Wer ohne Schuld ist - Isa Schikorsky - E-Book

Wer ohne Schuld ist E-Book

Isa Schikorsky

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Hoteldirektorin Anna Schwanitz will das Grandhotel »Bellevue« auf Rügen bis zum Ende der Saison aus den roten Zahlen bringen. Doch dann ertrinkt einer der alteingesessenen Hoteliers beim traditionellen Anbaden in der eiskalten Ostsee. Kurz darauf stürzt unter mysteriösen Umständen die Journalistin Mia Rösler von der Dachterrasse des Hotels. Wurde sie gestoßen, weil sie zu tief in der totgeschwiegenen Geschichte gegraben hat? Die Berichterstattung ist für das Hotel verheerend. Anna sieht nur noch eine Chance, die Insolvenz zu verhindern: Sie muss schneller sein als die Kripo und den Fall selbst aufklären. Bei ihren Recherchen stößt sie auf die Ergebnisse von Mia Rösler. Haben die tragischen Ereignisse der »Aktion Rose« im Februar 1953 etwas mit den Todesfällen zu tun? Anna Schwanitz' zweiter Fall handelt von Unrecht, Verrat und Schuld. Und von einer Vergangenheit, die einfach nicht vergehen will.

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Die AutorinIsa Schikorsky wuchs an der innerdeutschen Grenze mit Fernsehkrimis aus Ost und West auf. Mindestens einmal im Jahr reist die Literaturwissenschaftlerin und Historikerin auf ihre Lieblingsinsel Rügen. Seit 1989 lebt sie in Köln. Hier ist sie als Dozentin für kreatives Schreiben, freie Lektorin, Schreibberaterin und Autorin tätig. Außerdem veranstaltet sie Schreibreisen. Neben wissenschaftlichen und journalistischen Texten veröffentlichte sie unter anderem eine Biografie über Erich Kästner, Sachbücher und Kurzgeschichten. 2005 entdeckte sie den Spaß am Krimischreiben, Wer ohne Schuld ist ist ihr vierter Roman. Über Rügen und ihre Rügenkrimis bloggt sie unter https://schikorsky.wordpress.com

Das Buch

Hoteldirektorin Anna Schwanitz will das Grandhotel »Bellevue« auf Rügen bis zum Ende der Saison aus den roten Zahlen bringen. Doch dann ertrinkt einer der alteingesessenen Hoteliers beim traditionellen Anbaden in der eiskalten Ostsee. Kurz darauf stürzt unter mysteriösen Umständen die Journalistin Mia Rösler von der Dachterrasse des Hotels. Wurde sie gestoßen, weil sie zu tief in der totgeschwiegenen Geschichte gegraben hat? Die Berichterstattung ist für das Hotel verheerend. Anna sieht nur noch eine Chance, die Insolvenz zu verhindern: Sie muss schneller sein als die Kripo und den Fall selbst aufklären. Bei ihren Recherchen stößt sie auf die Ergebnisse von Mia Rösler. Haben die tragischen Ereignisse der »Aktion Rose« im Februar 1953 etwas mit den Todesfällen zu tun? Anna Schwanitz’ zweiter Fall handelt von Unrecht, Verrat und Schuld. Und von einer Vergangenheit, die einfach nicht vergehen will.

Isa Schikorsky

Wer ohne Schuld ist

Ein Rügen-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Februar 2018 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95819-936-1  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

1.

Anna stützte die Hände am Beckenrand ab und stemmte sich aus dem Pool. Wassertropfen perlten an Armen und Beinen hinab. Sie griff zum Handtuch, rubbelte sich trocken, angelte nach den Frotteeschlappen und schlüpfte in den weißen Hotelbademantel mit dem aufgestickten blauen Logo: einem geschwungenen »B« für »Bellevue« über einer stilisierten Welle. Während sie über die Holzplanken zum Rand der Dachterrasse ging, winkte sie Kojo zu, der am anderen Ende die Sonnenschirme aufspannte. Ihren Gruß erwiderte er mit breitem Grinsen. Nadine wünschte sie ebenfalls Guten Morgen und fragte, ob im Wellnessbereich alles in Ordnung sei.

»Alles okay«, bestätigte Nadine lächelnd und verteilte weiter gerollte Flauschdecken auf die Ruheliegen.

Sie plauderten noch einen Moment über das Wetter, dann setzte Anna ihren Weg fort. Sie rückte hier ein Polster, dort einen Sessel gerade, strich Leinenbezüge glatt und kontrollierte den Getränkevorrat der Poolbar. Ein Beistelltischchen aus Teakholz, das jemand direkt an der Brüstung platziert hatte, schob sie zurück an die richtige Stelle.

Am Geländer beugte sie sich vor, um drei Stockwerke tiefer die autofreie Strandpromenade von Puthagen sehen zu können, die zu dieser frühen Morgenstunde ziemlich verlassen dalag. Nur vereinzelte Jogger, Hundebesitzer, die mit ihren Vierbeinern Gassi gingen, erste Urlauber mit Brötchentüten und zwei Mitarbeiter der Kurverwaltung, die Papierkörbe leerten und das Pflaster fegten, waren unterwegs.

Anna hob den Kopf und ließ den Blick schweifen. Wie ein riesiger blaugrüner Teppich lag die Ostsee vor ihr. Die aufgehende Sonne streifte weit hinten den Buchenwald auf dem Steilufer der Granitz und setzte dem Wellengekräusel Glanzlichter auf. Ein Frachtschiff glitt die Horizontlinie entlang. Anna meinte, den würzigen Duft der Krüppelkiefern auf dem Dünengürtel zu riechen, die der Sturm bizarr geformt hatte. Eine Windböe strich über ihr Gesicht. Was für ein wundervoller Platz! Wenn sie hier oben stand, in der halben Stunde, die sie ihrem Terminkalender morgens abtrotzte, wurde ihr bewusst, wie sehr Rügen sie faszinierte. Was für ein Riesenglück, leben und arbeiten zu dürfen, wo andere Urlaub machten. Dieses Glück werde ich festhalten, schwor sie sich. Um jeden Preis. Für immer.

Mit den Fingerkuppen betastete sie den Handlauf aus Holz, er fühlte sich warm und lebendig an. Sie schloss die Augen, hielt den Kopf der Sonne entgegen und spürte das Blut hinter den Lidern pulsieren. Nur gedämpft waren das Tschilpen der Spatzen und Möwenschreie zu hören. Dazwischen schabte eine Harke, Mülltüten knisterten, Nadine summte im Hintergrund und das Wasser des Pools plätscherte. Anna genoss diese Morgenstimmung der leisen Töne. Es war ihr ganz persönliches Ritual, sich auf den Arbeitstag vorzubereiten. Allmählich drängelten sich die heutigen Termine ins Bewusstsein: die Abrechnungen für April, das Anbaden am Nachmittag, das Treffen …

»Schön, nicht wahr?«

Die Stimme klang laut und munter. Anna zuckte zusammen, öffnete die Augen, drehte sich um und erblickte eine zierliche Frau, die wie sie selbst auf die vierzig zugehen mochte. Ihr schmales Sommersprossengesicht war ein einziger Ausdruck guter Laune, von den Lachfältchen in den Augenwinkeln über die Grübchen in den Wangen bis zu den geschürzten Lippen, hinter denen Zähne ohne Makel blitzten. Sie trug einen papageienbunten Morgenmantel aus Satin. Anna hatte sie bereits gestern hier oben getroffen, da hatte sie sich als freie Journalistin aus Berlin vorgestellt. Wie hieß sie doch gleich? Rösler, Mia Rösler. Sie trat an die Brüstung und strahlte Anna von der Seite her an. Die nickte ihr freundlich lächelnd zu.

»Ich liebe diese Aussicht«, rief Mia Rösler, stellte sich auf die Zehenspitzen und deutete mit der Hand in der Luft einen Halbkreis an, der die ganze Bucht umfasste. »Ob es wohl ein Heimat-Gen gibt, das vererbt wird?«

»Interessanter Gedanke«, sagte Anna, »was habe ich mir darunter vorzustellen?«

»Mein Vater wurde auf Rügen geboren. Und ich habe mich hier sofort zu Hause gefühlt.«

»So geht es vielen. Man muss die Insel einfach mögen.« Anna behielt ihren verbindlichen Ton bei, auch wenn sie die These für gewagt hielt. Was ist Rügen für mich?, überlegte sie. So etwas wie eine Wahlverwandtschaft, eine Wahlheimat? Sie wollte das Gespräch nicht zu sehr ins Private hinübergleiten lassen und wechselte deshalb das Thema.

»Kommen Sie mit Ihren Recherchen über Puthagen voran?« Wenn sie sich richtig erinnerte, schrieb die Journalistin an einem Artikel über das Seebad nach der Wende.

»Einigermaßen.« Mia Rösler wandte sich von der Brüstung ab, zog ein Gummiband aus der Tasche des Morgenmantels, schüttelte das aschblonde Haar nach hinten und band es zum Pferdeschwanz hoch.

»Das Interview mit Frau Siebert verlief ganz gut. Mit den Männern ist es schwieriger. Unglaublich, wie schweigsam die sind, wenn sie sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen sollen.«

»Die Einheimischen können Fremden gegenüber ausgesprochen wortkarg sein«, bestätigte Anna. Diese Erfahrung hatte sie auch schon gemacht.

Mia Rösler trat wieder einen Schritt näher, legte Anna eine Hand auf den Unterarm und blinzelte ihr zu. »Können Sie mir nicht zu einem Gespräch mit Herbert Kruska verhelfen? Als Direktorin haben Sie doch sicher beste Beziehungen zu dem ehemaligen Besitzer.«

Anna wich zurück und schlang ihre Arme um den Oberkörper. »Ich bin erst seit zwei Monaten hier beschäftigt«, entgegnete sie ausweichend. Tatsächlich war ihr Verhältnis zu Kruska angespannt, weil es ihm sichtlich schwerfiel, sich damit abzufinden, dass er sein Hotel hatte verkaufen müssen. Leider besaß er lebenslanges Wohnrecht in einem der Apartments, und so begegnete sie ihm und seinen feindlichen Blicken häufig. Ständig hockte er mit seiner Clique irgendwo im Haus zusammen. Ihr war diese Viererbande, wie sie sich selbst nannten, suspekt. Sie hatte das Gefühl, dass Kruska hinter ihrem Rücken versuchte, die Angestellten gegen sie aufzuhetzen. Nachweisen konnte sie ihm bisher zwar nichts, allerdings wollten einige Mitarbeiter stur an den alten Strukturen festhalten und verweigerten sich jeder Neuerung. Vermutlich aus falsch verstandener Loyalität zum früheren Chef. Denn eigentlich mussten sie wissen, dass der gewohnte Trott das gesamte Hotel in den Abgrund – nämlich in die Insolvenz – führen würde.

»Es geht keineswegs nur um die Wendezeit«, sagte Mia Rösler plötzlich sehr ernst. »Da ist noch eine andere Sache, die die Öffentlichkeit interessieren sollte.«

»Hat sie mit dem Bellevue zu tun?«, fragte Anna alarmiert. Skandalartikel in der Presse konnte sie im Moment auf keinen Fall brauchen.

»Nicht direkt.« Mia Rösler streifte den Satinmantel von den Schultern, knüllte ihn zusammen und warf ihn mit Schwung auf eine der Sonnenliegen. »Mir wird schon etwas einfallen, wie ich ihn aus der Reserve locke«, fuhr sie fort – jetzt wieder in heiterem Tonfall.

Anna bezwang den Wunsch, weiter nachzubohren. »Kommen Sie doch heute Nachmittag zum Anbaden. Da treffen Sie jeden, der in Puthagen wichtig ist oder glaubt, es zu sein«, schlug sie vor, während sie den Aussichtspunkt verließ.

Mia Rösler zupfte ihren neongrünen, rosa gepunkteten Badeanzug zurecht. »Das ist vermutlich nur eine Aktion für Jugendliche, oder?«

»Nein, das ist ein alter Brauch der Hoteliers und Gastwirte von Puthagen, den inzwischen Binz und andere Orte an der Küste übernommen haben. Jedes Jahr am ersten Mai eröffnen sie damit die Badesaison.«

»Dann bis später«, rief Mia Rösler lachend, lief zum Pool und sprang hinein. Wasser spritzte auf.

Anna nahm ihr Handy von einem der Bistrotische. Es zeigte acht Anrufe in Abwesenheit, die Hälfte davon von Linstow, der bestimmt nach den aktuellen Belegzahlen gierte.

Höchste Zeit, den Arbeitstag beginnen zu lassen.

2.

Anna eilte durch das Foyer. In den wuchtigen Sesseln mit Streifen- und Blümchenpolstern saßen heute Nachmittag meist ältere Paare. Sie lasen im gedämpften Licht der Messingstehlampen, tranken Kaffee oder unterhielten sich. Anna nickte ihnen zu, zupfte im Vorübergehen mit einer Hand verdorrte Blätter von der Fischschwanzpalme im Kübel, mit der anderen hielt sie ihr Mobiltelefon ans Ohr. Zum wiederholten Mal erklärte sie dem Besitzer des Bellevue, Egbert Linstow, dass sie im April eine Auslastung von fünfzig Prozent gehabt hätten und für Juli und August inzwischen bei über achtzig Prozent lägen. Beide Zahlen bedeuteten eine deutliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr, als Herbert Kruska noch der Eigentümer gewesen war.

Doch Linstow murrte unzufrieden: »Ich bin sicher, das ist zu toppen, Anna. Denken Sie an unseren Deal.«

Was sonst, dachte sie, während sie die welken Blätter in einem Papierkorb entsorgte und verstreut herumliegende Magazine zurück auf den Stapel neben dem Kamin legte. Nur dass sie es für sich nicht Deal nannte, sondern Erfüllung ihrer Vision. Ein Hotel völlig selbstständig zu leiten, davon träumte sie seit Langem. Einmal war sie krachend gescheitert, diesmal würde sie es schaffen. Sie hatte zahllose Ideen, Energie und Ehrgeiz. Sie liebte ihren Beruf, liebte es, Verantwortung zu übernehmen, Mitarbeiter zu motivieren, innovative Konzepte umzusetzen, eine perfekte Gastgeberin zu sein. Linstow hatte ihr zugesichert, sie zur Teilhaberin seines Hotelimperiums zu machen und ihr bei der Führung des Bellevue gänzlich freie Hand zu lassen, wenn es ihr gelänge, das Haus innerhalb eines Jahres aus den roten Zahlen zu bringen. Diese Chance würde sie nutzen.

»Ich verlasse mich auf Sie«, sagte Linstow. »Für die Sommerferien erwarte ich hundert Prozent. Außerdem müssen wir uns um die Nebensaison kümmern. Da ist noch reichlich Luft nach oben.«

»Die Planungen stehen«, antwortete Anna leise seufzend, »ich bin da sehr optimistisch.« Sie hatte ihm bereits mehrfach ausführliche Konzeptpapiere zugeschickt. Entweder hatte er die nicht gelesen oder den Inhalt schon wieder vergessen. »Wir werden die ersten Puthagener Kulturtage durchführen, ein Special für Freundinnen beziehungsweise Mütter und Töchter anbieten, zur Fußballweltmeister–«

»Ich verlasse mich darauf, dass Sie es schaffen, Anna«, unterbrach Linstow sie und beendete dann einfach das Gespräch.

Sie starrte verblüfft auf das Handy. Was sollte das denn? Er will, dass wir etwas tun, dachte sie, und dann interessiert er sich nicht für das, was wir vorhaben. Kopfschüttelnd trat sie zur Rezeption, einem monströsen Tresen. Die gesamte Einrichtung erschien wuchtig und düster. Anfang der Neunzigerjahre hatte dieser Stil als Ausdruck von Luxus und Eleganz gegolten, nun zeugte er von Stillstand und Antiquiertheit. Anna hatte genaue Vorstellungen, wie sich das Foyer mit dem Marmorboden und den schweren Vorhängen in einen lichten, luftigen Raum verwandeln ließ. Doch Linstow vertrat die Ansicht, zuvor müssten die Buchungszahlen steigen. Andersherum wäre es sinnvoller: Eine moderne Halle würde mehr Gäste anziehen und die Chancen verbessern, in die Liste der Top-Hotels aufgenommen zu werden.

Vor der massigen Rückwand aus dunkel lackierter Buche, auf der in verschnörkelten Messinglettern der Hotelname glänzte, wirkte Empfangschef Oliver Schenk trotz seiner Größe von eins achtzig unscheinbar. Er war ein smarter Typ um die dreißig, der in seinem knapp geschnittenen Anzug wie ein Konfirmand aussah, seinen Job jedoch bestens beherrschte. Mit ihm hatte Anna bereits heute Morgen über die aktuellen Auslastungszahlen und spezielle Gästewünsche gesprochen. Jetzt erkundigte sie sich, ob es noch etwas zu klären gäbe, und da Oliver das verneinte, meldete sie sich ab. »Springst du denn auch rein?«, fragte er grinsend.

»Das überlasse ich meinem Vorgänger«, entgegnete Anna. »Ich erkälte mich vermutlich schon vom Zusehen.« Sie hatte kurz überlegt, ob sie durch Beteiligung am Anbaden schneller die Anerkennung der Puthagener Hotelierskollegen gewinnen könnte, sich aber dagegen entschieden. Sie wollte mit ihren Kompetenzen überzeugen, nicht durch Anbiederei. Und so gerne sie schwamm, mit akzeptablen Wassertemperaturen lockte die Ostsee frühestens im Juni.

Draußen auf der Promenade blendete das Licht. Anna schob die Sonnenbrille aus den Locken auf die Nase und strich mit einer raschen Bewegung den steingrauen Bleistiftrock glatt. In der Kostümjacke, die sie über der hellen Bluse trug, begann sie sofort zu schwitzen.

Gleich neben dem Hotel dämmerte die Villa Looks vor sich hin. Ein weiterer Sanierungsfall. Annas Puls beschleunigte sich. Wie lange würde es noch dauern, bis der Schandfleck verschwunden wäre? Der ursprünglich stolze weiße Holzbau mit den üppigen Ornamenten an den Balkonen verrottete, weil die Eigentümer, zwei Geschwister, sich nicht einigen konnten, was sie damit machen wollten. Soweit Anna wusste, wollte Irene Glävke verkaufen, während ihr Bruder Werner Looks, der übrigens zur Viererbande gehörte, weiterhin auf eine Wertsteigerung spekulierte. Im Innern der Villa waren bereits Wände eingestürzt, außen löste sich die Farbe in großen Placken, pappten Reste von Plakaten und Graffitis, drum herum wucherten Brennnesseln und Sträucher. Der Anblick war eine Zumutung, vor allem für die Gäste des Bellevue. Es wurde höchste Zeit, die Promenadenlinie zu schließen. Gab es nicht diesen Spruch vom Eigentum, das verpflichtete? An Bewerbern herrschte kein Mangel. Dem Vernehmen nach standen bei Irene Glävkes Sohn, dem Immobilienmakler Sven Glävke, die Käufer Schlange. Auch Linstow hatte Interesse gezeigt, auf der Fläche ein Apartmenthaus zu errichten. Das wäre eine kluge Investition, denn immer mehr Urlauber zogen eine Ferienwohnung einem Hotelzimmer vor. Und hier könnten sie die Vorzüge aus beidem kombinieren.

Am Strand unterhalb des Musikpavillons, wo das Anbaden stattfand, hatten sich bereits zahlreiche Zuschauer eingefunden, viele Strandkörbe waren besetzt. Aus den Lautsprechern schepperte Lenas Satellite, mit dem sie hoffte, Ende des Monats den Eurovision Song Contest zu gewinnen. Anna stapfte durch den Sand hinunter. Neben einem weißen Zelt, in dem sich die Badewilligen umkleiden konnten, hatten Mitarbeiter des Bellevue eine Bar aus Holz aufgebaut. Davor drängten sich die Leute, etliche schon in Bikini oder Badehose. Es roch nach Sommer, Sonnencreme und der Bratwurst vom Grill nebenan. Die zwei Azubis hinter dem Tresen arbeiteten konzentriert und planvoll. Marek füllte Prosecco in Gläser, Jana knotete Schleifen in verschiedenen Farben um die Stiele, damit im Gedränge jeder sein Getränk wiederfand, und kassierte. Anna beobachtete es mit einem Lächeln.

Das verschwand, als Lieselotte Siebert herangerauscht kam, wie gewohnt in Jerseyhose und einer beigefarbenen, wattierten Weste über dem bunten T-Shirt, die grauen Haare kurz geschnitten, aber ohne Form oder Frisur. Sie grüßte nicht, sondern stützte die Hände auf die improvisierte Theke und fixierte die Auszubildenden, als wollte sie beide hypnotisieren. Marek sah hoch, goss dabei jedoch weiter ein, bis der Sekt überlief.

»Pass doch auf«, rief die Siebert. »Wenn du Verlust machst, zahlst du das aus eigener Tasche.«

Marek wurde rot und starrte sie an. Jana nahm ihm die Flasche ab, griff nach einem Lappen und begann die Pfütze aufzuwischen, ein Glas fiel um und zersprang.

Die Siebert schüttelte den Kopf. »Solche Tollpatsche wären früher bei uns ganz bestimmt nicht eingestellt worden.« Sie blickte Anna herausfordernd an.

Warum musste dieser Drache sich überall einmischen? Wo sie auftauchte, mäkelte sie herum und verbreitete Missstimmung. Von allen, die Anna in Puthagen ihre Ablehnung zeigten, war Lotte Siebert die Unangenehmste. Offiziell hatte sie im Bellevue wohl nie etwas zu sagen gehabt, und auch sonst war ihr Einfluss unter den Hoteliers gering. Ihre Pension Margarete war nur eine Klitsche mit wenigen Zimmern. Dafür war sie mit der Viererbande mehrfach verbunden: Ihren Bruder Hans Siebert betüddelte sie, als wäre er noch ein Kleinkind; Herbert Kruska spielte offenbar die Rolle eines väterlichen Beschützers und ließ sie im Hotel nach Belieben agieren; und Werner Looks war ihr Lebensgefährte.

»Lassen Sie die jungen Leute einfach in Ruhe ihre Arbeit machen, Frau Siebert«, sagte Anna in scharfem Ton. »Und ich möchte Sie bitten, die Angestellten unseres Hauses zukünftig zu siezen.«

Rasch wechselte sie hinter den Tresen, nickte beiden aufmunternd zu, sammelte die Scherben ein und half Jana, die den Tränen nahe zu sein schien, beim Kassieren.

Die Siebert murmelte: »Ganz neue Sitten«, und stiefelte in Richtung Zelt davon. Anna schluckte ihren Ärger herunter. Sie öffnete ein paar Flaschen, damit Marek mit dem Einschenken schneller vorankam, und füllte den Kühlschrank auf.

»Gut machst du dich als Bardame.«

Die Stimme kannte Anna. Sie blickte auf und in Reginas fröhliches Gesicht. Wie schön, dass sie gekommen war, sie hatten sich eine Ewigkeit nicht gesehen. Anna verließ die Bude und umarmte die Freundin, die noch immer einen wippenden Pferdeschwanz und überdimensionierte Kreolen trug, wie damals in Göhren, dem weiter im Süden der Insel gelegenen Seebad, wo sie sich kennengelernt hatten. Ihre Freundschaft hatte gehalten, obwohl oder gerade, weil sie grundverschieden waren. Nie würde sie sich so auffällig kleiden wie Regina, die in Lederleggins und Spitzenbluse modisch ganz up to date war.

Regina orderte zwei Prosecco, mit den Gläsern in der Hand wechselten sie an einen der Stehtische und stießen an. Anna trank nur ein Schlückchen. Sie verabscheute das klebrige Prickelzeug und wollte einen klaren Kopf behalten.

Regina, die früher in Göhren als Bäckereiverkäuferin beschäftigt gewesen war, hatte sich ihren Traum bereits erfüllt. Mit glänzenden Augen erzählte sie von ihrem eigenen Café in Binz. Anna freute sich für sie, gratulierte und versprach, in den folgenden Tagen vorbeizukommen. Die Eröffnung in der letzten Woche hatte sie leider versäumt. Im Moment käme ihr Privatleben entschieden zu kurz, erklärte sie Regina. Abends reiche es höchstens für einen Feierabendwein mit Kollegen. Aber es würde auch wieder andere Zeiten geben.

»Wir sollten demnächst unbedingt einen Mädelsabend machen«, schlug Regina vor. »Mit ganz viel Baileys.«

»Oh ja«, erwiderte Anna. Sie erinnerte sich daran, wie großartig Regina sie getröstet hatte, damals, nachdem sich die große Liebe ihres Lebens als schrecklicher Irrtum herausgestellt hatte. »Du weißt, wie sehr ich Likör mag. Ich bringe trotzdem eine Flasche Burgunder mit.«

Sie grinsten sich an, weil sie wussten, dass sie nicht nur in Fragen der Garderobe, sondern ebenso bei Drinks und Musik einen unterschiedlichen Geschmack hatten. Ein Weilchen plauderten sie noch über ihre Arbeit, dann wollte Regina wissen, wie es mit der Liebe stehe.

»Ach, die Liebe«, sagte Anna, »die wird überbewertet. Ich komme gut allein zurecht.« Es sollte lässig klingen, war jedoch ein bisschen geflunkert. Manchmal sehnte sie sich nach einem vertrauten Menschen, nach Nähe und Berührung. Aber seit der großen Enttäuschung vor zwei Jahren hatte sie sich auf keine Beziehung eingelassen.

»Und bei dir?«, fragte sie schnell, bevor Regina weiterfragen konnte.

Die lächelte geheimnisvoll und trank einen Schluck Prosecco.

Anna spürte, dass sie unruhig wurde. Sie sollte hier das Hotel präsentieren, nicht über Liebe quatschen. Verstohlen blickte sie umher. Da sie niemanden entdeckte, den sie unbedingt begrüßen musste, wandte sie sich wieder der Freundin zu.

»Stell dir vor …«, begann Regina.

Was sie danach sagte, rauschte an Anna vorbei, weil in der Menge ein Mann auf sie zukam, der ihre Aufmerksamkeit fesselte. Verdammt attraktiv sah der Typ aus. Hochgewachsen und schlank, Koteletten und dichtes Kraushaar, die Ärmel des weißen Hemdes hochgekrempelt, das Jackett lässig über die Schulter gehängt, sinnlich volle Lippen und ein umwerfendes Lächeln. Anna überlegte. Kannte sie ihn? Müsste sie ihn kennen? Sie hatte in den letzten Monaten so viele neue Gesichter gesehen, aber an dieses würde sie sich bestimmt erinnern. Wollte der etwas von ihr? Er steuerte direkt auf sie zu.

Sie schob sich eine Locke hinters Ohr und lächelte ihm entgegen. Der Mann lächelte zurück. Regina, die ihm den Rücken zuwandte, redete noch immer. Er war nur einen Schritt entfernt, er zwinkerte Anna zu. Sollte sie zurückzwinkern? Flirten war ihr seit jeher schwergefallen, inzwischen hatte sie es wohl ganz verlernt. Was sollte sie sagen? Sie öffnete den Mund und –

Der Unbekannte schlang von hinten beide Arme um Reginas Taille. Die zuckte zusammen, drehte sich um, stieß einen Freudenschrei aus und küsste ihn.

Anna fühlte sich wie ein Ballon, aus dem unvermittelt die Luft entwichen war. Sie räusperte sich, um gegen das Gefühl anzukämpfen, sich grandios blamiert zu haben.

Regina stellte ihr mit strahlendem Lächeln Sven Glävke vor. »Von ihm habe ich dir gerade erzählt«, fügte sie hinzu.

Auch Glävke lächelte noch immer und reichte ihr die Hand.

Ob er ihren Fehler bemerkt hatte?, überlegte Anna. Sie konnte kein Anzeichen von Spott in seinem Gesicht erkennen. »Glückwunsch zum Traummann!«, flüsterte sie Regina zu. Natürlich gönnte sie ihr den Mister Right, trotzdem spürte sie einen feinen Stich Neid. Aber es konnte nur von Vorteil sein, den Immobilienmakler Sven Glävke zu kennen.

Als sich nach allgemeinem Geplänkel über die für die Jahreszeit ungewöhnliche Wärme und den Saisonbeginn eine Pause ergab, lenkte Anna das Gespräch sofort auf das Thema, das ihr am Herzen lag. »Können Sie Ihren Onkel nicht endlich dazu bringen, die Villa Looks zu verkaufen?«, fragte sie Glävke.

»Nichts, was ich lieber täte. Es ist zum Verzweifeln. Onkel Werner ist störrisch wie ein Maulesel. Er will den maximalen Gewinn erzielen. Verständlich. Für ein solch hochwertiges Filetgrundstück an einem derartigen Hotspot kann er Höchstrendite erwarten. Das Projekt, das ich ihm jetzt angeboten habe, wird ihn allerdings absolut überzeugen.«

Ob es sich um den Verkauf an Egbert Linstow handelte? Bevor Anna fragen konnte, war Glävke zur Bar gegangen und hatte eine weitere Runde Prosecco geholt. Anna schob ihr noch fast volles Glas unauffällig zur Seite und auch am neuen nippte sie nur.

3.

Die Anlage wurde aufgedreht und die Bässe wummerten über den Strand, auf dem es immer enger wurde. Die Gruppe um den Stehtisch vergrößerte sich. Anna ging umher, sprach mit Hotelgästen, begrüßte Kollegen und machte Small Talk mit Bürgermeister und Kurdirektor. Zwischendurch schaute sie am Getränkestand vorbei, doch die beiden Auszubildenden hatten alles im Griff. Regina fotografierte wie wild mit einer Kleinbildkamera.

Schließlich tauchte Mia Rösler auf, die in ihrem schwingenden, türkis und rot gemusterten Rock im Stil der Fünfzigerjahre wie ein Schmetterling wirkte. Sie hatte eine Kamera mit großem Objektiv dabei und interviewte einige Schaulustige. Später gesellte sie sich zu Anna und erkundigte sich nach dem Ablauf des Anbadens. Anna erklärte, dass es eine kurze Veranstaltung sei, weil die meisten sich nur wenige Sekunden und höchstens bis zu den Knien ins Wasser trauten.

»Diesmal ist es anders«, warf Lotte Siebert ein, auf die Anna nicht mehr geachtet hatte. Sie stellte ein Tablett mit leeren Sektgläsern auf einen Stehtisch. »Die Viererbande hat gewettet: Es gibt eine Kiste Château Margaux für den, der sich am weitesten raustraut und am längsten drinbleibt.«

»Die Viererbande?«, fragte Mia Rösler und runzelte die Stirn.

»Herbert Kruska, Werner Looks, Ulle Möller und mein Bruder Hans, vier engagierte Puthagener, die stets zusammenhalten«, verkündete die Siebert, strich die Weste glatt und stemmte die Hände in die Taille. »Es gab eine Zeit, da war die Solidarität größer als das Konkurrenzdenken heute.« Sie bedachte Anna mit einem verächtlichen Blick. Die wusste, dass Widerspruch zwecklos war. Für Lotte Siebert galt sie noch immer als der Klassenfeind aus dem Westen.

»Interessante Gruppierung«, murmelte Mia Rösler versonnen.

Kai, der notorisch gut gelaunte Barkeeper des Bellevue, ein Frauenschwarm mit blondem Strubbelhaar und Brilli im Ohrläppchen, schleppte eine Magnumflasche Champagner in einem überdimensionierten Sektkühler herbei und platzierte ihn im Sand, weil auf dem Tisch kein Platz mehr war. Anna zog die Augenbrauen hoch. »Wer hat den bestellt?«

»Kruska«, antwortete Kai.

»Ich mach schon«, sagte die Siebert beflissen und füllte die Gläser.

Anna fiel es schwer, ihren Zorn zu unterdrücken. Mussten die abgehalfterten Alten bis in die Ewigkeit so tun, als gehöre ihnen das Ganze? Dabei hatte Kruska seinen Besitz gründlich heruntergewirtschaftet.

»Da kommen sie«, rief die Siebert, stellte die Flasche ab und klatschte. Alle wandten sich dem Zelt zu, aus dem vier Männer in weißen Bademänteln heraustraten.

Einige der Zuschauer applaudierten ebenfalls. Ohne Frage, Herbert Kruska war auch mit seinen sechsundsiebzig Jahren noch eine eindrucksvolle Erscheinung. Er ging sehr aufrecht, hatte den sehnigen Körper gestrafft, das weiße Haar leuchtete in der Nachmittagssonne und bildete einen scharfen Kontrast zur Solariumbräune seines Gesichts. Ihm folgten der schmächtige, sommersprossige Ulle Möller, der früher Chefportier im Bellevue gewesen war, Werner Looks, ein bulliger Typ mit Stiernacken und Schmerbauch, dessen ungesund rote Gesichtsfarbe auf Bluthochdruck hindeutete, und Hans Siebert, Schnurrbartträger und rund zehn Jahre jünger als die anderen.

Lotte Siebert eilte geschäftig hin und her und drückte jedem der Viererbande ein Glas in die Hand. Sie prosteten einander lärmend zu, kippten den Champagner in einem Zug herunter und ließen sich erneut einschenken. Regina knipste die Szene von allen Seiten. Die Siebert sammelte die Gläser ein. Die Männer entledigten sich ihrer Bademäntel, hüpften auf der Stelle und schlugen sich die Arme um die Oberkörper.

»Wie kalt ist das Wasser eigentlich?«, wollte Mia Rösler wissen.

»Sieben Grad«, antwortete Anna.

»Na denn.« Die Journalistin zog die Schuhe aus, stakste vorsichtig hinein und hob die Kamera, der Reporter des Ostsee-Echos blieb am Ufer stehen.

Die Stimme des Moderators plärrte aus den Lautsprechern. Er hieß die Gäste willkommen und begann dann von zehn herunterzuzählen. Die Menge unterstützte ihn, bildete eine Gasse und unter den Rufen drei – zwei – eins liefen die Badewilligen zwischen den zur La-Ola-Welle schwingenden Armen in die sanft plätschernde Ostsee. Anna fröstelte allein vom Zusehen, sie beobachtete das Geschehen aus dem Hintergrund. Vierzig bis fünfzig Personen mochten es sein: Gastwirte, Hoteliers und Urlauber. Zum Teil trugen sie historische Badetrikots mit rot-weißen und blau-weißen Querstreifen, ein paar stürmten mit qualmenden Zigarren zwischen den Lippen ins Meer.

Während kurz darauf die Ersten schon wieder dem Strand zustrebten, kraulte die Viererbande tatsächlich weit hinaus. Das Wasser spritzte hoch auf, und lautes Kreischen brandete gegen die Musik an. Mia Rösler fotografierte die Gruppe, die es als Einzige noch in den Fluten aushielt. Plötzlich ließ sie die Kamera sinken, stutzte, schien zu lauschen, drehte sich dann abrupt um und kam aus dem Wasser gerannt. Mit den Armen wedelte sie in Richtung der beiden Rettungsschwimmer, die neben dem Zelt standen und plauderten. Die Zuschauer starrten gebannt aufs Meer.

»Schnell, da muss etwas passiert sein«, rief die Journalistin.

Die jungen Männer sprinteten los, Anna ging näher heran. Kruska und Hans Siebert kämpften sich keuchend vorwärts, sie paddelten jeweils mit einem Arm, mit dem anderen zerrten sie den schweren Körper von Werner Looks mit sich. Ulle Möller schien von hinten zu schieben. Die Haare klebten an den nassen, vor Anstrengung und Kälte dunkelroten Köpfen. Die Retter stürmten ihnen entgegen, griffen zu, zogen Looks ans Ufer und dann lag er wie ein gestrandeter Wal im Sand. Ein erschrecktes Raunen lief durch die Menge.

Die Sanitäter begannen Wiederbelebungsversuche, während die Leute bewegungslos und schweigend auf der Stelle verharrten und glotzten. Nur die Schlager schepperten unverdrossen weiter: Una Paloma blanca … Auch Anna gelang es nicht, sich abzuwenden. Jemand drängelte sich nach vorne, es war Lieselotte Siebert. Sie stellte sich neben ihren Bruder Hans und starrte auf den zu ihren Füßen Liegenden. Ihr Gesicht war wachsbleich, den Mund hatte sie zu einem Strich zusammengepresst, die Augen aufgerissen. Irgendwann schrillte in der Ferne das Martinshorn. Zuerst traf der Notarztwagen ein und kurz darauf die Polizei.

Die Menschen wichen unwillig zurück. Endlich verstummte die Musik, das Schweigen machte die Szene, die statisch wie ein Gemälde wirkte, noch gespenstischer. Nach einer Weile erhob sich der Notarzt und schüttelte den Kopf. Ein Sanitäter breitete eine Folie über den Körper. Reglos umringten sie den Toten: die drei Freunde Herbert Kruska, Ulle Möller und Hans Siebert, Mia Rösler, die leise schluchzte, und Lotte Siebert.

Anna trat auf sie zu und berührte sanft ihren Arm. »Kommen Sie, Frau Siebert«, sagte sie und wollte sie zur Seite führen.

Doch die riss sich los und stapfte mit großen Schritten davon.

4.

»Viel zu früh« – »Er hatte noch so viel vor« – »Es trifft immer die Falschen« – »De arme Lotting« – diese und ähnliche Sätze schwirrten am Abend durch den Saal des Restaurants Nordwind. Der traditionelle Maischmaus des Tourismusvereins fand trotz des Unfalls statt, dazu war das Treffen vor Saisonbeginn einfach zu wichtig. Hier kamen alle zusammen, die mit dem Tourismus zu tun hatten, hier wurden Allianzen geschmiedet, Konkurrenten beobachtet, Absprachen getroffen. Anna saß an einer weiß gedeckten Tafel zwischen Hoteldirektoren und Pensionsbesitzern. Eine Zeit lang musste sie die Gespräche über sich hinwegrauschen lassen, weil es ihre ganze Konzentration erforderte, den Hornfisch von der grünen Gräte zu pulen. Anfangs hatte bedrücktes Schweigen geherrscht, doch nach der zweiten Runde Bier löste sich die Stimmung. Hauptthema blieb Werner Looks’ tragischer Tod. Anna meinte einen Unterton von Heuchelei aus den Trauerbekundungen herauszuhören, denn wirklich beliebt war er nicht gewesen.

Der kräftige Bass von Herbert Kruska stach aus dem Gemurmel hervor. Es schien ihm nicht viel auszumachen, dass die Vierer- nun zur Dreierbande geschrumpft war. Kruska thronte wenige Plätze von Anna entfernt an der Stirnseite des Tisches. Die goldenen Wappenknöpfe an seinem Marineblazer glänzten, das schwarze Einstecktuch statt des sonst üblichen creme- oder altrosafarbenen hatte er wohl zum Zeichen der Trauer gewählt. Alle in seiner Nähe hatten sich ihm zugewandt und aßen nur ab und zu verstohlen einen Bissen. Kruskas Teller war unberührt, er hatte die Ellenbogen aufgestützt und die Handflächen aneinandergelegt.

Der Werner hätte bestimmt nicht gewollt, dass er zu Hause bleibe und Trübsal blase, beteuerte Kruska.

»Wir hätten das nicht machen dürfen«, wiederholte er dann. »Wir sind ja keine zwanzig mehr.« Er schüttelte den Kopf, als wundere er sich über seinen eigenen Unverstand. »Die Wette war eine Schnapsidee. Wie es manchmal so geht im besoffenen Kopp«, fügte er an, »da wird man übermütig. Wir wollten es einfach noch mal wissen.«

Ulle Möller neben ihm schwieg beharrlich, starrte in sein leeres Bierglas und nickte zu Kruskas wortreichen Erklärungen im Takt. Er schien mit den Tränen zu kämpfen.

Anna wandte sich wieder dem Hornfisch zu, friemelte einzelne Stückchen von der Gräte und aß sie zusammen mit Salzkartoffeln und Gurkensalat, während sie weiter zuhörte. Jemand hatte erfahren, dass Looks’ Leiche nach Greifswald in die Rechtsmedizin gebracht worden war.

»So ein Unsinn«, brauste Kruska auf. »Verschwendung von Steuergeldern. Ich habe genau gehört, wie der Notarzt von Herzstillstand gesprochen hat, ausgelöst durch das kalte Wasser und die Anstrengung.«

Was empfand sie selbst eigentlich, überlegte Anna. Sie hatte Looks kaum gekannt und sympathisch war er ihr nicht gewesen. Sie hatten ab und zu ein paar Worte gewechselt, wenn er mit seinen Kumpanen in der Bar gesessen hatte oder sie ihm im Hotel begegnet war. Sie erinnerte sich an anzügliches Grinsen, dreistes Starren auf ihren Busen und plumpe Witze. Offenbar hatte Looks nie kapiert, dass ein übergewichtiger, hypertonischer Mittsiebziger nur mäßig attraktiv auf Frauen wirkte. Auch sein Geld machte ihn keineswegs sexy, denn davon trennte er sich ungern. Looks war bekannt dafür, dass er andere gern animierte, eine Runde zu spendieren. Kam die Reihe an ihn, musste er dringend nach Hause. Schlimm war Looks’ plötzlicher Tod natürlich für Lotte Siebert, die unvermutet und ohne Abschied nehmen zu können, ihren Partner verloren hatte.

»Jetzt kommt endlich der Schandfleck weg.«

Anna schrak auf. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass Kurdirektor Sebastian König, der ihr gegenübersaß, sie angesprochen hatte. Sie stimmte zu. Das war bei aller Tragik des Geschehens ein positiver Effekt. Irene Glävke würde Alleinbesitzerin des gesamten Areals werden und ihren Sohn ganz sicher nach Kräften bei seinen Verkaufsplänen unterstützen.

»Glävke wird enorm erleichtert sein«, ergänzte König. »Seine Investoren standen vor dem Absprung. Mit diesem Vorhaben wird Puthagen Anschluss finden an Heiligendamm und Binz und rückt mit an die Spitze der Seebäder.«

»Ja, mitnehmen kann man nichts«, sagte Annas Nachbar zur Rechten, bevor sie nachfragen konnte, um welches Projekt es sich handelte. »Das letzte Hemd hat keine Taschen.«

Und der zur Linken Sitzende raunte hämisch: »Da hat Glävke wirklich Glück gehabt. Der Tod seines Onkels rettet ihn vor dem Bankrott.«

Aus der weiteren Unterhaltung erfuhr Anna, dass Looks’ Grundstück Standort für ein Luxus-Wellness-Resort werden solle. Sven Glävke habe eine Investorengruppe angeworben und betreue das gesamte Unternehmen.

Das hieß, Linstow hatte den Zuschlag nicht bekommen.

Wie ärgerlich, dachte Anna. Dann erwarten uns jahrelang Dreck und Lärm und die Konkurrenz direkt nebenan. Aber klar, jemandem wie Egbert Linstow, einem Hamburger, der auf der Insel und an der ganzen Ostseeküste entlang Hotels kaufte wie andere Leute T-Shirts oder Schuhe, wollten die Einheimischen nicht noch mehr Macht verschaffen. Da aktivierten sie lieber ihre eigenen Seilschaften. Anna legte das Besteck über die Reste von Hornfisch und Gräten und schob den Teller zur Seite. Bangemachen galt nicht. Sie würde mit Glävke sprechen, immerhin waren sie seit heute Nachmittag so gut wie befreundet. Er hatte bestimmt Verständnis und ließ sich davon überzeugen, alle Bauarbeiten, die mit einer Belästigung der Hotelgäste verbunden waren, nur in der Nebensaison durchzuführen.

Es gab noch ein paar Reden: Der Kurdirektor sowie die Vorsitzenden des Tourismusvereins und des Klubs für Wirtschaftsförderung würdigten die Erfolge der vergangenen Saison 2009 und wagten optimistische Prognosen für die Zukunft. Dann war der offizielle Teil des Abends beendet.

Anna trat mit anderen hinaus auf die Terrasse. Hinter der Promenade schimmerte das Meer im Dunklen, am Ufer loderte ein Feuer. In das Knacken der Scheite mischte sich das Lachen der Jugendlichen, die an einer Strandbar feierten.

Die Gäste verteilten sich um die Stehtische, Heizstrahler sorgten für angenehme Wärme, der Geräuschpegel schwoll allmählich an. Es wurde gelacht und gelärmt wie sonst auch bei solchen Anlässen, von Trauer war nichts mehr zu spüren. Kellner reichten auf Tabletts Getränke herum. Anna nahm sich ein Glas Rotwein, wanderte von Gruppe zu Gruppe und stellte sich als neue Direktorin des Bellevue vor. Die meisten begrüßten sie freundlich und wünschten ihr Glück für die Saison, einer sagte: »Da haben Sie sich aber was vorgenommen.«

Anna lächelte ihn an, erwiderte: »Ich mag Herausforderungen«, und spazierte weiter.

Wo immer es möglich war, versuchte sie die Anwesenden von ihrer Idee für die Kulturtage zu begeistern. Sie schwärmte von vollen Hotels und Sälen in der Nachsaison; von Puthagen als Topreiseziel für Menschen, die Lesungen, Ausstellungen, Schreibseminare und Malkurse besuchen wollten. Die Hitze stieg ihr in den Kopf und sie gestikulierte so heftig, dass die Gläser auf dem Stehtisch in Gefahr gerieten. Sie habe schon bei den Verlagen angefragt, um Bestsellerautoren wie Nele Neuhaus, Daniel Glattauer und Frank Schätzing zu gewinnen, erzählte sie und nannte außerdem die Namen der Künstler, die die Praxiskurse leiten sollten. Einige der Zuhörer ließen sich von ihrem Enthusiasmus anstecken und nickten bestätigend, andere behielten ihre skeptischen Mienen bei. Die würde sie überzeugen, wenn sie beim nächsten Treffen der Gesellschaft für Inselmarketing ihr Konzept ausführlich vorstellte.

Den Tisch mit den Alten hob sie sich bis zuletzt auf. Dort stand natürlich Kruska. Er brach seine Rede ab, als sie dazu trat.

»Wie schmeichelhaft, dass Sie uns auch noch die Ehre geben«, sagte er mit der für ihn typischen Mischung aus Arroganz und Jovialität, die Anna so hasste. Dabei wandte er sich ihr zu und berührte mit der Hand ihre Schulter, sodass es wirkte, als schöbe er sie in die Runde. Sie spürte, wie sich ihr Rücken versteifte. Bevor sie sich vorstellen konnte, erklärte Kruska: »Das, meine Herren, ist Anna Schwanitz, die jetzt angetreten ist, mein Hotel zu leiten.«

Anna trat einen Schritt zur Seite. Sie kam sich vor wie eine Grundschülerin, die der Lehrer nur deshalb an die Tafel bittet, um sie vorzuführen. Dass er sie für ungeeignet hielt, diese Aufgabe zu meistern, klang unterschwellig sehr deutlich mit. Und wieso überhaupt sein Hotel? Er selbst hatte die finanzielle Schieflage zu verantworten, die ihn zum Verkauf gezwungen hatte. Am klügsten war es, das zu ignorieren.

Sie lächelte reihum, hob ihr Glas und sagte: »Auf gute Zusammenarbeit.« Die Männer prosteten ihr zu, wenngleich neben Kruska auch einige andere weiterhin kritisch blickten.

Mit Misstrauen reagierten sie auch auf das Kulturprojekt.

»Ob das nicht zu anstrengend wird für Lotte und Irene?«, gab Kruska zu bedenken. Er sprach nicht Anna an, sondern die Runde. »Lotte Siebert und Irene Glävke betreuen seit vielen Jahren den Literaturkreis im Bellevue. Damit dürfte der Bedarf an solchen Treffen gedeckt sein.«

Ein Teil der Umstehenden nickte energisch.

Dieser Ignorant. Glaubte Kruska tatsächlich, sie würde die beiden Damen in ihre Pläne einbeziehen? Anna kannte den besagten Literaturkreis, zu dem regelmäßig vier bis sechs ältere Frauen kamen, um zu tratschen und Gedichte und Geschichten zu verfassen, die von »früher war alles besser« schwärmten und »Strand« auf »Sand« reimten. Die Veranstaltung stand ganz oben auf ihrer Kann-wegfallen-Liste.