Wer kennt diese Frau? - Nicole Eick - E-Book
SONDERANGEBOT

Wer kennt diese Frau? E-Book

Nicole Eick

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Apartment der verführerischen Eva wird ein Frauenarzt tot aufgefunden. Von der Edelprostituierten allerdings fehlt jede Spur. Nicht einmal ihre DNA lässt sich am Tatort nachweisen. Nur Gudrun, eine ältere Frau, die bei Eva putzt, könnte Licht ins Dunkel bringen. Doch die beseitigt alle Hinweise, die zu Eva führen. Denn das, was die beiden Frauen verbindet, reicht tief in ihr Innerstes. Heile Welt in einer kleinen Stadt – und ein Lotterleben zwischen Lack und Leder, Langhaarperücken und Latexhandschuhen, Täuschung und Enttäuschung. Das Bamberger Ermittlerduo Alfred Meister und Dominique Brodbecker in einem Fall voller trügerischer Wahrheiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 372

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Nicole Eick

Wer kennt diese Frau?

Kriminalroman

Die Handlung und alle handelnden Personen in diesem Kriminalroman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu Geschehnissen mit Bezug auf reale Personen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder Institutionen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Gestaltung unter Verwendung folgender Abbildungen:

Gesicht (murphy81/stock.adobe.com), Bettlaken (sanatgen/stock.adobe.com), Nicole Eick (privat)

Lektorat: Heike Mallad

Gedruckt in Europa

ISBN 978-3-944936-61-1

© edition tingeltangel, München, E-Book 2022

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags nicht zulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und digitale Verarbeitung.

Der Tag, an dem ein Frauenarzt zu Tode kommt

Ermittlungen

»Grüß Gott, die Herren! Was ist denn hier los?« Dominique Brod­becker steht plötzlich im Türrahmen und wirft den herumwuselnden Polizisten einen provozierenden Blick zu. Sie machen ihr Platz. Mit ihren wohlproportionierten 187 Zentimetern – sieben Zentimeter davon gehen aufs Konto ihrer Absätze – ist Dominique eine Frau, die auffällt. Einzig der Pathologe bleibt stoisch über die Leiche auf dem Boden gebeugt und murmelt in sein Diktiergerät.

Kriminalhauptkommissarin Dominique Brodbecker stakst in ihren Stilettos über Scherben, die offenbar von zerbrochenen Weingläsern stammen. Sie tunkt den Zeigefinger ihrer rechten Hand, die in einem Einweghandschuh steckt, in die auf Tisch und Boden verschüttete Flüssigkeit und riecht daran.

»Bordeaux.«

»Sie erwarten aber keine Antwort? Ich trinke nicht. Nicht mehr.« Der Pathologe lächelt den toten Mann an. »Ist auch sicherer. Man verliert nicht mehr so schnell die Kontrolle.«

»Hat er sie verloren? Oder die Mörderin?«

»Ich habe nichts von Mord gesagt. Und schon gar nicht von Mörderin.«

»Ich dachte nur. All das Sexspielzeug hier. Sehr plüschig.«

Dominiques Finger streifen über die Handschellen mit dem rosa Kunstfell. Die liegen auf dem schwarzen Ledersofa und wirken unbenutzt.

Der Pathologe antwortet nicht, leuchtet dafür mit einer kleinen Lampe in die weit geöffneten Augen des Toten, die an die Decke starren, als würde von dort Jesus herabsteigen und ihn wieder zum Leben erwecken.

»Sexspielzeug geht auch unter Männern«, wirft einer der Polizeibeamten ein, der zur Spurensicherung gehört und Tatortfotos macht. »Habe ich zumindest gehört.« Er grinst süffisant.

»Ach.« Dominique verzieht keine Miene. Noch immer beachtet sie die Leiche am Boden nicht. Es sind Dinge, die herumliegen, die sie interessieren: eine Ausgabe des Wachtturms der Zeugen Jehovas zum Beispiel, die angebissenen Lachshäppchen auf dem niedrigen Couchtisch. Der Wachtturm diente offenbar als Untersetzer für die Weinflasche, die am Boden liegt; ein runder Rotweinrand hat sich auf der Titelseite eingegraben.

»Die Verletzungen am Hinterkopf waren wohl tödlich.« Der Pathologe stemmt eine Hand ins Kreuz und richtet sich ächzend auf. Er ist nicht mehr der Jüngste und kniet nur noch ungern bei der Arbeit. »Er ist hier«, er deutet auf die scharfe Kante des Glascouchtisches, »drauf geknallt. Hat allerdings überall Hämatome. Könnte ein größeres Gerangel gewesen sein.«

»Mit einer Frau?« Die Stimme der Kommissarin kommt jetzt aus dem Schlafzimmer nebenan.

»Mit einer kräftigen Frau. Oder einem Mann. Ich sehe nichts, auf dem der Tote ausgerutscht sein könnte. Es hat ihn jemand mit Gewalt zu Fall gebracht.«

Dominique inspiziert das Schlafzimmer. Ein Arbeitsplatz, eindeutig. Sieht nicht so aus, als würde hier – wer auch immer – regelmäßig schlafen, schnarchen oder furzen. Die schwarz-goldene Bettwäsche ist zerwühlt, eine der beiden Decken liegt auf dem Boden. Kein einziger persönlicher Gegenstand deutet auf Bewohner hin, kein zerlesenes Buch, keine Brille, nichts. Der schwarze Schlafzimmerschrank wurde bereits von der Spurensicherung inspiziert, er enthält zwei weitere Bettwäschegarnituren sowie einen Stapel schwarz-goldener Frotteehandtücher, außerdem jede Menge Feuchttücher und Einweghandschuhe.

»Habt ihr was gefunden? Sperma, Haare, Hautabrieb?« Dominique kniet auf dem Boden und beäugt die Unterseite des Bettes. Einer der Beamten schaut herein und betrachtet ihren wohlgeformten Hintern, der in engen Jeans steckt. Jeans, die modisch durchlöchert sind und in interessanter Wechselwirkung zu ihren hohen Schuhen stehen.

»Eine Haarbürste im Bad ist vielversprechend.« Der Polizist kann den Blick nicht von Dominiques Hinteransicht lösen. Sie dreht den Kopf zu ihm herum, ohne aufzustehen.

»Fertig mit Gucken?«

Er wird rot und zieht entschuldigend die Schultern hoch. »Wir melden uns sofort, wenn das Labor fertig ist. Alles, was Fingerabdrücke hat, haben wir eingepackt.«

»Ist Meister informiert?«

Alfred Meister ist Dominiques Kollege. Seit der Teamleiter an Krebs erkrankt ist, teilen sich Brodbecker und Meister die Arbeit, ohne dass einer von beiden einen Führungsanspruch erhoben hat. Zumindest hat keiner der Kollegen etwas davon mitbekommen.

»Hat jemand Meister verständigt?«, ruft der Beamte in die Wohnung hinein.

»Ja, schon vor ’ner ganzen Weile!«, kommt es aus dem Flur.

»Wartet auf ihn. Ich muss los.« Dominique springt mühelos in den Stand und überragt den verlegenen Polizisten um mindestens einen Kopf.

Es gibt keinen Kollegen, der ihr nicht nachschaut, als sie mit federndem Gang den Tatort verlässt.

»Domina«, sagt einer der Beamten grinsend. »Passend zum neuen Fall.« Von da an hat Dominique ihren Spitznamen weg.

Gudrun

»Die Fahrkarten bitte.« Der sehr junge Zugbegleiter, Azubi vielleicht, schaut der älteren Frau nur kurz ins Gesicht. Uninteressant, wie alle über zwanzig. Die hier geht bestimmt schon auf die sechzig zu.

Gudrun zeigt ihm ihr Bayern-Ticket.

»Bitte noch den Namen eintragen.«

»Auch bei einem Einzelticket?« Sie zieht die Stirn hoch.

»Vorschrift. Sie könnten es ja beim Aussteigen weitergeben.«

»Aha.« Gudrun kramt einen Kugelschreiber aus dem neben ihr stehenden Rucksack. Der Zugbegleiter macht keine Anstalten, weiterzugehen. Sie zögert kurz und schreibt.

Er schaut ihr über die Schulter, nickt und geht eine Sitzreihe weiter. »Die Fahrkarten bitte!«

Gudrun steckt das Ticket in ihre Jackentasche. Sie trägt einen praktischen Anorak einer günstigen Kaufhausmarke, nicht wirklich wasserdicht, aber unauffällig. Die hochwertige Goretex-Jacke hängt zuhause im Schrank. Sie braucht sie wieder nächstes Wochenende zum Aufstellen der Krötenzäune. Sie sind gut im Zeitplan dieses Jahr, die Krötenwanderung kann bereits Ende Februar beginnen, wenn die Witterung passt. Aber jedes Jahr ist mindestens eine weitere Straße neu gebaut, die den Tieren den Weg in ihre Laichgebiete versperrt. Und sie werden jedes Jahr weniger Helfer. Also heißt es: früh beginnen.

Warum denkt sie jetzt an so was Banales wie die Kröten? Sie hat – weiß Gott – andere Sorgen. Gudrun lehnt sich im Sitz zurück und schließt die Augen. Zum Glück ist wenig los im Wagen, und sie kann alleine sitzen. Der Regionalzug hat vor etwa zehn Minuten den Bamberger Bahnhof verlassen und fährt Richtung Norden. Es war eigentlich Unsinn, in den Zug zu steigen, eher unbewusste Absicht, ihren Auftrag möglichst weit weg auszuführen. Andererseits wird ihr der Abstand gut tun, sie will am liebsten vergessen, was ihrer Freundin heute passiert ist und was auch Gudrun sehr erschüttert.

Sie könnte in Coburg aussteigen, in einem einfachen Hotel ein Zimmer nehmen, vielleicht das Naturkundemuseum besichtigen, das schon lange auf ihrer To-do-Liste steht. Oder weiter nach Sonneberg fahren, dort wohnt ihre Schwester, die würde sich zwar über den Besuch freuen, legt aber Wert darauf, dass Gudrun sich einen Tag vorher ankündigt. Fällt also flach. Alternativ könnte sie einfach mit dem nächsten Zug zurückfahren, heimgehen und sich beruhigen.

Gudrun atmet tief durch, ihr rechter Arm liegt auf dem Rucksack, der Tragegurt ist untergehakt. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, kein Mensch würde ihr hier das Gepäck klauen, so ein 08/15-Rucksack enthält in der Regel keine Wertsachen. Allerdings will sie den Inhalt irgendwo entsorgen. Es sind Evas Sachen, sie hat sie ihr in großer Eile übergeben, Gudrun soll das Zeug verschwinden lassen. Ist ja auch der Job einer Putzfrau, den Abfall ihrer Arbeitgeberin wegzuräumen. Gudrun putzt in Evas Wohnung, schwarz – Arbeitslosengeld reicht nicht, Rente dauert noch. Aber Eva ist inzwischen auch ihre Freundin, obwohl das, was sie tut, keineswegs Gudruns Zustimmung findet. Sie ist eine anständige Frau.

Der Zug ruckelt, wird langsamer, kommt zum Stehen. Gudrun macht die Augen auf, draußen gibts wenig zu sehen, nur ein noch winterkahles Gehölz, in der Ferne Rotoren eines Windrades, die sich träge drehen.

»Was’n jetzt schon wieder los?«, nörgelt jemand hinter ihr.

Und eine Frau plärrt in ihr Handy: »Jesses, Marianne, jetzt steht der Zug, ich muss doch mein Anschluss kriech.«

Dann die Durchsage. Technische Probleme – Verzögerung – Weiterfahrt voraussichtlich in fünfzehn Minuten. Na toll.

Obwohl keinerlei Grund dazu besteht, beschleunigt sich Gudruns Herzschlag. Sie legt eine Hand auf ihr Brustbein und redet sich selbst gut zu. Ruhig bleiben, alles wird gut.

Nichts ist gut, noch nie gewesen und jetzt erst recht nicht. Es gab nur eine ganz kurze Zeit in ihrem Leben, in der sie so etwas wie Normalität empfunden hat. Aber auch das ist schon lange her.

Eine Frau kommt den Gang zwischen den Sitzreihen entlang, auf der Suche nach dem WC. Der Zug fährt mit einem plötzlichen Ruck an, die Frau hält sich gerade noch so an der Lehne von Gudruns Vordermann fest. Ihr Stiefel verfehlt Gudruns Fuß um Millimeter.

»Ach herrje, jetzt bin ich fast hingefallen. Die haben aber auch Nerven.«

Sie rappelt sich wieder auf und schaut Gudrun an, lächelt entschuldigend.

»Nichts passiert.« Gudruns Mimik ist verschlossen.

»Ach, kenne ich Sie irgendwoher? Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor ... aus Bamberg?«

»Ich glaube nicht.« Gudrun hat keine Lust auf Smalltalk.

Die andere lässt nicht locker. »Jetzt weiß ichs wieder! Damenmoden, oder? Gibts diese Woche wieder Prozente?«

»Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich bin schon eine ganze Weile nicht mehr im Geschäft ...«

»Schade ... nichts für ungut.« Die Frau nickt ihr zu und geht weiter, der Zug nimmt wieder Fahrt auf.

Dann Halt in Bad Staffelstein, ein paar Minuten später Aufenthalt in Lichtenfels. Gudrun bleibt sitzen, fährt weiter bis Coburg. Dort steigt sie aus, den Rucksack über eine Schulter gehängt, die Handtasche über der anderen. Im nächsten Abfallkorb entsorgt sie ihr Ticket.

Ermittlungen

»Du heilige Scheiße.« Alfred Meister greift nach dem Stofftaschentuch in der rechten Hosentasche und schnäuzt sich kräftig. Beim Anblick solcher Leichen läuft ihm grundsätzlich die Nase.

Wie alt mag der Kerl sein, der da wie hindrapiert in seiner eigenen Blutlache schwimmt? Vierzig oder fünfzig? Schwer zu schätzen, obwohl er reichlich wenig anhat. Um es genau zu sagen: Er ist splitterfasernackt. Peinlich ist auch der Anblick des schlaffen Wurms zwischen den Beinen des Mannes. Alfred vermutet, das Ding ist auch in strammem Zustand nicht viel größer. Ganz sicher ist er allerdings nicht. Seine eigene Tochter, fünfzehn Jahre jung, hat ihn kürzlich über die zwei Penisarten belehrt, die es gibt: den Fleisch- und den Blutpenis. Der Fleischpenis schaut auch im Ruhezustand nicht übel aus, erigiert wird er allerdings kaum größer. Der Blutpenis wächst vom kümmerlichen Blutegel zur stattlichen Blutwurst heran. Schon dumm, dass er das im reifen Alter von 56 Jahren von seiner Tochter lernen muss.

»Woher weißtn du so was?«, hat er sie misstrauisch gefragt.

»Aus der Schule«, war ihre unbekümmerte Antwort. »Wir hatten heute Sex ...«, sie grinste ihn frech an, »nein, Paps, bloß Sexualkundeunterricht, mit Gummis über Holzpenisse ziehen und so ..., aber das mit dem Fleisch- und Blutpenis war nur bei den Jungs Thema, und die haben es uns dann erzählt. Krass, oder?«

Alfred Meister weiß nicht, ob er es witzig finden soll, dass junge Mädchen solche Details in der Schule lernen. Er fühlt sich für eine derart aufgeklärte Tochter inzwischen einfach zu alt. Als Grete, seine Frau, mit 36 Jahren nochmal ungeplant schwanger geworden war, hatten sie an ein liebes, anschmiegsames Töchterchen gedacht.

Ist sie ja auch, manchmal.

»Chef? Der Leichenwagen ist da.« Der einzige noch anwesende Polizeibeamte steht abwartend neben ihm, die Finger in den Gürtel seiner Uniformhose eingehakt.

»Immer mit der Ruhe, einen Moment noch.« Alfred Meister geht mit Mühe in die Knie, obwohl er nicht weit zum Boden hat. Mit seinen 165 Zentimetern Körperlänge und einem lästigen Gewicht von fast neunzig Kilo bildet er den größtmöglichen Kontrast zur Kollegin Dominique Brodbecker.

»Position war anders. Schauen Sie«, der Polizist zeigt Alfred die Aufnahmen der Tatortkamera. »Etwas verdrehter, ein Bein angewinkelt, Blick nach oben.«

Jetzt liegt der Tote gerade da, bereit, in die Metallbox zu wandern.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Eine junge Frau aus dem Haus. Wahrscheinlich auch eine Prostituierte. Die Wohnungstür hier stand offen, Musik lief. Das kam ihr komisch vor.«

»Wieso ›auch eine Prostituierte‹?«

»Na, das sind hier überwiegend solche Wohnungen. Angemietet für den schnellen Fick. Von Damen, die auf eigene Rechnung arbeiten. Die meisten teilen sich Wohnungen, der fixen Kosten wegen. Die, die uns angerufen hat, weiß aber nicht, wer hier Mieter oder Mieterin ist. Sie konnte uns so gut wie nicht weiterhelfen, hat nichts gesehen, nichts gehört. War wohl selbst gut beschäftigt.« Er lacht.

»War Brodbecker da?«

»Ja, kurz.«

»Habt ihr die Leute im Haus schon befragt?«

»Soweit jemand aufgemacht hat, ja.«

»Wem gehört das Haus?«

»Einem Investor in Berlin. War noch nicht zu erreichen.«

Alfred Meister rappelt sich wieder auf. »Durchtrainierter Typ. Von dem Ding in der Mitte mal abgesehen.«

Jetzt grinsen sich beide Männer an, und Alfred denkt wieder an die Aufklärungsstunde seiner Tochter. Und an sein eigenes Ding. Eher Fleisch als Blut, aber auch nicht der Größte.

»Wer ist er?«

»Wissen wir noch nicht. Seine Klamotten liegen dort drüben.« Der Polizist deutet auf die Ledercouch. »Keine Papiere da, kein Handy, nichts, nur ein paar Münzen in der Gesäßtasche seiner Jeans. Und ein Autoschlüssel. Porsche.«

»Steht der irgendwo?«

»Negativ. Ich war draußen, auch auf dem Supermarktparkplatz. Nichts in der Preisklasse da.«

»Okay, ruf die Jungs mit dem Sarg rein. Foto des Toten durch die Dateien lassen.«

»Schon passiert. Ist unbekannt. Wird auch noch keiner vermisst.«

»Wie lange ist er tot?«

»Laut erster Leichenschau seit heute Morgen, zwischen 9 und 11 Uhr circa. Die Prostituierte hat uns gegen Mittag angerufen.«

Alfred schaut auf seine Armbanduhr. Es ist kurz nach 15 Uhr.

»Sex am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen, was?«

Sie lachen wieder.

Gudrun

In Coburg nieselt es, und Gudrun zieht die Kapuze über ihre praktische Kurzhaarfrisur. Mittelbraunes Haar, mit ein paar grauen Strähnen durchzogen. Eine etwas aus der Mode gekommene randlose Brille mit Metallbügeln. Sie findet sich nicht wirklich alt, aber auch nicht attraktiv. Bis vor einem Jahr hat sie Vollzeit gearbeitet, Abteilungsleiterin in der DOB eines Bamberger Kaufhauses. DOB, Damenoberbekleidung. Die letzten zehn Jahre verbrachte sie im hinteren Winkel der Etage und verkaufte geblümte Blusen, Strickwesten und Hosen mit Gummizug an die sogenannte reife Dame. Sie selbst trug Hosenanzug oder Kostüm und schminkte sich dezent. Heute trägt sie nur noch selten Farbe auf.

Sie geht die Mohrenstraße hoch, versucht, nicht an früher zu denken. Geht über Theater- und Schlossplatz, Richtung Steintor, dort stehen alte Häuser mit schmuddeligen Mülltonnen in nicht einsehbaren Ecken, dort sollte sich eine Gelegenheit bieten.

Hier haben auch Georgs Eltern gewohnt, ein einziges Mal war sie zum Kaffee eingeladen, das hat gereicht, den Eltern und ihnen beiden ebenfalls. Seine Eltern hatten kein Interesse daran, dass ihr Sohn eine Frau anschleppt. Dazu noch eine, die ein paar Jahre älter ist und womöglich auf schnellstem Weg eine Familie gründen will. Ihrem Sohn waren höhere Weihen vorbehalten. Gudrun störte nur.

Jetzt hat sie doch daran gedacht. G + G, Georg und Gudrun, »ganz gut« – so fühlte es sich an, damals.

Gudrun steht plötzlich vor dem Haus der Eltern, schaut aufs Klingelschild, klar, da stehen andere Namen, die Eltern könnten tot sein oder im Pflegeheim. Aber warum nicht einen späten Gruß in ihrer Mülltonne hinterlassen?

Die schäbige Haustür steht offen, Gudrun geht hinein, Werbeblätter liegen auf dem Boden, die Briefkästen quellen über oder sind aufgebrochen. Geradeaus ein paar Stufen hinunter, auch die Tür zum Hinterhof lehnt nur an. Um die Ecke stehen die Tonnen, unter einem verbogenen Wellblechdach, nicht einsehbar von anderen Häusern.

Hier kann sie das entsorgen, was Eva ihr anvertraut hat. Hohe Stiefel, sogenannte Overknees, sündige Fummel. Eine wilde Perücke, die sie im letzten Moment doch wieder in den Rucksack steckt, eignet sich noch für Fasching. Stück für Stück stopft sie das andere Zeug unter die Mülltüten, die stinkend bis fast zum Deckel gestapelt sind.

Der Rucksack ist fast leer, nur unter der Perücke fühlt Gudrun noch ein glattes Mäppchen, das ihr nicht gehört. Handy oder Portemonnaie wären zum Wegwerfen zu schade. Sie wird sich später darum kümmern.

Gudrun denkt an Eva. Als sie Freundinnen wurden, war die Sache mit Georg schon eine ganze Weile her. Er hätte eh nicht in Evas Liga gespielt.

Nach Georg kam für Gudrun nicht mehr viel. Sie war einsam. Die Eltern tot, die Schwester in Sonneberg mit Mann und drei Kindern beschäftigt. Gelegentlich besuchten sie sich am Sonntag. Gudrun liebt ihre Neffen und hat sie in früheren Jahren als so etwas wie ihre Ersatzkinder betrachtet. Irgendwann gingen die Jungs ihrer eigenen Wege, Tante Gudrun wurde unwichtig.

Mit Ende vierzig fasste sie den Entschluss, ihrer Einsamkeit ein Ende zu setzen. Von da an bereicherten zwei Dinge ihr Leben: Die Kröten und die Zeit, die sie mit Eva verbringen konnte.

Gerade von Eva muss sie sich nun die nächste Zeit fernhalten. Zu groß ist die Angst der Freundin, gefunden zu werden. Das hat die andere nun von ihrem Leben voll Gier und Leidenschaft. Sündige Büstenhalter, die mehr zeigen, als sie verdecken, Spitzenhöschen, Netzstrümpfe, hochhackige Pumps – all dieses Zeug wird im Schrank bleiben müssen.

Gudrun hat kein Mitleid mit ihr. Was sie in seltenen Momenten empfindet, ist höchstens Neid. Neid darauf, dass Eva immer Glück hat bei der Auswahl ihrer Männer. Dass sie angebetet und angebettelt wird. Dass immer wieder einer mehr will, mehr Beziehung, mehr Verbindlichkeit, Heirat sogar.

Heute scheint sie allerdings zu weit gegangen zu sein. Der Mann muss eine Grenze überschritten haben, hat laut Eva ein Stopp-Schild ignoriert, ist selbst schuld an dem, was passiert ist. Hat Eva in Panik aus dem Haus getrieben. Klar, dass Gudrun ihr helfen musste.

So unberechenbar und kompliziert Menschen und ihre Beziehungen sind, so verlässlich erscheint Gudrun dagegen das Leben der Amphibien. Dieser immer wiederkehrende Kreislauf von hormonbedingtem Aufbruch zu den Laichgewässern, das Ablaichen, das Zurückwandern. Die männlichen Erdkröten verhalten sich dabei vorbildlich: Sie brechen als Erste auf und bleiben so lange bei den Laichgewässern, bis kein Weibchen mehr nachkommt. Eine klare Rollenverteilung, nie in Frage gestellt, seit Jahrtausenden so gewesen und auf ewig so bleibend. Dass immer mehr Asphalt die Wanderrouten der Kröten quert und die Tiere an Zäunen entlangwandern, in Eimer plumpsen und von Helfern über die Straßen getragen werden müssen, mag die Tiere vielleicht irritieren, wird ihre innere Uhr aber nicht beeinflussen, die sie im nächsten Jahr erneut auf Wanderung schickt.

Erdkröte müsste man sein. Gudrun lächelt. Sie freut sich auf Samstag und auf ihre Helfergruppe.

Ermittlungen

»Bratwörschd mit Kraud!« Die Bedienung serviert Alfred Meisters Bestellung mit Schwung und zwinkert ihm zu. »Warst schon länger nimmer da«, stellt sie fest. Länger heißt: zwei oder drei Tage.

Er winkt müde ab, während er sich die Serviette in den Hemdkragen steckt. »Die Arbeit halt.«

»Mord und Totschlag, was? Habs grad im Online-Ticker gesehen. Ihr habt einen unbekannten Toten?«

Alfred verzieht schmerzhaft das Gesicht, und nicht nur, weil die Bratwurst so heiß ist. »Diese Schmierfinken. Wer hat denn da schon wieder was rausposaunt? Früher haben wir uns wenigstens einen Tag Zeit gelassen, bevor so eine Meldung kam. Heute weiß die Öffentlichkeit bald mehr als die Polizei.« Das stimmt so natürlich nicht, aber er hat Lust, sich aufzuregen.

»Also, mir kommt der bekannt vor«, überlegt die Bedienung, während sie sinnlos mit einem Geschirrtuch den blanken Holztisch poliert. Sie hat gerade nicht viel zu tun, die Fässla-Stammgäste tauchen erst später auf, und das sonst von Touristen überschwemmte Bamberg atmet zwischen Januar und März ein bisschen auf. Bis Ostern ist es noch eine Weile hin.

»Kennst ihn jetzt oder nicht?«, fragt Alfred kauend.

Sie zuckt die Schultern. »Glaub nicht. Er sieht bloß irgendwem ähnlich.«

Er nickt ergeben und schaufelt sich eine große Gabel des sehr weich gekochten, leicht süßlichen Sauerkrauts in den Mund. Mittwochs geht seine Frau zum Kegeln, mit einem Trupp anderer Weiber, Arbeitskolleginnen. Sie kegeln ab 18 Uhr und suchen danach noch eine der Bamberger Altstadtkneipen heim. Alfred störts nicht. Gelegenheit, selber irgendwo essen zu gehen und der heimischen Tiefkühl-Pizza zu entkommen, die sich die Tochter in die Röhre schiebt.

Nicht, dass er schon Feierabend hat, es ist nicht mal halb 5. Kollegin Brodbecker hat vorgeschlagen, sich irgendwo in der Stadt zu treffen. Alfred hat keinen blassen Schimmer, wo sie sich seit dem Auffinden der Leiche herumtreibt. Er nimmt mal wohlwollend an, dass sie in der Sache ermittelt. Routinearbeiten in der Dienststelle sind nicht so ihr Ding. Auch sonst weiß er wenig von ihr. Sie ist so ziemlich die wortkargste Frau, der er je begegnet ist.

»Einmal Wasser!« Die Bedienung knallt einen Glaskrug auf den Tisch.

»Wasser? Ein Bier kannst mir noch bringen, kein Wasser.«

»Für sie.« Die Bedienung deutet hinter sich. Dominique Brod­becker steht da, in ihren hohen Schuhen, der durchlöcherten Jeans, einer knappen Daunenjacke, die sie trotz der Wärme im Fässla nicht auszieht.

»Bier bring ich dir gleich.« Die Bedienung verdreht die Augen, und Alfred grinst.

»Hallo Dominique. Setz dich doch.«

Sitzend sind sie fast gleich groß, und das findet Alfred deutlich angenehmer.

»Wir wissen, wer der Tote ist.« Dominique leert ihren Krug Wasser fast in einem Zug.

»Ach? Wer hat das überhaupt veranlasst – sein Bild in den Medien?«

»Ich. Was dagegen?«

Dominique schaut ihn zum ersten Mal an, mit ihren schönen, dunklen, geheimnisvollen Augen. Alfred weiß, dass andere Kollegen ihr Unverschämtheit, eigenmächtiges und brüskierendes Handeln nachsagen, aber er selbst erkennt nichts in der Art bei ihr. Sie ist, wie sie ist. Redet um nichts herum und hat die beste Aufklärungsquote in der Kriminalpolizeiinspektion.

Jetzt seufzt er und wischt sich den Mund an der Papierserviette ab. Das Essen war nur zu gut.

»Es ist nicht gerade die gute alte Schule, Dominique. Ich hätte gern einen Tag mehr Zeit zum Ermitteln gehabt. Mir reichts, wenn die Gerüchteküche erst später zu brodeln anfängt.«

»Die Umstände seines Todes haben wir nicht veröffentlicht. Nur sein Gesicht. Er ist Arzt. Gynäkologische Praxis in Bayreuth.«

»Was treibt er dann in Bamberg? Haben die Arztpraxen nicht erst am Mittwochnachmittag geschlossen?«

»Ärztekongress am Klinikum Bamberg. Pränataldiagnostik.«

»Du hast in seiner Praxis angerufen?«

Dominique nickt.

Die Bedienung bringt Alfreds Bier. »Wollen Sie was essen? Soll ich die Karte bringen?« Sie schaut Dominique an. Ihr Ton ist weit weniger freundlich als Alfred gegenüber. Sogar eine kleine Spur aggressiv, findet Alfred. Der Neid der Durchschnittsfrau auf die Klassefrau.

»Ich nehm, was er hatte.«

»Bratwörschd?«

»Ja.«

»Aha.« Wahrscheinlich hat sie erwartet, dass Dominique Brodbecker einen Salat bestellt, bei der Figur. Oder nach was Veganem fragt.

Alfred Meister freuts. Dominique ist eine der ganz wenigen Frauen, die beim Essen reinhauen.

»Wie heißt der Knabe?«

»Mirko Wagner. Dr. med.«

»Wagner aus Bayreuth«, sinniert Alfred, »wie treffend. Hast du dich bei diesem Ärztekongress erkundigt, ob er früh dort war?«

»Er war nicht. Hat angerufen, dass er später kommt. Dringender Termin.«

»Sex mit Handschellen, ja ja.« Alfred lacht.

Eva

»Öfter geschäftlich hier, sagen Sie?« Der Makler hatte anzüglich gegrinst, als Eva im Jahr 2006 das Apartment besichtigte.

»Falls Sie mal Lust auf Gesellschaft haben ... also ich meine, nach so einem Geschäftstermin ist man ja oft am Abend allein ...« So offensichtlich, seine Anmache. Eva war damals noch nicht geübt im Umgang mit dieser Sorte von Männern.

»Ich habe Freunde hier, keine Sorge«, antwortete sie, um einen verbindlichen Ton bemüht, denn sie wollte diese hübsche Wohnung unbedingt. Sie war wie geschaffen für ihre Zwecke, in einem neu erbauten, mehrstöckigen Haus in einem neu erschlossenen, ano­nymen Stadtviertel.

Der Makler wurde sofort wieder geschäftsmäßig, seine Miene verschlossen. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht in Frage gekommen. »War nur nett gemeint.«

Sie hatte gnädig genickt, war noch einmal durch die Wohnung gegangen, hatte nach den anderen Mietern gefragt – »auch Geschäftsleute wie Sie, einige Damen, ein schwules Paar, keine Familien« – und dann die Konditionen für die Vermietung geklärt, den Preis, die Mietdauer, den Hausmeisterservice. 800 Euro kalt waren ein stolzer Preis, Eva rechnete immer noch um – 1.600 D-Mark, unglaublich. Sie verdiente damals als Angestellte durchschnittlich 1.100 Euro im Monat und musste sich also ranhalten, um das fehlende Geld hereinzubekommen. Aber nach den ersten positiven Erfahrungen in ihrem Nebenjob war sie äußerst zuversichtlich. Und sollte Recht behalten.

Sie weiß noch wie heute, welch ein erhebendes Gefühl es war, als sie den Mietvertrag unterschrieben in den Händen gehalten hatte. Es war ein paar Tage später gewesen, im Büro des Maklers, direkt am Bamberger ZOB. Das Haus gehörte einer Investment-Firma in Berlin, hinter der wiederum ein bekannter deutscher Geschäftsmann stecken sollte. Zumindest wenn man einem Bericht im Fränkischen Tag Glauben schenken wollte, der nach einer hitzigen Stadtratsdebatte um die Baugenehmigung nahe eines Naturschutzgebietes erschienen war.

Es war ein schöner Sommertag gewesen, dieser Tag, als sie den Mietvertrag abholte. Sie stand noch einen Moment im Flur des Mak­lerbüros vor dem Spiegel, um mit sorgfältig manikürten Fingern an ihrer Frisur zu zupfen. Gut sah sie aus, ihre Augen wirkten durch dick aufgetragenen Lidstrich vergrößert, ihr feuerrotes Haar bildete einen interessanten Kontrast zu dem eng anliegenden, lindgrünen Kostüm. Morgens hatte sie einen Moment überlegen müssen – war ihr Haar beim Besichtigungstermin auch rot gewesen? Doch ja, der Makler hatte sich wohlwollend dazu geäußert.

Sie war eine gut aussehende und geschmackvoll gekleidete Geschäftsfrau. Der ein klein wenig zu kurze Rock, die ein bisschen zu hohen Schuhe, der minimal zu rot geschminkte Mund gaben eine Prise Erotik hinzu. Noch nicht so viel wie später, aber Eva war lernfähig.

Das Apartment war ihres, es konnte losgehen.

Gudrun

Das glatte Mäppchen auf ihrem Nachttisch. Es ist aus feinem, hellbraunem Leder. Außer dem Personalausweis und dem Führerschein enthält es ein sehr modernes, sehr flaches iPhone. Gudrun hat sich vergewissert, dass es ausgeschaltet ist. Sie hätte das Mäppchen vorhin gleich mit entsorgen sollen, in dieser Mülltonne hinter dem früheren Haus von Georgs Eltern. Wider jede Vernunft hat sie es behalten. Eva muss es ja nicht erfahren.

Diese Pension, den Bärenturm, idyllisch in der Unteren Anlage gelegen, nicht weit von Albertsplatz und Marktplatz entfernt, hat es damals nicht gegeben. Sie ist zufällig daran vorbei gelaufen, ein Zimmer war frei. Sie wird sich eine Nacht gönnen und erst morgen nach Bamberg zurückfahren.

Gudrun denkt an Georg. Er ist hier ganz in der Nähe zur Schule gegangen, Gymnasium Casimirianum. Alle Coburger Gymnasien tragen lateinische Namen und enden auf »um«. Diese Namen würden eigentlich viel besser ins erzkatholische Bamberg passen. Wie auch der Name Georg. Als sie sich kennenlernten, hatte er sich gerade im Priesterseminar in Bamberg angemeldet. Nach einer wenig aufregenden Laufbahn als Großhandelskaufmann hatte ihn ein erschütterndes Ereignis im Alter von 28 Jahren dazu gebracht, seinem Leben eine spektakuläre Wendung zu geben. Er hatte einfach seinen Job gekündigt und angefangen, als ungelernter Stationshelfer in einem Pflegeheim zu arbeiten, für etwa die Hälfte seines bisherigen Gehaltes. Dort freundete er sich mit dem betagten Priester an, der im Ruhestand noch Gottesdienste in der Heimkapelle hielt. Er war ein freundlicher und gottesfürchtiger Mann, ganz anders als Georgs strenger und streng katholischer Vater. Mit diesem Geistlichen entdeckte Georg die Kirche und den katholischen Glauben neu. Die Entscheidung, ein spät berufener Priester zu werden, reifte in ihm, unabhängig von der Tatsache, dass er schon lange keine Partnerin mehr hatte und Sex ihm zunehmend gleichgültig geworden war. Dabei war Georg ein ansehnlicher Mann. Aber eben schüchtern. Seine wenigen Freunde hätten gesagt: verklemmt.

In dieser entscheidenden Phase seines Lebens lernte er Gudrun kennen.

Gudrun rinnen einzelne Tränen über die Wangen. Sie liegt auf dem Bett ihres Pensionszimmers und starrt an die Decke. Entgegen ihrer Pläne war sie weder im Kino noch etwas essen. Es ist schon lange dunkel draußen, ihr Magen knurrt. Ihre Hand massiert den Bauch, mit langsamen, kreisenden Bewegungen. Gleitet weiter nach unten, zwischen die Schenkel, streichelt, reibt, schneller, langsamer, schneller. Gudrun fühlt nichts. Sie dreht sich auf die Seite, zieht die Knie an, rollt sich in Embryostellung und weint.

Ermittlungen

»Was für eine sterile Gegend.«Alfred Meister steht erneut vor dem Tatort-Haus und schaut an der glatten Fassade hoch. Das vor rund zwei Jahrzehnten erschlossene Baugebiet in der Nähe des Flugplatzes hat vor allem Investoren angelockt, für Firmen, Bürogebäude und teure Apartments. Ein solcher Luxustempel ist auch das Haus, in dem Dr. Mirko Wagner zu Tode kam. Hier sind ein paar Wohnungen von Eigentümern oder solventen Mietern bewohnt, der Rest ist von wohl ebenso solventen Edelnutten angemietet. Das ist zwar nicht erlaubt, wird aber geduldet, so lange es keinen Ärger gibt.

Ob der heutige Todesfall für Ärger sorgen wird – Alfred Meister kanns schwer einschätzen.

Sie sind für 19 Uhr mit der Prostituierten verabredet, die den Toten entdeckt hat. Sie heißt Anna und teilt sich die Wohnung gegenüber des Tatort-Apartments mit zwei anderen. »S.A.D.« steht auf dem Klingelschild.

Dominique Brodbecker nimmt die Treppe, Alfred will es ihr erst gleichtun und holt dann aber doch den Aufzug. Was solls, er wiegt zu viel und hat zu kurze Beine. Dominique ist fair genug und wird kein Wort darüber verlieren.

Anna empfängt sie in Jogginganzug und dicken Stricksocken an den Füßen, das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Alfred riskiert einen Blick auf ihre enorme Oberweite, die unter dem bequemen Stoff allerdings mehr zu erahnen als zu sehen ist. Sie sieht aus wie die Bäckereiverkäuferin, bei der er jeden Morgen sein Bamberger Hörnla kauft.

»Bitte.« Anna tritt auf die Seite, um die Polizisten einzulassen. Wohnung S.A.D. scheint verschiedene Themen zu bedienen. Nach links schauen sie in eine gynäkologische Arztpraxis, nach rechts in eine mittelalterliche Folterkammer.

»Hier entlang. Wir gehen ins bayerische Wirtshaus. Ist am gemütlichsten.« Anna führt sie zum Zimmer am Ende des Flurs, und sie sind sofort von allen Klischees umgeben, die der Nicht-Bayer mit zünftig-bayerischer Atmosphäre verbindet. Vermeintlich altes Fachwerk an Decke und Wänden, behängt mit Kuhglocken und martialischem Geweih, Wirtshausmobiliar aus dunklem Holz, weiß-blaue Tischdecken, leise Jodelmusik im Hintergrund. In einer Nische steht ein überdimensionales Bauernbett, in dem sicher niemand die Nachtruhe sucht. Dominique greift sich die Reitgerte, die mit nützlichen Dingen wie Gurten und Zaumzeug an einem Ständer neben dem Bett hängt. Sie lässt sie einmal durch die Luft sausen.

»Wer’s mag.« Sie grinst.

Anna lächelt nur wenig. »Macht weniger Spaß, einen Typen auszupeitschen, als Sie vielleicht denken.«

»So?«

»Können wir hier ...?« Alfred Meister deutet auf den Wirtshaustisch.

»Gern. Ein Bierchen gefällig?« Flirtet Anna mit ihm?

»Oh nein, danke, nicht im Dienst.«

»Er hatte gerade zwei«, petzt Dominique Brodbecker und lächelt ihn dabei entwaffnend an.

»Das war in der Pause«, verteidigt er sich.

Er greift sich einen Stuhl mit ausgesägtem Herzchen in der Lehne, Anna rutscht auf die Holzbank, Dominique setzt sich rittlings auf eine Bauerntruhe.

»Ich kann Ihnen nicht viel sagen«, beginnt Anna. »Ihre Kollegen wissen es ja: Ich bin erst auf die offene Tür gegenüber aufmerksam geworden, als mein Kunde gegangen ist ... Die laute Musik aus der Wohnung hat mich irritiert. Wir sind hier alle sehr diskret. Vor allem stehen keine Wohnungstüren offen.«

»Sie haben niemanden weggehen sehen, auch nicht vom Fenster Ihrer Wohnung aus? Oder Ihre Mitmieterinnen?«

»Oh, ich stehe selten am Fenster. Gibt hier auch nichts zu sehen. Und was meine Mitmieter betrifft – Susan arbeitet nachts, Dennis nur am Wochenende.«

»Und die Dame, die die Wohnung gegenüber gemietet hat?«

»Tut mir leid, ich kenne sie nicht wirklich. Anfangs hatte ich den Eindruck, es teilen sich mehrere das Apartment. Aber ich vermute, die Frau trägt einfach nur unterschiedliche Perücken. Das machen hier viele. Manche sind normale Hausfrauen und wollen nicht unbedingt erkannt werden.«

»Das heißt, Sie haben sie aber einige Male gesehen?« Dominique mischt sich ein, nachdem bisher Alfred die Fragen gestellt hat.

»Alle paar Monate. Jedenfalls ist es dieselbe Frau, seit ich hier arbeite.«

»Und das ist seit wann?«

»Drei Jahre ungefähr.«

Dominique stöhnt ein bisschen. »Bitte lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen. Beschreiben Sie die Frau.«

Anna schaut Alfred an, als wolle sie, dass er weitermacht. Er nickt ihr aufmunternd. »Nur zu.«

»Na ja, mittelgroß, normale Figur ..., keine Ahnung. Ihr Gesicht kann ich nicht beschreiben. Das einzige Mal, als ich sie von nahem gesehen habe, trug sie eine große Sonnenbrille. Die Haare waren jedes Mal anders, wie gesagt, vermutlich Perücken.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Vielleicht ›Hallo‹ oder ›Guten Tag‹, mehr nicht.«

»Könnten Ihre Mitmieter die Frau kennen?«

Anna zuckt mit den Schultern, ihre rechte Hand spielt mit einem der vielen kleinen, weiß-blauen Kissen auf der Bank. Mit den langen, roten Fingernägeln fährt sie das aufgestickte Edelweiß nach. »Dennis kommt bald, Sie können ihn fragen.«

Dominique kramt in der Hosentasche ihrer Jeans und legt eine Visitenkarte auf den Tisch. »Er soll uns bitte anrufen und einen Termin vereinbaren. Und die andere Kollegin auch.«

»Sie sind doch in die Wohnung hinein gegangen, haben den Toten gefunden«, mischt sich Alfred wieder ein. »War da etwas auffällig? Ein Geruch? Parfüm zum Beispiel?«

Wieder Schulterzucken. »Ehrlich gesagt war ich zu geschockt, um auf irgendetwas zu achten. Außer meinem Opa habe ich noch keinen Toten gesehen.«

Alfred Meister räuspert sich verlegen. »Wir sind unsensibel. Ist Ihnen psychologische Beratung angeboten worden? Wir könnten einen Termin für Sie vereinbaren.«

»Danke, schon gut. Ich hab Freunde.«

»Eine Frage noch. Waren hier im Haus vor kurzem Zeugen Jehovas unterwegs?« Dominique hält es nicht für nötig, mit Alfreds Fingerspitzengefühl zu arbeiten.

Anna schaut verdutzt, streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ja, tatsächlich. Wie kommen Sie darauf?«

»Wann war das?«

»Hm, vorgestern? Ich dachte, mein Kunde kommt ... und dann diese beiden Gestalten.« Sie lacht.

Dominique schaut Alfred an und nickt. »So viel für heute?«

»Jep.« Alfred stemmt sich hoch und verlässt etwas wehmütig das gemütliche Ambiente. Ein Bier wäre doch nicht schlecht gewesen.

Eva

»Kannst Du heute Abend länger ...?« Wie oft wurde Eva diese Frage von den Kollegen gestellt. Sie wussten, sie würde ja sagen. Abende, auch Samstagabende, Sonntage – das waren Termine, an denen die Ehemänner und Väter dieser Welt solide Familienpflichten erfüllten und keine Zeit für ihre Geliebten und ihre Huren hatten. Schon gar nicht im katholischen Bamberg. An Werktagen ließen sich kleine Sünden sehr viel besser unterbringen. Das kam Eva zugute. Vormittags traf sie außerdem so gut wie keinen der anderen Mieter in ihrem Apartmenthaus an. Lediglich eine junge Frau im Stockwerk unter ihr schien die Stunden zu nutzen, in denen ihre Kinder in der Schule waren.

»Kein Problem«, war also stets Evas Antwort auf die Bitte ihrer Kollegen.

»Motzt dein Freund dann nicht?«, konnte hin und wieder eine Nachfrage lauten.

Da sie nicht verheiratet war und keine Kinder hatte, hatte Eva irgendwann einen Freund erfunden, den es nicht gab. Man kam sonst leicht in den Ruf, sonderlich, frigide oder lesbisch zu sein. In ihrer Legende führten sie also eine Fernbeziehung, er angeblich in Hamburg lebend, als Pilot zu unregelmäßigen Zeiten unterwegs.

»Er fliegt Langstrecke – ist für ein paar Tage in Kanada«, konnte beispielsweise ihre Antwort lauten. Um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln, führte sie ein kleines Notizheft, auf dessen Deckblatt der Name Achim stand. Achim, so hieß ihr imaginärer Lebensgefährte.

Sie hatte einen Lebenslauf für Achim erfunden, und immer wenn sie Details von ihm preisgab, notierte sie diese in dem Heft.

Eva rekrutierte ihre Kundschaft zunehmend über ihre Internet-Seite, nur kurze Zeit hatte sie Anzeigen in der Süddeutschen geschaltet. Manche ihrer Kunden kamen tatsächlich von weit her, einer sogar aus den USA. Er hatte ein- bis zweimal jährlich beruflich in Nürnberg zu tun und besuchte dann auch Eva. Ein lieber Kerl, sogar zärtlich, der langsam aber sicher Gefühle für Eva entwickelte. Irgendwann hatte ihn seine Frau verlassen. Seitdem schrieb er täglich Mails an Eva. Anrufen konnte er sie nicht, ihre Telefonnummer gab sie niemandem. Fast niemandem.

Eva wurde er lästig, und sie brach den Kontakt ab. Sie brauchte ihn nicht, ihre Homepage lockte genügend Kundschaft an.

Sie kann sich noch gut erinnern, wie sie zu ihrem ersten Termin das Haus betrat. Wie sie die elegante weiße Haustür aufschloss, den Aufzug nach oben nahm, dann die Tür ihres Apartments öffnete. Alles roch noch neu im Haus, nach Farbe, nach Putz, nach Kleber, nach Lack. In ihrer Wohnung stand an jedem Fensterbrett ein Schälchen mit Rosenöl, um eine angenehme Duftnote zu erzeugen. Die letzten Möbel waren in der Woche zuvor geliefert worden – alles in Schwarz für Wohn- und Schlafzimmer, Bad und Küche dagegen weiß. Die Küche war mehr Attrappe als Nutzraum, einzig der Kühlschrank erfüllte seine Funktion. Er sollte Getränke und ab und zu einen Imbiss beherbergen. Auf Kochplatten und Backofen hatte Eva verzichtet.

Von einem gewissen Versandhaus in Flensburg ließ sie Accessoires liefern, die Männer bei einer Prostituierten erwarteten, und sie legte sich eine kleine Auswahl an sündiger Wäsche zu. Die Männer würden gar nicht merken, dass Eva doppelt von ihnen profitierte, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch für ihr Ego.

Ihr erster Kunde damals passte genau ins Profil: Ein unscheinbarer, kleiner Mann mit Stirnglatze – Eva tippte auf Gymnasiallehrer, möglicherweise bei den Englischen Fräulein – mit einem sehr kleinen Ding zwischen den Beinen und sehr unterwürfigem Gehabe. Er suchte Bestätigung für seine sexuelle Attraktivität und zahlte gut. Eva suchte das Gleiche und wurde gut bezahlt.

Bis heute.

Ermittlungen

»Sie kommen.« Der Beamte, der am Fenster steht, dreht sich zu seinem Kollegen um.

»Wer kommt?«

»Der Meister und die Domina.«

Der andere, ein gut aussehender Dunkelhäutiger, begreift einen Moment lang nicht, dann prusten beide los vor Lachen. Sie haben sich noch nicht wieder unter Kontrolle, als das Duo Meister/Brodbecker eintritt.

»Habt ihr getrunken?«, fragt Alfred misstrauisch.

»Sorry, Chef, nein. Wir ... haben uns gerade Witze erzählt.«

»Verständlich, wenn sonst nichts zu tun ist.« Dominiques Ton ist ironisch. »Sonst Neuigkeiten? Außer Witzen?«

Die Kollegen schauen pflichtbewusst auf ihre Bildschirme. »Die Auswertung der DNA-Proben und die Analyse der Fingerabdrücke haben wir erst morgen. Einige Befragungsprotokolle von heute Nachmittag haben wir zusammengestellt. Sie finden Sie auf Ihren Rechnern, Ausdrucke liegen auf Ihrem Schreibtisch, Herr Meister.«

»Danke.« Alfred nickt gnädig.

»Wurde Wagners Familie verständigt?«, fragt Dominique. »Oder hat er keine?«

»Doch, eine Ehefrau. Die Kollegen in Bayreuth haben das übernommen. Sie soll einen Schock erlitten haben. Kein Wunder ... denkt, der Gatte ist beim Ärztekongress, dabei steckt er ...« Der Beamte endet abrupt. Besser, in Dominas Anwesenheit keine zweideutigen Bemerkungen zu machen.

»Gibts Details zum vermissten Handy ihres Mannes?«

»Ja, ein iPhone. Wir habens in die Fahndung gegeben. Falls es irgendwo weggeworfen wurde. Wir haben auch die IMEI-Nummer, der Doc hats gegen Diebstahl versichert.«

Dominique hat sich auf einen der Schreibtische gesetzt. »Wir sollten Frau Wagner selbst befragen.«

Alfred nickt. »Aber nicht mehr heute. Ich schreib noch zusammen, was uns diese Anna erzählt hat. Und dann brauchen wir unbedingt diese Firma in Berlin und den Namen der Wohnungsmieterin. Mir dauert das alles zu lange.«

»Die Sekretärin des zuständigen Gebäudeverwalters hat für morgen früh um 8 Uhr einen Rückruf zugesagt.«

»Und warum kann die gute Frau den Namen der Mieterin nicht einfach heraussuchen? Ich habe fast Lust, denen einen durchsetzungsfähigen Berliner Kollegen zu schicken.«

»Na, das ist halt so eine Firma, in der einer nicht weiß, was der andere macht. Oder vielmehr – es nicht wissen soll. Unmengen von Tochterfirmen, outgesourcten Bereichen, Partnerunternehmen und so weiter und so fort.« Der Beamte klopft mit einem Stift auf den Tisch. »Nix Seriöses, wenn Sie mich fragen. Außerdem lassen die ihre gesamten Vermietungen über verschiedene Maklerbüros regeln. Die Sekretärin hat nicht auf alles Zugriff, aber sie hat wirklich hoch und heilig versprochen, dass ihr Chef morgen da ist und uns weiterhelfen kann.«

»Na dann. Macht Schluss für heute, Kollegen. Bis morgen, Dominique.«

Der Tag, an dem der Fall zu XY-ungelöst wird

Gudrun

Der Friedhof liegt noch im Winterschlaf, Blattspitzen glitzern gefroren, die Luft ist klar und kalt. Rabenkrähen sitzen in den kahlen Bäumen. Die Viertelstunde Gehen vom Bahnhof aus hat Gudrun gut getan. Sie besucht das Grab ihrer Eltern auf dem Bamberger Friedhof nur selten. Es ist pflegeleicht, eine dicke Steinplatte spart ein mit Efeu bepflanztes Rechteck aus. Dreimal im Jahr bestellen Gudrun und ihre Schwester eine Schale beim Gärtner, Stiefmütterchen im Frühjahr, Begonien im Sommer, Heidekraut im Winter. Jetzt, in diesen letzten kalten Februartagen, ist die ursprünglich dreifarbige Heide weißgrau verfärbt.

Gudrun mag den Friedhof nicht. Zu groß, zu wenig Bäume, die Gräber gerade und genormt.

Sie weiß nicht mal, ob sie ihre Eltern mag, die da seit über zwanzig Jahren liegen. Sie haben weder Georg kennengelernt noch jemanden aus ihrem kleinen Freundeskreis, auch Eva nicht. Nur ihre Schwester kannte Georg. Einmal waren sie gemeinsam bei ihr in Sonneberg eingeladen, ein anderes Mal trafen sie sich in Coburg auf dem Samba-Festival.

Gudrun stellt ihren Rucksack neben das Grab und fegt mit der Hand ein paar braune Blätter von der Steinplatte. Sie fragt sich, wo die hergekommen sind, der nächste Baum steht zu weit entfernt.

»Tja«, sagt Gudrun statt eines Gebets und schaut auf den Grabstein mit den Namen der Eltern.

Warum sollte sie ihnen nach so langer Zeit Vorwürfe machen, wenn sie es zu ihren Lebzeiten nicht fertig gebracht hat? Auch ihre Eltern waren Kinder ihrer Zeit, nicht Täter, sondern Opfer wie Gudrun. Nur dass es eben Opfer gibt, die seelisch und körperlich gequält werden. Opfer wie Gudrun.

Kann man jemandem verzeihen, auch wenn das Geschehene unentschuldbar ist? Diese Frage ist für Gudrun noch nicht ausreichend beantwortet.

Ihr Handy klingelt in der Anoraktasche. Die Nummer sagt ihr auf den ersten Blick nichts. »Ja?

»Hallo Gudrun, bist du das? Hier ist Karina.«

Karina von der Helfergruppe. Krötenhelfergruppe.

»Karina, hallo.«

»Du, ich hab ein Anliegen, es eilt ein bissel. Die Bamberger Lebenshilfe hat bei uns angefragt, wir sollen morgen in einer Unterrichtsstunde was über Amphibien erzählen, Fotos von unserer Arbeit zeigen und so weiter. Horst und Brigitte sind noch Ski fahren, Marianne arbeitet, und unsere Schülerinnen sind logischerweise in der Schule ... Du bist meine letzte Rettung!«

»So auf die Schnelle ... muss ich denn was vorbereiten?«

»Nee, gar nicht. Ich komm ja auch mit. Wir haben doch die kleine Power-Point-Präsentation von der Mitgliederversammlung im Herbst, erinnerst du dich? Die können wir verwenden. Die Schüler sind schwerstbehindert, teils körperlich, teils geistig, oder beides zusammen. Geht vor allem darum, unsere Arbeit mit einfachen Worten zu erklären. Das kannst du vielleicht besser als ich.«

Gudrun wechselt das Telefon in die linke Hand und steckt die kalt gefrorene rechte in die Jackentasche.

»Wenn du meinst. Ich kanns ja mal versuchen.«

»Prima! Ich hol dich ab, um 10 Uhr?«

Gudrun sagt zu. Reden halten ist nicht unbedingt ihre Stärke. Die Naturschutzarbeit selber ist ihr lieber. Krötenzäune aufbauen und bei Bedarf ausbessern, Fangeimer in der Erde fixieren, Warnschilder aufstellen. Mit dem Aufbau der Zäune haben sie allerdings immer weniger zu tun, in der Regel macht das der Bauhof der zuständigen Gemeinde oder auch das staatliche Bauamt. Dieses Jahr hat ein Naturschützer im Landkreis allerdings eine neue Gefahrenstelle für die Tiere entdeckt, und dort wird die Truppe um Gudrun und Karina nun selbst tätig.

Sobald die Wanderung der Tiere beginnt, werden sie sie auch einsammeln, bestimmen, zählen, in Listen eintragen und die Eimer auf der anderen Straßenseite wieder vorsichtig ausleeren.

Warum also nicht mal einer Schulklasse ihre Arbeit nahebringen? Gudrun kann etwas Ablenkung gebrauchen.

Ermittlungen

Wer natürlich nicht um 8 Uhr anruft, ist der Gebäudeverwalter aus Berlin. Alfred Meister sitzt am Schreibtisch und rollt seinen Kuli auf der Tischplatte hin und her. Er hat mindestens schon zehnmal den Aufdruck auf dem Kuli gelesen. Sanitär-Trommer: Sie rufen an und schon kommt er! Sehr witzig. Alfred kann sich gut erinnern, zu welchem Anlass er die Firma Trommer zuletzt bemüht hat. Es war vorletztes Jahr an Weihnachten, kurz vor der Bescherung. »Ich geh noch die Wäsche aufhängen«, hatte Grete, seine Frau, gesagt. Kurz darauf hörte er sie aus der Waschküche schreien wie am Spieß. Ihm war völlig klar, dass sie gestürzt sein musste und sich etwas gebrochen hatte. So schnell es seine kurzen Beine zuließen, flitzte er die Treppe in den Keller hinunter. Völlig klar auch, dass die Tochter oben so laut Musik hörte, dass kein anderes Geräusch an ihre Ohren drang, schon gar nicht der Todesschrei ihrer Mutter.

Die allerdings stand mit schreckgeweiteten Augen auf der Schwelle zur Waschküche, unversehrt.

»Mein Gott, Grete – mich so zu erschrecken!«, schimpfte Alfred, der um ihre füllige Gestalt herum nicht sehen konnte, was es in der Waschküche zu beklagen gab.

Sie ging etwas zur Seite, dann sah er es auch: Die Waschmaschine war ausgelaufen, das Wasser aber nicht abgelaufen, der dafür eigentlich vorgesehene Gully also wohl verstopft. In der kräftig riechenden Waschlauge schwammen ein paar verbogene Wäscheklammern und ein alter Putzlappen.

Alfred kickte fluchend seine Hauslatschen zur Seite, krempelte die Hosenbeine hoch und versuchte, auf einem Bein hüpfend, jeweils die Socke am anderen Fuß auszuziehen. Solche Dinge tat er gewöhnlich im Sitzen.

Grete war nach dem ersten Schrei zur Salzsäule erstarrt und wimmerte nur noch. Alfred watete fluchend durch die Lauge und ruderte mit den Armen, um auf dem rutschigen Untergrund nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Waschmaschine setzte gerade zum nächsten Spülgang an und entledigte sich des verbrauchten Wassers erneut in die Waschküche. Endlich gelangte Alfred zum Wasserhahn und stellte ihn ab.

Und dann kam Firma Trommer ins Spiel. Nichts war mit: Sie rufen an und schon kommt er! Firma Trommer wünschte auf dem Anrufbeantworter allen Kunden fröhliche Weihnachten und bedankte sich für die bisher bewiesene Treue. Ob es den Kugelschreiber als Entschädigung gab, als der Kundendienst am 27. Dezember endlich anrückte? Alfred weiß es nicht mehr.

»Chef? Cheeef!«

Alfred hält endlich den Kuli still und schaut den diensthabenden Beamten begriffsstutzig an.