Wenn wir wieder eine Familie wären… - Anna Sonngarten - E-Book

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Anna Sonngarten

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Wie immer klingelte Mathias Berlingers Handy im ungünstigsten Augenblick. So dachte er zumindest, als er seine kleine Alpakaherde aus den Stallungen nach draußen auf die Weide trieb. Manche seiner flauschigen Schützlinge mit dem lustigen Puschel auf dem Kopf blieben gerne mal stehen und grasten, anstatt sich vorwärts zu bewegen. Dann musste Mathias mit Rufen die Tiere zum Weiterlaufen bewegen. Aber jetzt übertönte das Klingeln seine Bemühungen. Er nahm das Gespräch an und klemmte sich das Smartphone zwischen Ohr und hochgezogene Schulter, um weiter beide Arme frei zu haben. »Berlinger«, meldete er sich. »Dr. Hauser, guten Tag. Spreche ich mit Mathias Berlinger, dem Vater von Mia Schubert?« Mathias war sofort alarmiert. »Ja, genau. Um was geht es?« »Ihrer Tochter geht es gut. Es geht um die Mutter, Sandra Schubert. Ich rufe aus der Klinik an, weil Frau Schubert einen Nervenzusammenbruch hatte. Sie kann Mia heute nicht von der Schule abholen. Könnten Sie das bitte übernehmen?« »Einen Nervenzusammenbruch?«

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Sophienlust - Die nächste Generation – 80 –

Wenn wir wieder eine Familie wären…

Unveröffentlichter Roman

Anna Sonngarten

Wie immer klingelte Mathias Berlingers Handy im ungünstigsten Augenblick. So dachte er zumindest, als er seine kleine Alpakaherde aus den Stallungen nach draußen auf die Weide trieb. Manche seiner flauschigen Schützlinge mit dem lustigen Puschel auf dem Kopf blieben gerne mal stehen und grasten, anstatt sich vorwärts zu bewegen. Dann musste Mathias mit Rufen die Tiere zum Weiterlaufen bewegen. Aber jetzt übertönte das Klingeln seine Bemühungen. Er nahm das Gespräch an und klemmte sich das Smartphone zwischen Ohr und hochgezogene Schulter, um weiter beide Arme frei zu haben.

»Berlinger«, meldete er sich.

»Dr. Hauser, guten Tag. Spreche ich mit Mathias Berlinger, dem Vater von Mia Schubert?«,

Mathias war sofort alarmiert. »Ja, genau. Um was geht es?«,

»Ihrer Tochter geht es gut. Es geht um die Mutter, Sandra Schubert. Ich rufe aus der Klinik an, weil Frau Schubert einen Nervenzusammenbruch hatte. Sie kann Mia heute nicht von der Schule abholen. Könnten Sie das bitte übernehmen?«

»Einen Nervenzusammenbruch?«, Mathias Berlinger hätte mit fast jeder anderen Diagnose mehr anfangen können.

Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause.

»Wenn Sie sich nicht um ihre Tochter kümmern können, muss ich das Jugendamt einschalten«, sagte der Arzt nüchtern, ohne weitere Erklärung.

»Nein, nein. Das bekomme ich schon geregelt«, beeilte sich Mathias zu versichern.

»Gut, dann wäre das geklärt. Auf Wiedersehen.« Dr. Hauser hatte aufgelegt. Mathias schaute sein Smartphone an, als könne es ihm mehr verraten, als das Wenige, was er zu hören bekommen hatte.

»Nervenzusammenbruch«, wiederholte er und schüttelte den Kopf. Dann sah er auf die Uhrzeit und begann zu rechnen. Für die Strecke von Weidenhain bis nach Maibach brauchte er circa sechzig Minuten. Die Fütterung würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, das Gehege sauber machen, ginge auch später. Die Hengste standen schon auf ihrer separaten Weide. Hoffentlich kam nichts dazwischen. Einige der Stuten waren trächtig. Es blieb ihm noch etwas Zeit, um sich umzuziehen und einen Kaffee zu trinken.

Auf der Fahrt nach Maibach hatte er dann genügend Zeit, um zu überlegen, was er Mia sagen sollte. Obwohl Sandra und er nie verheiratet waren, war Mathias in all den Jahren immer für Sandra und Mia da gewesen, sofern Sandra es zugelassen hatte. Sie hatte das alleinige Sorgerecht, war sehr ehrgeizig und hatte ganz spezielle Vorstellungen von der Erziehung ihrer Tochter. Wenn sie auf Meetings oder Geschäftsreisen war, durfte er einspringen. Sich zu Erziehungsfragen äußern, durfte er hingegen nicht. Diese Gedanken kamen ihm jetzt während der Autofahrt in den Sinn. In den letzten Monaten hatte Sandra oft angespannt gewirkt, aber da sie den Kontakt auf ein Minimum beschränkte, hatte er sich kein Urteil erlauben wollen. Sie gab Mia wie ein sehr wertvolles Gepäckstück bei ihm ab, teilte ihm Neuigkeiten mit wie »Mia verträgt übrigens keine Laktose« oder »am Montag schreibt sie Mathe«, und verschwand. Wenn er Mia wieder zurückbrachte, nahm sie ihre Tochter wie ein Porzellanfigürchen in Augenschein, als müsse sie sich vergewissern, dass Mia keinen Schaden genommen hatte. Mathias entfuhr ein Seufzer, wenn er darüber nachdachte. Den Nervenzusammenbruch brachte er jedoch nicht mit der Frau in Verbindung, die er zu kennen glaubte. Sie war eine Powerfrau. Als er an der Schule in Maibach angekommen war, wusste er immer noch nicht, wie er Mia von dem Ereignis berichten sollte. Er parkte seinen alten Pick-up und ging auf das Schulgebäude zu. Mia stand mit einem anderen Mädchen vor dem Tor. Sie schaute überrascht auf, als sie ihn erkannte.

»Hallo, Papa«, rief sie fröhlich und lief zwei Schritte auf ihn zu. Ihre blonden Kringellocken standen wie üblich zu allen Seiten, sodass sie immer ungekämmt aussah. Mathias liebte seinen kleinen Wildfang. Die blonden Locken hatte er ihr vererbt und vielleicht auch das Ungezwungene, manchmal auch Ungestüme ihres Charakters und ihre Begeisterungsfähigkeit.

»Hallo, Prinzessin«, sagte Mathias und drückte sie an sich.

»Wieso kommst du mich abholen und nicht Mama?«, wollte sie sofort wissen.

»Das erzähle ich dir gleich auf der Heimfahrt«, wich er aus. Doch Mia merkte es nicht, da sie ihm unbedingt Vicky vorstellen wollte.

»Das ist Vicky, Papa. Wir sind zusammen in einer Gruppe für das Zirkusprojekt. Vicky will auch zu den Bodenakrobaten«, sagte sie begeistert.

»Hallo, Vicky«, begrüßte Mathias Mias Freundin. Er wusste nichts von einem Zirkusprojekt, aber das würde ihm Mia schon noch erklären.

»Wie kommst du denn nach Hause, Vicky. Können wir dich mitnehmen?«, fragte er dann.

»Vielen Dank, aber ich werde abgeholt«, antwortete Vicky und Mia ergänzte, dass Vicky doch in Sophienlust wohnt und immer vom roten Bus abgeholt wird. Mathias hatte dunkel in Erinnerung schon einmal von Sophienlust gehört zu haben, aber da der rote Bus gerade um die Ecke bog und sich die Mädchen verabschiedeten, sparte er sich auch diese Frage für den Rückweg auf. Aber zuerst wollte Mia ihm unbedingt vom Zirkusprojekt erzählen. Sie kletterte in den Pick-up und schnallte sich an.

»Das ist kein normaler Zirkus, sondern ein Mitmachzirkus für Kinder. Der Zirkus heißt ›Simsalabim‹. Jeder der will, kann mitmachen. Wir werden in Gruppen aufgeteilt. Es gibt die Bodenakrobaten, die Seiltänzer, die Jongleure, die Clowns und die Zauberer. Am Ende, also wenn wir genug geübt haben, treten wir in einer richtigen Manege auf. Ich bin schon so aufgeregt. Das wird bestimmt toll. Du kommst doch auch gucken, oder?«,

Mathias lachte. Mia hatte ein mitreißendes Temperament. Ein kleiner Wirbelwind von sprühender Lebhaftigkeit.

»Natürlich. Wo wird denn das Zirkuszelt aufgebaut?«,

»Zuerst sollte das Zelt auf dem Marktplatz aufgebaut werden, aber das klappt nicht. Ich weiß nicht, wieso. Bestimmt finden die bald einen anderen Platz«, sagte Mia optimistisch.

Mathias setzte zu seiner Erklärung an, wieso er überhaupt an der Schule war, anstatt Sandra.

»Mia, ich habe heute einen Anruf bekommen. Mama konnte dich nicht abholen, weil sie in der Klinik ist. Ich weiß auch nicht genau, was los ist, aber sie muss wohl eine Weile in der Klinik bleiben.«

»Was? So plötzlich? Gestern war sie doch noch gesund. Was ist denn passiert?«, dem fröhlichen Mädchen standen plötzlich Tränen in den Augen.

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie hat sich vielleicht überarbeitet.« Mathias sagte das ins Blaue hinein. Eine Überarbeitung schien ihm im Bereich des Möglichen zu sein.

»Überarbeitet? Und deshalb muss man ins Krankenhaus?«, fragte Mia. Ihr leuchtete das nicht ein.

»Tja, ich weiß es auch nicht, Mia. Aber das könnte schon sein.«

Mia schwieg. Nach einer Weile sagte sie: »Mama weint in letzter Zeit oft. Sie denkt, dass ich es nicht weiß. Sie geht dann ins Schlafzimmer und macht die Tür zu. Aber ich merke es trotzdem.«

Mathias durchfuhr ein kalter Schauer. Er wusste nicht, wen er mehr bedauern sollte. Sandra, der es offensichtlich schlecht ging, und sie diese Tatsache vor Mia verbergen wollte, oder Mia, die es mitbekam, aber nicht mit ihrer Mutter darüber sprechen konnte. Er musste sich zusammenreißen, um seine Tochter nicht mit Fragen zu löchern. Deshalb wechselte er das Thema und kam auf die Schule zu sprechen.

»Wir müssen überlegen, wie du morgens zur Schule kommst. Am Wochenende machen wir es wie immer, aber es gibt jetzt sehr viel auf der Farm zu tun. Ich kann nicht täglich vier Stunden im Auto sitzen, um dich zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. Ich könnte dich vielleicht in der Schule beurlauben lassen …«, überlegte Mathias.

»Oh nein, Papa. Was ist dann mit dem Zirkusprojekt? Ich habe mich schon so darauf gefreut«, klagte Mia und jetzt rollten die Tränen.

Mathias schaute betroffen. Normalerweise hätte sie sich gefreut, schulfrei zu haben und ihm auf der Farm zu helfen. Aber auf das Zirkusprojekt wollte sie nicht verzichten und Mathias wollte ihr das nicht nehmen.

»Vielleicht kann ich bei Vicky in Sophienlust wohnen. Kannst du nicht mal fragen, ob das ginge. Das ist ein Kinderheim. Die haben viel Platz und alle sind ganz nett.« Mia schaute mit großen Augen und schniefender Nase.

»Tja, ein Kinderheim. Hm, ich kann ja mal nachfragen«, sagte er etwas vage. Ein Kinderheim war für Kinder, die keine Eltern hatten. Bei ihm und Sandra lag der Fall etwas anders, dachte er.

»Machst du das wirklich, Papa? Nur solange das Zirkusprojekt läuft. Danach möchte ich wieder bei dir wohnen und bei Mama natürlich«, fragte sie voller Hoffnung.

Mathias lächelte etwas gequält. Aber es passte zu Mia. Sie war so unerschrocken und optimistisch. Ihr kam gar nicht in den Sinn, dass es ihr in dem Heim nicht gefallen, oder dass sie Heimweh bekommen könnte. Dabei hatte er geglaubt, dass das Leben auf einer Alpakafarm Abenteuer genug sei.

*

Auch in Sophienlust gab es nur ein Gesprächsthema. Das Zirkusprojekt. Beim Mittagessen im großen Esszimmer, wo sich zur Mittagszeit alle versammelten, ging es lebhaft zu. Die Kinder erzählten sich gegenseitig, in welcher Gruppe sie angemeldet sind. Mehr oder weniger redeten alle durcheinander. Denise von Schoenecker und Dominik von Wellentin-Schoenecker hatten etwas Mühe, alles zu verstehen.

»Martin und ich sind bei den Jongleuren«, verkündete Fabian stolz und warf gleich mal ein paar Äpfel in die Luft, die er nur knapp wieder auffing.

»Kim und ich sind bei den Clowns«, sagte Heidi. Kim schnitt Grimassen und watschelte um den Tisch wie ein Pinguin. Alle lachten.

»Und Simon? Was machst du?«, fragte Heidi. »Bist du auch bei den Jongleuren?«,

»Nein, ich dachte eigentlich, dass ich etwas mit Hugo und Habakuk mache. Also eine eigene Nummer.«

»Das wäre cool. Aber was machst du, wenn deine Papageien wegfliegen?«, fragte Pünktchen.

»Das wäre schlecht«, gab Simon zu. »Das muss ich mir nochmal überlegen. Was machst du denn, Pünktchen?«,

»Seiltanz«, sagte Pünktchen prompt.

»Traust du dich das?«, fragten die Schwestern Angelika und Vicky wie aus einem Mund.

»Klar, ich glaube, dass ich das in meinen Genen habe«, sagte Pünktchen lachend. Denise warf ihrem Sohn Dominik, der von allen Nick genannt wurde, einen Blick zu. Nick bemerkte es nicht, sondern sah Pünktchen aufmerksam an. Pünktchens Eltern waren vor vielen Jahren bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen. Pünktchen war von Nick aufgelesen und gerettet worden. Sie wäre wahrscheinlich im Zirkus geblieben, hätte es diesen schrecklichen Unfall nicht gegeben.

»Angelika und ich sind bei den Bodenakrobaten. Meine Freundin Mia ist auch dabei und noch viele andere Kinder. Wir werden Menschenpyramiden machen«, sagte Vicky.

Magda kam gerade mit dem Nachtisch herein. Sie hatte das von den Menschenpyramiden mitbekommen.

»Ach du meine Güte. Was die Kinder heutzutage alles in der Schule machen. Als ob das sein müsste«, brummte sie und stellte Himbeertörtchen auf den Tisch.

»Oh, Himbeertörtchen lecker?«, riefen alle durcheinander. Das bevorstehende Projekt hatte die Kinder in Aufregung versetzt. In Sophienlust war es immer lebhaft, aber jetzt hätte Denise beinahe ihr Smartphone nicht klingeln gehört. Sie ging in ihr Büro, um in Ruhe telefonieren zu können.

»Denise von Schoenecker.«

»Guten Tag, mein Name ist Mathias Berlinger. Wir haben ein Problem. Meine Tochter Mia geht in Maibach zur Schule. Jetzt ist ihre Mutter in der Klinik, und ich wohne recht weit entfernt. Zu weit, um sie täglich zur Schule zu fahren. Ich würde Mia beurlauben lassen, aber sie will unbedingt beim Zirkusprojekt mitmachen. Sie ist mit Vicky bei den Bodenakrobaten …«

»Verstehe, bei uns gibt es zurzeit auch nur noch das Thema Zirkus. Mia soll also solange hier bei uns in Sophienlust wohnen, bis ihre Mutter genesen ist?«,

»Ja, mir ist das etwas unangenehm. Ein echter Notfall ist das nicht. Sie nehmen ansonsten bestimmt Kinder auf, die ein schweres Schicksal haben …«, sagte Mathias zögernd.

»Ja, das ist richtig. Sie könnten vielleicht auch Urlaub nehmen, um die Versorgungslücke zu schließen«, schlug Denise vor. Sie wollte klarstellen, dass Sophienlust kein Kinderhotel war, wo man Kinder, die nicht in den Alltag passten, einfach abgeben konnte.

»Nein, das geht wirklich nicht. Ich habe eine Alpakafarm. Ich kann gar keinen Urlaub nehmen. Es ist momentan sehr viel auf dem Hof zu tun …«, versuchte Mathias seine Situation zu erklären. »Wie gesagt, ich würde Mia einfach auf der Farm lassen, aber sie will unbedingt zur Schule.«

»Verstehe, wo ist denn Ihre Farm?«, fragte Denise.

»In Weidenhain. Die Fahrt zur Schule dauert etwa 60 Minuten. Ich müsste die Strecke viermal am Tag fahren und wäre somit vier Stunden am Tag nicht bei den Tieren. Das geht nicht.«

»Okay, dann kommen Sie doch am Sonntagnachmittag mit Mia vorbei.«

»Danke, das machen wir«, sagte Mathias und zeigte Mia einen Daumen hoch an. Sie hatte mit gespannter Erwartung zugehört und freute sich jetzt. Doch dann schlug ihre Stimmung wieder um.

»Was wird Mama dazu sagen? Sie will bestimmt nicht, dass ich in einem Kinderheim lebe.«

»Wir müssen erst einmal herausfinden, was mit Mama überhaupt los ist und wann sie wieder nach Hause kommt«, meinte Mathias. »Aber jetzt muss ich zuerst nach den Tieren sehen. Kommst du mit?«,

»Klar, komme ich mit«, sagte Mia und sprang auf.

Mathias wollte sich zunächst allein nach Sandra erkundigen. Mia war ein verständiges Mädchen, aber sie war erst zwölf. Was ein Nervenzusammenbruch war, musste sie noch nicht wissen.

*

In der Werbeagentur »Logotop« war der Ausraster von Sandra Schubert Thema Nummer eins. Allerdings trauten sich die Mitarbeiter nicht, offen darüber zu sprechen, sondern trafen sich wie zufällig in Kleingruppen auf der Toilette. Die verschreckte Praktikantin Jessi, die Opfer von Sandras Attacke geworden war, versuchte ihr verschmiertes Augen-Make-up in Ordnung zu bringen. Dagmar Jordans, die Chefsekretärin stand mit dem Rücken zum Spiegel, und Katja Lange, die erste Assistentin, zog ihre Lippen nach.

»Kein Wort nach draußen, Jessi. In Ihrem Vertrag steht, dass keine Interna die Räume der Agentur verlassen dürfen«, sagte die Chefsekretärin streng zu der Praktikantin.

»Lass die Kleine doch mal Luft holen, Dagmar. Ist schließlich nicht normal, mit einer Topfpflanze beworfen zu werden. Gut, dass sie nicht getroffen worden ist«, sprang ihr die erste Assistentin bei.

»Ich möchte mal wissen, was in die gefahren ist. Die glaubt wohl, weil sie sich mit dem Chef so gut versteht, kann sie sich alles herausnehmen«, erboste sich die Assistentin.

Dagmar Jordans sagte nichts dazu. Die beiden anderen Frauen warteten auf eine Reaktion der Chefsekretärin.

»Stimmt doch, Dagmar oder? Du hast die beiden doch auch schon privat zusammen gesehen.« Katja Lange wollte eine Bestätigung ihres Verdachts.

»Die haben doch etwas miteinander, oder?«, Katja ließ nicht locker. Die Praktikantin schaute unsicher zwischen den beiden Frauen hin und her. »Ich mach dann mal weiter«, sagte sie und verließ den Raum.

»Mensch Katja, reicht es nicht, dass die Projektleiterin einen Ausraster vor dem ganzen Team hatte? Jetzt muss die Praktikantin nicht auch noch wissen, dass Sandra etwas mit dem Chef hat«, tadelte die Assistentin.

»Also doch, ich wusste es«, triumphierte Katja, und Dagmar verdrehte die Augen. »Glaub` jetzt nur nicht, dass Hartmut Dietrich ein guter Fang ist«, murmelte sie.

»Wieso? Weil er verheiratet ist?«, fragte Katja spöttisch.

»Das auch«, sagte Dagmar lakonisch und Katja wusste, dass sie nicht mehr erfahren würde. Aber egal, was Dagmar von ihrem Chef hielt. Katja wäre bereit, Sandras Platz einzunehmen. Hartmut Dietrich sah verdammt gut aus, war überaus charmant und nahm es mit der ehelichen Treue nicht so genau. Katja war sich sicher, dass der Chef keine Geliebte wollte, die seinen Mitarbeitern Topfpflanzen hinterherwarf. Männer mögen keine hysterischen Frauen. Sie strich ihren Bleistiftrock über den Hüften glatt und stöckelte davon. Dagmar blieb allein zurück und atmete tief aus. Dann sah sie in den Spiegel. Sie sah gut aus. Die Zweiundvierzig sah man ihr nicht an. Aber sie hatte ihre besten Jahre an einen Mann vergeudet, der es nicht wert war. Eine Erkenntnis, die immer noch bitter schmeckte. Aber der schmerzhafteste Moment ihres Lebens war ihre Fehlgeburt gewesen. Und nicht Hartmut Dietrich hatte sie in der Klinik besucht, sondern Amalia, Hartmuts Frau. Das war zehn Jahre her. Seitdem wusste Dagmar, was eine »französische Ehe« war.

»Warum verlassen Sie ihren Mann nicht, wenn sie wissen, dass er ein Playboy ist?«, hatte sie Amalia Dietrich gefragt.

»Ich halte es wie die Französinnen. Frankreich ist das Mutterland der Mätressen. Französinnen lassen ihren Männern unter bestimmten Voraussetzungen ihre Freiheit. Ich möchte verheiratet bleiben. Eine geschiedene Frau rangiert in bestimmten Kreisen unterhalb einer Ehefrau. Das mag altmodisch sein, da gebe ich Ihnen recht. Ich verlange von meinem Mann keine Treue. Aber ich möchte nicht bloßgestellt werden. Damit meine ich, dass ich ihm seine Gespielinnen erlaube, solange nichts davon an die Öffentlichkeit gelangt und die Familie hat für ihn immer an erster Stelle zu stehen.«

Bei dem Wort Gespielin war Dagmar innerlich zusammengezuckt.