Wenn zwei sich streiten, verliebt sich der Dritte - Bettina Brömme - E-Book

Wenn zwei sich streiten, verliebt sich der Dritte E-Book

Bettina Brömme

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Beschreibung

Liebesgeschichte voller Chaos, Missverständnisse, Herzklopfen und noch mehr Chaos! Charlie ist fassungslos: Erst verpasst sie das langersehnte Konzert von Ed Sheeran und dann erfährt sie durch ihren neuen Stiefbruder Jasper auch noch, dass ihre beste Freundin Lou mit Finn geknutscht hat - Charlies festem Freund! Vor lauter Wut produziert sie eine letzte Folge für den Freundschafts-Podcast, den sie seit vielen Jahren gemeinsam mit Lou betreibt. Zu ihrer Überraschung geht der dazugehörige Insta-Post viral! Und während Charlie mit jeder Menge Chaos, Liebeskummer und Freundschaftskrieg beschäftigt ist, schleicht sich jemand ganz heimlich in ihr Herz, den sie gar nicht auf dem Schirm hatte …

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Seitenzahl: 355

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18, pleite und planlos, aber immerhin sehen wir gut dabei aus

 

 

 

Bettina Brömme

träumte schon als Kind von einer Reise durch Neuseeland. Bevor sie es vor einigen Jahren tatsächlich schaffte, mit einem Wohnmobil über die Nord- und Südinsel zu fahren, volontierte sie bei einem großen Zeitschriftenverlag, studierte Germanistik, Journalistik und Kunstgeschichte und arbeitet bis heute für den Bayerischen Rundfunk. Seit 1998 hat sie witzige und romantische Liebesromane, Jugendbücher, Krimis und Kurzgeschichten veröffentlicht. Als sie Neuseeland für dieses Buch noch einmal in der Fantasie bereiste, wurden fantastische Erlebnisse, wie ein Schwimmen mit Delfinen, gleich wieder so lebendig, als würde ihr Wohnort München selbst am Pazifik liegen.

Mehr Infos und Austausch mit Bettina Brömme unter www.bettinabroemme.de und bei Instagram: tibroe

 

Für Tabea und Anke und alle besten Freundinnen

Bettina Brömme

Wenn zwei sich streiten, verliebt sich der Dritte

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

 

© 2022 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Text © Bettina Brömme

Coverillustration: Ludmila Blum

E-Book-Herstellung:

Arena Verlag mit parsX, pagina GmbH, Tübingen

E-Book ISBN978-3-401-81025-6

 

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

August 2017

 

Ich: »Mir ist langweilig.«

Du: »Am ersten Tag von den Sommerferien ist dir schon langweilig?«

Ich: »Ja. Ist doch öde hier. Blöder Regen.«

Du: »Sollen wir einen Pocast hören? Mein Papa hört ständig Pocasts.«

Ich: »Was ist denn ein Pocast? So was wie GNTM? Nur für Pos? Igitt!«

Du: »Nee, da unterhalten sich Leute über irgendein Thema.«

Ich: »Über Langweile oder so was?«

Du: »Ja, genau. Vielleicht gibt’s was über Trampolinspringen.«

Ich: »Hm. Klingt auch öde.«

Du: »Oder über Freundinnen. Vielleicht gibt es einen Pocast über Freundinnen.«

Ich: »Und du bist sicher, dass es Pocast heißt?«

Du: »Glaub schon.«

Ich: »Können wir auch selber einen Pocast machen?«

Du: »Worüber denn?«

Ich: »Na, über Freundinnen. Da sind wir doch Spezialisten.«

Du: »Stimmt.«

Ich: »Wie macht man einen Pocast?«

Du: »Man nimmt sein Handy und spricht rein. Und dann veröffentlicht man das bei … ähm, Potify oder so.«

Ich: »So einfach?«

Du: »So einfach.«

Ich: »Und das kann dann jeder hören?«

Du: »Hm.«

Ich: »Auch so Deppen wie Finn?«

Du: »Hm. Auch Finn.«

Ich: »Der Depp.«

Du: »Ach, komm, so schlimm ist der nicht. Also, sollen wir?«

Ich: »Okay. Dann reden wir darüber, wie wir Freundinnen wurden.«

Du: »Aber da erinner ich mich nicht dran. Das ist über elf Jahre her. Ich meine, da waren wir drei Wochen alt.«

Ich: »Ich war drei Wochen. Du vier Tage. Egal, dann erfinden wir das eben, wie es war, damals.«

Du: »Okay.«

September 2022

 

Oh, mein Gott, ist mir schlecht. Ich meine, so richtig schlecht. Der Magen dehnt sich bis zum Hals aus. Wie ein Ballon. Der bald platzt. Und es gluckert. Rumort. Und jetzt sammelt sich auch schon Speichel in meinem …

»Hi, ich bin Jasper!«, sagt eine Stimme an meiner Zimmertür.

»Weg da!«, schreie ich, dränge mich an dem fremden Jungen vorbei und schaffe es gerade noch bis ins Badezimmer. Mein Mageninhalt und was weiß ich noch alles landet in der Kloschüssel. Erschöpft sinke ich auf dem Toilettenvorleger zusammen, lege den Arm auf dem Schüsselrand ab und lasse meine Stirn darauf sinken. Scheiße, es rumort immer noch. Und schlecht ist mir noch genau wie gerade eben. Ich richte mich auf, krümme mich nach vorne, Tränen laufen mein Gesicht herunter, was ich hasse, aber bevor ich etwas dagegen tun kann, ergießt sich der nächste Schwall.

»Alles okay?«, fragt eine Stimme von der Tür. Wenn ich mich nicht so ätzend fühlen würde, würde ich glatt loslachen. Nach was sieht’s denn aus?

»Raus!«, schreie ich über die Schulter, habe aber den Eindruck, dass das »S« schon vom nächsten Schwung mitgerissen wird, und ich konzentriere mich wieder ganz schnell auf die Kloschüssel.

Immerhin bekomme ich mit, dass sich die Tür nun hinter mir schließt. Vorsichtshalber bleibe ich noch zehn Minuten im Bad. Als sich mein Magen einigermaßen beruhigt anfühlt, stemme ich mich mühsam hoch. Was war das? Habe ich mir so einen fiesen Magen-Darm-Virus eingefangen? Mein Gesicht im Spiegel ist grauweißfahlgruselig, die Haare hängen kraftlos über die Schultern. Gegen den ekligen Geschmack im Mund putze ich die Zähne und komme dabei das erste Mal zum Nachdenken.

Das eben war also Jasper. Oh holy Shit, was für ein komplett misslungener Auftakt unseres Kennenlernens. Seit Tagen liegt mir Mum in den Ohren, ich soll bloß nett zu ihm sein und ihn freundlich aufnehmen. Das ging schon mal völlig daneben. Ihn mit »Weg da!« anzuschreien, klingt eher nach nicht allzu subtiler Ablehnung. Sicher wird mich meine Mutter gleich forschend ansehen und Theo irgendwas von psychosomatisch zuraunen. Charlie ist es nicht gewohnt zu teilen, wird sie sagen. Bestimmt hat sie sich wieder so dermaßen in irgendwas reingesteigert, dass ihr schlecht geworden ist.

Am liebsten würde ich den Rest des Tages in meinem Zimmer verbringen und niemanden sehen. Nur im Bett liegen, Tee trinken, Ed Sheeran hören und mich per Messenger von Finn und Lou bemitleiden lassen. Ich stelle die Zahnbürste zurück, spüle meinen Mund aus und wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Das tut gut!

In meinem Magen ist zwar immer noch schlechte Stimmung, aber tapfer taste ich mich – auf zugegebenermaßen wackligen Beinen – die Stufen hinunter ins Erdgeschoss. Ich höre schon ihre Stimmen. Mum, Theo, Jasper.

»Ich hoffe, du wirst dich bei uns so richtig wohlfühlen«, sagt Mum.

»Und in der Schule hoffentlich auch«, ergänzt Theo.

»Danke schön. Ja, bestimmt.« Jaspers Deutsch ist akzentfrei, aber klar, er hat ja auch bis zu seinem 14. Lebensjahr hier in München gelebt.

»Blöd, dass Charlie nicht ganz fit ist«, sagt nun meine Mutter und ich versuche, mir ein Lächeln zwischen die Wangen zu klemmen. Ganz schön anstrengend. Denn nun zwickt es auch in meinem Bauch. Ich muss einen Moment stehen bleiben und tief durchatmen, bis der Krampf vorüber ist.

»Ach, da kommt sie ja«, begrüßt mich Theo.

»Geht’s wieder besser?«, fragt Mum mit ihrer Säuselstimme. Offensichtlich sehe ich wirklich krank aus. Denn nur dann spricht sie so. Und das wiederum verstärkt alle Symptome. Also ob ich noch ihr kleines Hätschelbaby wäre.

»Geht schon«, behaupte ich. Normalerweise würde ich Jasper die Hand schütteln, aber ich habe Angst, dass ich ansteckend bin. Also fuchtle ich nur etwas diffus mit den Armen und lasse mich in die Sofaecke plumpsen, die sie mir noch frei gelassen haben. Jetzt weiß ich, warum Theo dieses riesige Trumm bei seinem Einzug vor eineinhalb Jahren mitgebracht hat – weil er damals schon gehofft hat, dass wir die Sofalandschaft irgendwann zu viert besetzen werden, nicht nur zu dritt wie bisher.

»Sorry wegen gerade eben«, sage ich zu Jasper und sorge dafür, dass mir ein paar lange Strähnen ins Gesicht fallen. Ich kann den Impuls nicht unterdrücken und zwirble etwas zu energisch an einer herum.

»Ja, tut mir auch leid«, antwortet er und fährt sich verlegen über seine kurz geschnittenen, dichten Locken. Das schwarze T‑Shirt mit dem V‑Ausschnitt betont den Braunton seiner Haut. Keine Frage – er ist ein ziemlich hübscher Typ. So einen Sohn hätte ich Theo gar nicht zugetraut. Der wirkt gegen Jasper total blass mit seinem schütteren aschblonden Haar und den wasserblauen Augen. Nur sein Kinn verleiht ihm etwas männlich Markantes. Und das scheint Jasper immerhin von ihm geerbt zu haben. Ob seine erstaunlich hellbraunen Augen das Resultat aus Wasserblau und vermutlich Dunkelbraun sind?

»Wie war dein Flug?«, frage ich höflich.

»Okay«, sagt er. Der große Redner scheint er nicht zu sein. Oder ich habe ihn mit meinem Auftritt vorhin verschreckt. »Und was machst du so?« Er räuspert sich. »Ich meine, ähm, wenn du nicht … krank bist.«

»Also, Jasper, hier wird vor allem seit Monaten auf den großen Tag morgen hingefiebert …«, erklärt Theo, bevor ich auch nur einen Piep von mir geben kann.

»Charlie ist ja der größte Ed-Sheeran-Fan unter der Sonne, und natürlich geht sie morgen in die Olympiahalle zu seinem Konzert.«

Ein weiterer Krampf in meinem Inneren lässt mich kurz die Luft anhalten und die Zähne zusammenbeißen. Verdammt, daran habe ich noch gar nicht gedacht – hoffentlich kann ich morgen auch wirklich gehen und bin nicht mehr krank.

»Falls du wieder fit bist«, sagt meine Mutter. »Jasper, stehst du auch auf Ed Sheeran?«

Er nickt ein wenig unbestimmt. Begeisterung sieht anders aus. Und warum fragt Mum überhaupt? Will sie ihm etwa noch eine Karte organisieren? Damit wir gleich etwas zusammen unternehmen können? Der Typ soll mein Zimmernachbar werden und damit hat sich’s. Keiner hat davon gesprochen, dass ich ihn zu meinem besten Freund machen muss. Immerhin werde ich mein Badezimmer mit ihm teilen. Müssen. Ich meine, das ist Entgegenkommen genug. Was wollen sie jetzt noch von mir?

»Na ja, ich dachte …« Meine Mutter spricht sehr langsam. Wie immer, wenn sie sich bemüht, nur nichts Falsches zu sagen. »Wenn Charlie morgen noch krank ist, kann doch Jasper ihre Karte übernehmen.«

Theo strahlt sie begeistert an. »Du müsstest auch nicht allein gehen, Jasper. Charlies Freunde Finn und Lou sind auch dabei. Die wirst du mögen. Total coole Typen!«

Mir wird gleich wieder schlecht. Nicht nur, weil es ja wohl das Uncoolste ist, jemanden als cool zu bezeichnen. Oder Jasper einfach so mit meinen Freunden verkuppeln zu wollen. Nein, richtig übel ist, dass meine eigene Mutter einfach so meine Ed-Sheeran-Karte weitergeben will. Und zwar vermutlich nur, um sich bei ihrem neuen Stiefsohn einzuschleimen. Stattdessen sollte sie doch lieber alles tun, damit es mir bis morgen wieder gut geht. Sie könnte … keine Ahnung! Aber auf keinen Fall meine Karte weiterverschenken! Jetzt erst bemerke ich das merkwürdige Schweigen im Raum. Theo und Mum sehen Jasper nach wie vor erwartungsvoll an.

Dessen Miene ist undurchdringlich. Ist er genervt? Oder leicht amüsiert? Über seiner schmalen Nase blicken die hellbraunen Augen jetzt leicht spöttisch. Anscheinend ist Ed Sheeran vollkommen unter seiner Würde. Oder gilt sein Blick der peinlichen Ausdrucksweise seines Vaters? »Cringe«, würde Theo sagen und sich – genau – total cool und jugendlich vorkommen.

»Na, vielleicht geht es ihr ja morgen wieder gut«, antwortet Jasper schließlich diplomatisch. Sagt er es so, weil er mir das wirklich wünscht, oder will er höflich klarmachen, dass ein Ed-Sheeran-Konzert für ihn nicht infrage kommt?

»Am besten, du isst heute nur Zwieback, und ich mach dir auch gleich eine Kanne Tee, Schatz, ja?«, schlägt meine Mutter vor. Ich nicke. Das ist wirklich lieb von ihr – wird aber vermutlich meinen Infekt nicht von heute auf morgen verjagen. Und außerdem wirke ich jetzt bestimmt wie die kleine, verwöhnte Göre, die sich von Mami verhätscheln lässt. Jasper hat noch immer diesen spöttischen Blick. Oder guckt der einfach auch sonst so?

»In die Schule gehst du erst ab Freitag mit, oder?«, frage ich zur Sicherheit und Jasper nickt. »Weißt du schon, in welche Klasse du kommst?« Ich formuliere ein inneres Stoßgebet, dass es nicht meine ist – ich habe keine Lust, die Babysitterin zu spielen!

»Nee, das erfahre ich erst Freitag«, erklärt er. »Ich habe nur auf der Website gesehen, dass es eine Podcast-AG gibt. Das interessiert mich. Vielleicht kann ich da mitmachen.«

»Oh, Podcasts – Charlies Spezialität.« Meine Mutter rollt verheißungsvoll mit den Augen und ich hasse sie.

»Hab schon gehört, dass du mit einer Freundin Podcasts machst.«

»Ja, bin aber nicht in der AG«, erkläre ich schnell.

Lou ist in der Podcast-AG, die kleine Streberin, aber sie meinte, vielleicht könnte sie da noch etwas Neues lernen, was uns weiterbringt. Ich glaube eher, dass sie dem Schulz noch was beibringen kann. Seit einem Dreivierteljahr haben wir die Zehntausender-Grenze bei den Downloads geknackt – was will sie da noch lernen? Sei nicht so überheblich, höre ich sie in mein Ohr zischen.

»Machst du andere Sachen mit?«, fragt mich Jasper nun.

»Ich spiele in der Schulband.«

Er nickt, sagt aber keinen Ton dazu. Fragt nicht mal, welchen Part ich übernehme.

»Das wäre doch was für dich!«, ruft Theo erfreut aus. »Jasper ist ein begnadeter Klavierspieler.«

»Nein«, sagt Jasper so kurz und so scharf, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Und der Blick, den er seinem Vater dabei zuwirft, ist so eisig, dass er die Sonne in eine Eiskugel verwandeln könnte.

»Schade«, behaupte ich. Wie kommt es, dass man derart lügen kann und es einem garantiert keiner ansieht?

»Na ja, ihr werdet schon miteinander klarkommen«, beendet meine Mutter das Thema. »Und abgemacht – wenn Charlie morgen noch krank ist, dann geht Jasper an ihrer Stelle ins Konzert, okay?«

»Meinetwegen, bevor sie verfällt«, antwortet Jasper, ehe ich auch nur das Anfangs-E des Wortes Einspruch formulieren kann.

Fassungslos starre ich ihn an. Er sieht sich im Zimmer um und ich bin sicher, dass er es bewusst vermeidet, meinen Blick zu erwidern. Am liebsten würde ich ihn anmeckern, dass er ruhig sagen kann, wenn er sie nicht will. Da draußen gibt es massenhaft Leute, die sonst etwas dafür tun würden, eine Karte für das Ed-Sheeran-Konzert zu ergattern. Da muss er nicht so herablassend tun! Aber ein weiterer Krampf in meinem Bauch lässt mich die Luft anhalten und verstummen.

»Okay, zum Abendessen gibt’s Spaghetti carbonara.« Theo tätschelt Jaspers Schulter. »Ich hoffe doch sehr, dass das noch immer dein Lieblingsessen ist.«

Jasper nickt. »Passt. Wobei – könnten wir den Speck weglassen?«

»Stimmt, du bist ja jetzt Vegetarier.« Theo streckt einen Daumen nach oben. »Na klar.«

Immerhin eine Gemeinsamkeit. Aber schon bei der Vorstellung von Sahnesoße, in der sich Käse verklumpt, wird mir gleich wieder schlecht.

»Und du gehörst ins Bett, Madame«, sagt meine Mutter. »Du bist käseweiß. Schlaf dich lieber aus, damit du morgen Abend für das Konzert fit bist.«

»Ich gehe auf keinen Fall in die Schule morgen«, verkünde ich. »Lasst ihr nachher Finn rein? Er wollte nach dem Training noch vorbei …« Und da geht es wieder los. Meine Speiseröhre zieht sich zusammen. Ich presse die Hand vor meinen Mund und spurte in Richtung Gästetoilette.

 

Während sie unten abendessen, liege ich mit einer Wärmflasche auf dem Bauch im Bett. Und neben mir steht jetzt ein alter Eimer. Zur Sicherheit. Doch seit vorhin hat sich mein Magen etwas beruhigt. Was ich vorsichtig als gutes Zeichen werte. Andererseits gibt es auch keinen Inhalt mehr, den ich noch von mir geben könnte.

Ich versuche, mich auf Ed Sheeran zu konzentrieren und »Perfect« mitzusummen. Morgen Abend ist es endlich so weit. Finn und ich haben uns gegenseitig eine Karte letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, die wir irgendwann im Oktober ergattert haben. Lou hat sich selbst eine gekauft und dafür sogar ihr hartnäckig Zusammengespartes angebrochen. Jetzt muss sie noch mal länger warten, bis es für eine neue Bassgitarre reicht. Aber mit uns gemeinsam auf das Konzert zu gehen – das ist das Opfer wert, findet sie.

Nicht mal mehr vierundzwanzig Stunden – und der Master of Pop bringt die Olympiahalle zum Ausrasten! Und wir mittendrin. Mein Freund und meine beste Freundin. Hoffentlich. Immer, wenn ich in den letzten Monaten mal gefrustet war, habe ich an diesen Augenblick gedacht. Ich habe mir »Afterglow« auf der Gitarre beigebracht und versucht, Eds Gesang so gut wie möglich zu imitieren. Was natürlich nicht gelungen ist. Wenigstens die Läufe funktionieren schon ganz geschmeidig. In Hochstimmung bin ich trotzdem nicht. Was, wenn am Ende wirklich mein gelangweilter neuer Stiefbruder an meiner Stelle hingeht? Wie der geguckt hat vorhin … unfassbar!

Es klopft.

Hoffentlich nicht Jasper, der mich über die Schule, die Mitschüler und die Lehrer ausfragen will. Und mir erzählt, dass in London alles besser war.

»Herein.«

»Oh, du Ärmste, deine Mum hat gesagt, wir dürfen kurz zu dir. Bist du echt krank?« Als ich Lous roten Haarschopf und Finns große Gestalt sehe, fühle ich mich sofort besser und winke die beiden heran. Lou will mich umarmen, aber ich wehre ab.

»Lieber nicht, nachher stecke ich dich noch an. Und ich vermute mal, du willst morgen zum Konzert gehen, right?«

»Du musst mitkommen!« Sie presst ihre fein geschwungenen Lippen, die immer so aussehen, als lächle sie, fest aufeinander. »Sonst krieg ich voll die Krise.«

Aus dem Türrahmen hinter ihr löst sich nun Finn, der unseren Dialog geduldig über sich hat ergehen lassen. Auch er beugt sich zu mir herunter, aber ich wuschle nur einmal ganz kurz über seine Locken, die nach dem Fußballtraining feucht an seinem Kopf anliegen. Einen Kuss vermeide ich besser.

»Süße, du musst einfach dabei sein. Ohne dich macht’s voll keinen Spaß!« Seine blauen Augen verdunkeln sich, und er kann es nicht lassen und streichelt meinen Arm. Besser, ich lasse ihn unter der Bettdecke verschwinden.

»Ich hoffe einfach, dass ich bis morgen wieder fit bin.« Mein Lächeln fällt etwas angestrengt aus. »Im schlimmsten Fall müsst ihr ohne mich gehen und hinterher alles berichten.« Wieder schnürt sich meine Kehle zu, aber das liegt diesmal nicht am rebellischen Magen, sondern an den Tränen, die sich ausbreiten wollen. Nicht heulen jetzt! Am liebsten würde ich mich von Finn in die Arme nehmen lassen, aber nicht mal das geht.

Finn schnappt sich die Gitarre, die im Ständer neben meinem Schreibtisch steht, und setzt sich ans Fußende des Bettes. Dann beginnt er »I don’t care« zu zupfen und einen winzigen Moment zu spät fängt Lou an mitzusingen. Immer wenn sie den Text nicht weiß – und das ist sehr oft der Fall – macht sie »Nanananana«. Ich fühle mich viel zu matt, um einzustimmen, aber ich weiß ihre Bemühungen sehr zu schätzen.

»Und wie ist dein neuer Mitbewohner?«, fragt Lou, nachdem sie zu Ende gesungen haben. »Hab ihn unten kurz gesehen. Ist ja voll der Schöne.«

Finn zieht eine Grimasse. »Ich gehe mal davon aus, dass dir das noch nicht aufgefallen ist, Charlie.«

»Du Blödmann«, gebe ich zurück. Ich würde mich so gerne an ihn kuscheln, halte mich aber zurück. »Ich weiß noch nicht so genau. Hat noch nicht viel gesagt. Ein bisschen habe ich das Gefühl, wir sind unter seiner Würde. Hier in der Provinz.«

»Also wenn ich in London leben könnte, würde ich auch niemals nach München ziehen wollen«, überlegt Lou. Sie nimmt Finn die Gitarre ab und zupft ein paar Akkorde. Es klingt wie Hintergrundmusik zu unserem Gespräch.

»Der hat wohl irgendwie Probleme mit seiner Mutter gehabt. Oder mit der Schule? Oder beides? Theo wollte da nichts Genaueres rauslassen. Jedenfalls ging jetzt alles ganz schnell und er ist quasi spontan hergekommen. Ich glaube, die haben das erst letzte Woche entschieden.«

»Ja, krass. Und was für ein Glück, dass er noch einen Platz bekommen hat, obwohl das Schuljahr schon zwei Wochen läuft«, überlegt Finn.

»Sag mal, Charlie«, unterbricht Lou. »Ich weiß, schlechtes Timing, aber wir wollten doch morgen vor dem Konzert noch eine neue Folge produzieren. Und über die Instastory sollten wir uns auch Gedanken machen.«

Ich ziehe die Bettdecke über den Kopf und atme langsam tief aus.

»Wir könnten höchstens Krankenpflegetipps für Freundinnen geben.« Ich weiß nicht genau, ob sie überhaupt versteht, was ich sage. Aber Lou hat ein feines Gehör. Beinahe ein absolutes.

»Hatten wir das Thema nicht schon mal?«, wendet sie ein. Ich komme wieder unter der Bettdecke hervor und zucke mit den Schultern. Mist, jetzt schleicht sich schon wieder so ein gemeiner Krampf an. Ich beiße mir auf die Unterlippe.

»Schmerzen?«, fragt Lou.

»Geht so. Und wir müssen endlich bereden, wie wir nun unseren Geburtstag feiern«, fällt mir ein. »Sind ja nur noch … puh, keine vier Wochen mehr.«

»Bis zu deinem«, erinnert mich Lou. »Bis zu meinem sind es fast noch sechs. Vielleicht können wir ja Emma überreden, dass wir im Holly Golightly feiern dürfen.«

»Ich dachte, die will keine größeren Feiern«, antworte ich. »Aber vielleicht macht sie bei uns eine Ausnahme. So viel Kaffee, wie wir da immer trinken …«

»Ey, die Bergmeier hat heute voll den fiesen Test gemacht«, unterbricht Finn. Er mag es gar nicht, wenn wir über unseren bevorstehenden Geburtstag reden. Schließlich muss er noch zwei Monate warten, bis er endlich siebzehn ist. »Wir mussten Septimen erkennen! Die spinnt doch, wer kann denn so was?«

Ich deute auf Lou. »Sie?«

»Ja, klar, natürlich, okay, und Sebi noch. Aber sonst? Keiner! Ich hab voll abgekackt. Und sie hat’s sogar benotet. Ich glaube, die hatte ihre Tage und war scheiße drauf!«

»Fihinnnn!«, intonieren Lou und ich im Gleichklang.

»Is’ doch wahr«, sagt er nur und streicht sich mit beiden Händen die kinnlangen Locken nach hinten. Außerdem zieht er einen Flunsch, was bei seinen vollen Lippen sehr putzig aussieht. Dabei will er uns nur seine frauenfeindlichen Sprüche vergessen machen.

»Habt ihr euch eigentlich zufällig an meiner Haustür getroffen?«, fällt mir ein. Lou sagt sehr schnell »Ja« und fährt dann fort: »Wärst du echt nicht böse, wenn wir morgen ohne dich aufs Konzert gehen?«

»Natürlich nicht.« Und das meine ich auch so. »Könnt ihr doch nichts dafür, wenn ich krank bin. Übrigens, falls ich es wirklich nicht schaffe, bekommt Jasper meine Karte. Meine Mutter hat da mal eben Fakten geschaffen und ihm das Ticket zugesagt. Und der Typ war noch nicht mal begeistert. Hat eher so getan, als würde er mir damit einen Gefallen tun.«

»Und wir sollen den dann bestimmt auch noch mitnehmen, oder was?«, fragt Finn. »Und beim Konzert auf ihn aufpassen?« Es tut gut, dass er in meinen Ärger einstimmt.

»Ja, nee, weiß ich nicht. Aber meine Mutter könnte auf die Idee kommen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagt Lou. Sie kennt meine Mutter fast genauso gut wie ich. Und fast genauso lange. Mum und ich gehören praktisch zur Familie Jablonski dazu. Bis heute bin ich so froh, dass sich meine und Lous Mutter im Geburtsvorbereitungskurs kennengelernt haben!

»Ähm, Herrschaften!« Meine Mutter streckt den Kopf zur Tür herein. Mal wieder, ohne zu klopfen. »Wenn Charlie morgen wirklich zum Konzert mitsoll, dann solltet ihr sie jetzt schlafen lassen, ja?«

Meine Besucher nicken pflichtschuldigst. Lou räumt die Gitarre weg und Finn wuschelt mir durchs Haar. Er spitzt den Mund und schickt mir einen Luftkuss, Lou genauso. Ich winke und ziehe die Bettdecke an meine Unterlippe. Kaum ist die Tür hinter ihnen geschlossen, merke ich, dass ganz schnell was rausmuss. Aber nicht via Speiseröhre und Mund. Sondern in der entgegengesetzten Richtung. Ich springe – oder wie immer man diese Bewegung in Zeitlupe nennen möchte – aus dem Bett und spurte zum Bad, reiße die Tür auf und blicke auf einen nackten Kerl, der gerade unter der Dusche hervorkommt. Panisch reißt Jasper das erstbeste Handtuch – meins! – vor sich und murmelt so etwas wie »Autsch«.

»Mann, die Tür kann man abschließen!«, rufe ich und flitze schon weiter, die Treppe hinunter. In letzter Sekunde erreiche ich die Gästetoilette. Immerhin lässt der Krampf in meinen Eingeweiden bald nach.

Ich bleibe länger sitzen als nötig, denn ich möchte bei der Rückkehr in mein Zimmer nicht schon wieder dem nackten Adonis begegnen. Okay, der Anblick war nicht ganz unerfreulich. Aber es ist eben genau, wie ich es meiner Mutter in unzähligen Diskussionen versucht habe klarzumachen. Ich will mein Stockwerk nicht mit einem mir völlig unbekannten, pubertierenden Typen teilen! Das gibt nur Unruhe, Ärger und Chaos.

Nach eineinhalb Jahren habe ich mich endlich daran gewöhnt, dass Theo hier wohnt. Ausgerechnet Theo – der Rektor meiner Grundschule. Und dass er Papas altes Arbeitszimmer in sein Arbeitszimmer umgewandelt hat, dass er bei jedem Sonntagsfrühstück langweilige Politkommentare aus der Zeitung vorliest oder über die neuesten Schikanen schimpft, die sich das Schulamt für Grundschullehrer ausgedacht hat. Und dann soll ich einsehen, wie lebensnotwendig es ist, dass aus Papas altem beziehungsweise Theos neuem Arbeitszimmer ein Raum für Jasper wird. Und meine Bewegungsfreiheit in unserem Haus noch weiter eingeschränkt wird. Und man gibt mir gerade mal eine Woche Zeit, um mich an diesen Gedanken zu gewöhnen, und beschimpft mich auch noch als verwöhntes Einzelkind. Ich könnte kotzen. Oh, nee, halt – das heute hoffentlich nicht mehr!

Die Nacht war so grauenvoll, dass ich nichts anderes tun kann, als völlig platt im Bett zu liegen. Meine Beine fühlen sich an, als seien sie zu Streichhölzern mutiert, so kraftlos sind sie. Zu allem Übel sind jetzt auch noch rasende Kopfschmerzen dazugekommen, sobald ich nur einen Finger hebe. Ich fühle mich wie ein Wrack. Und ein Wrack kann auf keinen Fall in ein Konzert gehen. Sogar zum Jammern bin ich zu schlapp und so döse ich vor mich hin, versuche, weitere Krämpfe zu überstehen und einfach nur tief ein- und auszuatmen. Im Hintergrund läuft Musik – von Ed natürlich, aber auch Jeremias und Sir Chloe.

Immerhin schreibt mir Lou im Viertelstundentakt Nachrichten und hält mich über die mehr oder weniger langweiligen Schulbegebenheiten auf dem Laufenden. Finn hat vorhin ein Kuss-Smiley geschickt, das war es aber auch schon. Er hat nicht mal gefragt, wie es mir geht. Würde ich ihn zur Rede stellen, würde er sagen, die Frage sei überflüssig, weil er ja weiß, wie’s mir geht. Jungslogik.

Oh Mist, ich komme schon wieder ins Grübeln. Die letzten Wochen waren nicht so einfach mit uns. Dabei haben wir vor einem Monat unser Einjähriges gefeiert und das hat uns einen tagelang anhaltenden Harmonieflash beschert. Aber dann kam der Abschlussball. Bei der Tanzstundenprüfung hatte ich die volle Punktzahl, Finn bekam zwei abgezogen, wegen Haltungsfehlern. Was ihn wohl tief in seiner Männlichkeit gekränkt hat. Das tut mir echt leid für ihn, aber ich finde, das ist kein Grund, den Abschlussball zu schwänzen und mich dastehen zu lassen wie bestellt und nicht abgeholt. Ich musste den Einzug in die Halle mit irgendeinem mir völlig fremden Typen machen, einem Springer, den die Tanzschule zur Verfügung stellt. Danach habe ich viel zu häufig mit Theo getanzt, und einmal mit Sebi, der mir immerhin witzige Bemerkungen über andere Tänzer ins Ohr geraunt und dennoch perfekt den Takt gehalten hat, während ich vor Lachen aus dem Tritt gekommen bin. Dabei ist er in der Band immer so still. Ganz am Schluss musste ich mir allerdings einen angetrunkenen Volltrottel vom Hals halten, der wohl meinte, ich passe in sein Beuteschema. Ein grandioser Abend. Nicht.

»What?«, hat Finn am nächsten Tag gesagt. »Ich dachte, der Ball wäre heute Abend.«

»Ich hab dir ungefähr 800 WhatsApps geschrieben.«

»Mein Akku war alle.« Ja, ja, von wegen. Kurz darauf hat sich Ugur verplappert – die beiden haben nämlich den ganzen Abend Cyberpunk 2077 gezockt. Ich habe zwei Tage nicht mit Finn gesprochen. Lou hat dann mal wieder vermittelt und gesagt, ich solle mich nicht so anstellen und kapieren, dass Finn sich geschämt hat, weil er schlechter getanzt hat als ich, obwohl er doch so dermaßen musikalisch ist.

Als wir dann wieder miteinander gesprochen haben, war’s ganz merkwürdig. Es hat sich so fragil angefühlt. Als würde unsere Beziehung irgendwo über uns schweben und wir beide hätten Angst, sie auf den Boden zurückzuholen, weil sie dann vielleicht zerplatzen würde. Finn hat sich hinter seinen üblichen Sprüchen und blöden Bemerkungen versteckt und ist jedem ernsten Gespräch geschickt ausgewichen. Hat dafür gesorgt, dass immer irgendwer dabei ist, wenn wir uns sehen. Lou oder Sebi oder beide. Ich bin mir sicher, dass er auch ein zusätzliches Fußballtraining erfunden hat. Schließlich hat er sogar Lernen vorgeschoben und das will echt was heißen bei ihm. Mir war’s dann irgendwann auch zu blöd und ich hab das Thema gelassen. Als er das geschnallt hat, ist er dann wieder ganz brav angekommen und hat auf Pärchenzweisamkeit gemacht. Aber seitdem … ich weiß nicht. Ich sehe ihn ständig an und lauere auf seinen nächsten blöden Auftritt.

Und jetzt liege ich hier platt wie eine Flunder und merke, dass mir die Tränen über die Schläfen laufen. Sofort wische ich sie weg. Ich habe so gehofft, dass das Konzert heute Abend der romantische Neustart unserer Beziehung wird. Doch so wie es aussieht, komme ich nicht mal bis zu meinem Kleiderschrank.

 

»Oh, Mann, das ist so schade!« Lou ist mit dem Schreibtischstuhl in die von meinem Bett am weitesten entfernte Ecke gerollert und guckt so traurig, wie ich mich fühle.

Ich seufze tief. »Bei Eds letztem Deutschlandkonzert waren wir noch zu klein und durften nicht hin – und jetzt das!«

Sie zupft am Saum ihrer durchscheinenden weißen Bluse herum, unter der sie ein schwarzes Top trägt. Ich beschließe, mich würdevoll zu verhalten, obwohl alles in mir schreit, dass dies die größte Ungerechtigkeit der Welt ist.

»Hey, du wirst es mir live streamen, okay?«

Sie nickt, was ich sehr süß finde.

»Nee, wirste nicht. Du musst dich doch ganz auf Ed konzentrieren und das ist auch okay.«

»Echt? Aber ich werde schon mitfilmen und dir was zeigen, versprochen!«

»Außerdem kann mir ja Jasper berichten, wie es war«, sage ich säuerlich. »Er hat sich ja nun tatsächlich dazu herabgelassen, an meiner Stelle hinzugehen. Vielleicht will er bei meiner Mutter damit punkten. Die immerhin versprochen hat, mir das Geld fürs Ticket zu geben.«

Lou scheint die fette Wutwolke über meinem Kopf zu sehen. Jedenfalls legt sie ihren schief und presst die Lippen aufeinander. »Ach, menno.«

Ich sehne mich danach, sie in den Arm zu nehmen, lasse es jedoch lieber. »Okay«, sage ich deshalb. »Lass uns loslegen. Meine Innereien sind gerade ziemlich friedlich – was sagst du zu meinem Instastoryentwurf?«

Sie scrollt über ihr Handy und ruft meinen Vorschlag auf. »Cool. Hab nichts zu meckern. Die Comicträne könnte noch ein bisschen größer sein, damit man sieht, dass sie unecht ist.«

Ich setze das auf meinem Smartphone um. Stimmt, wirkt viel besser. Vor mir sehe ich jetzt ein Doppelbild – auf der linken Hälfte ich mit blassem Gesicht und im Schlaf-T‑Shirt, mit kunstvoll zerrauften Haaren und eben jener Comicträne auf der Wange, auf der rechten Hälfte eine breit grinsende Lou, die die Konzertkarte anhimmelt. Dazu haben wir einen Abstimmungsschieber gepackt, auf dem man entscheiden kann: Lieber krank im Bett oder Lieber gesund aufs Konzert. Die Frage ist natürlich rein rhetorisch, aber wir glauben, sie fordert unsere Follower zu netten Kommentaren bezüglich meines Zustands auf.

»Ich hoffe, mein Versprechen Alles zum Konzert gleich im Anschluss in unseren Storys kann ich auch wirklich umsetzen«, sagt Lou.

»Ach klar, du hast doch immer die besten Einfälle, da mache ich mir keine Sorgen. Sollen wir jetzt echt noch den Podcast aufnehmen?«

»Jetzt ist es halb drei – ich habe noch ’ne gute Stunde Zeit. Aber entscheide du. Fühlst du dich fit genug?«

»Wir können ja mal anfangen.«

Ich schaffe es, den Laptop, der neben meinem Bett auf dem Parkett liegt, hochzuangeln und die Aufnahme-App zu starten. Hinter mir im Regal greife ich nach dem USB-Mikrofon und stecke es an. Lou wird sich heute über ihr Smartphone recorden – normalerweise sitzen wir dicht nebeneinander an zwei Mikros, wenn wir unsere Podcasts aufnehmen. Aber es wird auch so gehen. Per Messenger haben wir uns am Morgen schon auf das Thema geeinigt. Ich lege mit dem Intro los.

»Hey, beste Freundinnen und Freunde, willkommen zu einer neuen Folge unseres Podcasts, heute mit dem Thema ›Wie ihr es hinbekommt, euch gegenseitig was zu gönnen‹. Wir sind …«

»Lou.«

»Und Charlie. Beste Freundinnen von Geburt an.«

»Und das ist unser Kanal. Viel Spaß mit den Po-Casterinnen.«

»Mönsch, Charlie, dir geht es heute so richtig scheiße, im Wortsinne muss man sagen – Magen-Darm und dann auch noch Kopfweh. Wie fühlst du dich gerade?«, startet Lou.

»Ganz okay – und nur deshalb schaffe ich es auch, jetzt mit dir zu reden. Mal sehen, wie lang es gut geht.«

»Kein Stress. Ja, wir haben heute ein Thema, das sicher allen von euch schon mal über den Weg gelaufen ist – und das hat mit einer ganz speziellen Situation zu tun. Charlie, willst du’s erklären?«

»Klar. Also, wie ihr alle wisst, freuen wir uns seit Monaten, dass wir heute Abend zusammen auf das Ed-Sheeran-Konzert in der Olympiahalle gehen. Und jetzt wird das bei mir nichts, weil ich verdammt …!!« Ich lasse einen kleinen Schreier los. »… krank geworden bin. Das ist so eine verf… Sch… Na ja, ihr wisst schon.«

»Aber – als gute Freundin gönnt mir Charlie den Konzertbesuch trotzdem. Oder? Schon?« Lou sieht tatsächlich einen Moment lang so aus, als zweifle sie an meiner Großzügigkeit.

»Na klar, von ganzem Herzen! Und zwar nicht nur, weil du meine beste Freundin bist, sondern weil ich finde, das gehört sich einfach. Und es macht nichts besser, wenn ich es dir nicht gönne.«

»Stimmt. Wenn du mir das Konzert nicht gönnst, gehe ich trotzdem hin, habe Spaß und du liegst daheim und bist nicht nur krank und unglücklich, sondern auch noch missgünstig. Und das verstärkt das schlechte Gefühl doch gleich mega.«

»Ich finde ja, Neid ist erlaubt, wenn man ihn für sich behält. So ein kleines bisschen ist ja total menschlich. Aber wenn ich jetzt anfangen würde, dich mies zu behandeln, nur weil ich neidisch bin – nee, das ginge gar nicht. Du kannst ja nichts dafür, dass du zum Konzert gehst und ich nicht. Aber sag mal, Lou, warst du schon mal auf mich neidisch?«

Es dauert einen Moment, bis sie antwortet. Sie tippt mit dem Zeigefinger an ihre Lippen, dann fährt sie fort: »Ach, bestimmt. Zum Beispiel, als du zum achten Geburtstag den Playmo-Zoo bekommen hast – den ganzen, riesigen Zoo. Und ich musste mir mit meinem kleinen Bruder den blöden Streichelzoo teilen.«

»Und ich glaube, komm, gib’s zu … du hast damals einen Pinguin und ein Löwenbaby geklaut, oder?«

»Ähhhhm, ja, okay. Hab ich. Aber ich habe nie damit gespielt, weil’s mir so peinlich war. Ich habe die irgendwo versteckt und hatte jedes Mal Angst, wenn du bei mir warst, du würdest die finden.«

»Gut, dass wir mittlerweile darüber hinaus sind. Ich glaube, Neid ist etwas, bei dem wir unsere eigenen schlechten Gefühle auf jemand anderen projizieren und ihm damit die Schuld geben. Am I right?«

»Glaub auch. Dabei geht’s uns langfristig besser, wenn wir die schlechten Gefühle zulassen, sie uns anschauen und dann verarbeiten. Meinst du, du schaffst das heute Abend?«

»Klaro. Also, ich hoffe es. Weil, ich meine, na ja, könntest nicht du krank sein und ich gesund? Spaaaaß.«

»Ey, Charlie, Neid steht dir gar nicht!«

»Nee, wirklich, ich bin total cool …«

»Ha, ha, ausgerechnet du, wer’s glaubt …«

»Sorry, ich wollte nur mal fragen …«

»Raus!«, brülle ich und drücke die Stopptaste der Aufnahme. Meine Zimmertür fällt laut ins Schloss.

»Ey, Jasper hat voll den Flow unterbrochen.« Ich lasse mich stöhnend in mein Kissen sinken. »Wo waren wir jetzt?«

»Sei nicht so grantig. Wir können doch gleich weitermachen.« Lou springt auf und öffnet die Tür, die Jasper gerade vor lauter Schreck zugeknallt hat. »Jasper?«, ruft sie in den Flur, und er kommt in mein Zimmer zurückgedackelt.

»Sorry«, sagt er und kratzt sich am Hinterkopf. »Wollte nicht stören.«

»Sorry gleichfalls«, sage ich. »Aber wir waren mitten in der Aufnahme für unsere Podcastfolge.«

»Vielleicht … ähm«, er deutet auf die Tür, »machst du ein Schild draußen dran. Nicht stören oder so?«

»Na ja, ich bin ja …« Immer allein, will ich sagen, aber das stimmt nun nicht mehr. »Okay, ich versuche, daran zu denken. Was gab’s denn?«

»Zum einen wollte ich sehen, wie’s dir geht. Brauchst du vielleicht eine Kanne Tee?«

Lou und ich sehen ihn beide mit offenem Mund an.

»Fenchel-Kamille wäre super, danke!«, sage ich schließlich.

Er deutet eine Verbeugung an. Ganz Gentleman!

»Kommt gleich. Und dann, weil ich mitbekommen habe, dass du hier bist – Lou, richtig?«

Meine Freundin nickt.

»Würdet ihr mich heute Abend mitnehmen? Also, ich will mich euch nicht aufdrängen … Nur, damit ich weiß, wie ich zur Olympiahalle komme und so …«

»Meine Ma fährt uns hin«, erklärt Lou. »Wir können dich gerne mitnehmen, klar, kein Problem. Sei einfach um fünf bei uns.«

»Um fünf?«, fragt er verblüfft nach. »Ich dachte, es geht erst um acht los.«

»Ja, klar, aber wir wollen schon gute Plätze. Möglichst weit vorne.«

Er hebt das Kinn, nickt. »Gut, dann um fünf. Charles kann mir sicher sagen, wie ich zu dir komme.«

»Charles? Bin ich dein Butler, oder was?«

»Hab ich Charles gesagt?«, fragt er zurück. Sein Ausdruck wirkt aufrichtig verwundert.

»Ja.«

»Sorry, Charlie. Natürlich. Charlie. Wie komme ich auf Charles?« Kopfschüttelnd verlässt er den Raum, nicht ohne in der Tür kurz zu stoppen. »Der Tee kommt gleich.«

Obwohl mich gerade wieder ein Magenkrampf durchzuckt, muss ich lauthals loslachen. Ich weiß gar nicht genau, warum. Jasper wirkt mit einem Mal … putzig. Ob er ein schlechtes Gewissen hat, weil er so großspurig war?

»Das mit dem Tee ist aber wirklich nett«, bemerkt Lou. »Ich finde den ganz süß.«

»Du musst dich ja auch nicht mit ihm arrangieren«, sage ich und erzähle ihr ausführlich von dem Badezimmerduschdebakel am Vorabend.

»Aber Jasper sieht doch bestimmt richtig, richtig sexy aus, oder? Inklusive Sixpack …«

»Hier kommt der Tee, die Dame.«

»Bitte, klopf doch!«, flehe ich ihn an, bevor ich mich bei ihm bedanke. Lou hat einen knallroten Kopf, presst die Hand vor die Lippen und sieht aus, als platze sie gleich.

»Okay, du Schild – ich anklopfen«, fasst er unsere Übereinkunft zusammen. Mit einem irritierten Seitenblick betrachtet er Lou. Dann balanciert er zu meiner Nachttischkiste ein Tablett. Darauf steht die hässlichste Tasse, die sich in unserem Geschirrschrank findet, daneben die alte, bauchige Glasteekanne, die Mum nur für ihren Earl-Grey-Tee benutzt.

»Danke«, sage ich noch mal und er zieht sich zurück. Kaum ist die Tür geschlossen, kichert Lou los. Sie klingt immer wie ein quietschendes Ferkel und dann muss ich gleich noch mehr lachen. Wenigstens hat Jaspers Auftritt dafür gesorgt, dass ich seine Herablassung und meine Enttäuschung, nicht zum Konzert zu gehen, kurzzeitig vergessen habe.

Lou blickt auf die Uhr und steht auf. »Oh, so spät schon. Ich muss noch duschen, Haare waschen und …«

»Brrrrr«, mache ich laut und presse mir die Hände an die Ohren. »Ich will’s gar nicht so genau wissen. Geh einfach, genieß es und berichte mir hinterher von jedem Detail, okay?«

»Sollen wir die Podcastfolge morgen neu machen?«, fragt sie.

»Ich höre sie mir noch mal an. Vielleicht kann ich einfach noch ’ne kurze Abmoderation machen und dann ist es halt mal eine etwas kürzere Episode. Wir haben doch gemerkt, dass die kurzen Sachen oft besser laufen.«

»Stimmt. Und die Story postest du gleich, oder?«

»Hab ich eh schon.«

Sie hält mir einen ausgestreckten Daumen entgegen, dann werfen wir uns Luftküsschen quer durch den Raum zu und sie verschwindet.

Ich gönne ihr einen schönen Abend, von ganzem Herzen. Aber gleichzeitig würde ich sonst was geben, um an ihrer Stelle zu sein.

16. September, 01.37 Uhr

Verdammter Bullshit! Oh Gott, wie ich mich hasse! Wie kann denn so was passieren? Ich werde nie, nie, nie, nie, nie, nie wieder in die Schule gehen. Ich bleibe einfach die nächsten fünf Jahre zu Hause. In meinem Zimmer. Und ich lasse keinen Besuch rein. Ich könnte heulen – stopp, das tue ich bereits.

Dabei war der Abend so genial.

So unglaublich, wahnsinnig, unfassbar genial. Das beste Konzert, das ich je gesehen habe.

Immer wenn man glaubt, Ed Sheeran könnte nicht noch besser werden, dann wird er es. Und die Stimmung war gigantisch. Irgendwie friedvoll, aber vibrierend von Energie, ich glaub, jeder hat mitgesungen.

Okay, einmal habe ich Jasper im Gewimmel, drei, vier Meter von uns weg, gesehen und er hat nicht mal bei »Sing« mitgesungen. Dafür haben Finn und ich umso lauter gesungen.

Und dann kam »Perfect« … ziemlich am Ende schon. Verdammter Bullshit! Sagte ich das schon? Was soll ich denn jetzt tun? Mich erschießen vielleicht? Wie kann ich nur so eine Bitch sein?

Louisa Jablonski, texte ich am Freitagmorgen um kurz nach zehn. Wo bleibt die Instastory? Wo die versprochenen Konzertmitschnitte?

Ich weiß, sie hat Unterricht, Chemie zumal, was sie hasst. Aber ich war davon ausgegangen, sie würde mich umgehend mit Futter versorgen.

Als Jasper gestern Abend vom Konzert heimkam, habe ich bereits geschlafen und heute Morgen war er schon in die Schule aufgebrochen. Ich google nach Kritiken zum Konzert, finde aber wenig. Die Bezahlartikel kann ich nicht aufrufen, die frei zugänglichen kommen sicher erst im Laufe des Nachmittags. Auf Instagram entdecke ich immerhin zahlreiche Fotos, ebenso auf TikTok. Alle sind total begeistert, und obwohl mein Bauch den Vormittag über endlich mal recht ruhig geblieben ist und mir auch nicht mehr ganz so übel ist, spüre ich jetzt ein Ziehen.

Was ist da los bei Lou?

Ich öffne meine Spotify-Playliste und das ganze Zimmer wird von Eds Stimme geflutet. Gut, dass keiner daheim ist. Mum ist in ihrer Physiopraxis, Theo in seiner Grundschule und Jasper in meinem Gymi. Hoffentlich findet er schnell neue Leute, dann muss ich nicht die Betreuerin spielen. Da habe ich gar keinen Kopf für.

Wish I could have been there instead of lying ill in my bed!, kommentiere ich Eds Konzertfoto, das er auf Insta in seinem Kanal gepostet hat. Er – oder wer auch immer das für ihn tut – schreibt, dass München ein magic place to be sei und er bestimmt wiederkomme. Na hoffentlich! Immerhin gibt es einen Drei-Minuten-Ausschnitt vom Konzert und schon dabei schmelze ich dahin.

Mein Handy piept und ich sehe eine neue Nachricht von Finn. Der sich seit dem Konzert auch noch nicht gemeldet hat. Lebe ich plötzlich in einer anderen Umlaufbahn?

Hi, Charlie,soll dir von Lou sagen, ihr Handy ist alle und sie hat es daheim vergessen. Gestern Abend war’s für irgendwelche Posts much too late.

Das war’s. Kein Wörtchen, wie das Konzert war, keine Frage, wie’s mir geht, kein Hinweis, wann wir uns sehen. So ein Depp! Nach einem Jahr bin ich ja gewöhnt daran, dass er immer nur die kürzestmögliche Antwort gibt, wenn ich ihm schreibe, aber ich meine … ich drehe die Musik noch ein wenig lauter … was soll das? Er weiß doch, wie unglücklich ich war, nicht ins Konzert gehen zu können.

Ohne lange nachzudenken, schieße ich ein Foto von meiner Nachttischkiste, auf der wieder eine Teetasse steht – heute meine Lieblingstasse mit einem Foto von mir und Lou drauf, als wir noch Kindergartenkinder waren und uns alle für Schwestern hielten – sowie ein Tellerchen mit Zwieback. Mit dem Foto bastle ich einen Instapost und bitte um Hilfe: Wer erzählt mir, wie’s beim Konzert war? Ich bin nicht ganz sicher, wie Lou das findet, aber das ist mir jetzt auch egal. Vermutlich wird sie meckern, ich sei einfach zu ungeduldig. Dabei möchte ich wenigstens ein paar persönliche Eindrücke bekommen. Ist doch verständlich, oder?

Unsere Story von gestern ist ziemlich mega angekommen, stelle ich fest. Am Abend hatten wir schon um die zweihundert Kommentare und ganz ehrlich – der Zuspruch hat mir gutgetan. Ein paar haben sogar geschrieben, ihnen gehe es genauso wie mir. Sie liegen auch krank im Bett, statt auf dem Konzert zu sein. Das ist echt tröstlich! Und klar – unser Abstimmungsregler stand mit 97 Prozent auf der Gesund ins Konzert-Seite.

Ich wechsle zu Apple Podcast und schaue, wie es um unseren neuen Beitrag steht. Und siehe da – es gibt ebenfalls schon Kommentare im dreistelligen Bereich. Schon mal ein gutes Zeichen. Auch auf YouTube, wo wir die Podcasts ebenfalls hochladen, tut sich so einiges. Viele Likes, wenige Dislikes. Und der Tenor der meisten Kommis: »Klar, sich gegenseitig etwas zu gönnen, ist total wichtig.«

Am Ende des Podcasts habe ich gestern noch eine Frage eingebaut: Gibt es Sachen, die ihr nicht mal eurer besten Freundin gönnt? Auch diese Antworten waren erwartbar: meinen Freund, meine Omi, ’n Sechser im Lotto. Großzügig gegönnt wird dagegen letztes Stück von meinem Lieblingskuchen oder