Wenn kleine Kinder beißen - Prof. Dorothee Gutknecht - E-Book

Wenn kleine Kinder beißen E-Book

Prof. Dorothee Gutknecht

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Beschreibung

Es ist nicht ungewöhnlich, dass kleine Kinder beißen. Doch wie sollen Fachkräfte, Leitungskräfte und Träger damit umgehen? Wie sollen Sie mit dem Kind und der Kindergruppe in diesen Fällen arbeiten? Wie mit den Eltern, deren Kind gebissen hat aber auch mit denen, deren Kind gebissen wurde? Das Buch bietet eine Fülle von Antworten für die Arbeit mit allen Beteiligten im Feld: Den Kindern, den Eltern und dem Team, der Institution.

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Dorothee Gutknecht

Wenn kleine Kinder beißen

Achtsame und konkrete Handlungsmöglichkeiten

Mit Fotos von Gudrun de Maddalena

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Gestaltung und Satz: Uwe Stohrer, Freiburg

Umschlagabbildung und Fotos im Innenteil: Gudrun de Maddalena, Tübingen

Vignetten im Innenteil: ©Fotolia.com (Bombaert Patrick; Britta Laser; Cheryl Davis; Clouseu; Frank Eckgold; HandmadePictures; heinteh; Jeanette Dietl; mariesacha; mickyso; PhotographyByMK; Sébastien Garcia; studio95pd; teomakla; valentinacarpin; victoria p.; bluedesign; undrey)

ISBN (EPUB) 978-3-451-80504-2

ISBN (Print) 978-3-451-32807-7

Dank

Dank an das Netzwerk Qualität in Kinderkrippen und in der Kindertagespflege, QuiKK Freiburg Südbaden, besonders an die AG „Konfliktassistenz – Konfliktregulation: Umsetzung einer stressreduzierenden Pädagogik“, die ich mit H. Jansen-Czaja, Abteilungsleiterin der ev. Kitas in Freiburg moderiert habe. Dank an die Unterstützer des Netzwerks: Prof. Dr. R. Marquard, Rektor i. R. der EH Freiburg, Prof. Dr. R. Kirchhoff, Rektorin der EH Freiburg, Bildungsbürgermeisterin G. Stuchlik, Freiburg, M. Haardt, Leiterin des Freiburger Amts für Kinder, Jugend und Familie und K. Ehinger, Fachberaterin, Stadt Freiburg. Wertvolle Hinweise erhielt ich von Prof. i. R. Dr. H. Schöler sowie den Kindheitspädagoginnen B. Brombacher, M. Mille, C. Pelz, S. Rechsteiner und dem Freiburger Kinderarzt und Neonatologen Dr. R. Fressle. Auch an M. Kamphans, Kindheitspädagogin in spe, für die von ihr genähten Boo-Boo-Bunnies zum Trösten: Ein großes Dankeschön! Den Fachkräften, Eltern und Kindern aus dem Reutlinger Kinderhaus Betzenried, die ihr Einverständnis für die Veröffentlichung der Fotos in diesem Buch gegeben haben, gilt mein ganz besonderer Dank. K. Höhn, Abteilungsleiterin Bereich Kitas, Reutlingen und R. Gräter-Haas Leitung Kinderhaus Betzenried, haben sich im Realisierungsprozess enorm unterstützend mit eingesetzt: Danke!

Inhalt

Einleitung

1.Wenn das „Haut-Ich“ eines Kindes verletzt wird

2.Ist Beißen eine Verhaltensstörung?

2.1Beißen als Reifungsphänomen

2.2Beißen als „Misfit“: Wenn Temperament und Umwelt nicht harmonieren

3.Welche Ursachen stecken hinter Beißverhalten?

3.1Entwicklungsbedingte Ursachen

3.2Umgebungsbedingte Ursachen

3.3Emotional bedingte Ursachen

3.4Verwobenheit der Ursachenbereiche

4.Responsiv handeln: Abgestimmte Strategien im Umgang mit Beißen

4.1Zahnen und Entdeckungsreisen mit dem Mund

4.2Sinneswahrnehmung und Raumgestaltung

4.3Tagesstruktur und Gestaltung der Übergänge

4.4Erfahrungen mit Nähe und Distanz

4.5Spielen im „Entspannten Feld“

4.6Sprache und Körpersprache – Konfliktassistenz, aber wie?

4.7Emotionen als Herausforderung

4.8Der Wunsch, Kausalität zu erfahren – Ursache und Wirkung

4.9Schwierigkeiten mit der Situation in der Kindergruppe

5.Beobachtung und Erstellung eines Handlungsplans

5.1Die Akut-Situation: Handeln, wenn das Beißen gerade aufgetreten ist

5.2Langfristige Strategien für den Umgang mit Beißen

5.3Ungeeignete Maßnahmen im Umgang mit Beißen

5.4Ausschluss von Kindern aus der Einrichtung

6.Medizinische Aspekte im Zusammenhang mit Beißen

7.Responsiver Dialog mit den Eltern

7.1Stresspotenziale im geteilten Betreuungsfeld erkennen und abfedern

7.2Eltern stärken und begleiten, deren Kind gebissen worden ist

7.3Eltern stärken und begleiten, deren Kind gebissen hat

8.Beißen als Thema innerhalb der Institution: Pädagogische Fachkräfte – Leitung – Träger

8.1Pädagogische Haltung und professioneller Umgang mit Emotionen

8.2Beobachtung – Kollegiale Beratung – Supervision

Literatur

Anhang

Bericht über besondere Vorfälle in der Kita

Analysefragen zu einem Beißvorfall in der Kita

Muster für einen Elternbrief: Beißen in der Kindergruppe

Bogen für Entwicklungsgespräche im Kontext Beißen

Ablaufschema zur Kollegialen Beratung im Kita-Team

Beobachtungsbogen: Spielkontakte in der Gruppe

Einleitung

Kleine Kinder, die andere Kinder in der Gruppe beißen, stellen für Fachkräfte in Krippen oder Kitas eine große pädagogische Herausforderung dar. Kommt es zu ernsteren Biss-Verletzungen bei einem oder mehreren Kindern in der Gruppe oder tritt das Verhalten wiederholt auf, ist oft guter Rat teuer. Entwicklungspsychologisch betrachtet ist Beißen nicht ungewöhnlich, doch bei kaum einem anderen Verhalten ist der Wunsch so dringend, es so schnell wie möglich „abzustellen“. Es ist zudem ein alarmierend häufiger Grund, Kinder vom Besuch einer Kita auszuschließen.

Beißen wird von den Eltern der Kinder in einer Krippen- oder Kita-Gruppe nicht einfach hingenommen. Sehr schnell wird von ihnen der Ausschluss des Kindes verlangt, das anderen Bissverletzungen zugefügt hat. Manche Eltern nehmen ihr Kind, wenn es gebissen wurde, sofort aus der Einrichtung, weil sie der Meinung sind, dass dessen Sicherheit dort ganz offensichtlich nicht gewährleistet werden kann.

Fortgesetztes Beißen von Kindern in einer Gruppe wird schnell auch zum Thema im Umfeld einer Einrichtung: Bei Leitung und Träger kommt es zu Nachfragen von Ärzten, Frühförderstellen und Fachdiensten.

Da Beißen bei Kindern zwischen einem und drei Jahren häufiger vorkommt, sollte eine Einrichtung, die Kinder dieses Alters aufnimmt, also gut auf diesen „Ernstfall“ vorbereitet sein. Im vorliegenden Buch werden vielfältige Ursachen für das Beißen aufgezeigt und achtsame und responsive Strategien im Umgang damit vorgestellt.

Mit Responsivität ist das Anwortverhalten der Fachkräfte gemeint, was bedeutet, dass sich die Fachkräfte in optimaler Weise auf das Kind, auf die Familien aber auch untereinander im Team abstimmen müssen. Wie also kann in der konkreten Situation das professionelle Antwortverhalten der Fachkräfte gegenüber einem Kind, das gebissen worden ist und laut schreit und weint, aussehen? Wie kann das Kind, das gebissen hat, darin unterstützt werden, ein angemesseneres Verhalten aufzubauen? Wie können Fachkräfte sich abstimmen – sowohl auf die meist entsetzten und aufgebrachten Eltern des Kindes, das gebissen worden ist, als auch auf die oft sehr erschrockenen, verunsicherten Eltern des Kindes, das beißt? Wie können die anderen Kinder in der Gruppe und ihre besorgten Eltern vorausschauend in den Blick genommen werden?

1. Wenn das „Haut-Ich“ eines Kindes verletzt wird

Die Haut ist weit mehr als eine Hülle.

Die Haut ist weit mehr als eine simple Hülle. So zeigt sich gerade bei einer Bissverletzung die enge Zusammengehörigkeit von Identität, Selbstbewusstsein und Haut. Das findet auch in der Sprache einen deutlichen Ausdruck: Unser Ich wohnt in der Haut. Der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu (1992) spricht darum auch vom „Haut-Ich“. Und die Kulturwissenschaftlerin Claudia Benthien (1999) zeigt anhand unterschiedlicher Redewendungen auf, wie Haut und Identität zusammenhängen: „Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut“ zeigt die Haut als die Hülle unserer Seele. Das Ich, das diese Haut bewohnt, scheint direkt unter dieser Oberfläche zu liegen. Bei einem Menschen, der von uns als „ehrliche Haut“ wahrgenommen wird, versinnbildlicht die Haut seinen Charakter. Wir sind dünnhäutig oder dickhäutig in der Begegnung mit der Welt. Die Haut ist unser ältestes Kontakt- und Verständigungsorgan.

Das Beißen wird als Verhaltensweise vollkommen anders bewertet, als zum Beispiel schubsen, an den Haaren ziehen oder hauen, denn hier wird eine körperliche Grenze deutlich überschritten. Beißen hat für die meisten Menschen etwas Animalisches oder Grausames. Bisswunden verheilen nur sehr langsam. Die Spuren sind lange sichtbar, tief in die Haut eingeschrieben. Beißen wird als eine erheblich schlimmere und verstörendere Bedrohung wahrgenommen als andere Formen von Grenzverletzungen im Krippen-Alltag. Häufig kommen Bissverletzungen auch im Gesicht, an den Händen, im Schulter- und Armbereich oder am Rücken vor. Pädagogische Fachkräfte und Eltern, aber auch die Kinder in der Gruppe erinnern sich bei jedem Blick auf die Wunde des Kindes, das gebissen wurde, an den Vorfall. Die aufwühlenden Emotionen werden dadurch immer wieder neu aktualisiert.

Das Beißen kann beängstigende Bilder aufsteigen lassen: Beißen wird dann als etwas „Tierisches“ wahrgenommen, als massive Aggression. Die Eltern des Kindes, das gebissen worden ist, sehen die Krippe nicht mehr als einen sicheren Ort für ihr Kind an. Auch andere Eltern in der Gruppe, die von den Beißvorfällen hören oder das Kind sehen, das gebissen worden ist, können grundlegend in ihrer Entscheidung für eine Einrichtung oder generell für die frühe institutionelle Bildung und Betreuung von Kleinkindern verunsichert werden.

2. Ist „Beißen“ eine Verhaltensstörung?

Der Wunsch nach Erfahrungssuche mit dem Mund ist bei kleinen Kindern ein ganz normales Phänomen.

Viele Verhaltensweisen, die bei kleinen Kindern auffallen, sind keine Störungen, sondern stellen einen regulären Teil ihrer Entwicklung dar. So schreien manche Kinder überaus viel, andere wiederum haben Schlafstörungen, erweisen sich als extrem wählerische Wenig-Esser, fordern Eltern und pädagogische Fachkräfte durch massive Trotzanfälle heraus oder fallen durch ein großes Spektrum unterschiedlicher Ängste auf. Auch das Beißen – da besteht im internationalen Diskurs Einigkeit (Canadian Paediatric Society 2008; Solomons & Elardo 1991) – gehört zu den Verhaltensweisen, die viele Kinder ab einem Jahr bis zum Alter von rund drei Jahren häufiger zeigen.

Doch wann ist das Verhalten eine Störung? Die meisten Diagnostik-Instrumente berücksichtigen hier nicht ausreichend, dass Kinder sich in einem ständigen Entwicklungsprozess befinden (Jenni & Latal 2009). In der aktuellen wissenschaftlichen Literatur wird in Bezug auf das Verhalten von Kleinkindern dagegen zwischen Entwicklungsvarianten, Reifungsphänomenen und tatsächlichen Verhaltensstörungen unterschieden.

Aus Wissenschaft und Forschung

Nach Jenni und Latal (2009) sind zu unterscheiden:

Reifungsphänomene, die in einem bestimmten Alter auftreten, dann aber auch wieder verschwinden (z.B. Trotzanfälle in der Phase der Autonomie-Entwicklung)Entwicklungsvarianten, die als auffällige Verhaltensweisen erkennbar sind, aber nicht das Ausmaß einer Störung haben (z.B. besondere Schüchternheit eines Kindes)Verhaltensstörungen als auffällige Verhaltensweisen, die in ihrer Intensität, Häufigkeit und Dauer so gravierend sind, dass das Kind wesentliche altersgemäße Entwicklungsaufgaben nicht angemessen bewältigen kann

2.1 Beißen als Reifungsphänomen

Die großen internationalen kinderärztlichen Fachgesellschaften (z.B. Canadian Paediatric Society 2008) bestätigen, dass die Verhaltensweise „Beißen“ bei Kindern im Alter von einem bis drei Jahren häufig vorkommt und dann ab drei Jahren in der Regel wieder verschwindet. Kinder in diesem Alter sind darauf angewiesen, dass ihre Bezugspersonen ihre Emotionen mitregulieren, weil sie dazu alleine noch nicht in der Lage sind. Sie verfügen noch nicht über die erforderlichen Fähigkeiten in der emotionalen Selbstregulation und haben eine sehr geringe Impulskontrolle. Der Perspektivwechsel ist noch schwierig: Das kleine Kind kann mögliche Gefühle oder Absichten anderer Kinder beim Spielen noch nicht vorausschauend mitberücksichtigen. Auch die Möglichkeiten des verbalsprachlichen Ausdrucks sind noch eingeschränkt, ebenso die Fähigkeit, Körpersprache in Anspannungssituationen wirkungsvoll einzusetzen.

2.2 Beißen als „Misfit“: Wenn Temperament und Umwelt nicht harmonieren

Neben der Einschätzung, dass Beißen als ein Reifungsphänomen zu betrachten ist, gibt es auch die Ansicht, dass es dann auftritt, wenn die Erwartungen der Erwachsenen und die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Kindes stark auseinanderfallen. Man bezieht sich hier auf die Temperamentsforschung, in der festgestellt worden ist, dass sich Bezugspersonen gut (= fit) oder weniger gut (= misfit) auf herausfordernde Temperamentsunterschiede abstimmen können. Eine Abstimmung ist umso anspruchsvoller, je herausfordernder das Temperament eines Kindes ist. Nach Thomas und Chess (1980) gibt es insgesamt neun Kategorien für das Temperament. Auf jede müssen sich Eltern und pädagogische Fachkräfte abstimmen. Im Kasten auf Seite 15 sind den Temperamentskategorien Fragen für die Reflexion im Team zugeordnet.

Damit sich kleine Kinder gut aufgehoben fühlen, reguliert die pädagogische Fachkraft die Emotion des kleinen Kindes mit.

Reflexionsfragen zu den neun Temperamentskategorien

AktivitätslevelIst das Kind immer in Bewegung und sehr aktiv oder eher ruhiger, zum Beispiel beim Baden oder Spielen?Biologischer RhythmusWie vorhersehbar oder unvorhersehbar sind Grundbedürfnisse des Kindes im Tagesverlauf, wie zum Beispiel Schlaf-Wach-Rhythmus, Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme?Annäherung oder RückzugZeigt das Kind positive Annäherung oder eher Rückzug und Ablehnung bei einem neuen Reiz? Lächelt das Kind und lässt es sich aktiv auf Neues ein oder reagiert es stimmungsmäßig abwehrend mit Weinen oder motorisch abwehrend mit Abwenden?AnpassungsfähigkeitWie anpassungsfähig ist das Kind an neue Eindrücke?Sensorische ReizschwelleMit welcher Intensität reagiert das Kind mit seiner Sinneswahrnehmung zum Beispiel auf Dinge, die es hört, sieht oder fühlt?ReaktionsintensitätWie intensiv reagiert das Kind? Zeigt es viele Trotzanfälle, zahlreiche dramatische Reaktionen oder eher eine milde Emotionalität?StimmungslageIst das Kind in der Regel freundlich gestimmt, lächelt es oft oder ist es häufiger unfreundlich, „ungnädig“, schwer zufriedenzustellen?AblenkbarkeitIst das Kind, wenn es spielt, sehr leicht durch Umweltreize ablenkbar?Aufmerksamkeitsdauer/DurchhaltevermögenKann sich das Kind für eine bestimmte Zeitspanne aufmerksam auf etwas einlassen? Zeigt es Durchhaltevermögen, auch wenn Schwierigkeiten auftreten?

Es ist anspruchsvoll, die Absichten des anderen Kindes vorausschauend mit zu bedenken.

Die Abstimmungsfähigkeit der Bezugspersonen auf das Temperament eines Kindes wird auch von der Umgebung beeinflusst:

Beispiel |