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Wie gelingt es, Trennungsprozesse situationsgerecht zu begleiten und Hilfen beim Neuanfang zu gewähren, sodass Klient:innen gestärkt aus Trennungen hervorgehen? Peter Bremicker betrachtet Trennungen nicht nur als Endpunkt, sondern auch als Anfang. Er betont die Chance einer Neuorientierung und erklärt, wie diese Phase des Loslassens eine Gelegenheit für persönliches Wachstum und Identitätsstärkung bietet. Sein Buch richtet sich an alle, die in beratender, therapeutischer oder ehrenamtlicher Rolle mit Trennungen konfrontiert sind. Es werden praxiserprobte Ansätze und Techniken vorgestellt, die eine unterstützende und einfühlsame Begleitung ermöglichen. Fallbeispiele vermitteln das nötige Wissen, um Klient:innen geschickt in Trennungsprozessen zur Seite zu stehen und sie gestärkt in den nächsten Abschnitt ihres Lebens starten zu lassen.
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Seitenzahl: 156
Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg, Katharina Kautzsch, Michael Clausing
Die Buchreihe »Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer« bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krisen, Leid und Trauer. Die Edition ist hervorgegangen aus dem Programmschwerpunkt »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht.
Peter Bremicker
VANDENHOECK & RUPRECHT
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Umschlagabbildung: Peter Bremicker, On their way
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISSN 2198-2864
ISBN 978-3-647-99309-6
Vorwort
1 Einführung
1.1 Warum sich Paare trennen – eine Bestandsaufnahme
1.2 Das Leben – eine Aneinanderreihung von Trennungen
1.3 Einblicke in meine Trennungsbiografie
2 Theorie
2.1 Phasen einer gelingenden Paardynamik
2.2 Prozess einer Trennungsdynamik
2.3 Trennungsforschung
3 Praxisberichte
3.1 Maya und Kai: Intrapsychischer Prozess
3.2 Yvonne und Johannes: Was geschieht mit dem Selbst, wenn eine Zweierbeziehung durch Trennung beendet wird?
3.3 Sabine und Dieter: Konzept der aggressiven Gehemmtheit …
3.4 Tabea und Lars: Symbiotische Verstrickungen in Zweierbeziehungen
3.5 Sandra und Sven: Eine Affäre, geprägt von Distanz und Unverbindlichkeit
4 Ausblick
4.1 Was Trennung so schmerzvoll und herausfordernd macht
4.2 Verlust von Identität und Selbstwert und die Wiederherstellung
4.3 Aussöhnung mit der Vergangenheit als Voraussetzung für einen gesunden Neuanfang
5 Fazit und Nachwort
Literatur
Wenn du dich für einen Partner entscheidest, entscheidest du dich unbewusst auch füreine dir unbekannte Geschichte – und oft wirst du dabei für ein Stück eingestellt, für das du nicht vorgesprochen hast.
Die Kunst des Loslassens und Trennens ist eine Fähigkeit, die in unserer heutigen Zeit von immer größerer Bedeutung ist. Egal, ob wir uns von einem langjährigen Job, einer Beziehung, einem Lebensstil oder einer Gewohnheit trennen müssen, es erfordert nicht nur Mut, sondern auch eine bewusste Auseinandersetzung mit unserer Identität. Wie wir uns von etwas trennen, sagt viel darüber aus, wer wir sind und wie wir unser Leben gestalten. Dieses Buch widmet sich genau dieser essenziellen Thematik. Es richtet sich an professionelle Fachkräfte und Ehrenamtliche, die Menschen auf ihrem Weg des Loslassens begleiten möchten: sei es als Therapeutinnen und Therapeuten, Beratende, Coaches oder in ehrenamtlichen Organisationen. Es bietet eine umfassende Perspektive auf Trennungsprozesse und zeigt auf, wie diese als Möglichkeiten zur Identitätsstärkung genutzt werden können.
Trennungen sind nicht nur Endpunkte, sondern auch Anfänge. Sie bieten die Chance zur Neuausrichtung und persönlichen Weiterentwicklung. Dieses Buch lädt Sie ein, diese Chancen zu erkennen und zu nutzen, sei es in Ihrer professionellen Arbeit oder in Ihrem eigenen Leben.
In den folgenden Kapiteln werden Sie eine Fülle von Einsichten, Techniken und Fallbeispielen finden, die Ihnen helfen sollen, Trennungsprozesse auf eine Weise zu gestalten, die die individuelle Identität stärkt. Ich werde auf die psychologischen Aspekte von Trennungen eingehen, die Rolle von Emotionen und Selbstreflexion beleuchten und bewährte Methoden für die Unterstützung von Menschen in Trennungssituationen vorstellen.
Dieses Buch ist das Ergebnis von umfangreicher Auseinandersetzung mit Trennungsprozessen sowie viel praktischer und eigener Erfahrung. Ich hoffe, dass es Ihnen wertvolle Einblicke und Werkzeuge bietet, um Menschen auf ihrem Weg des Loslassens zu begleiten und ihnen zu helfen, gestärkt und mit einer klareren Identität aus diesen Prozessen hervorzugehen.
Ich danke Ihnen, dass Sie sich für dieses Buch entschieden haben, und hoffe, dass es Ihre Arbeit bereichert und Sie in Ihrer Rolle als Unterstützende und Begleitende in Trennungsprozessen stärkt. Möge es Ihnen dabei helfen, die Kunst des Trennens zu meistern und die Identität Ihrer Klientinnen und Klienten und Ihrer selbst auf inspirierende Weise zu stärken.
Die in diesem Buch genannten Praxisfälle und Beispiele sind verfremdet, indem Namen und Details geändert wurden, um die Privatsphäre der Paare zu schützen. Trotz der Anpassungen beinhalten diese Beispiele dennoch die relevanten Inhalte, die ich vermitteln möchte.
Peter Bremicker
1.1Warum sich Paare trennen – eine Bestandsaufnahme
Die Buchhandlungen in Deutschland sind voll von Ratgebern, die eine glückliche und leidenschaftliche Zweierbeziehung versprechen. Die Inhalte setzen darauf, an sich und mit dem Liebespartner zu arbeiten, die Partnerschaft zu vertiefen und das Liebes- und Lustempfinden zu steigern. Sie entsprechen dem aktuellen, stark westlichen Trend, sein Leben in allen Lebensbereichen zu optimieren. Ist Liebe herstellbar? Vermutlich nicht, dennoch, so lassen die Ratgeber vermuten, lässt sie sich heute auf vielfache Art und Weise gestalten.
In der sich seit mehreren Jahrzehnten durchsetzenden neuen »Liebesordnung« werden Singles Partnerwahl, Rahmen und Dauerhaftigkeit der Liebe nicht mehr von der Familie, dem Staat oder christlicher Tradition vorgeschrieben, sondern es liegt an jedem selbst, seine Liebesform zu entwickeln und zu gestalten. Ich selbst konstruiere mein Liebesglück. Dabei gehe ich nicht davon aus, dass dies bewusst geschieht, vielmehr ist es vermutlich ein vorbewusster Prozess mit vielfältigen Optionen. In diesen Optionen wird eben auch das Scheitern einer Zweierbeziehung als Möglichkeit in Kauf genommen, wohl mit der Hoffnung verbunden, dass da noch etwas Besseres auf dem Markt der Möglichkeiten zu finden sei.
Gleichzeitig ist das Scheitern einer Beziehung ein komplexer und sehr individueller Prozess. In Zeiten serieller Monogamie hat die Trennung unverheirateter Paare in den letzten Jahrzehnten im Generationenvergleich zugenommen. In einer Befragung aus dem Jahr 2002 gaben dreißigjährige Befragte an, bereits mehr feste Beziehungen und damit auch mehr Trennungen erlebt zu haben als die Sechzigjährigen in ihrem ganzen bisherigen Leben. Trennung ist ebenso wie eine Liebesbindung zu einem Massenphänomen geworden. Sie ist über die vergangenen Jahrzehnte viel selbstverständlicher geworden und hat sich sozusagen emanzipiert und etabliert.
Die Gründe für eine Trennung in einer Zweierbeziehung sind sehr facettenreich und oft multifaktoriell. Warum Paare sich finden und binden, hat unter anderem die Online-Partnervermittlung »Elitepartner« in einer 2015 veröffentlichten Studie herausgearbeitet. Die Befragten antworteten auf die Frage, was ihnen in der Liebe wichtig ist: sich unterstützen, gemeinsam durch Krisen gehen (92 %), gegenseitige Treue (88 %), Dauerhaftigkeit (83 %), intellektueller Austausch (80 %), nicht allein sein (75 %), Erotik (69 %), eine Familie gründen (60 %), viele romantische Momente erleben (60 %). Sexuelle Erfahrungen und Vielfalt (43 %) ist in der Umfrage abgeschlagen, ebenso wie finanzielle Sicherheit und Versorgung (42 %).
Und wann und aus welchem Grund gehen Paare nun auseinander? Der größte Anteil trennt sich nicht erst im verflixten siebten Jahr, sondern schon viel früher. In der Studie »How couples meet and stay together« (Wie Paare sich treffen und zusammenbleiben) erforschte der Soziologe Michael J. Rosenfeld 2017 bei US-amerikanischen Paaren, wie deren Beziehungen verliefen. Dazu verfolgte er über 3000 Beziehungen von hetero- und homosexuellen Paaren im Zeitraum von 2009 bis 2017. Rosenfeld fand heraus: Viele Partnerschaften schaffen es gar nicht erst bis zum gefürchteten siebten Beziehungsjahr. Der kritische Zeitpunkt zeigte sich bereits viel früher. Der Studie zufolge war nämlich bereits das erste Beziehungsjahr das wahrscheinlichste für eine Trennung. Ganze 60 Prozent der beobachteten Paare trennten sich schon nach weniger als zwölf Monaten. Bei Langzeitpaaren machte Rosenfeld dagegen eine andere interessante Beobachtung: Bei unverheirateten Paaren sank das Trennungsrisiko mit jedem Beziehungsjahr um zehn Prozent. Im siebten Beziehungsjahr wäre das Trennungsrisiko damit deutlich kleiner als noch zu Beginn der Beziehung.
Doch wie sieht es bei verheirateten Paaren aus? Nach Angaben des Statistischen Bundesamts hielten deutsche Ehen im Jahr 2021 im Schnitt 14 Jahre und sechs Monate. Seit 2012 werden jährlich immer weniger Ehen beendet. Im Jahr 2021 hatte die Zahl der Ehescheidungen gegenüber dem Vorjahr um 0,7 Prozentpunkte abgenommen. Allerdings wurde 2021 so wenig geheiratet wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Insgesamt heirateten im zweiten Jahr der Pandemie 4,2 Prozent weniger Paare als noch im Jahr davor.
Die Familiensoziologie und Demografie hat sich in den 1990er und 2000er Jahren verstärkt mit der Frage nach Trennungsgründen auseinandergesetzt, so zum Beispiel die Mannheimer Trennungsstudie (Koppetsch, Eckert u. Bub, 2019). Die bisherige Ursachenforschung hat drei Schwerpunkte ausgemacht:
• Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse haben biografische Wahlmöglichkeiten geschaffen und dadurch die Möglichkeit eröffnet, Entscheidungen – auch die zu einer Ehe, »bis dass der Tod uns scheidet« – revidierbar zu machen. Hinzu kommt die Entwicklung, dass Frauen häufig durch bessere Bildungs- und Berufsperspektiven ökonomische Unabhängigkeit erreicht haben. Sie formulieren ihre Ansprüche an eine Partnerschaft viel selbstbewusster und vehementer und sind auch bereit, Beziehungen, die für sie nicht befriedigend verlaufen, aufzugeben und sich zu trennen. In diesem Forschungsstrang wird auch deutlich, dass sich die Ansprüche an Partnerschaft und Beziehung verändert haben. Lag in den 1950er, 1960er, 1970er Jahren der Fokus eher auf der Befriedigung ökonomischer Bedürfnisse, ist später die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse in den Vordergrund gerückt. Dieser Forschungsbereich erklärt die trennungserleichternden veränderten Rahmenbedingungen, gleichzeitig gibt er keine konkrete Antwort darauf, wie es zu einer Verschlechterung der Beziehungs- und Partnerschaftsqualität kommt und warum man sich wirklich trennt.
• Studien zu soziodemografischen Scheidungsrisiken sind ein weiteres Gebiet in der Forschung. Es wird dort unter anderem davon ausgegangen, dass das Scheidungsrisiko »vererbt« wird: Kinder, die eine Scheidung miterlebt haben, haben ein höheres Risiko, selbst eine Scheidung zu durchleben. Die Möglichkeit einer Trennung erhöht sich signifikant, wenn folgende Aspekte eine Rolle spielen: niedriges Heiratsalter, Fehlen einer christlichen/kirchlichen Bindung, Kinderlosigkeit, Leben in Großstädten oder städtischen Regionen, Erwerbstätigkeit der Frau, ein im Vergleich zum Mann höheres Alter, höherer Bildungsstand oder höheres Einkommen der Frau.
• Der dritte Bereich in der Forschung fokussiert Defizite und holt im Hinblick auf die Trennungsmotive die Perspektive der Akteure in den Mittelpunkt. Unter anderem gibt es zwischen den beiden Akteuren zwei Rollen: Derjenige, der sich trennt, nennt in der Regel mehr Gründe für das Scheitern der Beziehung als derjenige, der verlassen wird. Außerdem gibt es Unterschiede bezüglich des Geschlechts, der Schicht und der Bildung. In heterosexuellen Partnerschaften in Verbindung mit einem höheren Bildungsgrad spielen für Frauen Themen wie Persönlichkeits-, Kommunikations- und emotionale Probleme eine Rolle für die Entscheidung zu einer Trennung. Männer sind eher fokussiert auf beziehungsexterne Aspekte, wie etwa beruflicher Stress, oder auf die Verhaltensebene. Viele, die verlassen werden, können sich die Trennung trotz alledem nicht erklären.
Und bei genauerer Betrachtung sagt das weniger über die Vergangenheit einer Beziehung aus, sondern die durchgeführten Interviews und Studien folgen spezifischen gegenwärtigen Bedürfnissen der Betroffenen.
Die Trennung von Paaren ist ein komplexes und oft schmerzhaftes Ereignis, das sowohl emotionale als auch praktische Herausforderungen mit sich bringt. Paare trennen sich aus verschiedenen Gründen – zum Beispiel Unvereinbarkeiten, Kommunikationsprobleme oder Vertrauensbrüche. Gleichzeitig ruft eine Trennung eine Vielzahl von Emotionen hervor, etwa Trauer, Wut, Verwirrung und Angst. Es ist wichtig, dass beide Partner während einer Trennung Unterstützung erhalten, sei es von Freunden, Familie oder therapeutischen Fachkräften. Die Verarbeitung der Emotionen und der Umgang mit ihnen ist ein wichtiger Schritt, um den Heilungsprozess zu beginnen. Neben den emotionalen Aspekten gibt es auch praktische Dinge, die bei einer Trennung zu berücksichtigen sind: die Aufteilung des gemeinsamen Eigentums, die Regelung des Sorgerechts für Kinder oder die finanzielle Neuregelung. In einigen Fällen kann es durchaus hilfreich sein, rechtlichen Rat einzuholen, um sicherzustellen, dass alle rechtlichen Aspekte ordnungsgemäß behandelt werden.
Während des Trennungsprozesses ist es für beide Partner bedeutsam, auf die Selbstfürsorge zu achten: sich Zeit für sich selbst zu nehmen, um sich zu erholen und wiederzufinden, oder Unterstützung von anderen in Anspruch zu nehmen, um mit den Herausforderungen umzugehen. Selbstreflexion und persönliches Wachstum können während dieser Zeit von großer Bedeutung sein. Abschließend ist es wichtig, zu betonen, dass die Trennung von Paaren meist ein schmerzhafter Prozess ist, der Zeit und Geduld erfordert. Um diesen Übergang so gut wie möglich zu gestalten, ist es erstrebenswert, sich selbst und den Partner mit Respekt und Mitgefühl zu behandeln. Mit einer guten Unterstützung und der Bereitschaft, aus der Erfahrung zu lernen, kann eine Trennung letztendlich zu persönlichem Wachstum und einer neuen Chance auf Glück führen. Denn im Trennungsprozess und in der gemachten Beziehungserfahrung stecken eine Menge Ressourcen und Potenzial für das persönliche Wachstum und schließlich die eigene Resilienzentwicklung.
1.2Das Leben – eine Aneinanderreihung von Trennungen
»In jeder Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn, man muss sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.« (Goethe: Maximen und Reflexionen, 1833/2013)
Im Laufe meiner zwanzigjährigen Arbeit als Theologe, Supervisor, Transaktionsanalytiker und Berater ist eines der Hauptthemen meiner Klientinnen und Klienten die Auseinandersetzung mit Trennung und Abschied gewesen. Der Erfahrung ausgesetzt zu sein, dass die Partnerin oder der Partner geht, verlangt viel von einem selbst. Manche Trennungen in Zweierbeziehungen kommen aus heiterem Himmel, viele bahnen sich über einen längeren Zeitraum an. In der Begleitung durch solche Prozesse erlebe ich, wie unterschiedlich Menschen mit diesem Prozedere umgehen, und erhalte Aufschluss darüber, wie der Klient grundsätzlich mit Trennungserfahrungen in seinem Leben umgegangen ist. Dabei gehe ich davon aus, dass jeder unbewusst eine ganz eigene Trennungsbiografie geschrieben hat. Diese erzählt mir eine Geschichte über Abschiede, Einsamkeit, Isolation, Schweigen, Wut, Enttäuschung, Schmerz und über manchen Neuanfang.
In der Transaktionsanalyse betten wir die Trennungsbiografie in die Skriptanalyse ein und begreifen diese als einen Teil des Lebensskripts. Dieses ist das Bild, das sich ein Mensch bereits als Kind von seinem Leben gemacht hat und ebenso davon, wie er selbst als Mensch ist und wie die anderen Menschen um ihn herum sind. Ich gehe davon aus, dass Trennungen Kristallisationspunkte im Leben sind, an denen wir mit unseren biografischen Skriptbotschaften und Glaubenssätzen über uns, die anderen und die Welt konfrontiert werden. Diese Kristallisationspunkte führen zum Ursprung dessen, was uns in den frühen Kontakt- und Beziehungsabbrüchen begegnete.
1.3Einblicke in meine Trennungsbiografie
Trennungen, Beziehungs- und Kontaktabbrüche verlaufen sehr individuell. Die Gründe dafür liegen oft in unserer Vergangenheit; darin, welche Erfahrung wir mit Bindungen zu anderen Menschen gemacht haben. Wie viel Vertrauen haben wir in Beziehungen zu den Eltern, zu Freunden im Kindesalter erlebt? Letztendlich ist Trennung ein individueller Prozess, der nicht schablonenhaft bei jedem Menschen gleich abläuft. Es kann sich wie eine Wiedergeburt anfühlen, durch den Schmerz der Trennung zu gehen, oder aber ich kann stecken bleiben in meinem Trennungsschmerz, einfrieren und im ungünstigsten Fall eine Depression entwickeln.
Wir alle haben eine mehr oder weniger bewusste Trennungsbiografie. Sobald wir als neugeborener Säugling in diese Welt treten, werden wir das erste Mal getrennt. Dies ist ein natürlicher und organischer Prozess, der dazu dient, erste unabhängige Schritte in das eigene Leben zu machen. Bevor das passiert, liegt das Baby viele Monate im Bauch der Mutter und wird über die lebenswichtige Nabelschnur versorgt. Aus der einen Hälfte der befruchteten Eizelle entwickelt sich der Embryo und aus der anderen die Plazenta. Die Nabelschnur wächst mit dem Fötus, und bei der Geburt ist sie ungefähr so lang wie das Neugeborene selbst. Die Gefäße der Nabelschnur sind in eine weiche Schicht eingebettet und nach einem englischen Anatomen, der im 17. Jahrhundert geforscht hat, benannt: Die Wharton-Sulze ist ein wahrer Wunderstoff, höchst elastisch und strapazierfähig, damit die Versorgungsleitung niemals knickt, und gleichzeitig durchlässig für Wasser, Zucker und Elektrolyte. Sie fühlt sich an wie durch Wasser aufgeweichte Gummibärchen.
Ich erwähne das so ausführlich zu Beginn meiner eigenen Trennungsbiografie, um deutlich zu machen, dass schon diese erste, sehr frühe Erfahrung für mich als Menschenwesen, und natürlich auch für die Mutter, einschneidend und von Bedeutung gewesen sein muss. Einerseits hat mich diese Nabelschnur vor der Trennung versorgt, mich wachsen lassen und am Leben erhalten, andererseits wird das Durchtrennen der Nabelschnur in der Regel dazu führen, dass ich erste Schritte in ein unabhängiges und irgendwann autonomes Leben gehen werde.
Frühkindliche Trennungserfahrungen
Nachdem ich im Oktober 1971 meine ersten Schritte in das vor mir liegende Leben gemacht hatte, stand mir schon wenige Monate später eine ungeplante und längere Trennung von meinen Eltern bevor. Für mehrere Wochen wurde ich in das naheliegende Kreiskrankenhaus für eine Leistenbruch-Operation gebracht.
Heute ein routinemäßiger Eingriff: Babys werden nach einer Überwachungsnacht wieder in die Obhut der Eltern entlassen. Anfang der 1970er Jahre bedeutete das jedoch einen Eingriff mit mehreren Wochen Krankenhausaufenthalt – ohne Kontakt zu Mutter und Vater. Eltern durften zu dieser Zeit in vielen Krankenhäusern nicht zu ihren Kindern, allenfalls durften sie über eine Sprechanlage Kontakt aufnehmen, während das Kind hinter einer Glasscheibe saß oder lag.
Somit war der fünf oder sechs Monate alte Säugling sich selbst überlassen. Wie einschneidend diese Erfahrung für mich im Nachhinein war, wage ich nicht zu bewerten. Manches spricht dafür, dass solche Erfahrungen durchaus zu einem Entwicklungs- und Bindungstrauma beitragen können.
Ich wuchs auf einem kleinen Bauernhof im hessischen Hinterland auf – in einem 300-Seelen-Dorf. Geprägt von wiederkehrenden existenziellen Sorgen und abhängig von Wind und Wetter. Es gab viele schöne Momente auf diesem Hof. Mir wurde viel zugetraut. Ich durfte schon als Zehnjähriger auf dem Traktor sitzen und die Wiesen mähen. Gleichzeitig gab es Situationen, in denen ich mich nicht sicher und behütet fühlte. Augenblicke, in denen meine Eltern die Kontrolle über sich und über ihre Handlungen verloren. Zeiten, in denen der Hof der Himmel auf Erden für mich war, und Zeiten, in denen das Fegefeuer eventuell sicherer gewesen wäre. Drei Generationen lebten auf knapp 100 Quadratmetern. Ich in einem Durchgangszimmer, nebenan Mutter und Vater mit meiner Schwester und direkt daneben Großmutter und Großvater. Bei Tisch saß die Großmutter vor Kopf und dirigierte das Geschehen. Dieser Küchentisch dient mir heute als Schreibtisch und er könnte, wenn er wollte, viele Geschichten erzählen. Von Kochlöffeln und Hosengürteln, die umfunktioniert wurden. Von jungen Nussbäumen, deren Äste gut als Gerte für Tier und Mensch herhalten konnten. Es gibt sie, die liebevollen, zärtlichen und harmonischen Momente, und es gibt die Stürme aus dem Nichts, die psychischen Tornados in Form von Ausnahmezuständen, die über den Hof fegten, und den Alkohol, der alles noch weniger berechenbar machte.
In diesem sicheren und unsicheren Beziehungsgeflecht wuchs ich auf. Als ich groß wurde, wollte ich so schnell wie möglich auch erwachsen werden, meinen Pkw-Führerschein machen und der Erste in der Generationenfolge sein, der des Autofahrens mächtig wäre. Es gab die stabilen Beziehungsmomente und es gab die Ausnahmezustände, die ich bis zurück zu meinem zweiten oder dritten Lebensjahr erinnere.
Dieses Buch kann nicht geschrieben werden, ohne dass ich auch meine eigene Trennungsbiografie etwas genauer unter die Lupe nehme.
Trennungen in meiner Kinder- und Jugendzeit