt das. Ich konnte es einfach nicht fassen und wünschte, es wäre noch gestern gewesen.

Trotzdem, es ist keineswegs so, dass mich das Ereignis der verstümmelten Katze nachhaltig traumatisiert hätte. Ich war ja glücklich, dass ich meine Mischa überhaupt noch hatte. Nachdem ich den ersten Schrecken überwunden hatte, adelte dieses Unglück unsere Katze in meinen Augen sogar noch, und zwar zur absoluten Heldin unter den Quartiers-Katzen. Was genau geschehen war, fanden wir übrigens nie heraus, mutmaßten jedoch, dass sie beim Mausen auf dem warmen Schotter der nahegelegenen Bahngleise vom Regionalzug nach Bern gestört worden war. Selbst dem Tod noch von der Schippe gesprungen – war sie nicht ein Teufelsbraten, meine Mischa?! Das Bezeichnende an dem ganzen Vorfall war also weniger seine Nachhaltigkeit als vielmehr die Tatsache, dass er mir nachträglich als Auftakt erscheint zu der ganzen Kaskade an Ereignissen, die danach folgen sollte.

Vorausschickend muss ich sagen, dass ich bis dahin eine sehr glückliche Kindheit verlebt hatte. Wir waren, wie man ja so gerne sagt, eine Bilderbuchfamilie. Klar passierten auch bei uns weniger schöne Dinge. Einmal lief in unserem ersten Haus – Hanglage – der Keller voll Wasser, wodurch es den mühsam ersparten Renault R4 meines Vaters bis unter die Garagendecke hob, wo er von der Macht des Wassers zerdrückt wurde wie eine rostige alte Sardinenbüchse. Mein erstes Meerschweinchen Blacky starb einen tragischen Hungertod, und das mitten in der Schweiz, nur weil die Nachbarn während unseres Urlaubes zwar täglich die Blumen gegossen, jedoch nicht daran gedacht hatten, auch den armen Blacky mit Speis und Trank zu versorgen.

Als ich ungefähr vier Jahre alt war, zogen wir um, wodurch ich meine liebste Spielkameradin, mit ihrem bemerkenswerten Repertoire an Streichen rückblickend meine erste Bekanntschaft zu einer quasi „Klein-Kriminellen“, verlor. Im Großen und Ganzen jedoch hatte ich es äußerst gut getroffen. Ich war ein Wunschkind, ebenso meine Schwester. Meine Mutter war in erster Linie Hausfrau und beschäftigte sich ausführlich mit uns. Ich hatte tonnenweise wunderschöne, pädagogisch wertvolle Bilderbücher, Hörbücher und kindgerechte Musik-LPs. Mein Vater, durch und durch Handwerker, fertigte einen Großteil meiner Spielsachen eigenhändig an. Ich durfte Gitarrenunterricht und Tanzstunden nehmen und besuchte eine Rhythmikgruppe zur frühkindlichen Schulung der Kreativität. Ich malte und bastelte gerne und bekam alles zur Verfügung gestellt, was man sich in diesem Bereich bloß wünschen konnte.

Die restliche Zeit spielte ich draußen mit den anderen Kindern. Im Garten hatte ich meinen eigenen Quadratmeter, in dem ich nach Herzenslust meinen kuriosen botanischen Experimenten frönen konnte. Dort steckte ich all das Fundgut in die Erde, das mich meine Mutter in ihrem Garten nicht pflanzen lassen wollte. Zudem verhängte ich über mein Hexengärtchen ein strenges Jätverbot. Auf diese Weise gediehen dort die, wie ich fand, wunderlichsten Dinge. In einer Ecke unseres Gartens hatte ich sogar einen eigenen Baum, eine Lärche, die anlässlich meiner Geburt gepflanzt worden war. Jeden Abend wurde mir vorgelesen, und in den großen Ferien fuhren wir mit einem befreundeten Paar meiner Eltern, das zwei Kinder im gleichen Alter hatte, nach Korsika oder Sardinien zum Zelten. In kürzeren Ferien besuchten wir regelmäßig die eindrücklich gelegene Berghütte meiner Großeltern im Berner Oberland, wo wir in Gesellschaft ähnlich gesinnter Familien Schnitzeljagden veranstalteten und Cervelatsüber dem offenen Lagerfeuer brieten. In der Schweiz steht dieses Bürgerrecht nämlich sogar über der Waldbrandgefahr: Jedem Schweizer sein Lagerfeuer und seine Cervelat.

Meine Eltern hörten mir grundsätzlich immer zu. Mein Vater war stets bemüht, jede meiner Fragen ernsthaft zu beantworten. Auf diese Weise erfuhr ich auch viele Dinge, die ich eigentlich nie hatte wissen wollen. Wenn ich etwas ausgefressen hatte, was mir versehentlich ständig passierte, setzte mich meine Mutter auf ihren Schoß und versuchte mit Engelsgeduld zu eruieren, wie ich bloß wieder auf diese und jene bescheuerte Idee gekommen war. Selten bestraften mich meine Eltern, und niemals legten sie Hand an mich. Alles in allem – ich war ein glückliches, zufriedenes, mehr oder weniger ausgeglichenes Kind gewesen. Bis zu jenem Vorfall mit der Katze. Von da an war irgendwie der Wurm drin.

Zuerst tat das Leben so, als sei alles wieder normal, wie immer. In Wirklichkeit aber geschahen merkwürdige Dinge. Und zwar am laufenden Band. Im Radio kam, dass in Deutschland die RAF wieder zugeschlagen habe, die ich mir als namensgebendes raffgieriges Ungeheuer mit riesigem Schlund und endlosen Fangarmen vorstellte. Meine Eltern hielten erschrocken die Luft an und machten große Augen, ich selbst duckte mich auf der hölzernen Küchenbank unwillkürlich zusammen und hörte auf, mit den Füßen zu baumeln. Gut, dass Deutschland im Ausland war, also weit weg. Etwas später wurde berichtet, dass John Lennon erschossen worden sei.

„Was?!“, sagte mein Vater. „Gott!“, wisperte meine Mutter.

Meine Eltern waren über diese Nachricht so schockiert, dass ich dachte, jetzt kommt Krieg. Stattdessen spielten sie dann auffällig viel fröhliche Musik auf DRS1.

„Das sind die Beatles“, erklärte mein Vater, und ich nahm mir vor, mir dieses Orchester zu merken.

Kurz vor dem Krippenspiel in der Schule wurde ich krank mit Fieber, sodass ich meine Blockflöte vergaß und später bei meinem Auftritt als Engel Gabriel ziemlich blank da stand. Mit glänzenden Augen und hochrotem Kopf hielt ich stumm meinen Auftritt durch, während es im Publikum raunte und flüsterte. Und, last, but not least: In der Ehe meiner Eltern kriselte es.

So war unser aller Alltag also ohnehin schon in leichtem Aufruhr, als eines Tages ein Mann an unserer Tür läutete. Mit diesem Besuch änderte sich unser Leben grundlegend. Denn dieser Mann, der an unsere Tür klopfte wie ein Hausierer, kaufte – zumindest für eine gewisse Zeit – unsere Seelen. Quasi. Doch das merkte ich erst sehr viel später. An jenem Tag machte ich einfach nur die Haustür weit auf und musterte den Unbekannten mit jener unverhohlenen Neugier, wie sie Kindern und Hunden eigen ist.

„Isch dä Papi da?“, schnarrte er.

Aus seinem, nein neben seinem Kopf stieg Rauch auf. Der Mann war dick, hatte eine kokelnde Zigarette im Mundwinkel und redete sehr viel. In meiner Erinnerung trägt er einen Hut mit Feder, doch in Wirklichkeit war er wohl einfach mit der landes- und altersüblichen Halbglatze gestraft. An seinem Arm hing etwas, was vermutlich eine Dame war, jedenfalls hatte ich eine solche Frau noch nie gesehen. Sie hatte Haare wie ein Helm und trug eine Bluse, die suggerieren sollte, dass sie ein Tiger sei. Ihre Lippen und Krallen waren tiefrot. Zudem trug die Frau prunkigen Schmuck mit offensichtlich viel zu schweren Edelsteinen, der ihre Ohrläppchen grotesk in die Länge zog. Auch sie rauchte ununterbrochen, wie ein Fabrikschornstein. Zu allem Überfluss verströmte sie einen süßlichen Geruch, der in unserem agrikulturell geprägten Dorf mehr als verpönt war – Parfum!

Meine Eltern, inzwischen hinzugetreten, machten viel Hallo und wollten den Mann hereinbitten. Der jedoch zögerte, die Türschwelle zu übertreten. „Gömmer i’s Rössli?“, fragte er stattdessen.

Das Rössli war ein, oder besser gesagt das Gasthaus bei uns im Ort. Ich machte spitze Ohren. Rössli! Restaurant! Meine Eltern waren sehr sparsam, Restaurants besuchten wir fast nie. Das Rössli kannte ich nur von außen, mochte dieses Lokal aber ausnehmend gerne, da es als Aushängeschild einen sehr hübschen, metallenen Schimmel oben an der Hausecke montiert hatte, auf dem „Zum Rössli“ stand. Und Pferde liebte ich nun einmal einfach mehr als alles andere auf der Welt. Meine Eltern tauschten Blicke und tuschelten kurz.

„Klar, d’Chind chönd mitcho“1, sagte der Fremde daraufhin laut.

„Ja!“, jauchzte ich. Das war ja wie ein Festtag!

Überhaupt herrschte plötzlich eine merkwürdigaufge-mischte, fast feierliche Stimmung. Ich wollte auf keinen Fall etwas verpassen.

„Aber dann münd iihr ganz liislig sii“2, bedingte meine Mutter.

Ich stimmte unumwunden zu. Ich liebte Geschichten schon damals: Märchen, Abenteuer, Wahres, Erfundenes und, vor allem, erfundenes Wahres. Der fremde Besuch, das Tuscheln der Erwachsenen und der überraschende Restaurantbesuch sprachen Bände: Meine Phantasie, damals in erster Linie von den Grimmschen Brüdern, Astrid Lindgren, biblischen Halbwahrheiten sowie einigen Volkssagen gespeist, suggerierte mir sofort eine einzigartige Erzählung. Mehr noch – instinktiv ahnte ich, dass dies die Geschichte meines Lebens werden würde.

Im Rössli durften wir uns bestellen, was wir wollten. Für die Erwachsenen orderte der Fremde dunklen, fast schwarzen Wein. Der Mann transpirierte stark, fuchtelte ständig herum und verbreitete insgesamt eine unruhige und eher disharmonische Stimmung. Mit etwas Aufklärung konnte man das sogar verstehen. Die Sache war nämlich die: Seine Tochter war abgehauen. Nach Indien! Indien war ein sehr weites, fernes und heißes Land über dem Meer. Dort lebten die Leute noch so wie wir hier vor hundert Jahren. Aber sonst war dort alles ziemlich normal. Schließlich, in der Schweiz waren die Leute ja auch schon vor hundert Jahren normal gewesen. Also waren die Inder sicher auch normal, auch wenn man das möglicherweise nicht sah.

Was die Tochter dort wiederum trieb und vor allem, was daran so schlimm sein sollte, begriff ich erst nicht. Der Dicke wollte aber auch nicht so richtig herausrücken mit der Sprache; er druckste und stammelte herum, wand und bog sich wie ein Käfer im Mist, bei dem man ja auch nicht so genau weiß, ob es ihm gefällt oder nicht. Endlich zog er tief die Luft ein, sodass sich sein Bauch noch weiter aufblähte, und ließ sie dann mit einem schweren Seufzer wieder entweichen.

 

„Si isch in’ere Sekte!“, brach es endlich aus ihm heraus.

Auf einmal wurde es totenstill. Die Erwachsenen starrten betreten auf ihre Kuchenteller. Nur meine Schwester führte weiterhin stoisch einen Löffel nach dem anderen zum Mund. Hatte ich richtig gehört? In einer Insekte?! Ich hielt bestürzt den Atem an. Vor meinem inneren Auge erschien ein kleines Mädchen im rosa Kleidchen, einsam im Bauch einer indischen Mutationsform einer Riesenheuschrecke sitzend, ähnlich dem Jonas im Wal, nur ohne Bücher; Jonas hatte laut dem Bild in meiner Kinderbibel ja wenigstens genug zu lesen dabeigehabt, weshalb es am Ende eigentlich doch noch ganz gemütlich wurde. Doch gab es in Indien heutzutage wirklich noch solche Ungeheuer? Wer weiß, möglich war’s. In Schottland gab es ja auch das Monster von Loch Ness. Und ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie sich eine solche Insekte die Tentakel danach leckte, zwischen all den Indern auch mal eine Schweizer Tochter zu erwischen!

Mir war klar, nun war wichtig, dass ich mich auf den weiteren Verlauf des Gesprächs konzentrierte. Nach einer kurzen Schweigeminute fuhr der Mann mit seinem Bericht fort. Doch er redete und redete, ohne viel zu sagen. Die Tochter sei in einem ‚Ashram‘, erklärte er, und müsse gerettet werden. Er hatte ihr Briefe geschrieben, die sie aber entweder nicht erhalten hatte oder aber nicht beantworten wollte. Einmal hatten sie telefoniert, mit einem unglaublichen Aufwand, da die Tochter dazu extra auf ein Postamt gehen musste, dessen geheimnisvolle Öffnungszeiten zudem, ganz anders als in der Schweiz, nach einem unsichtbaren Muster variierten und nur eingeweihten Personen bekannt waren. Er, der Vater, hatte erst gebeten, dann geschimpft und am Schluss befohlen, die Tochter müsse nach Hause kommen. Doch diese habe nur gelacht.

„Wie alt isch d’Dochter?“, fragte ich meine Mutter mit vorsichtigem Ärmelzupfen.

„Schsch!“, sagte sie.

Der Mann holte erneut tief Luft und wischte sich mit einem großen karierten Schnupftuch über die feuchte Stirn. Die Sache sei die: Er brauche jemanden, der in den Ashram fahre und seine Tochter nach Hause hole. Und, jetzt kommt’s: Für diese ehrenwerte Aufgabe habe er ausgerechnet meinen Vater auserkoren. Wieder wurde es schlagartig still. Meine Schwester hielt in ihrem Kauen inne und beobachtete eine dicke Fliege, die träge über das rot-weiß-karierte Wachstischtuch kroch. Davon abgesehen zeugte nur noch der stetig aufsteigende Zigarettenrauch von Leben auf diesem Planeten. Ich überlegte. Mein Vater, ein Drachentöter? Das erstaunte mich zwar kaum, denn mein Vater war ja groß und stark und hatte vor nichts Angst. Andererseits hatte ich wenig Bock, dass ausgerechnet mein Papi mit einem Rieseninsekt, Ashram oder was weiß ich kämpfen sollte. Überhaupt, warum fuhr der Dicke nicht selbst? Es war schließlich seine Tochter! Das musste doch gefährlich sein!

„Mami, was isch en Aschram?“, versuchte ich es noch einmal.

„Schsch“, zischte sie erneut. Sie wirkte sehr angespannt.

Meine kleine Schwester wiederum hatte sich wieder ihrem riesigen Berg Meringue mit Rahm zugewandt, den sie langsam, aber beharrlich abtrug, als ob sie all das nichts anginge. Allerdings war sie damals auch erst vier.

Letztendlich war ich froh, als der Restaurantbesuch vorüber war. Der Dicke und seine komische Tigerfrau, die im Übrigen kein Wort gesagt hatte, gingen mir auf den Geist. Meine Eltern waren zu dieser Zeit sehr aufmerksame Eltern, die sich, soweit möglich, stets politisch und kindlich korrekt verhielten. Also wurde ich, sobald wir die vor der restlichen Welt sicheren vier Wände unserer Küche erreicht hatten, in verständlichem Deutsch über die Sachlage aufgeklärt.

 

Wie sich herausstellte, war der Dicke ein Geschäftskontakt meines Vaters, Herr Mattis, dem er während eines entsprechenden Mittagessens einmal von seinen meist jugendlichen Reisen erzählt hatte. Neben verschiedenen abenteuerlichen Touren auf einem Eingangrad durch Europa waren auch ernsthafte Ziele dabei: „Finnland, aha!“ und „New York? Tatsächlich?!“

Man glaubt es nicht, wo mein Vater es in seinem juvenilen Übermut mit leeren Taschen, doch dem Kopf voller Flausen, vom hinterwäldlerischen Schlierseer Bahnhof aus überall hingeschafft hat. Und das, obwohl der Bahnhof damals nur ein Gleis hatte! Der Dicke jedenfalls, gebürtiger Emmentaler Bauernbub und bereits immens stolz darauf, seinen Dipl. Ing. am Techim fernen Zürich gemacht zu haben, war schwer beeindruckt. „Respekt, Goldmund, da händ Sie ja scho allerhand g’seh!“ zollte er, und nahm noch einen Schluck Beaujolais, bevor er sich die Mundwinkel tupfte.

Zwar war auch er inzwischen ein Mann von Welt, der beruflich gut vorangekommen war: Er wohnte in einem eigenen Häuschen in der Nähe vom Thuner See – nicht in Sichtweite zwar, aber durchaus recht nah – hatte eine Beteiligung an einem Segelboot auf selbigem Gewässer und, nicht zuletzt, eine bereits erwachsene Tochter, 24 Jahre alt, zusammen mit der Tigerfrau ohne Worte. Und diese Tochter, ihre einzige, war nun eben vor einigen Monaten nach Indien gereist, um, oh Graus, ihr Selbst zu suchen.

Im Rahmen dieses Projekts war sie unglückseligerweise diesem Guru begegnet, dem vermaledeiten.

Der Guru war ein Mann mit einem langen weißen Bart und wohnte in einem Ashram, das ist ein Ort, wo viele Menschen zusammenleben. Der Guru ist der Boss des Ashrams, ähnlich wie die Bienenkönigin im Bienenstock, weil er mehr vom Leben weiß als alle anderen, die wiederum vom Guru lernen wollen, indem sie seinen Vorträgen lauschen und ‚meditieren‘. Das ist wie Beten, nur ohne gefaltete Hände. Im Gegenzug für das geteilte Guru-Wissen versorgen die Anhänger den Guru mit allen Dingen des täglichen Bedarfs, wie Essen, Trinken, Wohnung und vermutlich Spielzeug. So weit, so gut. Das Beunruhigende an dem Ganzen jedoch ist, dass die Menschen, die dem Guru zuhören, plötzlich ganz vergessen, dass sie wieder nach Hause fahren müssen. Ihnen gefällt es im Ashram so gut, dass sie gar nicht mehr wegwollen. Und genau das war nun der Tochter passiert.

„Ja und?“ meinte ich. „Söll sie doch dörtbliibe, sie isch ja scho groß!“

Tja, sagten meine Eltern, genau dieser Meinung seien sie eigentlich auch. Der Dicke allerdings, der sah das anders. Der fürchtete um den Geisteszustand sowie den Gesamtverbleib der Tochter und war bereit, alles zu tun, um die Frucht seiner Lenden wieder auf eidgenössischen Boden zu schaffen. Er wollte einfach nicht, dass die Tochter beim Guru in Indien blieb, ganz egal wie erwachsen sie war oder noch werden sollte.

Das also war des Pudels Kern! Dabei hatte ich immer gedacht, wenn man groß ist, muss man nicht mehr machen, was die Eltern sagen; und offensichtlich dachte genau das die Tochter auch. Wie auch immer. Selber zu reisen kam für den eher vorsichtig veranlagten Geschäftsmann aus Thun jedenfalls nicht infrage. Natürlich machten sie durchaus hin und wieder Ferienreisen, früher zu dritt, jetzt meistens nur noch zu zweit, da fuhren sie manchmal an die Adria, selber, mit dem Citroën, aber lieber eigentlich noch nach Frankreich, Côte d’Azur, wegen dem Französischen, das lag einem als Schweizer halt dann letztendlich doch näher. Weite Reisen hingegen konnten ihm gestohlen bleiben. Fliegen, fremde Sprachen, zweifelhafte Kulturen im soziologischen wie auch im infektiologischen Sinne, all das war seine Sache nicht. Indien! Was man sich da alles holen konnte! Und wie sollte man sich zurechtfinden, wenn die Leute keine anständige Sprache sprachen? Auch konnte er ja wohl kaum seine Frau so lange alleine lassen. Und das Büro schon gleich dreimal nicht. Tja. Und da war ihm dieser Deutsche eingefallen, der Goldmund.

Als Deutscher war man damals nämlich noch eine richtige Rarität in der Schweiz. Deutsche waren dem Schweizer der Sechziger Jahre das, was dem Deutschen der Italiener war – eine günstige, flexible und formbare Arbeitskraft, die zwar ihre Qualität erst noch mühsam würde unter Beweis stellen müssen, andererseits dafür aber auch gerne mal für unkonventionelle Aufgaben zur Verfügung stand. Ja, und der Goldmund hatte sich als Abteilungsleiter einer namhaften Baustofffirma durchaus als verantwortungsvoller, gewissenhafter und seriöser Mensch hervorgetan. Darüber hinaus verfügte der, im Gegensatz zu den vielen Schweizer Bünzlisin ähnlicher Position, auch noch über solide Reiseerfahrung. Nicht zuletzt war der Mann, sofern man seinen Erzählungen glauben durfte, immer gern für ein Abenteuer zu haben. Der würde schon wissen, wie man nach Indien kam und, vor allem, wieder zurück.

Meinem Vater wiederum, die letzten Kriegs- und Flüchtlingsjahre schon rein genetisch noch in den Knochen, war die helvetische Ur-Ängstlichkeit vor der Fremde fremd. Er fühlte sich vielmehr, als habe man ihm gerade den Jackpot vor die Füße geworfen: Eine mehrwöchige, komplett finanzierte Reise nach Indien! Zudem die Aussicht auf ein beträchtliches Kopfgeld, sollte er die Tochter tatsächlich heil nach Hause schaffen. Keine Minute des Zweifelns, die Koffer in Gedanken noch am selben Abend gepackt, war die Sache für ihn geritzt.

Schon wenige Wochen später ging es los. Die Sache duldete keinen Aufschub. Zwar hatte ich noch immer keinen Plan, was genau ich mir unter Ashram, Sekte und Guru konkret vorzustellen hatte, doch in Gedanken an diese ganze Aktion ging mir ganz schön der Reis. Trotzdem war ich auch ein bisschen stolz: Mein Papa, der einzige Mann im Kanton Bern, der mutig genug war, um nach Indien zu reisen! Zu den Wilden. Zu den Roten. Zu der Sirene in Gestalt eines alten Mannes, der keinen Menschen, der seinem Wort gelauscht hatte, jemals wieder nach Hause kehren ließ.

 

***

 

Nachdem mein Vater auf seine Rettungsexpedition gestartet war, lief bei uns ein normaler Sommer ab. Ich ging mit meinen Schulkameraden ins Freibad, machte mein alljährliches Schwimmabzeichen und versuchte, meiner Mutter jeden Tag ein extra Eis aus den Rippen zu leiern. Wochenlang konnte ich mit dem Fahrrad zur Schule fahren, sodass meine sonnengebleichten Haare im milden Sommerwind nur so flatterten. Ich bekam eine gesunde Hautfarbe und viele Sommersprossen. Die Vogelfutterkerne aus dem winterlichen Restbestand an Kerndlknödeln, die ich im Frühjahr in einem unbeobachteten Moment großzügig im Garten verstreut hatte, waren zu meterhohen Sonnenblumen herangewachsen. Ich las Bücher von Astrid Lindgren, ging einmal in der Woche zur Gitarrenstunde und war glücklich.

Zwischendurch kam ein Brief von unserem Vater. Staunend bewunderte ich die bunten Briefmarken, die komischen Buchstaben der indischen Stempel und den merkwürdigen Geruch, der dem speckigen Umschlag entströmte. Wie konnte Papier nur so riechen, vor allem, nachdem es per Luftpost geflogen war? Unserem Vater ging es gut, und ja, er hatte den Ashram gefunden. Er habe die Tochter sehr lange suchen müssen, doch jetzt habe er auch sie aufgespürt. Trotzdem brauche er noch etwas Zeit, da sie alles andere als einsichtig sei. Seine eigene Rückreise werde sich daher um einige Wochen verspäten. Ich fand das besorgniserregend, doch meine Mutter beruhigte mich. Es gäbe eben sehr viel zu sehen in Indien. Und ich bin sicher, sie hatte recht, wenn sie auch nicht die Elefanten und Baströckchen-Eingeborenen meiner Vorstellung meinte.

Als die Tage kürzer und die Nächte kühler wurden, war es irgendwann soweit. Wir fuhren nach Genf zum Flughafen, um den verlorenen Vater in Empfang zu nehmen. Meine Mutter druckste schon seit Tagen herum und versuchte, uns auf etwas vorzubereiten, von dem sie wohl selbst nicht so genau wusste, was es war. Der Papi werde bestimmt verändert sein, sagte sie. Und wahrscheinlich ziemlich anders aussehen.

Na und? Mir war das wurscht. Das steigerte meine Spannung höchstens noch. Nichtsdestotrotz muss ich rückblickend zugeben: Bingo Mami, damit hattest du vollkommen recht! Es war bei Gott nicht schwer, unseren Heimkehrer zu erkennen. Verschiedene Flugzeuge hatten gerade ihre Bäuche entleert. Hinter der Scheibe sahen wir, wie die Passagiere zielstrebig zu den Gepäckbändern eilten. Aus der Masse ordentlicher Schweizer Bürger in dezenten Grau-, Braun- und Beigetönen und dem gewohnten eintönigen, pseudo-erhabenen Savoir-vivre-Gesichtsausdruck geschäftlich Flugreisender stach einer wie ein Gockel hervor: mein Vater! Mein Vater nämlich trug trotz der herbstlichen Frische eine Art luftige, knallrote Kutte, einen wilden Rauschebart und klobige Sandalen, wie ich es bisher nur aus meiner Kinderbibel kannte. Auffällig war zudem, dass er, ohne ersichtlichen Grund, übers ganze Gesicht grinste. Mit seinem gemächlich schlendernden Gang wirkte er in all der Hektik wie diese Fische, die stromaufwärts irgendwo ihr Gelege platzieren wollen, obwohl alle anderen Richtung Meer schwimmen.

„Da isch dä Papi!“ rief ich, doch meine Mutter schluckte nur stumm.

Voller Vorfreude beobachtete ich interessiert das Geschehen. Um meinen Vater hatte sich eine Art luftleerer Raum gebildet, etwa so wie um einen Stier, der auf der Weide ja auch immer etwas abseits steht. Als es soweit war, schnappte er mit viel Verve sein Köfferchen vom Band und schritt dynamisch durch die Wartenden, die instinktiv zurückwichen und so eine Art Rettungsgasse bildeten. Bei jedem Schritt wurden seine Wadeln von dem neuen Gewand umweht, das auch sonst alles zuverlässig abbildete.

Nachdem er mit munteren Späßchen nach links und rechts die Security passiert hatte, brachten wir unseren kernveränderten Vater heil nach Hause. Um den Hals trug er eine Kette aus Holzperlen, an der das Bildnis eines ernst, fast grimmig dreinblickenden alten Mannes hing. Woher kannte er diesen Typen?

„Das isch de Bhagwan“, erklärte er uns mit leuchtenden Augen, „und das“ – er zeigte auf die Kette selbst – „isch mini neu Mala.“

Aha. Comme ci, comme ça. Ich war sehr glücklich, dass mein Vater wieder sicher zu Hause war. Meine Mutter indes guckte immer noch sehr streng und sagte den ganzen Tag lang fast gar nichts mehr. Nur wenn meine Schwester und ich nicht im Raum waren, hörte ich die beiden durch die Tür in ernstem Ton murmeln, in dieser gepressten Frequenz, von der Erwachsene glauben, Kinder könnten sie nicht hören. Ja, Jeanette, also die Tochter, lebte noch immer im Ashram des Bhagwans3.

Zwar hatte mein Vater sie recht schnell aufgetrieben und versucht, sie mit verschiedenen Tricks – Worten und Geld – dazu zu bewegen, mit ihm in die Schweiz zurückzukehren. Doch die Tochter war supergut drauf und dachte überhaupt nicht daran abzureisen. Sie nahm das Geld und richtete alles Liebe für ihren Vater aus.

Mein Vater wiederum war beeindruckt von der Kaltschnäuzigkeit der Tochter und dachte sich, diesen Ashram mit Bhagwan müsse er sich auch einmal aus der Nähe ansehen. Und, surprise, surprise: auch ihm gefiel ausnehmend gut, was er sah. So erzählte er es uns. Der Bhagwan nämlich ist ein sehr kluger Mann, der mehr weiß als alle anderen Leute. Er hilft den Menschen, wieder glücklich zu werden. Seine Schüler, die sogenannten Sannyasins, sind fröhlich und haben sich alle lieb. Sie genießen das Leben, suchen aber auch Gott und vor allem sich selbst. Und das alles gleichzeitig. Wo sonst gab es das schon?!

Also beschloss mein Vater ganz spontan, auch ein Schüler von Bhagwan zu werden. Zur Einweihung bekam er die Holzkette und einen neuen Namen, den er fortan ausschließlich benutzen solle: Swami Dhyan Rahasya.

Das einzige, was er sonst noch dafür tun musste, war, zu versprechen, dass er ab jetzt nur noch rote Kleider tragen würde.

Was für meinen Vater keine allzu große Sache war. Mein Vater war nämlich nicht nur Exil-Deutscher in der Schweiz, er war darüber hinaus auch noch im Freistaat Bayern aufgewachsen. Das bedeutet, er hatte eine Sozialisation im Sinne des bayerischen Einzelkämpfertums genossen. Will sagen: Er war es gewohnt, nicht dazu zu gehören. Ein Bayer bemüht sich in der Regel nicht groß um Zugehörigkeit, schon gleich gar nicht jenseits der bayerischen Landesgrenze. Macht ja keinen Sinn! Man muss sich ja schon überlegen, wo man dazu gehören will. Reiflich. Und bis dahin verharrt man im mir san mir, wobei mir vor allem ich meint. Es gibt nur ein Wort, dass aus dieser Perspektive für die lieben Mitmenschen im Zweifel immer passt: Depp. Und zwar überall auf der Welt.

Mein Vater seinerseits identifizierte sich wiederum nicht mal hundertprozentig mit dem mir san mir. Denn seine Familie war eine Flüchtlingsfamilie gewesen, aus Schlesien, und gehörte damit also auch nicht wirklich nach Bayern. Was man die zugereisten Goldmunds auch jahrzehntelang spüren ließ. Das einzige, das mein Vater aus dem bayerischen Brauchtum voll übernommen hatte, war das einsame Ich-und-mein-Berg-Ding. Das dafür dann aber tausendprozentig. Kurzum: Gesellschaftlich betrachtet hatte er nicht viel zu verlieren. Keinen Ruf, keine Stammtischrunde, keine jahrhundertealte Dorftradition. Daher zog er das Ding mit dem Bhagwan, den roten Klamotten und der Holzkette voll durch. Eiskalt, knallhart. Gleich am nächsten Montag ließ er meine Mutter in der Drogerie Textilfarbe besorgen und schmiss den gesamten Inhalt seines Kleiderschranks mit dem Zeug in die Waschmaschine. Das Ergebnis war modisch fragwürdig, aber auf jeden Fall lustig.

Seine Kollegen in der Firma staunten sicher nicht schlecht: immerhin war mein Vater Abteilungsleiter. Verreist als solvente Führungskraft in Anzug und Krawatte mit hehrem Auftrag kam er nun auf einmal mit Vollbart, rot verfärbter Garderobe, Guru-Kette und offensichtlich vernebeltem Geist daher. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Kollegen, anständige Bürgersleute, wie alle normalen Leute hin und wieder in der Kantine über den zweifelhaften Verein des Bhagwans gelästert.

„Händ ihr scho de neu Stern g’seh? S’isch wieder emal en B’richt über de Sex-Guru drin. Luuter Wiiber mit nackte Büppi. Unglaublich, wie viel Spinner es git, wo bi dem Typ mitmache!“4

Damit war nun schlagartig Schluss. Betreten, doch mit versiegelten Lippen nahm man zur Kenntnis, dass einer der wichtigsten Köpfe des Unternehmens unübersehbar retardiert, ja zum Feind übergelaufen war. Einmal fragte ich meinen Vater, ob ihn die Kollegen in der Firma wegen seiner roten Kleider, der Mala und dem neuen Rauschebart nicht hänselten.

„Nei“, antwortete er, „es hät niemer äs Wort g’seit.“

Die Leute schauten nur verlegen zur Seite, und falls sie tuschelten, verbargen sie es gut. Wie bei Des Kaisers neue Kleider. Bis zu seiner Kündigung ein paar Jahre später gab mein Vater nie ein Wort der Erklärung ab.

 

***

 

Nach der Rückkehr meines Vaters ging es zunächst schnell wieder zurück zum Alltagsgeschäft. Aus Indien hatte Papi einen Koffer voller märchenhafter Kuriositäten mitgebracht: Spiegelbesetzte Stoffe, Silberschmuck mit bunten Steinen, kleine Figürchen von ungeheuerlichen Menschen- und Tiergestalten, die aussahen wie Missgeburten, von denen mein Vater aber stur behauptete, sie stellten indische Gottheiten dar. Na ja, das glaubten die Inder ja wohl selber nicht! Stolz präsentierte er überdies eine vergrößerte Schwarzweiß-Fotografie, sorgfältig gerahmt und hinter Glas: todernsten Blickes saß er dem Bhagwan gegenüber. Der Bhagwan beugte sich in einem langen weißen Gewand, das meiner Meinung nach eigentlich Frauenkleidung war, zu meinem Vater hin, hielt mit einer Hand die neue Mala, die er ihm offenbar gerade übergehängt hatte, und drückte meinem Vater mit der anderen den Finger an den Kopf nicht so, wie wenn man einen Vogel zeigt, sondern mit dem Daumen mitten drauf auf die Stirn. Dabei wirkte er sehr konzentriert, mein Vater hingegen alles andere als begeistert, aber er wehrte sich auch nicht.

„Was macht dä Bhagwan denn da?“, fragte ich.

„Das“, erklärte mein Vater stolz, „isch mini Sannyas-Iiweihig gsi! De Bhagwan git mir en Enerdschi Darschan.“5

„En was?!“

Ein ‚Energy Darshan‘ – eine Energie-Dusche, quasi. Mein Vater erklärte, er schaue so ernst drein, weil er eben etwas Angst gehabt habe, immerhin begann für ihm mit dem Sannyas-Nehmen ein völlig neues Leben, wie bei einer zweiten Geburt. Und damit er das nie vergaß, bekam er auch einen neuen Namen: Swami Dhyan Rahasya. Jedenfalls, einen Energy Darshan von Bhagwan persönlich bekam man grundsätzlich nur sehr selten, damals aber eben noch standardmäßig bei persönlichen Einweihungen. Und einen Energy Darshan von Bhagwan zu bekommen war ein großes Glück. Der Bhagwan war ja erleuchtet, und deshalb, erklärte mein Vater, ströme aus seinen Händen Energie und Kraft, sodass es einen durchriesele.

„Wieso häsch du Chraft brucht?“, fragte ich, „bisch chrank gsi?“6

Mein Vater lachte. Ja, das könne man so sagen. Auf jeden Fall erlebe man bei diesem Ritual instinktiv für einen kurzen Augenblick, was es bedeutete, erleuchtet zu sein.

„Was isch erlüüchtet?“

Mein Vater erklärte, ein erleuchteter Mensch habe keine Sorgen mehr. Er sei am Ende des Lebensrades angelangt, habe alles gelernt, was es zu lernen gab und müsse nun nicht mehr auf die Erde kommen. Nicht mehr auf die Erde kommen? Und das sollte toll sein?! Wieder lachte mein Vater, und erklärte, das Leben hier auf der Erde sei einem dann nicht mehr wichtig. Ein Erleuchteter sei mit ganz wenig zufrieden, er verstehe, wie alles zusammenhinge und sei einfach immer, ohne bestimmten Grund, glücklich.

Doch darunter konnte ich mir nichts vorstellen. Was der Bhagwan denn so könne, fragte ich, das ihn von den normalen Menschen unterschied? Solche Sachen wie Jesus, also Essen zaubern und auf dem Wasser laufen? Nein. Nein? Was dann, war er besonders stark? Nein, auch das nicht, Bhagwan war ja schon ein alter Mann! Konnte Bhagwan Tricks, wie Houdini? Nein, ganz anders, Bhagwan sei ein Mann der Wahrheit, Houdini dagegen ein Täuscher gewesen. Das könne man nun wirklich nicht vergleichen. Ja, aber was er denn dann könne, löcherte ich meinen Vater. Der seufzte. Zum Beispiel, setzte er an, wisse Bhagwan ganz viel. Viel? Viel wissen doch viele. Weiß er alles? Nein, alles nicht! Kein Mensch wisse alles. Ja, aber was wisse oder könne er denn, was ihn von anderen, Nicht-Erleuchteten, unterscheide?

„Das kann man nicht erklären“, wand sich mein Vater, und ich sah schon die Standarderklärung aufkeimen, Kinder könnten das eben noch nicht verstehen.

Doch damit würde ich ihn heute nicht davonkommen lassen. Er musste doch irgendetwas Besonderes können, der Bhagwan, wenn die Leute bis nach Indien fuhren, nur um ihn zu sehen!

„Also“, kam mein Vater endlich zur Sache, „er chan zum Biispil es Buech ganz schnell läse.“

„Echt? Wie schnell denn?“

Na ja, er müsse einfach nur das Buch in die Hand nehmen, kurz hineinmeditieren, ein bisschen blättern und dann habe er schon das ganze Wissen aus dem Buch intus.

Aha. Und deswegen trugen Menschen ihr ganzes Leben lang sein Bild um den Hals? Ehrlich gesagt riss mich das nicht gerade vom Hocker. Mein Vater hingegen hielt den Bhagwan ganz offensichtlich für einen Wundermann. Egal. Für mich zählte vor allem, dass ich meinen Papi wiederhatte und dass wir den Dicken mit der Tigerlady los waren. Ansonsten interessierte mich dieser Bhagwan, der Superschnellleser, nicht allzu groß; viel spannender fand ich den Rest von Indien.

Eine Woche nach seiner Rückkehr nämlich hielt mein Vater einen Dia-Vortrag in unserem Wohnzimmer ab, zu dem meine Eltern einige Bekannte eingeladen hatten. Ich freute mich schon wie ein Schnitzel. Nun würde ich endlich all das sehen, was meinen Vater so lange in Indien gehalten hatte! Die beiden Paare im Alter meiner Eltern hatten auch Kinder, die sie aber Zuhause gelassen hatten. Warum, verstand ich überhaupt nicht. „Warum sind d’Chind nit mitcho?“, fragte ich.

Doch die Erwachsenen lächelten nur gequält. Weil es schon so spät sei, antworteten sie, aber das konnte es nicht sein, ich war ja schließlich auch noch auf. Erwachsene waren manchmal echt beknackt.

Man kannte sich aus dem „Wir-Eltern-Club“ in Thun, eine Initiative, die meine Eltern mitbegründet hatten, um Gleichgesinnte, also andere Leute mit Kindern, kennen zu lernen. Mein Vater kurbelte die Rollläden herunter, weil es draußen noch hell war, und stellte eine Leinwand auf einem Ständer auf. Dann ging es auch schon los. Der Diaprojektor ratterte wie ein Traktor, doch sonst machte er seine Sache gut. Ich war begeistert von den Bildern und wahnsinnig stolz auf meinen Papa. Die Bilder leuchteten geradezu. Ich sah weite, bis zum Horizont gestreckte Landschaften, tief ins weiche Licht der untergehenden Sonne getaucht, Frauen in quietschbunten Gewändern, Bettler in Lumpen und magere Kühe, die mitten auf der Straße lagen. Mein Vater hatte auch einige Tempel in der Umgebung besucht, und sogar einige Äffchen waren ihm vor die Linse gekommen! Der Bhagwan selber kam leider nicht vor, Fotografieren war im Ashram nämlich verboten. Lediglich einige rote Sannyasins und das Ashram-Tor von außen waren zu sehen. Mir war das wurscht. „Häsch kein Elefant g‘seh?“, krähte ich.

„Elefant?!“ Nein. Hatte er nicht. Ich merkte schon, dass den Gästen des Abends ganz andere Fragen auf der Zunge brannten, die sie sich aber nicht zu stellen trauten. Wie stumme Fragezeichen hockten sie in unseren abgeschabten 70er Jahre Club-Sesseln und knabberten Pommes-Chips zur Beruhigung und damit man nicht merkte, dass sie nichts zu fragen wagten. Man merkte es trotzdem, und der Abend war insgesamt eigentlich ziemlich komisch. Ich musste praktisch die ganze Unterhaltung alleine bestreiten. Jedenfalls, am Ende des Vortrags war ich heilfroh, dass ich in der Schweiz lebte – mir blieben von Indien hauptsächlich die hohläugigen, verdreckten und offensichtlich hungernden Kinder hängen.

Nach diesem Abend dachte ich eigentlich, das Thema Indien wäre nun endlich durch. Tatsächlich änderte sich, abgesehen davon, dass mein Vater nun in Rot rumlief und einen Bart trug, zunächst nicht allzu viel. Da er sehr viel arbeitete und am Wochenende Berge bezwang, kann man auch sagen, es änderte sich eigentlich gar nichts, außer dass ich wusste, dass er all dies nun in Rot und mit Bart tat. Damit konnte ich leben. Ich war froh, dass nach diesem aufregenden Sommer nun alles langsam wieder normal zu werden schien. Allerdings hatte ich da die Rechnung ohne meine Eltern gemacht.

 

***

 

Es war mir völlig unverständlich: Doch es schien, dass meine Mutter meinem Vater seine Indienreise missgönnte. Dabei war mein Vater doch jetzt auf einmal ständig so verdammt gut drauf! Er lachte viel mehr, legte fröhliche Musik aus dem Ashram auf und tanzte ausgelassen im Wohnzimmer herum, einfach so. Manchmal saß er auch einfach nur eine Stunde lang regungslos da und behauptete, das sei das wahre Leben. Trotzdem, meine Eltern stritten sich mehr als je zuvor, und die Stimmung wurde zunehmend bedrückender. Worauf sollte dieses unheilvolle Gezanke nur hinauslaufen? Ich traute mich kaum, den Gedanken zu Ende zu denken. In der Tat dauerte es keine zwei Monate, bis meine Mutter erklärte, nun sei sie dran. Sie wolle jetzt auch nach Indien! Und, vor allem, in den Ashram. Also nach Poona7.

Was? Wieso das denn?! Ich verstand überhaupt nichts mehr. Die Mission der verlorenen Tochter war doch längst gelaufen, was zum Henker also sollte jetzt meine Mutter noch dort? Meine Mutter aber sagte, sie wolle den Bhagwan jetzt auch kennenlernen. In der Abwesenheit meines Vaters hatte sie sich nämlich umgehört, in Thun und in Bern. Sie hatte Kontakt aufgenommen zur lokalen Sannyas-Szene, um sich zu informieren. Dabei hatte sie festgestellt, dass die Sannyasins allesamt ausgesprochen gut drauf waren und im Reinen mit sich zu sein schienen. Denn der Bhagwan, der lehre einen, wie man „besser zusammenleben“ könne. Und genau diese Lektion erschien meiner Mutter für unsere Familie dringend vonnöten. Mir sei doch bestimmt auch aufgefallen, wie viel Mami und Papi sich in der letzten Zeit gestritten hätten?

Es stimmte. Es war schwer von der Hand zu weisen, dass eine entsprechende Lektion meinen Eltern ganz guttun könnte. Doch musste man dafür wirklich nach Indien fliegen? In der Schweiz gab es doch auch Leute, die gut miteinander lebten, die konnten meinen Eltern vielleicht Tipps geben? Ich versuchte, meinen Eltern diese Überlegungen nahe zu bringen, machte jedoch eine Erfahrung, die sich die folgenden Jahre noch ein ums andere Mal bestätigen sollte – meine Meinung wurde im Schatten schlechten Gewissens zwar scheinbar interessiert angehört, war am Ende aber nicht mehr wert als ein Furz im warmen Wind. Was wichtig war, war eben wichtig, vor allem, wenn es essentiell wichtig war. Und Bhagwan war nun mal essentiell, ja, geradezu die Essenz schlechthin.

Meine Mutter führte lange Gespräche mit mir, während derer sie versuchte mir zu erklären, weshalb diese Reise so unverzichtbar war für sie. Sie sagte, sie habe, wie viele Erwachsene aus ihrer Generation, eben eine sehr strenge Kindheit gehabt, die sie nun aufarbeiten müsse, um wieder besser, sprich glücklicher, freier und erfüllter leben zu können. Und dabei helfe ihr Bhagwan. Ich aber verstand nur Bahnhof und kapierte einfach nicht, warum sie uns verlassen wollte. Das wolle sie doch gar nicht, sagte sie, sie wolle halt nur mal zu Bhagwan! Und, langsam am Ende ihrer Geduld: sie müsse jetzt halt einfach auch einmal etwas für sich tun. Auch das verstand ich nicht und fand es eigentlich ziemlich frech: „auch einmal etwas“? Waren wir etwa nichts?

Wie konnte sie irgendjemanden – den sie noch dazu noch nicht einmal kannte! – uns, ihrer Familie, vorziehen?

Doch es half alles nichts, ich konnte sie nicht aufhalten. Meine Mutter packte ihre Koffer und ging East. Ich hatte große Angst, versuchte aber, tapfer zu sein. Mein Vater arrangierte für mich einen Platz bei den Nachbarn, bei denen ich tagsüber nach der Schule bleiben konnte, da er selbst ja arbeitete, also sehr früh aus dem Haus musste und sehr spät wieder heimkam. Meine kleine Schwester wurde für die nächsten sechs Wochen bei ihrer Patentante in Zürich einquartiert. Sie ging ja noch nicht zur Schule und war somit ortsungebunden. Die Nachbarn, also meine neue Pflegefamilie, waren sehr lieb zu mir und verbrachten viel Zeit mit mir. Ich merkte, dass ich ihnen leidtat, was mir nun wieder peinlich war.

Am Anfang ging ich oft in unser Haus hinüber. Ich rief nach Mischa, der Katze, setzte mich mit ihr ins Wohnzimmer und versuchte mir vorzustellen, alles sei normal und meine Eltern wären nur eben schnell kurz außer Haus. In manchen Geschichten hatte ich gehört, dass leere Häuser manchmal zu einem sprechen, wie ein Freund. Doch unser Haus blieb still. Kein Ächzen im Gebälk, kein Flüstern aus den Wänden. Von all dem Horchen wurde mir immer ganz komisch, sodass ich à la longue meine Heimatbesuche einstellte und ganz bei den Nachbarn blieb. Sie hatten mir im Kinderzimmer eine Schlafstatt eingerichtet, mit blauer Bettwäsche, auf der Sonne, Mond und Sterne waren, um auf mich Acht zu geben. An Ostern bekam ich sowohl von meinen „Pflegeeltern“ als auch von meinem unsichtbar gewordenen Vater ein Osternest vor die Tür gestellt, was zu Missstimmung mit den familieneigenen Kindern führte, die behaupteten, ich würde bevorzugt. Ich dagegen fühlte mich alles andere als das, gleichzeitig schämte ich mich. Die Schokolade blieb mir förmlich im Halse stecken.

Meine Mutter schrieb fast nie, doch mein Vater beruhigte mich bei seinen samstäglichen Besuchen. Das sei eben schwierig in Indien, erklärte er. Bestimmt ginge es ihr gut. Das sagten auch meine Dauergastgeber.

Meine Mutter verschob ihre Rückreise zweimal.

Aus sechs Wochen wurden drei Monate. Jedes Mal brach eine Welt für mich zusammen. Was um alles in der Welt hielt sie dort nur? Hatte sie uns vergessen?! Ich machte mir große Sorgen, sie könnte am Ende gar nicht mehr heimkommen, wie Jeanette, die verlorene Tochter des dicken Herrn Mattis.

Doch dann, halleluja, war es eines Tages endlich soweit! Mein Vater holte meine Schwester und mich nach Hause. Er hatte sich extra frei genommen, und auch für mich hatte er bei der Klassenlehrerin persönlich eine Schulbefreiung erwirkt. Wegen besonderer Umstände. Gemeinsam dekorierten wir das Haus. Mir schien, als lächelte es. Ich malte ein Willkommensschild und bat meinen Vater um Geld für einen kleinen Spielzeughasen mit echtem Fell, den ich gesehen hatte und von dem ich meinte, er sei das Schönste auf der Welt und meine Mutter müsse ihn unbedingt bekommen. Es war Sommer, und ich weiß noch, dass meine Schwester und ich beide das Gleiche trugen, ein luftiges, buntgestreiftes Kleidchen, ich in groß, sie in klein. Mein Vater sperrte die Haustür zweimal ab, wie immer. Der Oleander blühte in sattem Magenta. Ich hüpfte vor lauter Vorfreude die warmen Steinplatten entlang. Im Auto war es heiß. Auf der Autobahn gab mein Vater richtig Gummi, damit wir ja nicht zu spät kämen. Aus dem Radio schepperte Supertramp, ich sang laut mit, was ich konnte, und auch, was ich nicht konnte. Meine Schwester sah mit zugekniffenen Augen aus dem offenen Fenster und hielt irgendein Stofftier auf dem Schoß.

Was dann geschah, war ein Déjà-vu in Rot. Wie die Orgelpfeifen standen wir in der Ankunftshalle des Genfer Flughafens, halb hoffend, halb bangend, ob sie heute auch wirklich kommen würde, und wenn ja, dass wir sie auch ja nicht verpassen würden. Doch zumindest letztere Sorge war völlig unbegründet. Während wir mit suchenden Blicken die Schar der Gelandeten abtasteten, tauchte sie plötzlich auf, meine Mutter: Eine Explosion in Rot. Anders kann man es nicht sagen. Sie trug mehrere flatternde, bestickte und bespiegelte Röcke übereinander, oben herum ein knappes Trägertop, zwischendrin irgendwelche fransigen Tücher. Sogar die neuen Riemchensandalen waren aus rotem Leder. An ihren braungebrannten Armen stapelten sich unzählige Armreifen. Ihre Fußgelenke zierten Kettchen, die bei jedem Schritt lustig klirrten. Riesige Ohrgehänge baumelten ihr bis fast auf die Schultern, und, die Krönung der Gesamterscheinung: Ihren Kopf zierte ein überdimensionaler Afro. Als sie uns sah, winkte sie strahlend und kam wiegenden Schrittes auf uns zu. Mamma mia! Es war nicht zu übersehen: Auch meiner Mutter hatte der Bhagwan offensichtlich gut gefallen. Sie trug eine Mala. Zwischen Lachen und Weinen umarmte sie uns und erklärte, sie hieße nun Ma Deva Mohani.

Eigentlich dachte ich, jetzt endlich würde alles wieder so werden wie früher: Meine Eltern waren doch ganz offensichtlich einer Meinung, fanden beide Indien und Bhagwan supi und trugen beide nur noch Rot. Außerdem hatten sie jetzt doch bei Bhagwan gelernt, wie man besser zusammenlebt, womit ja nun eigentlich endlich alles in Butter sein müsste. Stattdessen wurde es immer noch komplizierter. Meine Eltern waren sich alles andere als einig – das war das Einzige, worin sie sich einig waren. Ständig diskutierten und stritten sie über irgendwelches Zeug, von dem ich kein Wort verstand. Sie gingen getrennt aus und verbrachten abwechselnd Wochenenden auf irgendwelchen therapeutisch motivierten Sannyas-Gruppen. Dort nämlich, erklärten sie mir, könne man noch gezielter lernen, wie man „besser miteinander leben“ könne, sowie „Altes“ aufarbeiten. Aha. Ich kapierte überhaupt nicht, wieso man ständig lernen sollte, besser miteinander zu leben. In Wirklichkeit hatten wir doch ganz gut gelebt, bis der Dicke an unsere Tür geklopft und von dem Bhagwan erzählt hatte. Aber ich mischte mich nicht weiter ein, irgendwann würde das alles schon wieder aufhören. Oder doch nicht?

Zu allem Überfluss bekam ich mit, dass beide plötzlich auch mit anderen Partnern verkehrten. Und zwar verkehrten, genauso, wie ich es aus meinem pädagogisch korrekten Biologiebuch für angehende Schulkinder kannte. Natürlich fand ich das höchst verwunderlich, ganz abgesehen davon, dass ich die ganze Chose per se ohnehin unsäglich unappetitlich fand. Gleichzeitig hätte ich jedoch erwartet, dass aufgrund der Tatsache, dass sie es beide unverhohlen taten, zumindest in diesem Punkt Einigkeit herrschte. Doch auch das war nicht der Fall. Sie stritten, zankten, diskutierten. Hin und wieder versuchten sie verlegen, mir zu erklären, „all das“ sei Teil des „Prozesses“.

Doch es gab auch noch andere Veränderungen in unserem Haushalt. Der soziale Umgang meiner Eltern hatte sich ganz gravierend gewandelt. Statt der „Wir-Eltern-Club“-Treffen veranstalteten sie nun regelmäßig Meditationsabende bei uns zu Hause, bei denen sich mehrere rot gekleidete Männer und Frauen in unserem Hobbykeller einfanden. Die Meditationen dauerten jeweils eine Stunde und brauchten immer viel laute Musik. Die Leute zappelten, hüpften oder schrien die ganze Zeit herum, je nach Art der Meditation, und am Ende saßen oder lagen sie still da vor lauter Erschöpfung. Danach fühle man sich wunderbar ausgeglichen und zufrieden, behaupteten sie.

Manchmal „kam“ während der Meditation auch „etwas hoch“. Damit meinten sie aber nicht Kotze oder so, sondern Erinnerungen oder Gefühle und solche Sachen. Dann heultenoder schrien sie noch mehr, was aber nichts Schlimmes sei, wie mir versichert wurde, sondern im Gegenteil ein gutes und erfreuliches, ja geradezu ein begehrenswertes Zeichen für den Erfolg der Meditation war. Während der Meditationen trugen die Sannyasins oft Augenbinden, um sich ganz auf sich selbst konzentrieren zu können. Dass das notwendig war, leuchtete ein, denn keiner würde beim Anblick seiner Mit-Meditierer ernst bleiben können, soviel war klar. Ich fand das alles hoch interessant und liebte es, durch das Kellerfenster spähend meine Studien zu vertiefen. Ich hätte nie gedacht, dass Erwachsene sich derart gebärden könnten. Hätten wir Kinder uns so aufgeführt, hätte man uns resolut zur Ordnung gerufen:

„Tut nicht so blöd!“, „Spinned ihr jetzt endgültig?!“ oder „He! Jetzt git’s bald es paar hinter d’Ohre!“

Meine Schwester wiederum ließ das alles völlig kalt. Sie zog es vor, ihrem üblichen Tagwerk nachzugehen. Dafür fanden einige der Nachbarskinder Gefallen an unseren Keller-Sessionen. Bald gab es an unserem Kellerfenster ein solches Gedränge, dass ich überlegte, Eintritt zu verlangen. Nicht zuletzt dieser kindlichen Forscher wegen begann die Situation nach und nach, aus dem Ruder zu laufen. Zwar waren die Sannyasins immer freundlich zu allen Kindern. Sie lachten und spielten mit uns und machten allerhand Blödsinn mit. Bei unseren erwachsenen Nachbarn dagegen kam das alles gar nicht gut an, weder das Gebrülle während der Meditationen, noch die manchmal exzentrischen roten Hippies, die zu unserem Grundstück pilgerten, noch die neue sexuelle Experimentierfreudigkeit meiner Eltern. Am allerwenigsten aber gefiel ihnen, dass diese Spinner nun auch noch anfingen, sich an ihre Kinder „ranzumachen“, wie sie die Spionagetätigkeit des eigenen Nachwuchses zu bezeichnen beliebten. Obwohl es ja die Nachbarskinder waren, die zu uns kamen und nicht anders herum.

Spätestens nach jenem fatalen Sonntagnachmittag, an dem eine Sannyas-Frau von Mitte zwanzig einer widerspenstigen Zweijährigen das Dreirad entrang und damit laut „tü tüüüüt!“ brüllend durch die Quartiersstraße fuhr, war es endgültig vorbei.

Die Goldmunds waren wohl endgültig übergeschnappt! Es war der Gipfel. Früher waren das anständige Bürger gewesen, doch offensichtlich waren sie innerhalb kürzester Zeit komplett abgerutscht. Tragisch. Die sind jetzt bei Bhagwan, tuschelte man, diesem halsabschneiderischen Sex-Tyrannen. Gott bewahre! Sodom und Gomorrha! Einige der Nachbarskinder bekamen Spielverbot mit mir. Womöglich war das ansteckend! Die eigenen Kinder mit mir spielen zu lassen war unverantwortlich, fahrlässig, ja möglicherweise sogar gefährlich geworden. Man konnte schließlich nur ahnen, wie diese Wahnsinnigen tickten!

Ich meinerseits bemerkte, wie die Leute um mich herum begannen, mich mehr und mehr zu beobachten. Das war insofern ungewöhnlich, als wir auf dem Land lebten, wo Kinder damals noch weniger als Individuen, sondern mehr als kollektive Schar wahrgenommen wurden, die eben irgendwie so mitlief. Aber jetzt war „s’Goldmund Brigittli“ auf einmal namentlich bekannt.

Plötzlich begannen Eltern von Schulkameraden, mit denen ich bis dato kaum je ein Wort gewechselt hatte, mich eindringlich zu mustern, und, wenn sie es gar nicht mehr aushielten, auszuhorchen. Ob das mit meinen Eltern stimme, brach es aus ihnen heraus. Wer denn der Opa an der Holzkette sei, und, mit unverhohlener Scheinheiligkeit, was meine Eltern denn in Indien gemacht hätten? Was meine Mutter mit ihren Besuchern anstelle und was denn die vielen Leute in unserem Hobbykeller täten, was sie derart stöhnen und schreien ließ?

„Nüüt“, sagte ich, „Aha!“, darauf sie.

Selbst als Achtjährige wusste ich ihre vorgehaltene Hand und das geile Glitzern in den Augen zu deuten. Was waren Erwachsene erbärmlich! Ich hüllte mich in Schweigen und ließ sie denken, was sie denken wollten. Am Ärgerlichsten an der ganzen Situation jedoch fand ich, dass mich einige Leute offensichtlich bemitleideten.

„Das Arme, äs isch ja ganz verstockt!“ raunten sie einander zu, „wer weiß, was äs alles mues g’seh.“8

Mir reichte es. Ich fand, es sei an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. Also erklärte ich meinen überraschten Eltern, ich wolle jetzt auch ein Sannyasin werden. Auch meine kleine Schwester fand den Plan, eine eigene Kette zu bekommen, gut. Meine Eltern machten große Augen und zankten erst eine Weile herum, da sie beide den jeweils anderen verdächtigten, mich zum Beitritt überredet zu haben, was Bhagwans Auffassung strikt widersprochen hätte. Denn keiner sollte zu Spiritualität und/oder Religion gezwungen werden, sondern auch den Weg zu ihm, Bhagwan, unbedingt bewusst und eigenständig wählen. Doch letztendlich ließen sie mir meinen Willen. Wir schickten entsprechende Antragsformulare nach Poona. Und für meine kleine Schwester gleich mit.

 

***

 

Von nun an wartete ich täglich auf Post. Mehrmals am Tag sah ich durch den Schlitz unseres Briefkastens, ob nicht vielleicht doch schon eine Antwort aus Indien gekommen war. Was war das alles aufregend! Bald würde auch ich eine neue Geburt erleben. Wie es wohl werden würde, das Leben danach?