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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Rektor Feldhege eröffnete die Konferenz mit einem Blick in die Runde und räusperte sich. Die Stimmung war angespannt. »Danke, dass Sie alle gekommen sind. Daniel, du weißt, um was es geht. Wie überlegen gemeinsam, wie wir mit deinen Verfehlungen umgehen sollen, also welches Strafmaß angewendet werden soll, aber vor allem, wie du dich in Zukunft besser unter Kontrolle hältst.« Feldhege sortierte irgendwelche Papiere. Ihm war deutlich anzumerken, dass ihm diese Konferenz keine Freude bereitete. Er war es nicht gewohnt, über Schüler zu richten. Der Junge hatte die Schultasche eines Mitschülers aus dem Fenster geworfen und als ihn die Lehrerin zurechtwies, seinen Stuhl nach ihr geworfen. Dann hatte der Dreizehnjährige herumgebrüllt, die Lehrerin mit Worten beschimpft, die der Rektor nicht wiederholen würde, und das alles aus einem Anlass, den niemand kannte. Was war nur in ihn gefahren? Aus dem unauffälligen Dreizehnjährigen war plötzlich ein unberechenbarer Wüterich geworden. »Wenn ich vielleicht vorab etwas sagen dürfte«, meldete sich Norbert Hauser leise zu Wort. Der Pflegevater von Daniel wirkte müde und erschöpft. Angelina Dommin, die als Schülervertreterin anwesend war, schätzte ihn auf Mitte vierzig. Vielleicht auch älter. Sein graues Gesicht unter einem Drei-Tage-Bart sah aus, als hätte er tagelang nicht geschlafen. »Ja, natürlich«, gab ihm der Schulleiter das Wort.
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Seitenzahl: 128
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Rektor Feldhege eröffnete die Konferenz mit einem Blick in die Runde und räusperte sich. Die Stimmung war angespannt.
»Danke, dass Sie alle gekommen sind. Daniel, du weißt, um was es geht. Wie überlegen gemeinsam, wie wir mit deinen Verfehlungen umgehen sollen, also welches Strafmaß angewendet werden soll, aber vor allem, wie du dich in Zukunft besser unter Kontrolle hältst.« Feldhege sortierte irgendwelche Papiere. Ihm war deutlich anzumerken, dass ihm diese Konferenz keine Freude bereitete. Er war es nicht gewohnt, über Schüler zu richten. Der Junge hatte die Schultasche eines Mitschülers aus dem Fenster geworfen und als ihn die Lehrerin zurechtwies, seinen Stuhl nach ihr geworfen. Dann hatte der Dreizehnjährige herumgebrüllt, die Lehrerin mit Worten beschimpft, die der Rektor nicht wiederholen würde, und das alles aus einem Anlass, den niemand kannte. Was war nur in ihn gefahren? Aus dem unauffälligen Dreizehnjährigen war plötzlich ein unberechenbarer Wüterich geworden.
»Wenn ich vielleicht vorab etwas sagen dürfte«, meldete sich Norbert Hauser leise zu Wort. Der Pflegevater von Daniel wirkte müde und erschöpft. Angelina Dommin, die als Schülervertreterin anwesend war, schätzte ihn auf Mitte vierzig. Vielleicht auch älter. Sein graues Gesicht unter einem Drei-Tage-Bart sah aus, als hätte er tagelang nicht geschlafen.
»Ja, natürlich«, gab ihm der Schulleiter das Wort.
»Wie Sie wissen, bin ich der Pflegevater von Daniel. Vor einem Jahr ist meine Frau Edith gestorben, Daniels Pflegemutter. Wir haben vor vielen Jahren zusammen die Entscheidung getroffen, Pflegekinder aufzunehmen. Zunächst standen wir dem Jugendamt nur als Bereitschaftspflegeltern zur Verfügung. Wir haben Kinder in Notsituationen aufgenommen. Viele von ihnen konnten nach einigen Wochen zurück zu ihren leiblichen Eltern. Bei Daniel war es anders. Er ist geblieben. Daniel steht unter der Vormundschaft des Jugendamts. Ich habe nach dem Tod meiner Frau überlegt, ob ich es überhaupt alleine schaffen kann … Ich glaube inzwischen, dass ich mit allem überfordert bin. Für Daniel ist es natürlich auch sehr schwer …« Er ließ den letzten Satz in der Luft hängen, als sei damit alles gesagt, aber der jungen Lehrerin, die der Stuhl nur knapp verfehlt hatte, war diese Erklärung zu dürftig. Zumal der Tod von Daniels Pflegemutter schon ein Jahr zurücklag.
»Wollen Sie damit andeuten, dass wir Verständnis haben sollten, für den Ausraster von ihrem Pflegesohn? Ich weiß ja nicht, wie Sie es fänden, einen Stuhl an den Kopf geworfen zu bekommen … Ich bin jedenfalls nicht länger bereit, Daniel in meiner Klasse zu unterrichten. Der Junge ist gemeingefährlich. Ich plädiere für einen Schulausschluss«, schimpfte Frau Winterstein mit schrillem Tonfall.
Norbert Hauser zuckte zusammen und verzog fast schmerzhaft das Gesicht. Daniel blieb hingegen scheinbar völlig unbeeindruckt, als ginge ihn das alles nichts an. Der schmächtige Junge hing lässig auf seinem Stuhl in übergroßen Klamotten, wie sie jetzt offenbar modern waren. Seine Baseballkappe hatte er nur abgenommen, weil er vorab dazu aufgefordert worden war. Sein aschblondes Haar war kurz geschnitten. Sein Gesicht zeigte keine Emotion. Ausdruckslos und starr blickte er auf den Tisch.
Schulleiter Feldhege hob abwehrend die Hände hoch. Welche Konsequenzen der Fall nach sich ziehen sollte, war nicht die Angelegenheit der jungen unerfahrenen Lehrerin, in deren Klassen es schon mehrfach Unruhe gegeben hatte.
Martin Felder, der als Zeuge des Vorfalls dabei war, schob Angelina einen Zettel hin. Das rotblonde Mädchen mit den Sommersprossen in dem zartblassen Gesicht warf einen schnellen Blick auf die Notiz. »Nick könnte helfen.« Angelina nickte und sah Martin kurz an. Dann fasste sie den Mut, sich als Schülervertreterin einzubringen.
»Ich möchte einen Vorschlag machen. Frau Winterstein, Sie haben natürlich recht. Es ist inakzeptabel, wie sich Daniel Ihnen gegenüber verhalten hat. Aber wir haben es mit einer besonderen Situation zu tun. Wir würden gerne vorschlagen, dass Dominik von Wellentin-Schoenecker einbezogen wird. Vielleicht könnte eine andere Wohnsituation helfen. Vielleicht könnte Daniel vorübergehend bei uns in Sophienlust wohnen.«
»Es ist wirklich rührend, Angelina, wie deine Freunde und du das Kinderheim Sophienlust den Himmel loben. Es scheint ja geradezu das Paradies auf Erden zu sein. Ein Ort, wo wahre Wunder geschehen«, spottete die Lehrerin gereizt und lächelte schmallippig.
Daniel sah Angelina und Martin erschrocken, aber auch neugierig an. Er kannte beide. Martin sowieso, denn er war der Klassensprecher seiner Klasse. Angelina wurde von ihren Freunden Pünktchen genannt. Er bewunderte sie. Sie war schon sechzehn, sehr selbstbewusst, aber trotzdem nett.
Rektor Feldhege atmete auf. Endlich ein konstruktiver Vorschlag, der hoffentlich etwas Ruhe in die Angelegenheit brachte.
»Danke, Angelina. Ich werde mich mit Herrn von Wellentin-Schoenecker in Verbindung setzten«, reagierte der Rektor wohlwollend. Er schätzte die Kinder von Sophienlust sehr und wollte Angelinas Vorschlag überdenken. Egal wie Frau Winterstein dazu stand.
»Und nun wieder zu dir Daniel«, fuhr er fort. »Das Mindeste was wir von dir erwarten, ist eine Entschuldigung. Am besten wäre auch eine Erklärung. Was hat dich so in Rage versetzt?« Rektor Feldhege versuchte es noch einmal. Bisher hatte der Junge beharrlich zu dem Ausraster geschwiegen.
»Tschuldigung. Aber niemand darf etwas über meine Mutter sagen«, platzte Daniel heraus.
»Du meinst deine Pflegemutter?«, wollte der Rektor wissen.
»Nein, meine richtige Mutter«, korrigierte der Junge, wobei er das Wort »richtige« mit Nachdruck betonte. Als wäre seine Pflegemutter eine »falsche« Mutter gewesen.
Alle schauten auf Norbert Hauser und Daniel Luchtenberg. Die leibliche Mutter von Daniel spielte also auch noch eine Rolle. Norbert sah seinen Pflegesohn aus dunklen traurigen Augen an.
»Ach Junge … du verrennst dich … Nicht schon wieder«, sagte er resigniert.
Daniel presste die Lippen trotzig aufeinander und brütete weiter vor sich hin.
Der Rektor war erfahren genug zu erkennen, dass Daniel Luchtenberg aus Unterbach, der seit der fünften Klasse auf das Gymnasium in Maibach ging, offenbar in einer schwierigen Phase war. Mit Beginn der Pubertät wurden Fragen zur eigenen Identität plötzlich übergroß. Sein Pflegevater, Herr Hauser schien weder darauf vorbereitet, noch wegen seiner Trauer um seine Ehefrau in der Lage zu sein, Daniel die Antworten zu geben, die der Junge brauchte. Der Mann schien selber Hilfe zu benötigen. Angelina hatte recht. Er würde sich mit Dominik von Wellentin-Schoenecker in Verbindung setzten. Um seine junge und etwas schwierige Kollegin Frau Winterstein nicht zu verprellen, kam der Rektor zu einer raschen Entscheidung. Er schloss Daniel für zwei Wochen vom Unterricht aus. Diese Wochen würde dem Jungen Zeit verschaffen, über sein Verhalten nachzudenken und er hätte als Schulleiter Zeit, sich ein genaueres Bild über die Lage zu verschaffen. Ein anderes Umfeld könnte vorübergehend Druck aus der Situation nehmen. Bislang gab es wegen Daniel keine Beschwerden. Aber in der Pubertät wurden die Karten neu gemischt. Diese Erfahrung machten viele Lehrer. Kinder, die immer aufmerksam und freundlich waren, wurden scheinbar über Nacht unkonzentriert und unleidlich. Zum Glück waren nicht alle so. Martin Felder war so ein Beispiel, dachte der Rektor. Vernünftig und ruhig. Wenn alle Schüler so wären wie er, wäre Lehrer zu sein ein Traumberuf. Der Rektor sah seine Kollegin Frau Winterstein an. Sie wich seinem Blick aus. Sie wollte einen Schulverweis. Das wusste Feldhege. Aber ihm schien eine so weitreichende und harte Strafe voreilig. Hoffentlich behalte ich recht, dachte er und beendete die Konferenz.
*
Martin Felder war der Klassensprecher der Klasse 7b. Er war Augenzeuge des Vorfalls gewesen. Was davor geschehen war, also was zu dem Ausraster geführt hatte, wusste er aber nicht. Daniel Luchtenberg hatte wenig Kontakt in der Klasse. Er blieb für sich, sprach wenig und schaute zumeist finster unter seiner Kappe hervor, die er niemals freiwillig abnahm. Einige Lehrer bestanden darauf, andere ließen ihn gewähren.
»Und er hat er einfach einen Stuhl nach Frau Winterstein geworfen?«, fragte Kim entsetzt. Der Siebenjährige ging wie die neunjährige Heidi noch in die Grundschule in Bachenau und konnte sich nicht vorstellen, dass ein Kind so etwas machte.
Alle saßen wie immer zur Mittagzeit um den großen Tisch im Esszimmer, wo Martin und Pünktchen erzählen sollten, was bei der Konferenz herausgekommen war und welche Konsequenzen der Vorfall für Daniel haben würde.
»Das ist das Problem. Ich beobachte schon lange, dass Claudius Daniel ärgert. Aber warum er plötzlich so ausgerastet ist, weiß ich nicht. Zuerst hat er die Tasche von Claudius aus dem Fenster geworfen. Dann hat Frau Winterstein ihn zurechtgewiesen und ihm befohlen die Schultasche zu holen. Dann hat Daniel einen Stuhl nach ihr geworfen und schlimme Sachen gebrüllt«, rekapitulierte Martin den Vorfall.
»Dann hat Claudius irgendetwas fieses gemacht oder gesagt. Ist doch klar«, behauptete Simon. Er war nicht dabei gewesen, aber er war sich sicher, dass es so gewesen sein musste.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Vicky.
»Weil ich Claudius kenne«, antwortete Simon lapidar.
»Auf der Konferenz hat Daniel gesagt, dass niemand etwas über seine Mutter sagen darf. Aber er meinte nicht seine Pflegemutter, sondern seine richtige Mutter«, berichtete Pünktchen.
»Daniel ist also nicht adoptiert worden?«, wollte die Kinderschwester Regine Nielsen wissen.
»Nein. Er lebt bei seinem Pflegevater. Seine Pflegemutter ist vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, wusste Dominik von Wellentin-Schoenecker, der von allen nur Nick genannt wurde.
»Was ist denn der Unterschied zwischen Adoptiveltern und Pflegeeltern?«, fragte Angelika.
»Pflegekinder sind rechtlich gesehen immer noch die Kinder der leiblichen Eltern. Das Sorgerecht können ein Vormund, das Jugendamt oder auch die Pflegeeltern übernehmen. Pflegeeltern erhalten eine Erstattung der Unterhaltskosten für das Pflegekind. Aber auch ohne Sorgerecht bleiben die Pflegekinder oft bis zum achtzehnten Lebensjahr bei ihren Pflegeeltern, die sich um alles kümmern. Der Kontakt zu den leiblichen Eltern sollte aber, wenn möglich, bestehen bleiben.« Nick hatte sich mit dem Thema beschäftigt, weil er als Besitzer eines Kinderheims mit solchen Fragen immer mal wieder konfrontiert wurde.
»Das verstehe ich nicht. Wenn es doch Eltern gibt, warum kümmern die sich nicht um ihre Kinder?«, fragte Vicky. Sie war dreizehn und die jüngere Schwester von Angelika.
»Genau. Das verstehe ich auch nicht«, bekräftigte Heidi.
»Das ist nicht so ganz einfach zu erklären. Manchmal schaffen Eltern es einfach nicht ein Kind zu betreuen. Sie haben vielleicht eigene Problem oder sie sind noch sehr jung, wenn das Baby kommt«, blieb Nick etwas vage in seiner Erklärung. Natürlich wusste er es genauer, aber für die kleine Heidi waren das genug Informationen.
»Daniel hat also auch noch Kontakt zu seinen richtigen Eltern?«, fragte Fabian.
»Das weiß ich nicht. Aber es hörte sich so an. Der Rektor hat mich zum Gespräch eingeladen. Er möchte mit mir über den Fall sprechen. Wir werden es sicher bald erfahren«, vertröstete Nick die Kinder.
Rosi hatte sich nicht an dem Gespräch beteiligt. Sie hatte eine Mutter und lebte trotzdem in Sophienlust, weil ihre Mutter sie nicht wollte. Manchmal dachte das Mädchen, dass es einfacher war, keine Eltern zu haben. Nicht gewollt zu sein, erschien ihr härter zu sein, als der Verlust der Eltern. Wenn Tante Isi nicht gewesen wäre, und sie nicht in Sophienlust hätte bleiben dürfen, … das wollte sie sich lieber nicht ausmalen. Tante Isi wurde Denise von Schoenecker von den Kindern genannt. Sie war Nicks Mutter, die für ihren Sohn sein Erbe viele Jahre verwaltet hatte. Nicks Urgroßmutter Sophie von Wellentin hatte veranlasst, das ehrwürdige Herrenhaus in ein Kinderheim umzuwandeln. Seit ein paar Jahren war Nick nun verantwortlich für die Geschicke von Sophienlust.
»Vielleicht können wir Daniel helfen. Hier in Sophienlust wird er bestimmt wieder normal und wirft weder mit Schultaschen noch mit Stühlen um sich«, überlegte Magda. Die Köchin und gute Seele von Sophienlust kam soeben mit einem großen Blech Apfelkuchen aus der Küche. Sie neigte zu pragmatischen Ansichten und einfachen Lösungen. Es gab eigentlich nichts, was man ihrer Ansicht nach nicht mit gutem Essen aus der Welt schaffen konnte. Der herrliche Duft des frischgebackenen Apfelkuchens schien ihr für dem Moment recht zugeben. Alle griffen zu und ließen es sich schmecken.
Else Rennert zog hingegen die Augenbrauen hoch. Die Heimleiterin nahm gerne jede Herausforderung an, aber ein Pflegekind, das zu Gewaltausbrüchen neigte, war vielleicht selbst für Sophienlust eine Überforderung. Es gab schließlich auch noch jüngere Kinder wie Marie und Leon, die gerade mal im Kindergartenalter waren. Diese Kleinen zu beschützen hatte oberste Priorität. Als hätte Nick Elses Gedanken erraten, sagte er: »Ich werde nichts voreilig entscheiden. Mal sehen, was der Rektor zu sagen hat.«
*
Der Schulleiter hatte eine Menge zu sagen, denn er hatte sich ausführlich mit dem Pflegevater von Daniel unterhalten. Dabei hatte er von Norbert Hauser ihm bisher unbekannte Details erfahren. Doch zunächst wollte er gegenüber Nick seinen Standpunkt als Rektor eines Gymnasiums erläutern.
»Ich bin für den Schulfrieden verantwortlich. So ein Vorfall macht unter der Elternschaft schnell die Runde. Wir sind ja nicht in Berlin an einer Brennpunktschule, wo man anderes gewohnt ist. Hier werden schnell altbekannte Vorurteile gegenüber Pflegekindern laut. Die Mutter von dem Jungen, dessen Schultasche aus dem Fenster geflogen ist, hat Daniel sogar als Systemsprenger bezeichnet.«
»Systemsprenger?«, fragte Nick ungläubig.
»Ja, so nennt man Kinder, für die es keine geeigneten Maßnahmen oder Therapien in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt. Sie werden immer weitergereicht und erfahren immer wieder Bindungsabbrüche«, erklärte der Rektor.
»Ja, den Begriff Systemsprenger kenne ich wohl, aber das ist doch etwas übertrieben. Der Junge hat sich natürlich falsch verhalten …er scheint in einer schwierigen Phase zu sein …aber ...«
»Die Eltern haben wie gesagt Vorurteile gegenüber Pflegekindern«, bekräftigte Feldhege.
»Die da wären?« Nick wollte wissen, was in der Elternschaft über Daniel geredet wurde.
»Ich glaube, Sie wissen, was ich meine. Ein Pflegekind hat Eltern, die nicht in der Lage waren oder sind, sich um ihr Kind zu kümmern. Diese Kinder erlebten oft Verwahrlosung, Gewalt und Hunger, anstatt Liebe und Fürsorge. Solche Kinder sind dann später nicht selten auffällig in ihrem Verhalten und in der Pubertät ändert sich plötzlich noch einmal alles dramatisch zum Negativen. Ein Waisenkind hatte oft liebende Eltern, die tragischerweise ums Leben kamen. Das ist ein fundamentaler Unterschied.«
Dieser Unterschied war Nick natürlich bewusst, aber wie war die Situation genau bei Daniel?
»Daniel war also schon in der Vergangenheit auffällig?«, fragte Nick.
»Nein, eigentlich nicht. Er war immer sehr ruhig und hatte wenig Freunde. Aber er ist ein guter Schüler. Wenn er sich mehr beteiligen würde, wäre er sogar richtig gut.«
»Was wissen Sie über die leiblichen Eltern?« Nick hatte das Gefühl, dass der Rektor ihm etwas verschwieg.
»Herr Hauser hat nur die Eltern des Mädchens kennengelernt. Der Kontakt läuft über das Jugendamt.«
»Wie bitte? Ist Daniel der Sohn einer Teenagermutter?«
»Ja, genau. Sie war fünfzehn, als sie Daniel bekam. So wie ich Herrn Hauser verstanden habe, wollten die Eltern des Mädchens die Sache vertuschen. Deshalb gab es in den ersten Jahren nur zu den Großeltern von Daniel Kontakt. In den letzten Jahren riss die Verbindung dann endgültig ab.«
»Wissen Sie warum?«
»Nein. Es gibt aber Gerüchte, wie ich von Herrn Hauser weiß. Die Familie der jungen Mutter soll einflussreich und sehr wohlhabend sein. Eine Teenagerschwangerschaft hat etwas Anrüchiges an sich. Die Familie war wohl daran interessiert die Angelegenheit unter Verschluss zu halten. Vom Vater ist nichts bekannt.«
»Interessant. Aber dann treffen die Dinge, die sie eben über Pflegekinder gesagt haben, auf Daniel gar nicht zu.«
»Ja und nein. Daniel erlebte keine Verwahrlosung oder Gewalt, denn er kam direkt nach der Geburt zu Familie Hauser. Für ihn wurde immer gesorgt, aber er hat erfahren, von seiner Mutter nicht gewollt zu werden. Seit einigen Monaten bedrängt er seinen Pflegevater den Kontakt zu seiner Mutter herzustellen. Das hat bisher nicht geklappt. Daniel ist dreizehn. Das ist typischerweise das Alter, wo Kinder anfangen, Fragen zu stellen.«
»Warum hat Familie Hauser Daniel nicht adoptiert?«, wollte Nick wissen.
